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Der Berliner Kongreß 1878. Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa vor 100 Jahren | APuZ 41/1978 | bpb.de

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APuZ 41/1978 Artikel 1 Der Berliner Kongreß 1878. Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa vor 100 Jahren 100 Jahre Sozialistengesetz

Der Berliner Kongreß 1878. Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa vor 100 Jahren

Imanuel Geiss .

/ 42 Minuten zu lesen

Zusammenfassung

Die hundertste Wiederkehr des Tages, an dem der Berliner Kongreß mit der Unterzeichnung des Berliner Vertrages abschloß, ist mehr als nur willkommene Gelegenheit, auf ein historisches Ereignis aufmerksam zu machen, über das zu Unrecht kaum viel mehr als einige historische Klischees bekannt sind. Der Berliner Kongreß von 1878 erweist sich bei näherem Zusehen als historischer Knotenpunkt ersten Ranges zwischen dem Wiener Kongreß 1814/15 und dem Ersten Weltkrieg. In ihm liefen eine Fülle von Faktoren und Entwicklungssträngen zusammen, die über den Berliner Kongreß hinausführten, zumindest bis in den Ersten Weltkrieg hinein; manche wirken von dort noch bis in die Gegenwart. Der Berliner Kongreß entstand auf dem Schnittpunkt zwischen Orientalischer Frage, Aufstieg der südslawischen Nationalbewegungen und der Spannung zwischen Rivalität und „Konzert" der europäischen Mächte. Er ist in der Nachfolge der großen europäischen Friedenskongresse seit dem Westfälischen Frieden 1648 zu sehen: über den Frieden von Utrecht 1713, den Wiener Kongreß 1814/15 und den Pariser Kongreß 1856, während er weiter zum Versailler Kongreß 1919 vorweist. Unmittelbare historische Voraussetzung war die große Orientkrise von 1875/78, die über Aufstände in der Herzegovina und Bosnien (1875), Makedonien und Bulgarien (1876), ferner über den Krieg Serbiens/Montenegros gegen die Türkei (1876/77) zum 8. russisch-türkischen Krieg (1877/78) und zum Vorfrieden von San Stefano (März 1878) führte. Als Alternative zum drohenden Krieg England/Österreich-Ungarn gegen Rußland, in den vermutlich auch die anderen Großmächte früher oder später hineingezogen worden wären, beabsichtigte der Berliner Kongreß formal nur die Revision der Friedensvertrags-bestimmungen von San Stefano zwischen Rußland und der Türkei durch die europäischen Großmächte. Die Reihenfolge der auf dem Kongreß behandelten und im Berliner Vertrag formulierten Bestimmungen spiegelt ungefähr die damalige Bedeutung und Brisanz der großen Themen wider: an allererster Stelle Bulgarien, danach Bosnien-Herzegovina. Alle anderen Themen waren demgegenüber mehr von untergeordneter Bedeutung: Unabhängigkeit für Serbien, Montenegro, Rumänien; territoriale Vergrößerung für Serbien, Montenegro, Griechenland; Donauschiffahrt, Heilige Stätten usw. Daneben wurden aber auch andere Probleme berührt, die erst später virulent wurden: armenische Frage, jüdische Frage, Zypern.

Vorbemerkung

Da heutzutage wichtige historische Vorgänge oder Ereignisse einem breiteren Publikum oft nur noch aus Anlaß von runden Jubiläums-jahren nahezubringen sind, bietet der hunderste Jahrestag des Berliner Kongresses eine gute Möglichkeit, auf ein Ereignis aufmerksam zu machen, dessen historische Bedeutung im umgekehrten Verhältnis zu den Kenntnissen über es steht. Vom Berliner Kongreß ist allgemein, von Spezialisten (Historikern, Diplomaten) abgesehen, kaum viel mehr bekannt als Bismarcks Wort vom „ehrlichen Makler" und vielleicht noch — in Verbindung mit dem damaligen Desinteresse Deutschlands an Balkanfragen — das andere Wort Bismarcks aus seiner Reichstagsrede vom 5. Dezember 1876: Er, Bismarck, werde „zu irgendwelcher aktiven Beteiligung Deutschlands (an einem aus der Orientkrise von 1875 evtl, entstehenden großen Krieg, I G.) nicht raten, so lange in dem ganzen Streite für Deutschland kein Interesse in Frage steht, welches auch nur die gesunden Knochen eines pommerschen Musketiers wert wäre“. Hinzu kommt noch das bekannte, außerordentlich eindrucksvolle und lehrreiche Gemälde von Anton v. Werner, das, in stilisierter Darstellung, die Unterzeichnung des aus dem Berliner Kongreß hervorgegangenen Berliner Vertrages festhält, schließlich das Standard-Klischee aus den deutschen Schulbüchern vom glanzvollen Höhepunkt der äußeren Machtstellung Bismarcks und des jungen Deutschen Reichs, -in dessen Hauptstadt der Kongreß tagte. '

Das ist schon ungefähr alles, was bei näherem Nachfragen auch bei historisch Interessierten und Gebildeten an konkretem Wissen herauskommt. Der Grund ist leicht einzusehen: Die Fragen, die auf dem Berliner Kongreß verhandelt und geregelt wurden, betrafen buchstäblich „Völker weit hinten in der Türkei", mit Schwerpunkt auf dem Balkan, aber auch in Asien (Armenien, Batum, Persien), betrafen also Deutschland nur indirekt. Die Orientfragen sind außerdem so kompliziert und verwirrend, daß im Grunde nur Spezialisten sie beherrschen. Ihre Arbeiten blei-ben auf einen kleinen Kreis beschränkt — von Spezialisten für Spezialisten

Ein zusätzliches psychologisches Hindernis ist neueren Datums: Die Beschäftigung mit Fragen wie dem Berliner Kongreß gilt als Diplomatiegeschichte, die, ebenso wie die politische oder gar militärische Geschichte, seit etwa einem Jahrzehnt zugunsten einer stärker oder teilweise fast ausschließlich wirtschafts-und sozialgeschichtlichen und theoretisierenden Betrachtung der Geschichte zurückgedrängt oder gar als altmodisch verfehmt wurde. In Wirklichkeit ist aber ein so komplexes Thema wie der Berliner Kongreß ohne ständigen Rückgriff auf wirtschafts-und sozialgeschichtliche Faktoren und theoretisierende Einordnung in den Geschichtsprozeß überhaupt nicht angemessen darzustellen. Sowohl die Quellen als auch zumindest ein Teil der älteren, eher „diplomatiegeschichtlichen" Literatur enthalten bei genauerem Studium bereits eine Fülle von wirtschaftsund sozialhistorischen Hinweisen und Faktoren, die bei der Behandlung des Themas einzubringen sind.

Der methodische Reiz liegt nicht zuletzt in der Verquickung von inneren und äußeren Faktoren, von wirtschafts-, sozial-, national-und diplomatiegeschichtlichen Faktoren, von nationalen und europäischen, von europäischen und außereuropäischen Aspekten, die alle im Berliner Kongreß zusammenkommen. Ihre Kenntnisnahme verspricht um so größeren intellektuellen Gewinn, als sie auch zu einer — im besten Sinne des Wortes — neuen Internationalisierung unserer (nicht nur in Deutschland) meist national bestimmten Geschichtskenntnisse und Geschichtsauffassungen führen kann.

Das hundertjährige Jubiläum des Berliner Kongresses gibt willkommenen Anlaß, ein Schlüsselereignis der neueren Geschichte besser als bisher auch einem breiteren interes-sierten Publikum vorzustellen: Ein wissenschaftliches Symposium Anfang Oktober 1978 in Mainz bietet die Möglichkeit, es auf internationaler Basis aufzuarbeiten Eine Ausstellung, in Zusammenarbeit mit dem Preußischen Geheimen Staatsarchiv in Berlin-Dahlem und der Stiftung Preußischer Kulturbesitz, wandert von Berlin aus in einige Städte der Bundesrepublik, so nach Bonn und Mainz. Die Veröffentlichung der Protokolle des Berliner Kongresses, neben dem französischen Original erstmals auch in deutscher Übersetzung, mit einigen zusätzlichen Materialien und einer historischen Einleitung liefert die Quellengrundlage zur näheren Beschäftigung mit diesem Ereignis. Ein Gesamtüberblick über den Berliner Kongreß an dieser Stelle kann somit nur die Aufgabe haben, historische Voraussetzungen, Vorgeschichte, Ergebnisse und Wirkungen des Berliner Kongresses zusammenfassend und allgemeinverständlich darzulegen.

Zwischen Wiener Kongreß 1815 und Versailles 1919

Die historische Stellung des Berliner Kongresses ergibt sich als Bindeglied zwischen den großen Friedenskongressen der jüngeren Neuzeit: dem Wiener Kongreß (1814/15) und dem Versailler Kongreß (1919). Der Berliner Kongreß liegt zeitlich fast genau in der Mitte zwischen diesen beiden besser bekannten Kongressen. Auch inhaltlich ist der Berliner Kongreß das wohl bedeutenste Einzelereignis für die internationalen Beziehungen Europas zwischen 1815 und 1914, ähnlich wie für die innere Entwicklung Europas im selben Zeitraum die Revolution 1848/49 das alles überragende Einzelereignis war.

Bei näherem Zusehen erweist sich, daß viele wesentliche Faktoren der historischen Entwicklung des 19. Jahrhunderts zwischen dem Wiener Kongreß und dem Ersten Weltkrieg über die Revolution 1848/49 im Berliner Kongreß zusammenlaufen oder von dort aus weiter in den Ersten Weltkrieg führen: die sozialen und politischen Konsequenzen von industrieller Revolution und Französischer Revolution; Niedergang des Osmanischen Reichs und Aufstieg der (meist südslawischen) National-bewegungen auf dem Balkan; Rivalität zwischen den Großmächten; Nationalismus und Anfänge des Imperialismus, beide eng verknüpft mit der Auflösung des Osmanischen Reichs (Balkan, Armenien, Ägypten, Zypern, Tunis). Die Fülle der zu berücksichtigenden und zu erklärenden Faktoren zwingt zur weiträumigen (zeitlich wie räumlich) Analyse, um die zahlreichen Details in größere Zusammenhänge einzuordnen und sie damit richtig verständlich zu machen.

Der Berliner Kongreß 1878 wird so zu einem Lehrstück zur Überwindung der traditionellen wie modernen Unterscheidung zwischen sozial-und wirtschaftsgeschichtlicher Analyse einerseits und diplomatiegeschichtlich-politikgeschichtlicher Darstellung andererseits. Beide Vorgehensweisen dürfen sich nicht gegenseitig ausschließen, sondern müssen sich ergänzen und durchdringen. Nur die bisher überwiegende Verabsolutierung der traditionellen Methode, mit entsprechend einseitiger Auswahl von Quellen, Beispielen und für wichtig gehaltenen Aspekten, hat jüngstens zur — inzwischen bis zum Exzeß getriebenen — strukturgeschichtlichen Betrachtung geführt als Reaktion auf die bisher dominierende politikdiplomatiegeschichtliche und personalisierende Geschichtsschreibung

Die historischen Rahmenbedingungen: Rivalität der Großmächte, Orientalische Frage, Nationalbewegungen auf dem Balkan Der Berliner Kongreß entstand als Schnittpunkt von drei großen historischen Faktoren, die in enger Beziehung zueinander standen und, durch den Berliner Kongreß in neuer Weise aufeinander zugeordnet, bis zum Ersten Weltkrieg weiterwirkten: Rivalität der Groß-mächte, Orientalische Frage, Aufbegehren der Nationalbewegungen auf dem Balkan. Orientalische Frage und Nationalbewegungen auf dem Balkan bildeten sich jeweils bedingende und ergänzende Gegenstücke. Beide waren relativ jüngeren Datums. Die Orientalische Frage wurde mit dem Frieden von Kütschük-Kai3) nardschi (1774) eröffnet die Nationalbewe-gungen auf dem Balkan nahmen ihren ersten sichtbaren Anfang mit dem serbischen Aufstand (1804) Dagegen war die Rivalität der Großmächte historisch sehr viel älter und ist spätestens mit den Konflikten von Reformation und Gegenreformation zu Beginn der frühen Neuzeit im 16. Jahrhundert anzusetzen. a) Die Rivalität der Großmächte — Zwischen Hegemonie und Gleichgewicht der Kräfte Gegen die wiederkehrenden Versuche zur Hegemonialbildung in Europa — altes Deutsches Reich, Spanien-Habsburg, Frankreich, Ruß-land — hatten sich seit dem Hochmittelalter immer wieder Gegenkräfte gesammelt, die alle Tendenzen zur Hegemonie letzten Endes erfolgreich'bekämpften während der Abstieg früherer Hegemonialmächte Machtvakuen hinterließ, in die andere aufsteigende Großmächte hineindrängten.

Ähnlich hinterließ der Rückgang des Osmanischen Reichs seit dem Frieden von Kütschük-Kainardschi (1774) vor allem auf dem Balkan ein Machtvakuum, in das erst Österreich seit 1683, später besonders Rußland seit Peter d. Großen hineindrängte. Rußland entwickelte drei große Expansionslinien, jeweils zunächst über die Ukraine im Westen, Kaukasus und Transkaukasus (Georgien, Armenien) im Osten, Konstantinopel und die Meerengen im Zentrum. Der schon ältere Machtverfall Groß-Polens, der in die Teilungen Polens (1772, 1793, 1795) einmündete, erleichterte gleichzeitig Rußlands Expansion nach Westen, die Österreichs nach Norden (Galizien), Preußens nach Osten (Posen, Westpreußen). Die Spannung im Verhältnis der drei konservativen Ostmächte untereinander — Komplizität (Teilung Polens), ideologische Solidarität gegen Revolution und Demokratie, machtpolitische Rivalität — gehört zu den großen historischen wie politischen Rahmenbedingungen des Berliner Kongresses. b) Gleichgewicht der Kräfte und europäische Kongresse Seit dem frühen 19. Jahrhundert erhielt die chronische Rivalität der Großmächte in Europa eine neue Dimension durch die Orientalische Frage, d. h. durch die Frage, was aus dem Osmanischen Reich in seinem Niedergang werden sollte. Das sich abzeichnende Machtvakuum auf dem Balkan versuchten innere Kräfte (südslawische Nationalbewegung) und äußere Kräfte (Großmächte) auszufüllen. Mit den Frieden von Kütschük-Kainardschi (1774) und Jassy (1792) schob Rußland seine Grenze nach dem Balkan vor und setzte mit einer Art moralischen Protektorats über die Balkanchristen im Osmanischen Reich einen Fuß in die Tür zum Balkan für weitere Expansionen. Seit dem Westfälischen Frieden am Ende des 30jährigen Kriegs (164 8) und dem Frieden von Utrecht am Ende des Spanischen Erbfolgekriegs (1713) entwickelte sich allmählich der Versuch, die aus der Rivalität der Groß-mächte entstehenden Konflikte im „Konzert", d. h. im Zusammenwirken der europäischen Großmächte zu bändigen oder wenigstens zu regulieren Das Ergebnis war die von England unter Wilhelm III. zuerst klar formulierte Konzeption des Gleichgewichts der Kräfte auf dem Kontinent, wonach England, schon aus dem eigenen machtpolitischen Interesse an seiner ungestörten Expansion in Übersee, die Opposition zur jeweiligen kontinentalen Großmacht mit Anspruch auf die Hegemonie organisierte und anführte.

Das „Konzert" der europäischen Großmächte fand sichtbaren Ausdruck in der Kette von großen europäischen Kongressen — in der Regel am Ende von größeren Kriegen — zur territorialen wie politischen Neuordnung Europas. Der gleichzeitige Aufstieg Preußens zur (kleinsten) Großmacht seit Beteiligung an den Teilungen Polens sowie die Einbeziehung Rußlands als europäische Großmacht im Laufe des 18. Jahrhunderts ließen die Pentarchie der fünf europäischen Großmächte entstehen, die fortan die großen europäischen Kongresse trugen — England, Frankreich, Österreich, Rußland, Preußen, wie sie zuerst im Wiener Kongreß und mit der Heiligen Allianz sichtbar wurde. Der Kreis der Großmächte wurde nach dem Krimkrieg (1853/56) durch Aufnahme des Osmanischen Reichs auf dem Pariser Kongreß (1856) und des 1859/61 neu-gegründeten Italien ins Konzert der Mächte erweitert, dann durch die Neugründung des Deutschen Reichs (1871), das an die Stelle Preußens trat, modifiziert. Hauptaufgabe des „Konzerts der Mächte" war es, das Gleichgewicht der Kräfte nach allen größeren Konflikten immer wieder von Neuem auszubalancieren. Die meisten Kongresse kombinierten die Regelung außenpolitischer Fragen (Grenzziehungen, machtpolitischer Status von Territorien) mit der Festlegung und völkerrechtlichen Sanktionierung von inneren Fragen in besonders umstrittenen Gebieten, die Ausgangspunkt oder Zentrum der großen Konflikte gewesen waren. Der Pariser Kongreß von 1856 hatte sich z. B. auch mit innerstaatlichen Konsequenzen auf dem Balkan zu befassen, die aus dem Verfall des Osmanischen Reichs seit Kütschük-Kainardschi entstanden. So stand der Berliner Kongreß auch sachlich in der Nachfolge dieses Pariser Kongresses, dessen Bestimmungen er teilweise veränderte und inzwischen eingetretenen Entwicklungen anpaßte n).

Schließlich wirkten die großen europäischen Kongresse als politische Flurbereinigung besonderer Art, indem sie bei dieser Gelegenheit schon weiter zurückliegende Veränderungen völkerrechtlich anerkannten: z. B. Unabhängigkeit der Schweiz und der Niederlande vom Deutschen Reich (1648), immerwährende Neutralität der Schweiz (1815).

Wie seine großen Vorgänger kombinierte der Berliner Kongreß die Neuregelung der territorialen Ordnung in einem Teil Europas nach einem größeren kriegerischen Konflikt mit der Neudefinierung des völkerrechtlichen Status schon bestehender und/oder neuer Staaten, gleichsam als internationaler Gesetzgeber und zur Wahrung des Gleichgewichts der Kräfte in Europa. Die Festlegung neuer Grenzen war geradezu Hauptaufgabe des Berliner Kongresses und nahm die meiste Zeit in Anspruch. Weniger umstritten war die Anerkennung eines neuen völkerrechtlichen Status für schon bestehende und neue Staatsgebilde — Unabhängigkeit für Serbien, Montenegro, Rumänien, Autonomie für Bulgarien. Die gleichsam gesetzgeberischen Eingriffe erfolgten sowohl in den jungen Balkanstaaten (namentlich durch Auferlegung der staatsbür11) gerlichen Gleichheit für alle ihre Bürger) als Bedingung für Anerkennung der Unabhängigkeit, wie auch im Osmanischen Reich (durch Festlegung und Bestätigung der Rechtsgleichheit vor allem zugunsten der in der Türkei verbliebenen christlichen Untertanen.

Die unmittelbare Vorgeschichte: Die große Orientkrise 1875/78 und ihre Auswirkungen auf die Großmächte Ausgelöst wurde die Entwicklung unmittelbar zum Berliner Kongreß durch die große Orient-krise, die mit den Aufständen in der Herzegovina und anschließend in Bosnien im Juli und August 1875 ausbrach. Wenige Monate zuvor hatte die Krieg-in-Sicht-Krise die Groß-mächte bereits an den Rand eines großen Krieges geführt Deutschlands nervöse Drohung mit einem Präventivkrieg gegen das sich überraschend schnell von seiner Niederlage von 1870/71 erholende Frankreich hatten namentlich Rußland und England mit der Warnung beantwortet, eine neuerliche Niederwerfung Frankreichs nicht hinnehmen zu wollen. Die Kettenwirkungen der Aufstände in der Herzegovina und in Bosnien gegen die osmanische Herrschaft drohten nun vom Osten her die Großmächte in einen allgemeinen Konflikt untereinander zu stürzen. Der Krimkrieg (1853/56) hatte bereits die Konfliktträchtigkeit der Balkanprobleme im Schnittpunkt zwischen Niedergang des Osmanischen Reichs, Aufbegehren der Nationalbewegungen auf dem Balkan und Rivalität der Großmächte handgreiflich vorgeführt. Aber der Krimkrieg war noch relativ begrenzt geblieben dank der Rivalität zwischen Preußen und Österreich, die sich gegenseitig zur Neutralität paralysiert hatten. Die Einigung Italiens, der Ausgleich und die Umbildung Österreichs zu Osterreich-Ungarn sowie die Neugründung des Deutschen Reichs hatten inzwischen die machtpolitische Situation in Europa verändert: Namentlich die Neugründung des Deutschen Reichs hatte das bisherige Gleichgewicht der Kräfte auf dem Kontinent tiefgrei-fend verändert, da sie das traditionelle Machtvakuum im Zentrum Europas wieder durch eine einheitliche deutsche Macht ausfüllte, die, nach allen bisherigen historischen Erfahrungen mit ähnlichen Vorgängen, eine Expansion der neuen Großmacht erwarten ließ. Die russisch-britische Intervention gegen Deutschland in der Krieg-in-Sicht-Krise weist bereits auf die Konsequenzen hin, die die beiden Flügelmächte aus dem Entstehen der deutschen Großmacht ziehen würden, sollte eine deutsche Expansion Tatsache werden.

Andererseits befürchtete gerade Bismarck, Deutschland würde über Balkanfragen in einen allgemeinen Krieg der Großmächte hin-eingerissen werden, /der die Existenz des eben neugegründeten Deutschen Reichs aufs Spiel setzen könnte. Deutschland betrieb daher in der Orientkrise insgesamt eine zurückhaltende Politik aus einer realistischen Selbstbescheidung zur besseren Konsolidierung der vorausgegangenen machtpolitischen Gewinne, die gerade das europäische Gleichgewicht so nachhaltig verändert hatten Gelegentlich taucht in den Akten aber auch das Motiv Bismarcks auf, gleichsam als lachender Dritter einem Krieg zwischen den Großmächten gelassen entgegenzusehen Der weitere Verlauf der großen Orientkrise war jedoch geeignet, eher Bismarcks realistischen Pessimismus zu bestätigen: Während es den Tür-14) ken einerseits gelang, die Aufstandsbewegungen in Bosnien und der Herzegovina militärisch weitgehend niederzuwerfen bzw. auf die Grenzgebiete der beiden aufständischen Provinzen zurückzudrängen, griffen die Aufstände 1876 nach Bulgarien und Makedonien weiter um sich. Serbien und Montenegro erklärten zudem dem Osmanischen Reich den Krieg (1876). Zwar wurde Serbien rasch geschlagen, aber Rußland zwang die Türkei durch ein Ultimatum zu einem Waffenstillstand mit Serbien und drängte auf eine europäische Konferenz zu Regelung der Balkanfragen.

Rußlands Drängen führte so zur Konstantinopler Konferenz vom Dezember 1876/Januar 1877, in der die Großmächte dem Osmanischen Reich ein Reformprogramm auf der Grundlage von österreich-ungarischen Vorschlägen nahelegten. Unter starkem inneren Druck lehnte die Pforte ab, so daß die Konstantinopler Konferenz scheiterte. So schritt Rußland zum Krieg, auch Serbien erklärte der Türkei wieder den Krieg, Rumänien gestattete der russischen Armee den Durchzug nach Bulgarien. Nach anfänglichen Rückschlägen brachen die russischen Armeen auf der Balkanhalbinsel und in Armenien den Widerstand der Türken, so daß die Russen im Januar 1878 vor Konstantinopel standen und den Frieden von San Stefano diktierten.

San Stefano sah eine so gewaltige Steigerung der russischen Macht auf dem Balkan vor — unter Verletzung der Bestimmung früherer Kongresse, vor allem des Pariser Vertrags —, daß England und Osterreich-Ungarn zur Abwehr einer russischen Vorherrschaft auf dem Balkan und auf den Meerengen eingriffen: Sie antworteten auf San Stefano mit der indirekten Drohung eines Krieges gegen Rußland, England zusätzlich mit der Entsendung seiner Flotte und eines starken Expeditionskorps in den Bosporus im Februar 1878. England und Osterreich-Ungarn erzwangen durch ihren Einspruch als Alternative zum großen Krieg der europäischen Großmächte einen europäischen Kongreß zur Beilegung der Streitpunkte. Da Osterreich-Ungarn selbst zu den potentiellen Kriegsgegnern Rußlands gehörte, schied Wien als Kongreßort aus, von London ganz zu schweigen. Konstantinopel und St. Petersburg kamen aus entsprechenden Gründen nicht in Frage. Als geeigneter Ort erschien Berlin, die Hauptstadt der Großmacht, die keine unmittelbaren eigenen Interessen auf dem Balkan hatte, aber genügend Macht besaß und nahe genug dem Balkan lag, um für alle Beteiligten als hinreichend unbefangen und einflußreich zu gelten, um eine friedliche Lösung zu fördern.

Die Interessenlage der Großmächte 1875/78

Die Hauptkonfliktlinie zwischen den Großmächten, die zum Berliner Kongreß führte, war somit durch die machtpolitische Rivalität zwischen England und Rußland bestimmt.

Rußland Rußlands Expansion war als Folge des Krim-kriegs vorübergehend auf den Fernen Osten und nach Zentralasien abgelenkt worden, womit Rußland, direkt oder indirekt, wieder mit Interessen des Britischen Empire zusammen-stieß, vor allem über Zentralasien, weil die russische Expansionslinie dort nach Indien wies. Mit dem Wiederaufbrechen der Orientalischen Frage in den Aufständen und lokalen Kriegen auf der Balkanhalbinsel gegen die Türkei 1875/76 richtete sich die russische Expansion wieder auf den Balkan. Zum traditionellen ideologischen Motiv Rußlands — Solidarität mit den überwiegend orthodoxen Christen des Balkans unter osmanischer Herrschaft — kam mit dem Panslawismus in Rußland ein neues ideologisches Motiv hinzu: Solidarität mit den stamm-'und sprachverwandten Südslawen, denen die politische Freiheit als zumindest autonome Staaten zu-stünde, unter politischer Führung des mächtigeren Rußland.

Mit seinem militärischen Zusammenbruch war das Osmanische Reich Rußland scheinbar auf Gnade und Ungnade ausgeliefert. Andererseits war der Krieg für Rußland äußerst kostspielig geworden. Ferner waren die russischen Verbindungslinien zu seiner Armee vor Konstantinopel überdehnt und leicht zu unterbrechen, z. B. durch ein britisches Landungskorps, ähnlich wie'im Krimkrieg. Die gleichzeitige erste vorrevolutionäre Terrorwelle in Rußland wies zudem auf innere Konflikte hin, die nur 40 Jahre später, unter den Belastungen von zwei weiteren schweren Kriegen (gegegen Japan 1904/05 und gegen die Mittelmächte im Ersten Weltkrieg) tatsächlich zur Revolution führten. Rußland konnte daher angesichts des mehr oder minder entschlossenen Widerstands von wenigstens zwei Großmächten (England, Österreich-Ungarn) seine überlegene Position gegenüber dem Osmanischen Reich nicht bis zur letzten Konsequenz ausnützen. Rußland versuchte aber, auf dem Berliner Kongreß ein Maximum seiner Gewinne von San Stefano gegenüber den anderen europäischen Großmächten zu behaupten und sich völkerrechtlich bestätigen zu lassen, ohne es zum großen Krieg kommen zu lassen, dessen Belastungen nach allen Erfahrungen die Spannungen nach innen noch weiter verschärft hätten.

England England wollte zur strategischen Sicherung seiner Herrschaft in Indien — dem territorialen und ökonomischen Zentrum seines Weltreichs — eine russische Expansion nach Indien verhindern. Diese asiatische Komponente braucht hier nur am Rande zu interessie-ren, weil sie auch beim Berliner Kongreß nur marginal behandelt wurde. Aus geographischen Gründen war die Sicherung des Seewegs nach Indien für England — seit der Agyptenexpedition Bonapartes (1798) als Auftakt zur späteren Eroberung Indiens — ein zentrales Problem britischer Gleichgewichts-politik in Europa, erst gegen Frankreich gewendet, dann gegen Rußland: England wollte vermeiden, daß Rußland aus dem Schwarzen Meer ins Mittelmeer einbrechen würde. Da es gleichzeitig ideologische Sympathien für das nationale Aufbegehren der christlichen Balkanvölker hatte, ergab sich für das liberalere England ein Dilemma, das sich nach anfänglichem Schwanken (Unterstützung Griechenlands, mit Frankreich und Rußland gegen die Türkei 1827) in eine durch Drängen auf innere Reformen zugunsten der Balkanchristen modifizierte Unterstützung der Türkei gegen Rußland auflöste: So entsandte England zwar Anfang 1878 seine Flotte mit einem Landungskorps in den Bosporus als Gegengewicht zu den russischen Truppen vor Konstantinopel und erzwang mit seiner zumindest indirekten Kriegsdrohung den Berliner Kongreß, aber auf dem Kongreß selbst unterstützte es auch mehrere gegen die Türkei gerichtete Anträge, vor allem zur Okkupation Bosniens und der Herzegovina, zu territorialen Konzessionen zugunsten Griechenlands, generell zu Reformen zugunsten der im Osmanischen Reich verbliebenen Christen.

Frankreich, Italien Demgegenüber waren die machtpolitischen Ambitionen der anderen Großmächte zur Zeit der Orientkrise von 1875/78 nur von untergeordneter Natur: Frankreich hatte überhaupt keine Interessen am Balkan und war durch seine vorausgegangene Niederlage gegen Deutschland (1870/71), seine machtpolitische Isolierung und seine inneren Krisen zu Beginn der Dritten Republik zu größeren diplomatischen Aktionen überhaupt nicht fähig. Italien hatte zwar schon sofort nach seiner nationalstaatlichen Einigung Interessen an der adriatischen Gegenküste zu erkennen gegeben, namentlich am damals noch osmanischen Albanien, war jedoch machtpolitisch noch nicht in der Lage, seine Balkaninteressen aktiv zu verfolgen und konnte nur versuchen, sich künftige Expansionslinien offenzuhalten, wie sie im 20. Jahrhundert, vor allem unter dem Faschismus im Zweiten Weltkrieg, dann auch zur kurzfristigen Expansion Italiens auf der Balkanhalbinsel führten.

Deutschland Deutschland hatte 1875/78 noch keine erkennbaren Expansionstendenzen auf dem Balkan entwickelt, da die junge deutsche Industrie noch auf den eigenen Binnenmarkt orientiert war, den gerade eben Jahrhundert, vor allem unter dem Faschismus im Zweiten Weltkrieg, dann auch zur kurzfristigen Expansion Italiens auf der Balkanhalbinsel führten.

Deutschland Deutschland hatte 1875/78 noch keine erkennbaren Expansionstendenzen auf dem Balkan entwickelt, da die junge deutsche Industrie noch auf den eigenen Binnenmarkt orientiert war, den gerade eben erst die Reichsgründung geschaffen hatte. Außerdem erschien Osterreich-Ungarn insgesamt noch so stark, daß Bismarck tatsächlich noch kein Interesse hatte, sozusagen über die Köpfe Österreich-Ungarns hinweg in Räumen politische Abenteuer zu suchen, in denen Deutschland (noch) nichts verloren hatte. So war 1875/78 die Ausgangssituation Deutschlands durch ein subjektives wie objektives Desinteresse am Balkan gekennzeichnet, modifiziert durch das Interesse, das sich abzeichnende Machtvakuum auf der Balkanhalbinsel nicht durch Rußland ausfüllen zu lassen 17). Vordergründig und für die Zeitgenossen allein sichtbar war 1878 das tatsächlich weitgehende Fehlen direkter Interessen Deutschlands am Balkan, so daß Bismarck in der Tat annähernd eine Vermittlerrolle auf dem Berliner Kongreß anstreben oder beanspruchen konnte, ausgedrückt im bekannten Wort vom „ehrlichen Makler“.

Osterreich-Ungarn Österreich-Ungarn betrieb seit Maria Theresia insgesamt keine expansive Balkanpolitik mehr gegen das Osmanische Reich 18). Es hatte zwar von der anhaltenden Schwäche des Osmanischen Reichs durch Annexion der Bukowina profitiert (1775), aber sich seit dem Durchbruch der nationalen Bewegung auf dem Balkan — serbischer Aufstand (1804), Unabhängigkeitskrieg Griechenlands (1821) — schon aus Gründen der dynastisch-imperialen Legitimität jeglicher Intervention gegen die Pforte enthalten. Nach dem Verlust seiner Vormachtstellung in Italien (1859/61) und Deutschland (1866) und nach der damit verbundenen inneren Krise, die im Ausgleich und in der Doppelmonarchie Osterreich-Ungarn ihren vorläufigen Abschluß gefunden hatte (1867), entwickelte die Donaumonarchie ein neues Interesse, das die seit Maria Theresia traditionelle Politik einer relativen Passivität auf dem Balkan zumindest erheblich modifizierte: Zwar stützte Österreich-Ungarn in der großen Orientkrise das Osmanische Reich gegen die Expansion Rußlands, andererseits entstand eine neue Tendenz begrenzter Expansion durch offizielle Wünsche nach Einverleibung der türkischen Provinzen Bosnien und der Herzegovina 19), zuletzt noch vertreten durch Andrassy in der großen Staatskonferenz vom 29. Januar 1875 20). Hinzu kam ein wachsendes Interesse am Eisenbahnbau auf der Balkanhalbinsel und an der Donauschiffahrt als Handelswege für die sich entfaltende Industrie Österreich-Ungarns mit Schwerpunkt in Böhmen.

Andrassy und die ihn tragenden Kräfte ließen sich einerseits vom Wunsch nach Kompensation für die territorialen und politischen Einbußen Österreichs in Italien und Deutschland von 1859/61 und 1866 leiten, andererseits von strategischen Erwägungen kurzfristiger wie längerfristiger Natur: Die langgestreckte Küste Dalmatiens, die seit dem Wiener Kongreß zu Österreich gehörte, erforderte zur militärischen Verteidigung ein tieferes Hinterland; Österreich-Ungarn wollte verhindern, daß Bosnien und die Herzegovina durch Union mit Serbien und/oder Montenegro einen Teil eines großen südslawischen Staates bilden würden, der früher oder später auch die übrigen Südslawen in der Donaumonarchie an sich ziehen würde, so daß danach der Zerfall der Donaumonarchie nur noch eine Frage der Zeit und der Modalitäten geworden wäre.

Andrassy hatte daher auf dem Berliner Kongreß eine schwierige Position: Einerseits wollte er seine indirekte Kriegsdrohung gegen Rußland wegen San Stefano glaubhaft machen, ohne einen Krieg tatsächlich durchstehen zu können. Andererseits wollte er — gegen erheblichen Widerstand im eigenen Land, vor allem in Ungarn — Bosnien und die Herzegovina als territorialen Gewinn für die Donaumonarchie einbringen. Türkei Das Osmanische Reich galt zwar formal noch als Großmacht, seit dem Pariser Kongreß (1856) gar ins Konzert der europäischen Groß-mächte aufgenommen, aber es war auf dem Berliner Kongreß weitgehend nur Objekt der eigentlichen europäischen Großmächte, die fast nach Belieben über die Wünsche der Pforte hinweggingen. Die Pforte hatte das Interesse, möglichst wenig Territorien nach dem russisch-türkischen Krieg von 1877/78 zu verlieren. Sie versuchte zu diesem Zweck, ihre seit Kütschük-Kainardschi traditionelle Strategie fortzusetzen, die Großmächte untereinander auszuspielen, vor allem England/Osterreich-Ungarn gegen Rußland, um Eingriffe in das Osmanische Reich abzuwehren. Daraus entstand das Mißtrauen vor allem in Rußland, aber auch in Deutschland und England, daß die Pforte Zusagen zu inneren Reformen, vor allem die rechtliche und politische Gleichberechtigung der Christen, nur zum Schein geben wolle.

Tatsächlich widersprachen die Forderungen der Großmächte nach Gleichstellung der Christen im Osmanischen Reich dem Grundprinzip islamisch-osmanischer Reichs-und Herrschaftsvorstellung und die Forderungen nach inneren Strukturreformen liefen sich im Gewirr eines ungefügigen und unreformierbar gewordenen Sozialgefüges tot.

Der Berliner Kongreß: Ergebnisse und historische Wirkungen

Diplomatische Vorbereitungen Der Vorfriede von San Stefano erregte unter den Großmächten, vor allem England und Osterreich-Ungarn, den heftigsten Widerspruch gegenüber der geplanten Errichtung eines Groß-Bulgarien, das sich bis zur Ägäis und bis vor die Tore von Adrianopel und Konstantinopel erstrecken sollte. Formal wäre Bulgarien als autonomer Staat unter osmanischer Oberhoheit geblieben, tatsächlich hätte es aber die Speerspitze der russischen Expansion auf dem Balkan gebildet. Osterreich-Ungarn fühlte sich zusätzlich um die Reichstädter Zusagen Rußlands aus dem Jahr 1876 geprellt, da Bosnien und die Herzegovina, ebenfalls formal mit innerer Autonomie, unter os-manischer Oberhoheit bleiben sollten.

England unterstrich seine Kriegsbereitschaft mit militärischen Vorbereitungen analog zu denen im Krimkrieg: Entsendung seiner Flotte in den Bosporus als militärisches Gegengewicht zur russischen Armee vor Konstantinopel, Einberufung von Reserven, Ausrüstung des Expeditionskorps von 70 000 Mann, Verlegung von indischen Truppen nach Malta, die somit erstmals in einen europäischen Konflikt hätten eingreifen sollen.

Rußland wehrte zunächst jede Kritik an San Stefano ab und verweigerte jedes Eingehen auf den Vorschlag Osterreich-Ungarns, auf einer europäischen Konferenz de Streitfrage zu lösen. Erst unter dem Druck der britischen Kriegsvorbereitungen, der Gärungen im Inneren im Zusammenhang mit den ersten Terror-anschlägen und Nihilistenprozessen, aber auch der strategisch exponierten Lage der russischen Armee vor Konstantinopel griff Rußland Mitte April 1878 die Konferenzidee Andrassys auf und begann allmählich einzulenken: Der russische Botschafter in London, Peter Graf Schuwalow, durfte mit England ein Abkommen schließen, das den Weg zur grundsätzlichen Einigung in der Hauptstreitfrage freigab: Rußland stimmte zu, den Umfang Bulgariens zu beschränken und Bulgarien staatlich aufzuteilen. Ferner stellte Ruß-land alle Artikel des Vorfriedens von San Stefano zur Disposition, indem es einem Kongreß die „freie Diskussion" aller Bestimmungen von San Stefano zugestand. Erst danach, am 3. Juni 1878, konnte die Einladung zum Berliner Kongreß ergehen, dem Tag nach dem zweiten Attentat auf Kaiser Wilhelm I. in Berlin.

England sicherte sich durch zwei weitere bilaterale Abkommen seine Ausgangsposition auf dem Berliner Kongreß: Die Geheimkonvention mit der Türkei vom 4. Juni 1878 gab England das Recht, Zypern zu okkupieren, falls Rußland Batum an der Schwarzmeerküste erhalten sollte. Dafür garantierte England dem Osmanischen Reich seinen weiteren Bestand und diplomatische Hilfe auf dem Berliner Kongreß. Zwei Tage später, am 6. Juni, einigte sich England mit Österreich-Ungarn auf das Hauptziel des Berliner Kongresses: Begrenzung und Aufteilung Bulgariens. Verlauf Der Berliner Kongreß tagte vom 13. Juni bis 13. Juli 1878 im neubezogenen Reichskanzlerpalais in der Wilhelmstraße in 20 Plenarsitzungen. Die sieben Großmächte hatten 20 Delegierte entsandt — Deutschland, Osterreich-Ungarn, Rußland, England, Frankreich, Türkei je drei, Italien zwei Als Gastgeberland stellte Deutschland den Kongreßpräsidenten (Bismarck). Beratungsgegenstand war im wesentlichen der Vorfriede von San Stefano, dessen Bestimmungen in Einklang mit den Interessen der übrigen Mächte Europas zu bringen waren. Für inhaltliche Beschlüsse galt Einstimmigkeit. Die Reihenfolge der behandelten Gegenstände orientierte sich daran, wie kompliziert und schwerwiegend sie waren: Bulgarien, Bosnien-Herzegovina, Bessarabien, Batum und der Bosporus bezeichnen die wichtigsten Probleme, in absteigender Linie ihrer Bedeutung angeordnet. In dieser Reihenfolge wurden die Probleme auch im Berliner Vertrag, dem Ergebnis des Berliner Kongresses, abgehandelt. Hinzu kamen weniger kontroverse Fragen wie Regelung der Donauschiffahrt, Unabhängigkeit Montenegros, Serbiens und Rumäniens.

Bismarck drückte stets auf das Tempo der Verhandlungen, wofür ihn einige Delegierte in zeitgenössischen Aufzeichnungen bzw. späteren Erinnerungen kritisierten- Eine Krise entstand gleich zu Beginn des Kongresses durch den Konflikt um Bulgarien (vor allem zwischen England und Rußland), der bis an den Rand des Kongreßabbruchs und der Gefahr eines Krieges ging. Bismarck rettete die Situation, indem er außerhalb des Plenums in privaten Unterredungen vor allem auf die russischen und englischen Hauptdelegierten — Reichskanzler Gortschakow und Premierminister Lord Beaconsfield (Disraeli) — einwirkte. Nach der Lösung der Bulgarienfrage kam es zwar im Plenum immer wieder zu kritischen Situationen, die aber durch zwei-oder mehrseitige Sonderverhandlungen überwunden wurden

Ergebnisse Die Ergebnisse des Berliner Kongresses lassen sich formal als die Differenz zwischen den Bestimmungen des Vorfriedens von San Stefano und des Berliner Vertrags definieren: Territoriale Reduzierung und Aufteilung Bulgariens, Okkupation Bosniens und der Herzegovina, territoriale Erweiterung und Unabhängigkeit Serbiens und Montenegros, Unabhängigkeit für Rumänien unter gleichzeitigen territorialen Modifizierungen (Bessarabien, Dobrudscha, Donaumündung); in diesem Zusammenhang Okkupation Zyperns durch England; Grenzverschiebungen in Asien zugunsten der Türkei und Persiens.

Die Summe der zahlreichen, im Detail oft komplizierten Bestimmungen läßt sich nicht so ohne weiteres auf einen Nenner bringen, schon weil zwischen kurz-und langfristigen Ergebnissen und Wirkungen zu unterscheiden ist.

Erhaltung des Friedens Dem Berliner Kongreß gelang zwar die Verhinderung eines großen Kriegs zwischen den Großmächten um die Balkanfragen für 36 Jahre. Somit hatte er sein kurzfristiges Ziel mehr als erreicht. Aber langfristig wurden die Probleme nicht gelöst, sondern nur auf Kosten der niedergehenden Türkei und der aufstrebenden südslawischen Nationalbewegung vertagt. Sicherlich waren die Probleme, die in den Jahrhunderten osmanischer Vorherrschaft aufgelaufen waren, nicht schlagartig zu lösen, weil sie viel zu kompliziert waren.

Bosnien-Herzegovina An einer Stelle drängt sich tatsächlich die Vermutung auf, daß die von Hohenlohe und anderen kritisierte Eile, mit der Bismarck den Berliner Kongreß durchzog und auf die prompte Durchführung seiner Bestimmungen drängte, die weitere Entwicklung nur verschärfte: Gegen die Warnung der Türken setzte sich der Berliner Kongreß über alle Proteste der Bevölkerung in Bosnien und der Herzegovina hinweg und beschloß die Okkupation der beiden Provinzen — von denen die Unruhe, der großen Orientkrise ausgegangen war — im Stil alter Kabinettspolitik, ohne Rücksicht auf das inzwischen schon angewandte und auch immer wieder geforderte nationale Selbstbestimmungsrecht. Nachdem sich die Türken in die Unvermeidbarkeit der Okkupation geschickt hatten, plädierten sie dafür, wenigstens das ganze Unternehmen behutsam bei den Betroffenen psychologisch und politisch vorzubereiten Aus den bisherigen Erfahrungen mit der Hinhaltetaktik der Türkei war das Mißtrauen in Osterreich-Ungarn und Deutschland gegen die türkischen Warnungen verständlich, weil sie sich wie neue Verzögerungen ausnahmen. Tatsächlich aber wollten die Türken verhindern, daß eine komplizierte Frage eilfertig übers Knie gebrochen würde, die sich sofort und später auch als höchst explosiv erwies.

Statt dessen erzwangen die Österreicher in der Hast, ihren einzigen größeren territorialen Gewinn aus dem Berliner Kongreß sogleich sicherzustellen, die Okkupation gegen eine konsternierte Bevölkerung, die zum größten Teil nicht gesonnen war, die österreichungarische Herrschaft gegen die türkische einzutauschen. Es kam zu heftigen Widerstandsaktionen, so daß die Österreicher zuletzt fast 200 000 Mann aufbieten mußten, um die Okkupation der beiden Provinzen zu erzwingen. Höhepunkt des regulären Feldzugs war die Einnahme Sarajevos, der Hauptstadt Bosniens, nach mehrtägigen blutigen Straßen-kämpfen. Nach der äußeren Befriedung kam es 1882 zu einem erneuten Aufstand. So entstand eine Widerstandstradition, die sich nun gegen Osterreich-Ungarn, die neue Okkupationsmacht, richtete. Aus der neuen Widerstandstradition ging eine Generation später die Attentatsgruppe von Sarajevo hervor.

Die Problematik der neuen Erwerbung für Osterreich-Ungarn ist nicht nur nachträglich zu erkennen, sondern wurde bereits in einem Kommentar einer süddeutschen Zeitung zum Mandat des Europäischen Kongresses in Berlin zur Okkupation Bosniens und der Herzegovina in einer eindrucksvollen Prognose vorausgesagt: „Ob die offizielle Pforte sich mit Waffengewalt dem österreichischen Einmarsch widersetzen wird oder nicht, kann mit Bestimmtheit nicht gesagt werden. So viel aber ist gewiß, daß die bosnischen Muhamedaner alle bewaffnet und schwerlich entschlossen sind, beim Herannahen österreichischer Truppen die Waffen wegzuwerfen. Man vergesse doch nicht, daß in Bosnien 60 000 Muselmanen auf 40 000 Christen kommen und daß die Hälfte der Christen nicht römisch-katholisch, sondern griechisch-orthodox ist, Österreich also nur bei einem geringen Bruchteil der Bevölkerung auf Entgegenkommen rechnen darf. Wenn es nun die Moslems in Bosnien unternehmen sollten, was immerhin möglich ist, als geschlossene Nationalmiliz aufzutreten und, sobald die österreichischen Truppen die Grenze überschreiten, den bosnischen Christen die Wahl zwischen Tod und Anschluß an bewaffneten Widerstand zu stellen, so wird die Okkupation Bosniens ein recht blutiges Stück Arbeit werden und manches Tausend österreichischer Soldaten kann bei dieser Arbeit zu Grunde gehen. Wenn aber die Arbeit getan sein wird, so hat Österreich eine neue Provinz, die mehr Trümmerhaufen als Ortschaften, mehr Einöden als Landstraßen zählen und die an den österreichischen Staatssäckel Jahrzehnte lang Forderungen stellen wird, welche nicht befriedigt werden können, ohne daß man die Stammländer aufs allerempfindlichste schädigt. Bei jedem Krieg aber, den Österreich an irgendeiner Grenze zu führen haben wird, dürfte es eine beträchtliche Truppenzahl zur Sicherung seiner Südgrenzen verwenden müssen. Serbien, die Bulgare! und Montenegro werden die Unabhängigkeit Bosniens und dessen Eintritt in den südslawischen Staatenbund unablässig verlangen, Österreich also m\ it diesen Staaten ernstlich rechnen müssen... Die bosnische Frucht schien, so ist zu fürchten, nur so lange sie am Baume hing, süß; sobald man einen Biß hineintut, wird man merken, wie sauer sie eigentlich ist. Auch Graf Andrassy wird noch zu erfahren haben, daß verbotene Frucht nicht immer süß schmeckt, und daß derjenige ein Reich nicht immer stärkt, der seine Grenzen erweitert."

Spätestens mit dem Attentat von Sarajevo und der Auflösung der Doppelmonarchie am Ende des Ersten Weltkriegs im Oktober 1918 hatte sich die Voraussage der süddeutschen Zeitung zum 28. Juni 1878 erfüllt, „daß derjenige ein Reich nicht immer stärkt, der seine Grenzen erweitert". In der Tat einverleibte sich Österreich-Ungarn mit der Okkupation, später Annexion Bosniens und der Herzegovina selbst jene kritische Masse an zusätzlichem Konfliktstoff, an dem es, über Sarajevo und den Ersten Weltkrieg, selbst zugrunde ging Rußland Kurzfristig war der Berliner Kongreß für Ruß-land ein Rückschlag und wurde dort überwiegend auch als Enttäuschung begriffen. Dieser Rückschlag ist aber nur relativ zu sehen, nämlich im Vergleich zum Vorfrieden von San Stefano und gegen den Hintergrund der traditionellen Expansionspolitik Rußlands. Die Aufteilung Bulgariens erwies sich nur als künstlich und ließ sich nur wenige Jahre aufrechterhalten bis zur eigenmächtigen Vereinigung Bulgariens und Ost-Rumeliens (1885). Bulgarien war jedoch mittelfristig zunächst überwiegend dem russischen Einfluß entglitten, wie sich später vor allem mit der Beteiligung Bulgariens im Ersten Weltkrieg auf Seiten der Mittelmächte zeigte. Langfristig dagegen gewann Rußland — in einer im Innern wie weltpolitisch tiefveränderten Situation, in einer Kombination sozialrevolutionärer und nationaler Faktoren, von Kommunismus und Panslawismus — im Gefolge des Zweiten Weltkriegs doch die Vorherrschaft auf weiten Teilen der Balkanhalbinsel.

Zweibund Deutschland — Österreich-Ungarn Kurzfristig die direkteste und bekannteste Wirkung des Berliner Kongresses war die Bildung des Zweibunds zwischen Deutschland und Österreich-Ungarn (1879). Ein Jahr zuvor, im Juni 1877, hatte Bismarck noch im berühmten Kissinger Diktat die machtpolitische Konstellation auf dem europäischen Kontinent beschworen, die ihm für seine Kontinentalpolitik als am günstigsten erschienen war: Bünd-nislosigkeit der Großmächte untereinander Ein Jahr nach dem Berliner Kongreß sah sich Bismarck nun doch gezwungen, die Option für eine europäische Großmacht zu vollziehen, die er auf dem Berliner Kongreß noch einmal vermeiden zu können glaubte — eben durch seine insgesamt doch ausgleichende Position. Nach Lage der Dinge kam nur die Wahl zwischen Osterreich-Ungarn und Ruß-land in Frage. In Denkschriften, die heute noch eindrucksvolle Beispiele für die Kombination von historisch-politischer Analyse und Prognose sind, legte Bismarck seine Gründe für den Zweibund mit Osterreich-Ungarn gegenüber dem zaudernden Kaiser Wilhelm I. dar, der am preußisch-russischen Bündnis festhalten wollte und im traditionellen Rivalitätsverhältnis Hohenzollern-Habsburg großgeworden war.

Im Lichte der weitergegangenen historischen Entwicklung seit fast genau einem Jahrhundert helfen Bismarcks Argumente nicht nur, die politische Konstellation von 1879 und die vom Deutschen Reich daraus gezogenen politischen Konsequenzen besser zu verstehen, sondern auch die historische Entwicklung danach: Ohne Bündnis wäre Deutschland auf Dauer gegenüber der russischen Expansion auf dem Kontinent isoliert gewesen, zumal wenn Rußland ein Bündnis mit Frankreich und einem auf Rache drängenden Osterreich-Ungarn gelungen wäre. Für ein Bündnis würde Rußland weniger in Frage kommen, da hinter der Fassade der Autokratie bereits die russische Revolution lauerte. Bismarck meinte zwar, „in diesen wie in allen Fragen der großen Politik" könne man „keine mathematischen Beweise führen oder verlangen“ und verwies vorsichtig darauf, man könne „die Zukunft und die Entschließungen anderer nur mit mehr oder weniger richtigem instinktiven Vorgefühl ermessen". Der Sache nach aber hat Bismarck bereits 1879 die großen Linien der Entwicklung in Rußland zur Revolution über die Niederlagen im Krieg gegen Japan und im Ersten Weltkrieg richtig skizziert, auch in der Dialektik zwischen inneren und äußeren Komplexen.

Dagegen setzte Bismarck die historischen Gemeinsamkeiten mit Osterreich-Ungarn: „Mit dem Staate Österreich haben wir mehr Momente der Gemeinsamkeit als mit Rußland. Die deutsche Stammesverwandtschaft, die geschichtlichen Erinnerungen, die deutsche Sprache, das Interesse der Ungarn für uns, tragen dazu bei, ein österreichisches Bündnis in Deutschland populärer, vielleicht auch haltbarer zu machen."

Schließlich hielt Bismarck Österreich für durchgängig konservativer, friedliebender, somit eher auf ein Defensivbündnis angewiesen und im Innern stabiler Nur in diesem letzten Punkt irrte Bismarck, wie wir spätestens seit 1918 wissen, denn Osterreich-Ungarn ging nur ein Jahr später nach dem Zarenreich zugrunde.

Mit dem Zweibund von 1879, dem sich 1882 Italien zum Dreibund anschloß, hatte Deutschland selber den seit dem Krimkrieg und dem deutsch-französischen Krieg bestehenden Zustand der Bündnislosigkeit der Großmächte in Europa beendet. Mittelfristig war damit der Weg aus der Isolierung für Frankreich frei: durch das Bündnis mit Ruß-land 1892/94, um das sich später die beiden Arrangements Englands mit Frankreich (1904) und Rußland (1907) zur Triple Entente gruppierten. So führte der Berliner Kongreß indirekt über Zweibund/Dreibund und Triple Entente zu der Konstellation, unter der die Großmächte 1914 in den Ersten Weltkrieg eintraten.

Deutschland: Die konservative Entsprechung zur Bündnispolitik im Inneren Für die Entwicklung in Deutschland ist der Berliner Kongreß mit seiner Konsequenz des Zweibundes in zeitlicher Parallele und sachlicher Nähe zur konservativen Wende zu sehen, die mit dem Sozialistengesetz 1878 und dem Übergang zur Schutzpolitik 1878/79 umschrieben ist. Die Option für Osterreich-Ugarn vollzog Bismarck ausdrücklich mit dem Argument, die Donaumonarchie sei gegenüber Rußland der konservativere und stabilere Partner. Das Bündnis mit Osterreich-Ungarn lief ferner in seiner Konsequenz auf die Festlegung gegen das Prinzip der aufsteigenden Nationalbewegungen, namentlich auf dem Balkan, hinaus, die sich seit dem 20. Jahrhundert vor allem noch gegen Osterreich-Ungarn richteten, wobei sich Deutschland mit der Präambel des Dreibundvertrags als Vormacht des konservativen Prinzips und der Monarchie gegen Demokratie und Revolution fühlte. Dem entsprachen im Innern die gleichzeitige Wendung gegen Sozialdemokraten und Nationalliberale 1878/79 zugunsten eines Arrangements mit Konservativen und einem überwiegend konservativ gestimmten katholischen Zentrum.

Die hier genannten innen-und außenpolitischen Vorgänge standen in engem zeitlichen Zusammenhang miteinander. Ihre sachliche Verknüpfung an dieser Stelle zum besseren historischen Verständnis des Berliner Kongresses, seiner historischen Rahmenbedingungen und Wirkungen, erscheint daher gerechtfertigt, selbst wenn etwaige kausale Verknüpfungen im Bewußtsein der Handelnden, z. B. zwischen Sozialistengesetz und Hinwendung zu Osterreich-Ungarn, durch weitere Forschungen erst noch näher zu beweisen wären. Jedenfalls ist objektiv die Parallelität in der gleichzeitigen konservativen Wendung nach Innen und Außen bemerkenswert genug.

Die Orientalische Frage: Osmanisches Reich und südslawische Bewegungen auf dem Balkan Für die Entwicklung der Orientalischen Frage und für den Aufstieg der südslawischen Nationalbewegung bedeutete der Berliner Kongreß in vieler Hinsicht eine tiefgehende Zäsur: Für das Osmanische Reich brachte der Berliner Kongreß noch einmal eine Verlängerung seiner fragwürdig gewordenen Existenz bis in den Ersten Weltkrieg. Es gelang ihm aber nicht, konstruktiv und mit politischen Mitteln seine Grundproblematik zu lösen: Modernisierung und Umwandlung einer traditionell imperialen, auf Eroberung und Herrschaft beruhenden Machtstruktur in eine neue politische Struktur, die den ursprünglich unterworfenen nationalen Minderheiten Raum für freie Entwicklung bieten würde. Die starre Reichs-ideologie des Osmanischen Reichs gab dazu keine Chance. Den an sich logischen Schritt zur Föderalisierung und Demokratisierung hätte das System nicht wagen können, ohne sich selbst aufzugeben. Auch die jungtürkische Revolution 1908 mit ihrem anfänglichen liberalen und konstitutionellen Pathos konnte nicht das Dilemma des Osmanischen Reichs lösen. Im Gegenteil: Der Rückgriff auf die 1878 supendierte Verfassung von 1876 und die Ausschreibung von Wahlen zum osmanischen Reichsparlament auch in Bosnien-Herzegovina gab Osterreich-Ungarn den Vorwand zur Annexion der beiden Provinzen (1908), die mit der Bosnischen Annexionskrise wiederum dem südslawischen Nationalismus neuen Auftrieb gab.

Die Balkanstaaten und die südslawische Bewegung Für die meisten Balkanländer bedeutete der Berliner Kongreß einen noch tieferen Einschnitt, einerlei, ob sie ihn in ihrer National-geschichte überwiegend positiv (Serbien, Montenegro) oder negativ (Rumänien, Bulgarien) einordnen und bewerten: Die Unabhängigkeit für Montenegro und Serbien gab beiden südslawischen Staaten größeren Spielraum in der Verfolgung ihrer nationalen Interessen, zunächst, bis in den 1. Balkankrieg hinein, überwiegend gegen das Osmanische Reich. Serbien ordnete sich zwar zunächst Osterreich-Ungarn unter, so daß es fast die Position eines Satellitenstaats einnahm. Aber nach dem Sturz der Obrenovic-Dynastie 1903, nach dem Zollkrieg von 1906/11, mit dem Osterreich-Ungarn auf die Weigerung Serbiens reagierte, einen größeren Rüstungsauftrag den österreich-ungarischen Skoda-Werken zu vergeben, wurde Serbien zum „Piemont" der südslawischen Bewegung, zum stärksten staatlichen Rückhalt der nationaldemokratischen und nationalrevolutionären Strömungen, namentlich unter den Südslawen in Osterreich-Ungarn selbst: von Slowenien über Kroatien und Dalmatien bis nach Bosnien-Herzegovina.

Rumänien erhielt zwar seine Unabhängigkeit — und seine Vereinigung von 1859/61 wurde vom Berliner Kongreß nachträglich völker-rechtlich anerkannt und legitimiert. Aber es empfand schmerzlich die Abtretung Bessarabiens an Rußland, während die Süddobrudscha als Kompensation nur neue Reibungsflächen mit Bulgarien schuf. Für Rumänien fiel daher die nationalgeschichtliche Bilanz des Berliner Kongresses eher gemischt aus.

Eindeutig negativ dagegen rangiert der Berliner Kongreß im nationalen Bewußtsein Bulgariens: Für die großbulgarischen Aspirationen bedeutete die territoriale Aufspaltung in das Fürstentum Bulgarien und Ost-Rumelien einen Rückschritt, den es allerdings schon wenige Jahre später, 1885, in einem einseitigen Akt nationalrevolutionären Charakters durch die Vereinigung der beiden Teilstaaten zu einem einheitlichen Bulgarien wieder überwand. Die Proklamation der Unabhängigkeit Bulgariens als Königreich nach der Jung-türkischen Revolution 1908 war nur eine logische Folge. Als gravierender, im Grunde noch bis in die Gegenwart hineinwirkend erweist sich das Ressentiment über die territorialen Beschneidungen namentlich in Makedonien, Thrakien und der Süddobrudscha. Das Gefühl Bulgariens, international geschädigt zu sein, setzte sich mit dem bulgarisch-serbischen Krieg von 1885 über den 1. Balkankrieg (1912/13) bis in den 2. Balkankrieg fort, als Bulgarien zur Eroberung des begehrten Makedoniens sich die gleichzeitige Feindschaft Serbiens, Rumäniens und der Türkei zuzog. Bulgarien, inzwischen von Osterreich-Ungarn protegiert, wurde so geschwächt, daß es sich im Ersten Weltkrieg 1915 den Mittel-mächten gegen Serbien anschloß und dabei auch die Bundesgenossenschaft mit dem an sich verhaßten Osmanischen Reich in Kauf nahm.

Durch die Rückgabe Makedoniens an die Türkei vertagte der Berliner Kongreß noch einmal den großen Balkankonflikt um diese Region, vielleicht nicht ahnend, an welchen Abgründen entlang sich in dieser Frage Europa bewegte. Makedonien erwies sich nämlich später als der große Konfliktstoff, weil sich hier territoriale Ansprüche von drei Staaten kreuzten. Im Grunde genommen schwelt der Konflikt heute hinter der Fassade kommunistischer Staatlichkeit latent fort, namentlich zwischen Jugoslawien, das seit 1918 den größten Teil Makedoniens besitzt, und Bulgarien, das zumindest emotional noch immer Anspruch auf Makedonien erhebt.

Für die Balkanstaaten und die südslawische Nationalbewegung läßt sich daher keine eindeutige historische Bilanz des Berliner Kongresses aufstellen. Dafür waren die Verhältnisse auf dem Balkan insgesamt zu kompliziert und gab es zuviele Überschneidungen politischer Interessen. Auf jeden Fall aber war der Berliner Kongreß für alle Beteiligten, auch auf dem Balkan, ein historischer Knotenpunkt, ohne den die weitere Entwicklung, teilweise bis in die Gegenwart hinein, nicht zu verstehen ist.

Zypern Ebenfalls bis in die Gegenwart hinein führt das Problem Zypern. Die Entscheidung damals fiel formal jenseits des Berliner Kongresses, in einer zweiseitigen, zunächst geheimgehaltenen und offiziell dementierten Konvention zwischen England und dem Os-manischen Reich. Der Sache nach gehört jedoch die 1878 gefundene vorläufige Lösung der Zypernfrage in die Problematik des Berliner Kongresses und seiner historischen Nachwirkungen.

Großbritannien beendete schon vor der formellen Annexion zu Beginn des Ersten Weltkriegs 1914 die Herrschaft der türkischen Minderheit, die seit der osmanischen Eroberung 1571 das Heft in der Hand hatte Die nun beginnende ökonomische Entwicklung Zyperns gab vor allem der griechischen Mehrheit Auftrieb und größeren Spielraum. Die Umkehrung der 1878 eingeleiteten Herrschaftsverhältnisse erfolgte nach der Unabhängigkeit Zyperns 1959, als sich in den sechziger Jahren die Inselgriechen über die formal zugestandene Gleichberechtigung der türkischen Minderheit hinwegsetzten und so letzten Endes die militärische Intervention der Türkei und die faktische Spaltung Zyperns (1974) selbst provozierten.

Tunis und Ägypten: Auftakt zum , Scramble for Africa'

Nur indirekt — vermittelt über die britische Okkupation Zyperns — hatte der Berliner Kongreß noch eine kurzfristige Fernwirkung, die über die Probleme der europäischen Politik im engeren Sinn hinausführte: Frankreich faßte die Okkupation Zyperns als weit-und kolonialpolitische Brüskierung auf und forderte am Rande des Berliner Kongresses Kompensationen, die es nur drei Jahre später in der Errichtung seines Protektorats über Tunis fand. Da der französische Kolonialerwerb italienische Aspirationen auf Tunis als Kolonialland für italienische Siedler ausschloß, wandte sich Italien bekanntlich ein Jahr spä-ter verärgert dem Zweibund zu und erweiterte ihn zum Dreibund (1882).

Gleichzeitig kam die britische Okkupation Zyperns einem weiteren Schritt zur Besetzung Ägyptens gleich. Sie lag seit dem Ankauf des ägyptischen Anteils an den Aktien der Suezkanalgesellschaft des verschuldeten Khediven Ismail durch England (1875) gleichsam in der Luft. Die Okkupation Ägyptens zur Sicherung des kürzesten Seewegs nach Indien durch den Suezkanal eröffnete zugleich, nach dem vorausgegangenen Protektorat Frankreichs über Tunis, von Norden her die koloniale Aufteilung Afrikas, den „Scramble for Africa". Andererseits hatte sich England durch sein Engagement in Ägypten weltpolitisch so sehr exponiert, daß es auf Jahrzehnte gegenüber den anderen Großmächten gelähmt blieb. In diesem Windschatten konnte Deutschland seine Kolonien in Afrika und Neu-Guinea gewinnen (1884/85) womit in der Regel der „Scramble for Africa" erst angesetzt wird. Die koloniale Aufteilung Afrikas fand ihre völkerrechtliche Sanktionierung in der Berliner Afrika-Konferenz 1884/85, die Bismarck ebenfalls als Präsident leitete.

Zur inhaltlichen Abrundung des Bildes gehört noch der Hinweis auf die Tatsache, daß sich England aus seiner internationalen Isolierung über sein Engagement in Ägypten erst mit der Entente Cordiale (1904) lösen konnte, denn die Entente Cordiale war formal nichts weiter als eine kolonialpolitische Verständigung mit Frankreich über die Anerkennung der britischen Position in Ägypten durch Frankreich, während England Frankreich zusagte, seine sich gerade abzeichnende Expansion nach Marokko weltpolitisch zu decken. Die Entente Cordiale gehört zu den wesentlichen historischen Voraussetzungen zum Ersten Weltkrieg, der die Ordnung des Berliner Kongresses vollends zerstörte.

Zwei Randfragen: Das armenische und jüdische Problem Eher nur am Rande befaßte sich der Berliner Kongreß mit zwei Fragen, die später zu blutigen Konflikten führten — mit aktuellen Bezügen bis in die Gegenwart: die armenische und die jüdische Frage. Die Art ihrer Behandlung durch den Berliner Kongreß läßt jedoch bereits die spätere Entwicklung beider Komplexe besser verstehen.

Der Berliner Vertrag widmete Armenien einen eigenen Artikel zur Regelung der Grenzfragen wie zur Sicherung des rechtlichen Sta32) tus der Armenier im Osmanischen Reich. In beiden Punkten sahen sich hohe Würdenträger der Armenischen Kirche, die als Vertreter des politisch nicht organisierten Volkes in Berlin erschienen waren, von den Ergebnissen des Berliner Kongresses enttäuscht, und das, wie die Geschichte traurig erweisen sollte, zu Recht: Weite Teile Armeniens kamen nicht an Rußland, sondern blieben bei der Türkei. Ferner sah der Berliner Vertrag Reformen für die Armenier und ihren Schutz vor Tscherkessen und Kurden vor. Aber diese Bestimmungen waren so vage und unverbindlich, daß sie wirkungslos blieben.

Während vom weltpolitischen Gesichtspunkt aus die Belassung weiter Teile Armeniens im Osmanischen Reich wie eine Zurückdämmung russischer Expansion aussah, erwies sie sich letztlich für weite Teile des armenischen Volks als wesentliche Voraussetzung zu den großen Armeniermassakern von 1896 und 1915. Die Massaker von 1896 wurden in Deutschland von Exponenten der sich gerade entfaltenden deutschen „Weltpolitik" tunlichst heruntergespielt, da sich das erst zu Beginn des Ersten Weltkriegs formal geschlossene Bündnis zwischen dem Deutschen und Osmanischen Reich schon damals als logisch aufdrängte. Selbst der liberale Friedrich Naumann meinte damals zu den Armeniermassakern, im Interesse der Weltpolitik dürfe man nicht „zimperlich“ sein. Erst recht unterdrückt wurde im Ersten Weltkrieg die Kenntnis von dem noch ausgedehnteren Völkermord, da er das Deutsche Reich als Verbündeten der Türkei moralisch belastet hätte. Während die Existenz von Armeniern (übrigens auch von Kurden) in der modernen Türkei heute schlicht geleugnet wird — so als hätte es sie nie gegeben —, genießt die Minderheit der Armenier in Sowjetisch-Armenien politische Autonomie und kulturelle Eigenständigkeit und empfindet sich, gleichsam im Schatten des für die Armenier heiligen Bergs Ararat (heute auf türkischem Gebiet), als Kristallisationspunkt zur „Erlösung" der armenischen Volksgruppe in der Türkei.

Die jüdische Frage tauchte am Rande des Berliner Kongresses gleich in der doppelten Gestalt auf, die sie seit dem späten 19. Jahrhundert stets annahm — Status der Juden in bestehenden oder sich formierenden Nationalstaaten, Bildung eines eigenen jüdischen Nationalstaats: Im Zusammenhang mit der Gewährung der Unabhängigkeit an Serbien, später auch an Rumänien, kam es zweimal zu einer kurzen aber aufschlußreichen Antisemitismusdebatte im Plenum des Kongresses selbst: Der Russe Gortschakow verteidigte un-B ter Berufung auf die (diskriminierenden) gesetzlichen Bestimmungen gegenüber den Juden im westlichen Rußland die Aufrechterhaltung entsprechender Bestimmungen in Serbien und Rumänien. Dagegen plädierten vor allem die Vertreter Frankreichs und Englands, aber auch Deutschlands für die Gewährung der Unabhängigkeit nur unter der Bedingung der vollen Gleichstellung der Juden in Serbien und Rumänien. In diesem Sinne wirkte auch eine starke Lobby, die jüdische Organisationen nach Berlin entsandt hatten Mit Bleichrüder, dem jüdischen Bankier Bismarcks, hatten sie zudem einen engagierten Exponenten, der direkt auf Bismarck und die übrigen Vertreter des Deutschen Reichs einwirken konnte Formal erzielten die jüdischen Vertreter den Erfolg, daß die Gleichstellung der Juden überall als Bedingung für die Anerkennung der Unabhängigkeit neuer Staaten aufgenommen wurde. Aber in Rumänien erwies sich nach dem Berliner Kongreß, daß sich die Regierung der Durchführung dieser Bestimmung entzog. Obwohl Bismarck sich auf dem Berliner Kongreß in noblen Worten für die Gleichberechtigung der Juden auch auf dem Balkan ausgesprochen hatte, schickte er sich in die rumänische Obstruktionspolitik aus bündnispolitischen Gründen, nachdem Rumänien, wenn auch nur geheim, sich 1883 dem Dreibund angeschlossen hatte. Die Kenntnis von der Antisemitismusdebatte am 28. Juni 1878 während der (wegen Bosnien-Herzegovina auch sonst denkwürdigen) 8. Sitzung gehört zu den Gewinnen, die ein genaueres Studium der Kongreßprotokolle, über den engen Kreis von Fachleuten hinaus, vermitteln kann.

Erst recht am Rande des Kongresses vollzog sich ein damals so gut wie unbeachtet gebliebener Vorgang, der aber mitten in die noch immer brennende Aktualität des Nahostkonflikts hineinführt: Am 15. Juni erfolgte eine Petition von Juden an den Kongreß mit der Bitte um Errichtung eines jüdischen (israelitischen) Staates in Palästina Daraus wurde damals natürlich nichts, und die Mächte gingen auf diese Bitte mit keinem überlieferten (oder heute bekannten) Wort ein. Aber der Vorgang ist lehrreich und zukunftsträchtig genug: Drei Jahre vor Ausbruch des gewalttätigen Antisemitismus in Rußland nach Ermordung von Zar Alexander II., wie er sich in Gortschakows Stellungnahmen im Kongreßplenum schon ankündigte — mithin Jahre vor Entstehen des offiziellen und organisierten Zionismus unter den Juden als Reaktion auf den Antisemitismus in Ost (Rußland 1881) und West (Frankreich: Dreyfus-Prozeß 1894), erscheint bereits eine private, damals noch erfolglos gebliebene Initiative als Ankündigung späterer Verwicklungen und Konflikte: Die geplante nationaljüdische Staatsbildung im Machtvakuum des zerfallenden Osmanischen Reichs, unter Rückgriff auf religiös überhöhte historische Traditionen früherer jüdischer Reichsbildung in Palästina, setzte nach dem Ersten Weltkrieg ein wachsendes Konfliktpotential frei, das über die Jahrzehnte hinweg in ständig eskalierenden Konflikten explodierte. Mit James Balfour, dem Neffen, Sekretär und späteren Nachfolger des britischen Außenministers Salisbury nahm am Berliner Kongreß bereits der Mann teil, dessen Name mit wesentlichen Etappen in der weiteren Entwicklung zur Staatsgründung Israels verknüpft ist: mit der Balfour-Deklaration von 1917, die wiederum die Weichen zur in(1920) über Palästina nach dem Ersten Weltkrieg und zur Staatsgründung Israels (1948) stellte.

Ausblick

Eine genauere Kenntnis des Berliner Kongresses, seiner historischen Voraussetzungen, seine Rahmenbedingungen und direkten wie indirekten Wirkungen kann somit dazu beitragen, den Gang der jüngeren Geschichte besser zu verstehen. Als wesentlicher Knoten-punkt in der Geschichte der Neuzeit ist er zugleich ein Beispiel dafür, wie verzahnt kategorial scheinbar getrennte Faktoren sein können — innere wie äußere, nationale wie internationale, wirtschafts-wie diplomatiegeschichtliche — vom Wiener Kongreß über Antisemitismus und Zypern bis hin zu den Anfängen des Nahostkonflikts. Darüber hinaus laßt der Berliner Kongreß erkennen, wie scheinbar weit zurückliegende und aus-* einanderliegende historische Faktoren zum Verständnis zeitgenössischer Probleme nützlich werden können — der russische Terrorismus 1877/78 als eines der Argumente Bismarcks nach dem Berliner Kongreß für den Zweibund mit Österreich-Ungarn, aber auch als Ankündigung der 40 Jahre später tatsächlichen eingetretenen russischen Revolution; die Straßenkämpfe in Sarajevo 1878 als Höhepunkt der militärischen Kampagne Osterreich-Ugarns zur Erzwingung der vom Berliner Kongreß beschlossenen Okkupation Bosniens und der Herzegovina, zugleich auch als historische Voraussetzung zum Attentat von Sarajevo, das mit dem Ersten Weltkrieg u. a. auch Osterreich-Ungarn in die Luft sprengte; ein besseres Verständnis für die (im Augenblick) nur latenten Spannungen zwischen Bulgarien und Jugoslawien um Makedonien; die Konflikte und Emotionen in und um Armenien, um Zypern und Israel/Palästina.

Die Fülle der mit dem Berliner Kongreß zur Kenntnis zu nehmenden und zu berücksichtigenden Faktoren, die Komplexität ihrer ganz unterschiedlichen Beziehungen zu einander, die Einsicht in die Mechanismen und Zusammenhänge zum Verständnis des Entstehens von großen Konflikten (Erster Weltkrieg, Nahostkonflikt u. a.) über Kontinente und Jahrzehnte hinweg machen nicht zuletzt die Faszination einer auf moderne Weise betriebenen Geschichtsforschung. aus. Sie trägt damit auch zum rationalen Verständnis von Politik und Zeitgeschichte bei, auch wenn sie einen Vorgang zum Ausgangspunkt nimmt, der mittlerweile ein ganzes Jahrhundert hinter uns liegt und formal überwiegend zur Diplomatie-geschichte gehört.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Vgl. W. N. Medlicott, The Congress of Berlin and After. A Diplomatie History of the Near Eastern Settlement 1878— 1880, London 196312, vor allem Kap. III: „The Congress“, S. 36— 136.

  2. Die Veröffentlichung der Mainzer Referate, hrsg. von Karl Otmar Frhr. von Aretin, ist vorgesehen.

  3. Imanuel Geiss (Hrsg.), Der Berliner Kongreß 1878. Die offiziellen Protokolle (Erscheinen für 1978 vorgesehen.)

  4. Als jüngstes Beispiel für die — bisher noch weitgehend unproduktiv gebliebene — Polemik zwischen Vertretern der älteren politikgeschichtlichen und der jüngeren wirtschafts-und sozialgeschichtlichen Geschichtsschreibung vgl. Hans-Ulrieh Wehler, Vorüberlegungen zu einer modernen deutschen Gesellschaftsgeschichte, in: Dirk Steg-mann/Bernd-Jürgen Wendt/Peter-Christian Witt (Hrsg.), Industrielle Gesellschaft und politisches System. Beiträge zur politischen Sozialgeschichte. Festschrift für Fritz Fischer, Bonn 1978, S. 4, dazu Anm. 3.

  5. M. S. Anderson, The Eastern Question 1774 or 1923. A Study in International Relations, London 19724; eine vorzügliche Zusammenfassung und hi-’ storische Einordnung jetzt auch bei Winfried Baumgart, Vom Europäischen Konzert zum Völkerbund. Friedensschlüsse und Friedenssicherung von Wien bis Versailles, Darmstadt 1974, S. 19— 55.

  6. Dimitrije Djordjevic, Revolutions nationales des peuples balkaniques 1804— 1914, Beograd 1965; das Buch müßte, ebenso wie das von Anderson, möglichst bald ins Deutsche übersetzt werden.

  7. Ludwig Dehio, Gleichgewicht oder Hegemonie, Krefeld 1948, als einführender Überblick; weiterführend jetzt Heinz Duchhardt, Gleichgewicht der Kräfte, Convenance, Europäisches Konzert. Friedenskongresse und Friedensschlüsse vom Zeitalter Ludwigs XIV. bis zum Wiener Kongreß, Darmstadt 1976; ferner W. Baumgart, Vom Europäischen Konzert zum Völkerbund (Anm. 5).

  8. Fritz Dickmann, Der Westfälische Friede, Münster 19774.

  9. W. Baumgart, Vom Europäischen Konzert, a. a. O„ S. 7— 18.

  10. Karl Griewank, Der Wiener Kongreß und die europäische Restauration 1814/15, Leipzig 19542; H. -D. Dyroff (Hrsg.), Der Wiener Kongreß 1814/15, dtv-dokumente, München 1966; Hilde Spiel (Hrsg.), Der Wiener Kongreß in Augenzeugenberichten, dtv 1326, München 1978.

  11. Grundlegend jetzt W. Baumgart, Der Friede von Paris 1856. Studien zum Verhältnis von Krieg-führung, Politik und Friedensbewahrung, München 1972.

  12. Milorad Ekmei, Der Aufstand in Bosnien 1875— 1878, 2 Bde., Graz 1974 (deutscher Auszug aus ders., Ustanak u Bosni 1875— 1878, Sarajevo 1973-’); dazu jetzt allgemein die Referate eines internationalen Symposiums in Sarajevo 1975 über die Aufstandsbewegung in Bosnien und der Herzegovina 1875 und ihre Auswirkungen auf die große Orientkrise, 3 Bde., Sarajevo 1977.

  13. Andreas Hillgruber, Die „Krieg-in-Sicht" -Krise 1875. Wegscheide der Politik der europäischen Großmächte in der späten Bismarckzeit, in: Studien Zur europäischen Geschichte. Gedenkschrift Martin Göhring, hrsg. von E. Schulin, Wiesbaden 1968, S. 239— 253, kürzer auch in ders., Bismarcks Außenpolitik, Freiburg 1972, S. 139— 146.

  14. Ausführlicher bei Imanuel Geiss, Die deutsche Reichspolitik gegenüber der Aufstandsbewegung in der Herzegovina und in Bosnien 1875— 1878, ursprünglich als Referat auf dem internationalen Symposium in Sarajevo 1975 (vgl. oben Anm. 12, dort Bd. I, S. 231— 248), jetzt auch in ders., Das Deutsche Reich und die Vorgeschichte des Ersten Weltkriegs, München 1978, S. 76— 107.

  15. Ebenda, S. 89— 91. Bismarck am 12. 8. 1875: Es sei ihm sehr erwünscht, daß einmal etwas vor-fiele, wobei wir nicht in erster Linie engagiert sind", ferner, ebenda, S. 90. Bismarck am 10. 9. 1875: „Wenn es wirklich zum offenen Brande kommen sollte, so müßten wir möglichst lange abwartend zuschauen, und uns die Hände an dem Feuer wärmen." Ferner W. Baumgart, Vom Europäischen Konzert zum Völkerbund, S. 54. Bismarck vor bzw. kurz nach dem Berliner Kongreß: „Im ganzen käme ja überhaupt mehr darauf an, daß wir bemüht erschienen, den Frieden zu sichern, als ihn wirklich zu erhalten"; der Berliner Kongreß sei ein Triumph seiner Staatskunst, wenn es gelänge, „das orientalische Geschwür offen zu halten und dadurch die Einigkeit der anderen Großmächte zu vereiteln und unsern eigenen Frieden zu sichern“.

  16. Allgemein immer noch die brillante Skizze im größeren Zusammenhang eingeordnet bei William L. Langer, European Alliances and Aliqnments 1871— 1890, New York 1964», Kap. 5: „The Russian-Turkish War and the Congress of Berlin“, S. 121— 170A; ferner W. Baumgart, Vom Europäischen Konzert, S. 19— 55; ausführlicher David Harris, A Diplomatie History of the Balkan Crisis of 1875— 1878. The First Year, Stanfort 1969*, S. 1— 131.

  17. Arnold Suppan, Außen-und militärpolitische Strategie Osterreich-Ungarns vor Beginn des bosnischen Aufstandes, in: Symposium Sarajevo (s. Anm. 12) 1975, I, S. 159— 175.

  18. Instruktiv dazu die Einleitung von B. Bareilles zu Caratheodory Pacha: Le Rapport Secret sur le Congres de Berlin adresse ä la S. Porte, Paris 1919, S. 32— 38.

  19. Charakterisiert bei W. N. Medlicott, The Con-gress of Berlin, S. 39— 44; Aufzeichnungen und Erinnerungen aus dem Leben des Botschafters Joseph Maria von Radowitz, 2 Bde., hrsg. von Hajo Holborn, Berlin 1925, II, S. 21 f„ 24— 31; Comte Charles de Moüy, Souvenirs et Causeries dun diplomate, Paris 1909, S. 100— 109; Fürst Chlodwig Hohenlohe-Schillingsfürst, Denkwürdigkeiten, 2 Bde., hrsg. von Alexander Hohenlohe und Friedrich Curtius, Berlin 1907, I, S. 232, 236.

  20. Hohenlohe, Denkwürdigkeiten, a. a. O., S. 246: „Diese Ungeduld des Reichskanzlers, die wegen seines Gesundheitszustandes ihre Berechtigung hat, befördert die Arbeit, wird aber später ihre Nachteile fühlbar machen, weil manches nur oberflächlich erledigt sein wird. Mir wäre langsameres Arbeiten lieber." (Eintragung vom 5. 7. 1878); Moüy, Souvenirs, S. 102, 120; Graf Peter Schuwalow, Der Berliner Kongreß, in: Berliner Monatshefte, 16/1938, S. 603— 632, hier: S. 621 f.

  21. Ausführlicher skizziert in meinem Aufsatz, der teilweise identisch mit dem vorliegenden Aufsatz ist, aber in. einem vom Institut für Europäische Geschichte, Mainz, herausgegebenen Sammelband erscheinen wird.

  22. Caratheodory Pacha, Rapport Secret, a. a. O., S. 156— 161.

  23. Zitiert nach Schultheß, Europäischer Geschichts-kalender, 19 Jg., 1878, Nördlingen 1879, S. 108 f., dort leider ohne genaue Nennung jener „süddeutschen Zeitung".

  24. Vladimir Dedijer, The Road to Sarajevo, New York., London 1966, vor allem S. 27— 87, 175— 234.

  25. Große Politik (GP) Nr. 294, vom 16. 6. 1877.

  26. GP Nr. 447, S. 20; weitere Denkschriften Bismarcks ebenda, Nr. 455, 458, 461.

  27. GP 458, S. 42.

  28. Zur ersten Orientierung vgl. Franz Georg Maier, Cypern. Insel am Kreuzweg der Geschichte, Urban Bücher 81, Stuttgart 1964, S. 128 ff.

  29. Hans-Ulrich Wehler, Bismarck und der Imperialismus, Köln 19744.

  30. N. M. Gelber, The Intervention of German Jews at the Berlin Congress 1878, in: Year Book Leo Baeck Institute, V (1960), S. 221— 248.

  31. Hierzu jetzt Fritz Stern, Gold und Eisen. Bismarck und sein Bankier Bleichröder, Frankfurt, Berlin 1978, S. 461— 465, anschließend dort auch für das Folgende über die Entwicklung der jüdischen Frage in Rumänien.

  32. A. Novotny, Quellen, Nr. 70.

  33. L. Stein, The Balfour Declaration, London 1964: Egmont Zechlin, Die deutsche Politik und die Juden im 1. Weltkrieg, Göttingen 1969.

Weitere Inhalte

Imanuel Geiss, Dr. phil., geb. 1931 in Frankfurt/Main, seit 1973 Professor der Neueren Geschichte in Bremen. Veröffentlichungen u. a.: Der polnische Grenzstreifen 1914— 1918. Ein Beitrag zur deutschen Kriegszielpolitik im Ersten Weltkrieg, Lübeck, Hamburg 1960 (poln. 1964); Julikrise und Kriegsausbruch 1914. Eine Dokumentensammlung, 2 Bde., Hannover 1963/64; Juli 1914. Die europäische Krise und der Ausbruch des Ersten Weltkriegs, München 1965, dtv 293 (engl. 1967/68); Panafrikanismus. Zur Geschichte der Dekolonisation, Frankfurt/Main 1968 (engl. 1974); German Foreign Policy, 1871— 1914, London, Boston 1976; Das Deutsche Reich und die Vorgeschichte des Ersten Weltkriegs, München 1978; Das Deutsche Reich und der Erste Weltkrieg, München 1978.