Zusammenfassung
Aus Politik und Zeitgeschichte, B 39/78, S. 47— 53
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Aus Politik und Zeitgeschichte, B 39/78, S. 47— 53
Der Beitrag S. Mosdorfs zur Diskussion um die Neue Soziale Frage ist — bei allen Einschränkungen und Korrekturen, die im folgenden angebracht werden — zu begrüßen. Das Maß der in sozialpolitischen Kontroversen üblich gewordenen Polemik wird von ihm merkbar unterschritten, nicht unbedingt zum Nachteil der von Mosdorf vertretenen politischen Position. Denn gerade die ersten politischen Reaktionen im Lager der SPD hatten gezeigt, wie sehr politischer Eifer blind machen kann: Blind für alle Aspekte der „Neuen Sozialen Frage", die über die Funktion eines Oppositionskonzeptes in Wahlzeiten hinausgehen
Mosdorf versucht nun den Nachweis zu erbringen, daß die CDU dieses Ziel nicht erreicht und auch nicht erreichen kann. Das ist sein gutes politisches Recht. Kritisch ist jedoch zu fragen: Gibt Mosdorf eine zutreffende Analyse der Neuen Sozialen Frage, wie sie in der CDU (zugegeben: nach einem längeren Diskussionsprozeß) verstanden wird? Und: Wie steht es um die ordnungspolitische Alternative der SPD zu diesem Konzept? In der von Mosdorf nur kurz angesprochenen Formel einer „integrierten Sozialpolitik“ werden Konturen einer solchen Alternative sichtbar
Der Charakterisierung der Neuen Sozialen Frage durch Mosdorf ist voll zuzustimmen: „Das Konzept der Neuen Sozialen Frage geht von anderen sozialen Problemstellungen aus als von jenen, die bisher im Mittelpunkt der Sozialpolitik gestanden haben" (S.7). Zu Recht weist er darauf hin, daß die Neue Soziale Frage jene Probleme in den Mittelpunkt rückt, die nicht direkt mit den Produktionsverhältnissen Zusammenhängen. Die neue Soziale Frage gewinnt ihre Konturen gerade da-durch, daß sie sich nicht am klassischen Gegensatz von Arbeit und Kapital orientiert. Daß dieser Konflikt weiter besteht, wird nicht bestritten, er ist aber durch die Institutionalisierung des industriellen Konflikts weitgehend entschärft
Es scheint aber für viele, und nicht nur für Mosdorf, relativ schwierig zu sein, über eine negative Abgrenzung und allgemeine Charakterisierung hinaus, zu einer umfassenden Bestimmung der Neuen Sozialen Frage zu kommen. Als Indiz dafür kann die Diskussion beim Verein für Socialpolitik gelten, in der die Mehrzahl der Beiträge die Armut als Kernproblem der Neuen Sozialen Frage verstand
Im wesentlichen sind es die folgenden Elemente, die eine wirtschaftsoder gesellschaftspolitische Konzeption kennzeichnen
— die Analyse der Situation, — die wirtschafts-und gesellschaftspolitischen Ziele, — die ordnungspolitische Grundentscheidung,
— die einzusetzenden Mittel.
In dieser Folge soll nun, unter besonderer Berücksichtigung der Argumente Mosdorfs, die Neue Soziale Frage als sozialpolitisches Leitbild dargestellt werden.
Situationsanalyse Nur Teile der Situationsanalyse, die der Neuen Sozialen Frage zugrunde liegt, werden von Mosdorf referiert. Dabei mißt er der Geißlersehen Armutsstudie besonderes Gewicht bei. Tatsächlich hat diese Studie wesentliche Denkanstöße geliefert und Mosdorf hat recht, wenn er feststellt, daß es nicht so entschei-dend sei, ob nun tatsächlich sechs Millionen Arme oder, nach anderen Berechnungen, einige Hunderttausend weniger in der Bundesrepublik leben. Diese Meßunterschiede sind für eine präzise sozialwissenschaftliche Analyse wichtig, an der Brisanz des Problems ändern sie nichts. Die Analysen zur Kostenexplosion im Gesundheitswesen, die für Geißler ein wesentliches Merkmal unserer sozialpolitischen Situation ausmacht
Der Vorwurf, daß ein Kritiker nicht alle Aspekte eines Problems gesehen hat, hat an sich wenig zu bedeuten. Bedenken sind allerdings anzumelden, wenn Mosdorf die Studien zur Dienstleistungsproblematik im Rahmen der Neuen Sozialen Frage übergeht, und am Schluß feststellt, daß „Probleme, die tatsächlich neu sind“, wie die besondere Nachfrage nach sozialen Dienstleistungen, „unberücksichtigt bleiben, obwohl sie von außerordentlicher Relevanz für die Entwicklung der Sozialpolitik in relativen Wohlfahrtsgesellschaften sein dürften“ (S. 21)
Zur sozialpolitischen Situationsanalyse gehört auch die Feststellung der demographischen Veränderungen, zu bisher dieser Form in die nicht bekannten Generationenkonflikten führen können, wenn aus demographischen Gründen massive Beitragserhöhungen in der Rentenversicherung notwendig werden. „Nach der Neuen Sozialen Frage tritt der Generationenkonflikt neben herkömmliche Gruppenkonflikte, wie sie besonders ausgeprägt im . Kampf zwischen Arbeit und Kapital'sind."
Zum Befund der gegenwärtigen sozialpolitischen Situation gehören schließlich auch die Feststellungen wachsender Einschränkung von Selbständigkeit, von Freiheitsverlusten und zunehmender Abhängigkeit
Die sozialpolitische Situation ist heute — anders als zu Bismarcks Zeiten — dadurch charakterisiert, daß fast jeder Bürger am System der Sozialen Sicherheit beteiligt ist. Der englische Sozialist Jenkins hat die Konsequenzen sehr deutlich gemacht: „Die Arbeiterklasse bezahlt schon in großem Umfang die Sozialleistungen, in deren Genuß sie kommt, und dies wird bei jeder Ausweitung mehr der Fall sein. Solche Ausweitungen tragen möglicherweise mehr dazu bei, die Freiheit zu beschneiden, als die Gleichheit zu fördern, denn es kann sein, daß durch sie nun der Staat dem Einzelnen die Entscheidung darüber abnimmt, wie eine gegebene Menge Kaufkraft anzuwenden sei."
Ein sozialpolitisches Modell, das Sozialpolitik primär als Umverteilungsmechanismus zwischen Gruppen oder als großzügige Staatsleistung begreift, erfaßt die Realität nicht mehr. Umverteilungen über die Staatskasse funktionieren nur dann befriedigend, wenn die Zahl der Begünstigten relativ klein ist
Das angemessene Verständnis einer solchen sozialpolitischen Situation ist m. E. nicht ein klassen-oder gruppenorientiertes, auch kein patemalistisch-obrigkeitsstaatliches, sondern ein vertragstheoretisches. Wenn alle den Nutzen aus den Einrichtungen der Sozialen Sicherheit haben, und soziale Sicherheit als gemeinsame Leistung aufgefaßt wird, so müssen diese Einrichtungen so gestaltet sein, daß Rechte und Pflichten nach dem Gebot der Fairneß verteilt sind
Grundwerte, Ziele und ordnungspolitische Grundentscheidung Ziele und ordnungspolitische Grundentscheidungen konkretisieren auch in der Sozialpolitik die Grundwerte. CDU und SPD bekennen sich zu denselben Grundwerten: Freiheit, Solidarität und Gerechtigkeit. In den sozialpolitischen Zielsetzungen und in der ordnungspolitischen Orientierung offenbart sich jedoch ein sehr unterschiedliches Verständnis dieser Grundwerte
Für die CDU gilt: „Freiheit verwirklicht sich durch Selbstverantwortung und Mitverantwortung im praktischen Leben."
„Gerechtigkeit gebietet, ausgleichende Maßnahmen zugunsten derer zu treffen, die sonst Zurückbleiben würden. Hilfe ist vor allem für die Menschen bestimmt, welche nur unzureichend zur Selbsthilfe befähigt sind und ihre Belange nicht wirkungsvoll öffentlich vertreten und durchsetzen können."
In der Sozialpolitik werden diese Grundwerte durch Soziale Ordnungspolitik verwirklicht
Die Identifizierung des Subsidiaritätsprinzips mit dem Ausbau des Sozialstaates ist so sicherlich nicht haltbar, auch wenn es Situationen gibt, in denen auch nach dem Subsidiaritätsprinzip staatliche Maßnahmen und Hilfen erforderlich sind
Dennoch sind die Thesen Mosdorfs nützlich. Sie sind nicht allein aus dem verständlichen Bemühen zu erklären, dem politischen Gegner unter Hinweis auf unvereinbare Standpunkte innerhalb Konzeptes eines die sozialpolitische Kompetenz streitig zu machen. Sie weisen darauf hin, daß es in der politischen Realität unterschiedliche Akzentuierungen des Problems auch von Vertretern der Neuen Sozialen Frage gibt, die Mosdorf allerdings überspitzt als grundsätzliche Differenzen formuliert.
Diese Akzentuierungen ergeben sich aus einer, wie ich es nennen möchte, spezialisierten Wahrnehmungsfähigkeit und einer stark wertgebundenen Problemorientierung. So haben die Vertreter der neoliberalen Orientierung
Kennzeichnend für die in der neoliberalen Tradition Stehenden ist auch ein ausgeprägtes Verständnis für die Wechselwirkungen zwischen Sozialpolitik und Wirtschaftspolitik. Dieses Verständnis ist ihnen in sozialpolitischen Diskussionen oft zum Handikap geworden, denn es verbietet es ihnen, sozialpolitische Aktivitäten allein nach ihren guten Absichten zu beurteilen und ihre Nachwirkungen auf das Gesamtgefüge von Wirtschaft und Gesellschaft zu vernachlässigen
Auf der anderen Seite wird eine intensive Beschäftigung mit dem Problem der Armut in einer „Wohlstandsgesellschaft“ natürlich dazu führen, daß nachdrücklich auf die Gefährdungen der Grundwerte der Gerechtigkeit und der Solidarität hingewiesen wird. Völlig verfehlt wäre es allerdings, daraus eine prinzipielle Vernachlässigung des Freiheitszieles abzuleiten. Unzutreffend wäre auch die Vermutung, die um die Erhaltung und Erweiterung der Freiheit Besorgten seien grundsätzlich gegen Maßnahmen des sozialen Ausgleichs. In der Konzeption der Sozialen Marktwirtschaft, der sich alle Vertreter der neuen Sozialen Frage verpflichtet fühlen, bil-den Freiheit und sozialer Ausgleich eine Einheit
Mittel und Maßnahmen Aus den zahlreichen Initiativen, die von der CDU auf der Basis ihrer Grundwerte und der Erkenntnis der Neuen Sozialen Frage vorgelegt wurden, greift Mosdorf drei heraus: Familienlastenausgleich, Erziehungsgeld und Partnerrente. Mosdorf stellt fest, „daß sich alle Programme auf reale . soziale Nischen'beziehen und die Überlegungen zur Beseitigung gravierender sozialpolitischer Lücken damit forcieren“ (S. 12). Sie seien jedoch aus programmatischen und finanziellen Gründen nicht einmal in der Union durchsetzbar. Bei allen Programmen handele es sich um Geld-leistungen, die durch administrative Distribution durchgesetzt würden. Mosdorf sieht hier einen Widerspruch zu den Entstaatlichungsvorschlägen der CDU: „Außerdem wird teilweise auch vom Subsidiaritätsprinzip abgewichen, wenn z. B. eine deutliche Erhöhung des Familienlastenausgleichs gefordert wird und hierbei die Sozialhilfesätze zur Bemessungsgrundlage genommen werden.“
Beide Einwände vermögen indes nicht zu überzeugen. Wenn durch den Familienlastenausgleich Familien die Möglichkeit gegeben wird, einen vorhandenen Kinderwunsch zu realisieren, so wird damit die Funktion der Familie gestützt und dem Subsidiaritätsprinzip entsprochen. Ebenfalls dem Subsidiaritätsprinzip entsprechen Leistungen, die — wie das Erziehungsgeld — Familien bei der Betreuung und Erziehung der Kleinkinder unterstützen. Damit ist der Sozialaufwand human und sinnvoll im Sinne der Hilfe zur Selbsthilfe eingesetzt. Der materielle Aufwand dürfte geringer sein als der Aufwand für Rehabilitation von Erziehungsschäden oder Heimerziehung, der notwendig wird, wenn die Familien ihre Erziehungsfunktion nicht erfüllen können. Der schwerwiegendste Einwand — wenn er zuträfe — ist Mosdorfs These, die Union ginge bei ihren sozialpolitischen Vorschlägen nicht von einer grundsätzlichen ordnungspolitischen Leitidee aus und hänge lediglich in additiver Weise an die bestehenden Sicherheitssysteme weitere Programme an. Wir haben dagegen zu zeigen versucht, daß die CDU in der Konzeption der Neuen Sozialen Frage und der Sozialen Ordnungspolitik über ein sozialpolitisches Programm verfügt, das die Grundwerte in der Sozialpolitik verwirklicht. Dabei werden die in der wirtschafts-und gesellschaftspolitischen Konzeption der Sozialen Marktwirtschaft angelegten Prinzipien konsequent angewandt. Die einzelnen Maßnahmen, denen eine Vielzahl anderer hinzuzufügen wäre, sind Ausfluß dieses Programms. Die Partnerrente verhindert Notstände bei der Altersversorgung, statt sie im nachhinein zu bekämpfen
Wenn Mosdorf bei der Neuen Sozialen Frage den Versuch vermißt, „eine integrierte, im Zusammenhang entwickelte Sozialpolitik zu formulieren“ (S. 21), so liegt dem möglicherweise ein Verständnis von Ordnungspolitik zugrunde, das tatsächlich von der CDU nicht geteilt wird, sondern die Anfänge der Formulierung eines sozialpolitischen Konzepts der SPD charakterisireen dürfe.
Die Einsicht, daß die herkömmliche Sozialpolitik an einem toten Punkt angelangt ist und prinzipielle Überprüfung verlangt, gewinnt innerhalb von SPD und Gewerkschaften an Boden. So spricht Farthmann von „offensichtlichen Fehlentwicklungen", die eine Ursache für die „krisenhafte Entwicklung in der Sozialpolitik" darstellen
Die Forderung nach einer integrierten Sozialpolitik verdankt ihre Attraktivität der nicht mehr zu leugnenden Unübersichtlichkeit des Systems der Sozialen Sicherheit und der in ihm ablaufenden Einkommenstransfers
Bemerkenswerterweise ist in den Ansätzen zur integrierten Sozialpolitik verhältnismäßig wenig die Rede von den Chancen, auf der Basis des überprüften Transfersystems die grundsätzliche Frage nach der Berechtigung vieler Transfers in einer veränderten sozialpolitischen Welt zu stellen. Eher gewinnt man den Eindruck, man wolle die Umverteilungsmaschine, die sich als kaum mehr steuerbar erweist, wieder einsatzfähig machen. Das grundsätzliche Argument für eine integrierte Sozialpolitik gibt sich betont harmlos. Es sollen die Interdependenzen zwischen den einzelnen sozialpolitischen Bereichen, aber auch zwischen Sozialpolitik und ökonomischen, politischen, usw. Bereichen berücksichtigt werden, „Die Integration führt zu einer Abstimmung von Zielen und Mitteln mehrerer Bereiche u. a. auf der Grundlage der Gemeinsamkeiten dieser Bereiche."
Die Interdependenzen sind uns in einer komplexen Welt vorgegeben. Die ordnungspolitische Weichenstellung liegt in der Frage, ob die Selbständigkeit der interdependenten Teile respektiert wird und den Verflechtungen durch behutsame Eingriffe Rechnung getragen wird, oder ob das formale Interdependenzargument als Rechtfertigung für eine umfassende Planung herhalten muß. Daß diese letztere Möglichkeit keine vage Vermutung ist, zeigen die Ausführungen von Strasser zur Umorientierung der Sozialpolitik
Auch Strasser geht vom Interdependenzargument aus und fordert „schrittweise Ausdehnung der politischen, insbesondere sozialpolitischen Gestaltung jener Bereiche, die heute den Gesetzen der kapitalistischen Marktwirtschaft gehorchen und die mit ihrer destruktiven Dynamik immer größere soziale Probleme auftürmen“
Systemveränderung durch die sozialpolitische Hintertür? Sicher werden viele, die für eine „integrierte Sozialpolitik" eintreten, diese Marschrichtung nicht einschlagen wollen. Sie ist aber lediglich die konsequent zu Ende gedachte kollektivistisch-konstruktivistische Vorstellung von Sozialpolitik, die in der sozialdemokratischen Tradition einen breiten Raum einnimmt. Kennzeichnend für diese Denkweise ist der Glaube, man könne die Gesellschaft wie eine große Maschine bedienen, wenn man ihr nur die „richtigen" Werte eingibt und „Störungen“ fernhält.
Bei diesen tiefgreifenden Differenzen im Verständnis von Sozialpolitik ist die Beobachtung nicht mehr überraschend, daß Sozialpolitik auch in der politischen Auseinandersetzung mit stark unterschiedlichen Vorzeichen versehen wird.
Manfred Groser, Dr. rer. pol., Dipl. -Volkswirt, geb. 1944; Studium der Wirtschaftswissenschaften, Sozialwissenschaften und Industrial Relations; seit Januar 1978 wissenschaftlicher Mitarbeiter bei der Planungsgruppe der Bundesgeschäftsstelle der CDU in Bonn. Veröffentlichungen u. a.: Sozialökonomische Theorien der Verbände, in: Warnfried Dettling (Hrsg.), Macht der Verbände — Ohnmacht der Demokratie?, München 1976; Ökonomische Theorie des politischen Wettbewerbs (gemeinsam mit Ph. Herder-Dorneich), Göttingen 1977; Grundlagen der Tauschtheorie des Verbandes (erscheint Ende 1978).
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