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Nach zehn Jahren — Rückblick auf den Prager Frühling | APuZ 31/1978 | bpb.de

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APuZ 31/1978 Artikel 1 Nach zehn Jahren — Rückblick auf den Prager Frühling Die deutschen Kommunisten 1945 in der SBZ Probleme bei der kommunistischen Kaderbildung vor der SED-Gründung

Nach zehn Jahren — Rückblick auf den Prager Frühling

Vilem Fuchs

/ 57 Minuten zu lesen

Zusammenfassung

Dem „Prager Frühling“, jener Periode vom Januar 1968 bis zur militärischen Intervention Moskaus und dessen Verbündeten im August desselben Jahres, geht ein langer Differenzierungsprozeß innerhalb der tschechoslowakischen KP voraus. Das System ist in tiefen Widerspruch geraten zur Gesellschaft und deren Bedürfnissen; es erweist sich als unfähig, die Aufgaben der weiteren ökonomischen und geistigen Entwicklung zu lösen. Es geht darum, einen Ausweg aus dieser Situation zu finden, der es der KP ermöglicht, ihre „führende Rolle“ unter neuen Bedingungen weiter auszuüben. Die Demokratisierung der Verhältnisse, eingeleitet nach dem Amtsantritt Alexander Dubceks, ist ein Versuch, dieses Ziel durch die Schaffung eines „demokratischen Sozialismus", eines „Sozialismus mit menschlichem Antlitz", zu erreichen. Kaum werden die Prinzipien dieses Versuchs entwickelt, treffen Warnungen, später Drohungen aus Moskau, Warschau und Ost-Berlin ein: das Prager Experiment bedrohe die Einheit des sozialistischen Lagers, es öffne der Konterrevolution Tür und Tor. Prag schlägt die Warnungen in den Wind in der Überzeugung, es könne sich nur um ein Mißverständnis handeln. Die Drohungen führen außerdem zu einem Solidarisierungseffekt unglaublichen Ausmaßes zwischen der von außen bedrängten KP-Spitze einerseits und den Tschechen und Slowaken andererseits. Die Intervention der fünf Warschauer Paktstaaten wird mit der internationalistischen Pflicht der sozialistischen Staaten begründet, den Sozialismus überall da kollektiv zu verteidigen, wo er bedroht ist. Diese Begründung stößt auf allgemeine Ablehnung — auch und vor allem in den westlichen kommunistischen Parteien. Sie wirkt als Anstoß zu einer beschleunigten Abgrenzung dieser Parteien von Moskau, zu einer Stärkung eurokommunistischer Tendenzen. Der Eingriff in die tschechoslowakischen Verhältnisse hat für dieses Land katastrophale Konsequenzen. Hunderttausende Menschen werden politisch, geistig, existentiell betroffen. Es setzt eine Verfolgungswelle ungeahnten Ausmaßes ein, die bis heute andauert.

Freude und Kummer, Niedergeschlagenheit und Siegessicherheit, Provinzialismus und weltbeglückender missionarischer Eifer liegen in der tschechischen Geschichte seit jeher eng beieinander. Kaum 1918 im Schatten des alliierten Sieges über die Mittelmächte geboren, blickt die Tschechoslowakei schon zwanzig Jahre später in den Abgrund ihrer Auflösung; hatten noch die Staatsgründer vermeint, durch die Konstruktion eines tschechoslowakischen Staatsvolkes die Nationalitätenproblematik des neuen Staates wenigstens mit dem Rechenschieber auf Kosten der Slowaken und der deutschen „Minderheit" lösen zu können, sind die Tschechen nach 1939 gezwungen, um die nackte Existenz ihres Volkes zu kämpfen. Die nationalsozialistische Besatzungsmacht entwickelt reale Pläne zur Vernichtung des slawischen Bevölkerungsanteils im sogenannten Protektorat Böhmen und Mähren. Und wiederum sechs Jahre später triumphieren die Tschechen über ihre ehemaligen deutschen Mitbürger: bei der Vertreibung reichen sich chauvinistische Nationalisten und kommunistische „Internationalisten" die Hand zum Bund.

Die sowjetische Armee brachte auf ihren Bajonetten für die Tschechen die Befreiung: In Prag wußte man, daß ein kleines Land inmitten Europas, ein Land mit unverhältnismäßig langer Grenze, einer großen, mächtigen Schutzmacht bedarf. Nach den Erfahrungen mit München 1938 kamen dafür weder Frankreich noch England in Frage; nach den Erfahrungen mit Lidice schied ein künftiges, wenn auch demokratisches Deutschland aus der bloßen Überlegung aus, Prag könne sich je auf seinen unmittelbaren westlichen Nachbarn, der damals übrigens vernichtet am Boden lag, orientieren. Es bot sich das mächtige Rußland an — und Tschechen wie Slowaken ergriffen dankbar und aus wohlverstandenem — wie sie meinten — Eigeninteresse die von Stalin gebotene Hand. Nur wenige Jahre später klagte der von den Kommunisten verdrängte ehemalige Staatspräsident Dr. Edvard Benes kurz vor seinem Tode, Stalin habe ihn mit seinen Garantien, mit seiner Zusicherung, die Sowjetunion werde streng die Souveränität und Unabhängigkeit der Tschechoslowakei achten, betrogen. Aber 1948 war es schon zu spät: von der Sowjetunion gestützt, saß die Kommunistische Partei der Tschechoslowakei schon fest im Sattel.

Sie herrschte unter den denkbar günstigsten Bedingungen: Die Tschechslowakei gehörte zu den industrialisiertesten Staaten Mitteleuropas, sie verfügte über eine gebildete, erfahrene Arbeiterschaft, die Mehrzahl der Intellektuellen glaubte an eine positive Weiterentwicklung der Gesellschaft unter marxistisch-revolutionärer Führung (oder nahm jedenfalls diese Führung in Kauf), die Partei selbst war mit zwei Millionen Mitgliedern längst eine Volkspartei geworden, anscheinend gefeit gegen die sektiererischen Allüren von Kader-parteien bolschewistisch-kommunistischer Prägung.

In kaum zwanzig Jahren hatte die kommunistische Partei dieses Einsatzkapital verspielt. Sie hatte sich unter Moskauer Druck zu einer Imitation der KPdSU entwickelt: Sie hatte „ihre" Prozesse gegen angebliche Feinde und Verräter inszeniert, sie hatte ihre politische Stellung im Staate gröblich mißbraucht, sie hatte sich zur unkontrollierbaren und unkontrollierten Monopolmacht entwickelt, zum Richter über Gut und Böse, über Wahr und Unwahr, zum Herrscher über Körper und Geist ihrer Untertanen. Der Preis für diese Transformation war erschreckend hoch: Die Gesellschaft stagnierte, sie geriet in eine tiefe geistige und materielle Krise. Der Führung ging es nicht mehr darum, das Wesen sich immer wieder reproduzierender Probleme zu erkennen, um auf Grund einer objektiven Analyse die Ursachen von Schwierigkeiten, Krisen und Mangelerscheinungen zu überwinden: es ging nur noch um die Erhaltung der Macht. Das Interesse der Parteiführung geriet in antagonistischen Widerspruch zu den Interessen der Gesellschaft.

Spätestens 1963 sieht sich die KP-Spitze einer wachsenden Opposition im Lande gegenüber; sie stellt fest, daß ihr Einfluß sogar in den Basisorganisationen der Partei im Schwinden ist. Die Partei als Ganzes sieht sich mit Fragen konfrontiert, die an den eigentlichen Nerv ihres Selbstverständnisses rühren. Ein tiefer Differenzierungsprozeß innerhalb der Partei, die immer noch über alle Machtmittel diktatorisch verfügt, setzt ein; ein ferner Frühling meldet sich mit wetterleuchtenden Vorzeichen an.

I. Wurzeln und Aufgaben

Dar alarmierenden Anzeichen der Abkehr auch der verläßlichsten Stützen von der bisherigen Linie der Partei, von Widerstand und Passivität der Bevölkerung, von Mißachtung erteilter Richtlinien, von der Vergreisung der Partei und dem Widerwillen der Jugend, in die Fußstapfen der Väter zu treten, und die Tatsache, daß nunmehr Leute vierter und fünfter Kategorie bereit waren, der Partei Feder und Kopf zur Verfügung zu stellen, machten es notwendig, diesen Prozeß zu analysieren, um ihn durch eine gründliche Überprüfung der bisherigen Arbeitsmethoden der Partei und durch die Formulierung einer neuen politischen Linie aufzufangen. Waren die bedrohlichen Anzeichen Symptome einer echten Krise der ganzen Gesellschaft, Anzeichen eines Schiffbruchs der bisherigen Politik, Anzeichen dafür, daß der Sozialismus auf Sand gelaufen war und ohne Abwerfen unnützen, byzantinischen, nach wie vor stalinistischen Baiastes überhaupt nie wieder flott gemacht werden könnte? Oder aber waren der Partei wohl einige Fehler und Irrtümer unterlaufen, die Hauptlinie jedoch richtig gewesen? Im letzteren Fall wären die negativen Erscheinungen, über die sich so viele Kommunisten den Kopf zu zerbrechen begonnen hatten, natürliche Begleiterscheinungen jeder sozialistischen Entwicklung gewesen — es ging nur darum, sie nicht sichtbar werden zu lassen und den Kritikern zu beweisen, daß die Partei die Kraft habe, sich nach wie vor mit allen Andersdenkenden (d. h. Feinden) auseinanderzusetzen und sie zu vernichten.

Es ist kein Zufall, daß, je deutlicher der Zerfall wurde, die verbalen Äußerungen der Parteiführer härter, „klassenbewußter“, phrasenhaft-revolutionärer wurden; wieder wurde die Freiheit zur „Klassenfreiheit", die nicht für alle da sei, wieder wurde die Demokratie zur Demokratie für einige Auserwählte, wieder gab es nur ein Kriterium für Wahrheit und Recht: der Zweck der bestehenden politischen Ordnung. So der Ideologie-Chef des ZK Hendrych auf der Plenarsitzung des Zentralkom-mitees der KP am 26. September 1967:,...dem konzentrierten Kampf der Gesellschaft fallen nolens volens die verschiedensten Parolen von Freiheit, Demokratie und Humanismus in den Rücken, soweit sie ihres sozialistischen, ihres Klasseninhalts beraubt sind. Bei der abstrakten Auffassung dieser Parolen kommt es dann leicht zu einer Verwechslung von schöpferischer Freiheit mit Anarchie, von Demokratie mit Liberalismus und sozialistischer mit bürgerlich-demokratischer Demokratie“ Hendrych wußte, welche Methode hier „helfen“ könnte — es war die stalinistische: „Die antikommunistische Kampfansage kann nicht ohne Antwort bleiben. Und mit harter Antwort muß auch der rechnen, der sich zu dieser Propaganda hergibt oder ihr behilflich ist.“

Die Ursache für alles Ungemach, das in den vergangenen Jahren über die Partei hereingebrochen war, lag danach also nicht etwa in der Sterilität ihrer eigenen Ideen, der Unbeholfenheit ihres auf alle Ewigkeit installierten Apparats, der Isolation, in die sie sich hinein-manövriert hatte, sondern in der unberechtigten Weichheit und Toleranz, die sie nach dem XX. Parteitag der KPdSU in der fälschlichen Annahme praktiziert hatte, der Sieg des Sozialimus über den Klassenfeind sei schon so über alle Zweifel erhaben, daß man sich einiges Tauwetter auch zu Hause leisten könne. Nicht Tauwetter, Eiszeit sei das adäquate Klima für die unbeschränkte Führungsposition der Kommunistischen Partei, sie brauche eine harte Faust, eine harte Autorität. Auf derselben Sitzung des ZK sekundierte der Kultusminister Hoffmann (heute Gewerkschaftsboß) seinem Chef: „Mir fällt die Frage ein.... ob der Fehler nicht anderswo liegt. Ob wir diese Kommunisten nicht schon früher hätten zur Verantwortung rufen sollen." Auf diesem ZK-Plenum wurden die Schriftsteller Klima, Liehm und Vaculik aus der KP ausgeschlossen, Prochäzka seiner Funktion als Kandidat des ZK enthoben.

Für die Vertreter der harten Linie, die sich um den Ersten Sekretär des ZK der Tschechoslowakischen KP, Antonin Novotny, scharten, wäre die Grundfrage der weiteren Entwicklung und der Stellung der Kommunistichen Partei im wesentlichen durch die Rückkehr zu den bewährten theoretischen und praktischen Prinzipien der Periode vor dem XX. Parteitag der KPdSU „gelöst“ gewesen. Es wäre unrichtig, diesem Flügel ausgeprägter Konservativer in der Partei zu unterstellen, sie hätten den Rückfall zu stalinistischer Terrorjustiz, zu persönlicher Willkür, zu den russisch-asiatischen Methoden der späten Stalinzeit für erstrebenswert gehalten. Es ging ihnen eher um die Erreichung stalinistischer Ziele mit verfeinerten Methoden, angepaßt an die Möglichkeiten und die Praxis eines mitteleuropäischen Landes. Diktatur ja, aber ausgeübt nicht durch kleine Za-renimitationen in Kreisen und Bezirken, sondern durch eine ungreifbare, stupide, kultur-lose Bürokratie: Diktatur dem Unbotmäßigen gegenüber ja, aber nicht mehr durch Schauprozesse und Henkersorgien, sondern durch Entlassung, Verfehmung, durch die Unmöglichkeit, im erlernten Beruf oder in einer angemessenen Stellung tätig zu sein: Diktatur ja, aber nicht durch die Herrschaft der Partei gegen die Staatsmacht, durch die Duplizierung der Macht, sondern durch die lückenlose Unterordnung aller Machtinstrumente des Staates, der Gewerkschaften, der Genossenschaften usw. unter die gefestigte, unkontrollierbare Führung der Partei. Es muß nicht besonders betont werden, daß dieser Weg die tiefe Krise des Verhältnisses zwischen Gesellschaft, Staat und politischer Führung nicht nur nicht lösen konnte, sondern sie unweigerlich immer schroffer reproduzieren mußte — bis zur Katastrophe. Da die Husäksche Periode nach dem April 1969 die tatsächliche Realisierung der Vorstellungen des konservativsten Flügels der Vorjanuarpartei darstellt, können sich immer wieder reproduzierende Krisen, gar nicht ausbleiben.

Auf dem gegenüberliegenden Pol fanden sich inzwischen die Kräfte zusammen, die in den Anzeichen sinkender Autorität der Partei, wachsender Konflikte im öffentlichen Leben, steigender und anscheinend mit bisherigen Methoden unlösbarer Disproportionen in der Wirtschaft keine bloßen isolierten Phänomene, sondern Symptome einer tiefen, historischen Krise der sozialistischen Gesellschaft, der Funktion der Partei, der Organisation des sozialistischen Staates sahen. Allerdings stellte die Gruppe, die nach dem Entscheidungskampf zwischen den beiden Flügeln im Januar 1968 an die Spitze der Partei gelangte, nie eine einheitlich ideologisch ausgeprägte Bewegung dar;

es gelang ihr auch nicht, sich im Verlauf der weiteren Monate dazu durchzuarbeiten. Das war nicht nur ihr eigener, subjektiver Mangel. Moskau, Ost-Berlin, Warschau haben keine Gelegenheit vorübergehen lassen, um dieser Führung die notwendigste Zeit zur Regelung der eigenen Angelegenheiten zu nehmen.

In einer Atmosphäre unaufhörlichen Drucks und Mißtrauens werden schwerlich theoretische Studien angestellt, die zur Klärung der eigenen Position Wesentliches beitragen.

Dieses Mangels waren sich die Führer der neuen Bewegung wohl bewußt. Cestmir Cisa, damals Sekretär des ZK für ideologische Fragen, antwortet noch am 22. Juni 1968 im Rude prävo dem sowjetischen Akademiker F. Konstantinow auf dessen Invektiven: „Die gegenwärtige Politik unserer Partei braucht ihre theoretische Begründung und Verallgemeinerung. Ihre Besonderheit besteht darin, daß sie nicht in irgendeinem Kabinett und im vorhinein, sondern im Prozeß des Kampfes um die Überwindung der dogmatisch-sektiererischen und konservativen Deformation sozusagen auf dem Marsch formuliert wurde. Sie hatte bis jetzt noch nicht viel Zeit, ihre theoretischen Grundlagen, ihre Ideologie auszuarbeiten." Cisar war sich dessen bewußt, daß „unsere neue Politik ausgeprägt experimentellen Charakter hat, nicht mit fertigen Vorbildern arbeitet und einen ungewöhnlichen Weg durch unerforschtes Terrain bahnt. Sie würde sich der Gefahr eines pragmatischen Praktizismus oder eines radikalen Abenteuertums aussetzen, sollte sie nicht fähig sein, früh genug ihre theoretischen Postu-late und Prinzipien zu konzipieren."

Die Überzeugung, daß es klarer theoretischer Einsicht in das Wesen des immer intensiver vorandrängenden gesellschaftlichen Prozesses nach dem Januar 1968 bedurfte, ist überhaupt typisch für die Entwicklung in der Tschechoslowakei. Vom ersten Tage an steht sie im Zeichen bohrenden Suchens nach Wegen, nach Zielen, nach Methoden der neuen Politik. Natürlich ist dieses Suchen unlösbar verknüpft mit der kritischen Analyse des bisherigen Zustands, mit der Ablehnung all dessen, was der Konstruktion einer sozialistischen Gesellschaft „mit menschlichem Antlitz“ im Wege gestanden hatte. Ebenso, wie die Ziele der gesellschaftlichen Renaissance dabei unterschiedlich definiert wurden, setzt auch die Kritik an verschiedenen Schwerpunkten der — wie man glaubte, überwundenen — Periode der bürokratischen Diktatur an.

Vorraussetzung für theoretische Erkenntnis war jedenfalls die Freiheit des Denkens, des Wortes, der Versammlung, der öffentlichen Meinungsbildung. Daher der allgemeine Ruf nach der Aufhebung jener Praktiken legalisierter oder rein willkürlicher Art, die den Strom gesellschaftlichen Erkennens unterbunden oder zumindest erschwert hatten. Man hat in diesem charakteristischen Zug eine Spätblüte des bürgerlichen Liberalismus zu sehen geglaubt — zu unrecht. Hier ging es nicht so sehr um das Erblühen „alter Blüten" als um das notwendige Instrument zur Erkenntnis der weiten Entwicklungsmöglichkeiten einer sozialistischen Gesellschaft und der dazu notwendigen praktischen Maßnahmen. Die Antwort auf die Frage nach dem möglichen Wesen einer sozialistischen Gesellschaft konnte nur die uneingeschränkte Bejahung einer demokratischen Ordnung sein. Nur in einer Demokratie ist es möglich, die millionenfachen Erkenntnisse aller Teile der Gesellschaft miteinander zu konfrontieren und ihre Synthese zu erstreben. Mehr noch:

Nur in einer sozialistischen Demokratie kann eine kommunistische Partei wirklich führen. Denn führen heißt erkennen können, heißt, die dialektischen Gegensätzlichkeiten in der Gesellschaft, die nach marxistischer Ansicht auch in der sozialistischen Phase die Triebfedern ihrer Entwicklung und Bewegung sind, erkennen, analysieren und verändern können. Dazu müssen Gegensätzlichkeiten transparent werden: sie müssen aus dem Dunkel ans Tageslicht treten, sie müssen unverfälscht durch regulierende oder unterdrückende subjektive Maßnahmen in der ihnen adäquaten Ebene ausgetragen werden können — vorgebracht von einzelnen, von Interessengruppen, von Klassen, von Politikern, von Bejahenden und Verneinenden.

Dr. Jiri Cvekl meint in seinem Aufsatz „Meditationen über die Werke von Karl Marx“: „Entweder volle politische und soziale Demokratie, die faktisch und nicht nur in Deklarationen die Grenzen der Methoden der besten bürgerlichen Demokratien überschreitet, oder Stagnation der ökonomischen und sozialen, kulturellen und moralischen Entwicklung der Gesellschaft und die Versteinerung des sozialen und politischen Organismus zu ähnlichen Fossilien, wie sie die frühere konservative Gesellschaft hervorgebracht hat.“ Dem Anfangszustand der Auseinandersetzung mit dem stalinistischen Modell der nachrevolutionären Gesellschaft entspricht auch die Feststellung Cvekls, „geistige und moralische Freiheit könne da nicht existieren, wo es eine unbewegliche Hierarchie gäbe, wo sich jede Person, Institution oder jedes Organ für unfehlbar halte oder sich als letzte Instanz betrachte im Streit zwischen Wahrheit und Irrtümern, die im Bereich des Erkennens, d. h. in der Sphäre des Geistes ausgetragen werden, wo weder Privilegien noch Orden und Auszeichnungen noch Machtmittel gelten."

Dubek selbst sieht am 22. Februar 1968 in einer Rede zum 20. Jahrestag des kommunistischen Machtantritts in der Tschechoslowakei als Aufgabe der neuen Bewegung, „einen derartigen politischen Raum zu erschließen, in dem die einzelnen Gruppen, alle gesellschaftlichen Institutionen und Organisationen ihre konkreten Nahziele und -aufgaben zu formulieren imstande wären, in dem jeder Bürger unseres Staates unmittelbar und wirk-sam — insbesondere an seinem Arbeitsplatz — seine Interessen als Teil unseres gemeinsamen Werkes wahrnehmen könnte."

Noch scheint Dubek in dieser ersten Phase der Nachjanuarentwicklung den Demokratisierungsprozeß vorerst auf die Partei selbst beschränkt zu sehen — wohl in der Annahme, daß eine innerparteiliche Demokratisierung die erste Voraussetzung für die zweite Phase, die Demokratisierung der gesamten Gesellschaft, sein müsse. In derselben Rede sagt er:

„Die führende Rolle der Partei bedeutet in der jetzigen Situation vor allem die Schaffung der notwendigen Voraussetzungen für die Entfaltung einer tatkräftigen Initiative, eines breiten Feldes für Widerstreit und Austausch von Meinungen, mehr Möglichkeiten dafür, daß jeder Kommunist früh, gründlich und objektiv über Ereignisse zu Hause und im Ausland informiert wird, daß er vor allem nicht nür an der Realisierung, sondern auch an der Ausbreitung der politischen Linie und der Methoden der Partei, besonders auf dem Gebiet, in dem er tätig ist, beteiligt wird. Das bedeutet, daß wir heute größtes Gewicht darauf legen müssen, bei der Aufrechterhaltung eines notwendigen Zentralismus immer mehr und insbesondere tiefere demokratische Formen zu entwickeln, und zwar nicht nur in den höchsten Organen der Partei, sondern vor allem , unten'in den Organisationen und unter der Mitgliedschaft."

Der Prager Studentenschaft genügte kaum vierzehn Tage später diese begrenzte „Demokratisierung" nicht mehr. Sie fordert in einer im „Slawischen Haus" in Prag angenommenen Resolution verfassungsrechtliche und andere Garantien der elementaren demokratischen Rechte: der Freiheit des Wortes, der Pressefreiheit, der Versammlungsfreiheit, der Koalitionsfreiheit. Cisar bezeichnet vor Journalisten in Prag am 23. Mai 1968 „die Vorzensur als eine unwürdige Einrichtung unter den Bedingungen des Sozialismus; sie müsse endgültig verschwinden. Radio und Fernsehen würden der Regierung unterstellt und als offizielle Institutionen des sozialistischen Staates betrachtet. Eminente Persönlichkeiten dürften in der Presse, im Rundfunk und im Fernsehen mit ihren privaten Meinungen zu Worte kommen, selbst wenn diese der politischen Linie der Zeitung oder sogar des Staates entgegengesetzt seien."

Die Vorzensur wurde aufgehoben, die Nationalversammlung, die Regierung, die Gewerk-schäften, die Jugendorganisationen, die Nationalausschüsse, die Verbände der Schriftsteller, Journalisten, Künstler „entdeckten“ wieder ihre eigentlichen Rechte. Und damit entbrannte mit desto schärferer Intensität der Streit um das Wesen der sozialistischen Demokratie, um die Fernziele der marxistischen Renaissance des Landes.

II. Um das Wesen der sozialistischen Demokratie

Eine Sache ist die Erkenntnis, nur unter demokratischen Bedingungen könne sich der Sozialismus weiterentwickeln, und eine andere Sache ist die Frage nach dem Wesen dieser Demokratie. Hierbei geht es nicht nur um Organisation und Struktur, um die Funktion der einzelnen Bestandteile des demokratischen Mechanismus, um das Verhältnis zwischen Macht und Kontrolle, um das Verhältnis zwischen den verfassungsmäßigen Trägern der Macht und der Delegation ihrer Ausübung auf die verschiedenen Organe des Staates. Es geht dabei ebenso um die unmittelbaren praktischen Konsequenzen der gefundenen theoretischen Postulate. Nirgendwo wird der Einfluß massiver subjektiver Interessen auf die theoretische Tätigkeit so fühlbar wie bei der Beurteilung und Definierung einer Frage, deren Beantwortung unmittelbar das Leben, die soziale und materielle Stellung sowie das politische Gewicht eines beträchtlichen Teils der Gesellschaft betrifft.

Es konnte gar nicht ausbleiben, daß bei der Radikalisierung der Fragestellung und der Beantwortung der gegebenen Probleme jene Mitläufer der Nachjanuarbewegung bald abfallen mußten, deren investierte Interessen eben mit der möglichst umfassenden Erhaltung der gegebenen Ordnung verknüpft waren. Der Differenzierungsprozeß, der vor dem Januar zu der tiefen Spaltung in der Partei geführt hatte und deren Ergebnis eben die Entscheidung des Januarplenums des ZK gewesen war, mußte fortschreiten. Personen, die noch im Januar zögernd an der Seite der Gegner Novotnys Position bezogen hatten — vielleicht sogar im Bewußtsein, daß die damalige Parteiführung mit ihren bürokratischen Methoden die anstehenden Aufgaben nicht bewältigen konnte —, entdeckten im Verlauf der Demokratisierung, d. h.der Einbeziehung immer neuer Massen in den reinigenden politischen Aktivierungsprozeß, wieviel sie doch eigentlich mit der ehemaligen Ordnung verband. Sie waren in ihrer praktischen Tätigkeit bestrebt, die Demokratisierungswelle zu bremsen, abzuschwächen, in „ungefährliche“

Bahnen zu leiten und theoretisch die Fernziele der neuen Bewegung so zahm wie nur möglich zu definieren. Die radikalen Elemente so-

wohl innerhalb, aber auch außerhalb der KP versuchten im Gegenteil, in der ersten revolutionären Welle soviel wie möglich von dem abzutragen, was die bisherige Entfaltung sozialistischer Beziehungen und Institutionen gelähmt hatte und die Ziele und Aufgaben der sozialistischen Demokratie so weitgehend wie nur möglich zu formulieren.

Die Frage, an der sich die Geister schieden, war die Beurteilung der Stellung der Kommunistischen Partei in dem zu schaffenden demokratischen Modell. Für manche war unter sozialistischer Demokratie eine Art „Self-De-nying-Act“ der KP zu verstehen, eine gewisse Modernisierung der Diktatur ohne störenden asiatischen Terror und ohne überflüssige Willkür mit einem gewissen Spielraum für die „übrigen" Organisationen des „werktätigen Volkes" bei selbstverständlichem, prinzipiellen Beibehalten der Leninschen Vorstellung von der Transmissionsfunktion aller Organisationen unter der machtpolitisch unerschütterten und unerschütterlichen Führung der Partei. Am 17. September 1969 erklärte das KP-Präsidiumsmitglied Jan Piller, er sei im Januar „davon überzeugt gewesen, man würde nun einen neuen Impuls dafür geben, daß der offene Meinungsaustausch, Kritik und Selbstkritik entwickelt würden — bei gleichzeitiger Unzulässigkeit des Beziehens irgendwelcher parteifeindlicher Standpunkte und unkameradschaftlicher Beziehungen zwischen Kommunisten. Daß ein notwendiger Raum für die initiative Tätigkeit der in außerparteilichen Gremien arbeitenden Kommunisten gewährt würde, wobei ihre Verantwortlichkeit für die anvertrauten Gebiete erhöht würde. Und daß schließlich die führende Rolle der Partei gefestigt würde ... “

Es fällt nicht schwer, den faktischen Konservatismus dieser und ähnlicher Ansichten nachzuweisen. Jiri Cvekl bestimmte die Trennungslinie: „Kann man die negativen Erscheinungen, deren Beginn auf dem XX. Parteitag der KPdSU enthüllt worden sind, die Gegenstand scharfer Kritik sind und jetzt bei uns überwunden sind, als bloße Deformation des sozialistischen Systems auffassen, eines Systems, dessen Wesen — in der Regel als kristallklare Realisierung der großen Ideen des Sozialismus aufgefaßt — vollkommen von diesen Exzessen unberührt bleibt, oder geht es um die Vertauschung eines Modells des Sozialismus durch ein anderes, eines Systems durch ein anderes System? — Nehmen wir den ersten Standpunkt an, müssen wir auch seine Konsequenzen annehmen. Sie bestehen in der Überzeugung, daß es genüge, die Ungesetzlichkeiten und extremen Exzesse des stalinistischen Regimes abzuschaffen und nur quantitativ das bestehende wirtschaftliche und politische System zu verbessern, um auf diese ruhige und unauffällige Weise zum Gipfel des sozialistischen Aufbaus zu gelangen und dann zum Kommunismus überzugehen ... — Im zweiten Falle sieht die Sache anders aus: Der Stalinismus ist auch ein . Sozialismus'eigener Art, jedoch ein begrenzter, beschnittener ... Er ist daher ein Halbsozialismus und Halbkapitalismus. Eine Renaissance des sozialistischen Programms setzt dann voraus, daß wesentliche Teile des Stalin’schen Modells durch etwas anderes, Gegenteiliges ersetzt werden und eigentlich ein ganz neuer Typ Sozialismus geschaffen wird.“

In der Tat formulieren die radikaleren Komponenten der neuen Bewegung die Aufgaben der Nachjanuarpolitik und ihre theoretischen Ziele weiter als die Gruppe der Funktionäre, die in ihren Funktionen im ZK der KP, im Parlament, in der Regierung, in den verschiedensten Gremien des KP-Apparats, der Gewerkschaften usw. vom Januar 1968 überrascht worden waren. Hier erscheint schon die Auffassung von der Stellung der Kommunistischen Partei in einer offenen demokratischen Gesellschaft — wohl als Zentrum der geistigen Macht im Lande — attraktiv für die „Besten“, die „Aristoi" im antischen Sinne. Diese Partei wird nicht als politisch-repressive Macht gedacht.

Dubek sagte auf der Plenarsitzung des ZK am 1. April 1978:

„Um demokratisch in unserer Gesellschaft leben und regieren zu können ..., müssen wir ein durchdachtes und gut funktionierendes System von Institutionen, Gremien und Organisationen haben, die neu und effektiv zu arbeiten imstande sind, in dem bereits eine neue Politik betrieben wird, wobei diese Organe unter ständiger demokratischer Kontrolle der Bürger stehen werden. Darum liegt vor uns so dringlich die Aufgabe, die politischen Verhältnisse zu konsolidieren, das ganze bisherige System der politischen Leitung in unse-rer Gesellschaft so zu entfalten, daß es enger den Sozialismus mit Demokratie verbinde, sachlich und qualifiziert die Lebensbedürfnisse unserer Gesellschaft zu lösen imstande sei, daß ein System geschaffen werde, in dem die Beziehungen zwischen Verantwortung und Kontrolle gelöst sind ... — Das bedeutet einen Anfang von Verhältnissen .... in denen wir Kommunisten unsere Ansichten und Standpunkte in der Diskussion mit allen anderen vorbringen, sie öffentlich verteidigen und beweisen müssen. Die Kommunisten werden nur insoweit an der Spitze der Entwicklung stehen und sie werden eine führende Stellung nur insoweit einnehmen, wie sie sie in demokratischen Verhältnissen mit geistigen und politischen Mitteln erringen und zu bewahren imstande sind."

Dubcek kommt auf die Idee von der sozialistischen Demokratie in seiner Ansprache vor der Nationalversammlung am 24. April 1968 zurück: „Die sozialistische Demokratie betrachten wir als einen Prozeß, der dauernde Gültigkeit hat. Sozialistische Demokratie, das ist keine bloße Kampagne, das ist ein unaufhörlicher Prozeß, ein systematisches Suchen, ein Unterstützen fortschrittlicher Tendenzen und eine Überwindung von allem, was sich überlebt hat. Sozialismus — das ist eine in der Praxis von Millionen verwirklichte Wissenschaft. Wir müssen uns dessen bewußt sein, was für ein riesiger Raum, aber auch was für Anforderungen hier für eine Politik bestehen, die beide elementare Forderungen voll respektieren will: mit der wissenschaftlichen Erkenntnis übereinzustimmen und zu ihrer Verwirklichung die Mehrzahl der Bevölkerung in Bewegung zu setzen ..." In derselben Rede meint Dubek, es „sei heute und in der Zukunft das wichtigste politische Problem der sozialistischen Demokratie, wie zu erreichen sei, daß die Bürger wirklich Subjekte und nicht mehr bloße Objekte des politischen Geschehens seien.“ Theoretischen Analytikern scheinen diese Formulierungen zu vage: Immer noch wird nicht ausgesprochen, wie jene demokratische Einordnung einer Partei, die bisher autoritär regiert hat — und immer noch regiert —, unter den Regeln des Zusammenspiels aller gesellschaftlichen Kräfte garantiert werden soll. Nach den bisherigen Erfahrungen mit den Reformbestrebungen in der KP und im Bewußtsein dessen, daß Dubeks Flügel nur ganz knapp an die Spitze der Partei gelangt war, wobei noch wichtige Positionen in den Händen konservativer Elemente verblie ben waren, kann es nicht wundern, daß derartige Erklärungen, auch wenn sie noch so ehrlich gemeint waren, auf Mißtrauen und Skepsis stießen. Man versuchte, auf die Parteiführung einen entsprechenden Druck auszuüben und ihr durch die Mobilisierung breiter, entscheidender Schichten im Volk Rückendek-kung im Kampf gegen die Dogmatiker in den führenden Gremien zu verschaffen.

Die Frage war, in welchem Ausmaß es gelingen würde, die tatsächliche Mitbestimmung, das tatsächliche Mitregieren breitester Volksschichten — auch der „Andersdenkenden" — in das künitige sozialistische Modell (und die gegenwärtigen ersten Schritte zu ihm hin) zu projizieren. So meint Karel Kaplan in seinem Aufsatz „Der historische Ort des Aktionsprogramms": „Solange kein politisches System geschaffen ist, das diesen Schichten die reale Teilnahme an der Macht und an der Staatsführung gewährleistet, kann es nicht sozialistische Demokratie genannt werden. Man kann nämlich demokratisch weder gegen sie, noch an ihnen vorbei, noch ohne sie — sondern nur mit ihnen regieren."

Um die ging es, dieses „ohne sie", Garantie dieses „gegen sie" in aller Zukunft unmöglich zu machen.

Schon am 15. März hatte sich das Organ der Tschechischen März hatte sich das Organ der Tschechischen Sozialistischen Partei, einer seit ihrer 1948 vollzogenen Gleichschaltung unbedeutenden Mitgliedspartei der Nationalen Front, zu Worte gemeldet: Die Geringschätzung der nichtkommunistichen Parteien stütze sich auf die Erfahrungen in der UdSSR, die nur ein Einparteiensystem kenne; dadurch sei es unmöglich geworden, all die historischen, kulturellen und sozialen Besonderheiten jedes einzelnen Landes, das sich zum Aufbau des Sozialismus entschlossen habe, zu respektieren, denn die einzelnen Parteien seien Dolmetscher legitimer Gruppeninteressen; dieses anzuerkennen sei auf Grund der längst überholten These von der Einheit eines Volkes unmöglich gemacht worden, da nach Stalins Auffassung die Einheit des Volkes monolithisch zu sein habe; weder Marx noch Lenin hätten den Gedanken der Notwendigkeit nur einer Partei für den Aufbau des Sozialismus gekannt 14).

Vaclav Havel drückt diese Ansicht am 4. April 1968 im Blatt des Schriftstellerverbandes „Literärni listy" in einem Aufsatz „Zum Thema Opposition" schärfer aus: „Die Demokratie ist nicht eine Sache des Glaubens, sondern eine Sache der Garantien. Selbst wenn 1 wir einräumen, daß der öffentliche . Wettkampf der Meinungen'die erste Vorbedingung, der wichtigste Faktor und das natürliche Ergebnis der Demokratie ist, so besteht doch ihr eigentliches Wesen — und damit also die eigentliche Quelle unserer Garantien — in etwas anderem, nämlich im öffentlichen und legalen . Wettkampf um die Macht'... Für illusorisch halte ich auch die Auffassung, daß eine innere Demokratisierung der führenden Partei (die Bereitschaft, so etwas wie eine parteiinterne Opposition zu tolerieren) ausreichende Gewähr für Demokratie bietet... Es gehört nämlich zur bitteren Erfahrung aller Revolutionen, daß die durch Revolution zur Macht gelangte politische Gruppe, wenn sie nicht beizeiten die Kontrolle von außen wiederherstellt, zwangsläufig früher oder später ihre innere Selbstkontrolle verliert und langsam, aber sicher zu degenerieren beginnt." 15)

Hier wird unüberhörbar vorgebracht, was in anderen Ländern des Warschauer Paktes höchst alarmierend wirken mußte, alarmierender noch als die Rufe nach Freiheit der Presse, des Wortes, der politischen Aktivitäten, arlarmierender noch als unbotmäßige Karrikaturen führender kommunistischer Funktionäre in den Witzblättern und in den Organen der Journalisten und Schriftsteller: die Forderung einer Opposition als Garantie gegen Machtmißbrauch der autoritär herrschenden Kommunistischen Partei. Diese Idee wird nun natürlich weiterentwickelt; die Ansichten variieren von einer möglichen Opposition auf dem Boden der nach 1948 entstandenen Nationalen Front oder einer den neuen Verhältnissen angepaßten Nationalen Front, d. h. einer Nationalen Front, die um neue politische Gruppierungen und Interessen-vereinigungen erweitert wäre (z. B. um KAN — den Klub engagierter Nichtparteimitglieder, die Vereinigung K 231, d. h.den Verband politisch Verfolgter aus den fünfziger Jahren, neue Jugend-und Studentenorganisationen usw.), oder auf dem Boden einer neuen Parteienkonstellation oder einfach als Bürgeropposition gegenüber der bisher etablierten Macht. Die im weiteren angeführten Ansichten mögen die Vielfalt der entwickelten Ideen demonstrieren. Alle waren sich jedoch darin einig, daß das erstrebenswerte Ziel ein funktionierender demokratischer Sozialismus sein sollte.

Vaclav Havel meint: „Eine logische und praktisch am besten zu verwirklichende Lösung wäre die Konstituierung einer Opposition in einer Weise, wie sie heute von den offiziellen Stellen am häufigsten vorgeschlagen wird: durch Wiederbelebung der existierenden nichtkommunistischen Parteien der Nationalen Front.. estmr Cisar in seiner Rede am 6. Mai 1968 zum 150. Geburtstag von Karl Marx: „Die einzelnen politischen Parteien bekommen ihr eigenes Gesicht, formulieren ihre Absichten und Ziele, regeln ihre gegenseitigen Beziehungen. Auch die Nationale Front wird wiederbelebt als Plattform für eine Konfrontation der Meinungen, für eine qualifizierte gegenseitige Opponentur, für die Suche nach dem optimalen politischen Weg.,.“

Das Präsidium der Nationalen Front nimmt am 15. Juni 1968 eine Proklamation an, in der es heißt: „Das Pluralitätskonzept des politischen Systems will die absolute Trennung vom Monopol politischer Macht und vom alten Konzept der Nationalen Front bestätigen. Die Nationale Front stützt sich auf den Grundsatz, daß die sozialistische Staatsmacht weder Monopol einer einzigen Partei noch Koalition politischer Parteien sein darf. Sie muß allen politischen Gesellschaftsformen des Volkes, all ihren sozialen, Volks-und Generationsgruppen und allen Bürgern zugänglich sein. Das sind die Elemente eines neuen politischen Systems, das eine direkte Teilnahme weitester Bevölkerungsschichten an der Staatsverwaltung ermöglicht und eine Garantie gegen Versuche bietet, die alten Parteikämpfe um die Macht im Staate wiederzubeleben." über diese Vorstellungen geht der damalige Sekretär der ZK, Zdenek Mlynäf, bereits hinaus. Er bewegt sich von der Vorstellung der politischen Opposition hin zur Interessenvertretung. Seine Ansichten legt er im Aufsatz „Zur demokratischen politischen Organisation der Gesellschaft“ im Mai 1968 dar: „Das gesamte bisherige politische System . . . muß qualitativ verändert, entfernt, reformiert werden. Keiner seiner Züge kann . verbessert'werden, sie können nur abgeschafft werden ... Ich gehöre nicht zu denen, die glauben, das Konzept der Entwicklung der Nationalen Front, wie sie im Aktionsprogramm der KP vorgezeichnet ist und wie sie heute verwirklicht wird, sei das letzte Wort der Theorie und Praxis des Marxismus oder der sozialistischen Praxis überhaupt. Allgemein theoretisch vermute ich, daß die Vorstellung eines Modells z. B. zweier politischer Parteien auf sozialistischer Basis, die etwa nach dem Prinzip des bekannten Systems der Opposition in Großbritannien funktionieren könnten, nicht nur nicht ausgeschlossen ist, sondern ihre logischen Vorteile hat...“

Mlynär sieht die Beschränktheit der seit 20 Jahren unveränderten bestehenden Nationalen Front: „Ich bin der Meinung, daß die Nationale Front praktisch eine Entwicklung wird durchmachen müssen, die nicht ohne Widersprüche und die kompliziert sein wird: ihre heutigen ungleichbürtigen Komponenten — von politischen Parteien an bis zu engen Interessenverbänden — können offensichtlich nicht ihre Struktur bei ihrer ernst aufgefaßten neuen politischen Funktion beibehalten. Es kann auch nicht die Möglichkeit der Entwicklung selbständiger politischer Parteien ausgeschlossen werden — sei es durch ihre Umstrukturierung, sei es durch eine mögliche Integration mit neu entstehenden anderen Gruppierungen oder auch durch die Konstituierung einer neuen Partei — aber auf der Basis des Konzepts der Nationalen Front."

Mlynäf gibt sich jedoch mit der alleinigen Erweiterung der Nationalen Front um rein politische Gruppierungen nicht zufrieden. Scheint ihm doch die echte Basis für die Schaffung eines pluralistischen Machtzentrums in einer als Parteiendemokratie aufgefaßten sozialistischen Demokratie zu fehlen: Schließlich gehöre zur allgemeinen Entwicklungstendenz der modernen Demokratie, daß jede in ihr vertretene Partei immer mehr zur Volkspartei tendiere und dadurch natürlich die Konturen zwischen den ehemaligen Klassenparteien verwischt würden. Dabei strebe jede Partei im Wettkampf um die Macht nach dem Monopol der Macht. In der sozialistischen Demokratie ginge es jedoch darum, das Monopol der Macht durch ein pluralistisches Machtzentrum zu ersetzen, an dem mittelbar und unmittelbar breiteste Schichten der Bevölkerung teilnehmen könnten. Mlynäf plädiert daher für eine Entwicklung zur Vertretung von Interessengruppen:

„Was ich für das Konzept der weiteren Entwicklung unseres politischen Systems überhaupt als Grundfrage betrachte, ist die Anerkennung auch anderer politischer Subjekte, als es politische Parteien sind, und zwar als Subjekte, denen die unmittelbare Möglichkeit der Teilnahme an der Ausarbeitung der Staatspolitik gewährleistet sein muß.“

„Wir müssen", so meint Mlynäf, „eigene Wege suchen, die sowohl sozialistisch wie tschechoslowakisch in dem Sinn sein sollen, daß sie dem Niveau, den Traditionen, der Stu-fe der erreichten Erkenntnis und der Wert-orientierung unserer beiden Völker entsprechen." „Einer der beiden Wege ist gerade das richtige öffnen der staatlichen Vertretungsorgane unmittelbar auch solchen Subjekten, die nicht den Charakter und damit auch nicht die negativen Züge politischer Parteien haben und die die wichtigsten Interessen in der sozialistischen Gesellschaft ausdrücken. Es geht besonders um folgende Arten politischer Subjekte: 1. Gesellschaftliche Interessenorganisationen, die demokratisch die Interessen entscheidender Gruppen und Schichten nach Kriterien, die die gesellschaftliche Arbeitsteilung schafft, vertreten: Gewerkschaftsorganisationen, Organisationen der Bauern, Organisationen von Intellektuellen (mit notwendiger Unterscheidung der Sphäre von Wissenschaft und Technik einerseits und der Sphäre von Kunst usw. andererseits).

2. Gesellschaftliche Interessenorganisationen, die demokratisch die Generationsinteressen (Jugendorganisationen, aber gleichzeitig möglicherweise auch Organisationen von Rentnern) und die Interessen der Frauen integrieren.

3. ökonomische (besonders Unternehmer-) Subjekte, d. h.demokratische Organe sozialistischer Unternehmen und deren Verbindungen ... einschließlich LPG, Bank-und Handelsorganisationen, vielleicht auch Verbraucherorganisationen u. a.“ 18a)

Auch Dr. Gustav Husäk brachte eine neue Variante in die Diskussion. In einem Interview zu den Problemen der Gegenwart meint er im Mai 1968: „Die Elemente einer unmittelbaren Demokratie der Selbstverwaltung der Produzenten nach den alten Marxschen Vorstellungen oder auch nach einigen heutigen Auffassungen, können unser System der sozialistischen Demokratie stärken.“

Alle diese Vorstellungen finden sich in einer Synthese bei Josef Spacek wieder, dem damaligen Präsidiumsmitglied der KP und leitenden Sekretär der südmährischen KP-Bezirksorganisation, Brünn: „Die sozialistische Demokratie stellt sich eine Frage, die die bürgerliche Demokratie noch in keiner ihrer Formen gelöst hat: die Frage der Teilnahme an der Verwaltung der gesellschaftlichen Angelegenheiten ohne Vermittlung durch politische Parteien. Der Sozialismus geht von der Notwendigkeit des allmählichen Übergangs zur direkten und vollkommenen Selbstverwal-tung aus. Gerade darum treten im Zusammenhang mit dem politischen System des Sozialismus so dringlich die Probleme von Ort und Funktion der gesellschaftlichen Organisationen in den Vordergrund, insbesondere der Gewerkschaften, der Genossenschaftsbauern, der Jugend, der Frauen u. ä. Gleichzeitig müssen dabei die Fragen der Selbstverwaltungsorgane in den Betrieben, die genossenschaftsinterne Demokratie in landwirtschaftlichen Produktions-und anderen Genossenschaften sowie die Vertiefung der Selbstverwaltung in Dörfern, Städten und Gebieten überdacht werden. Im Lichte dieser Fragen muß die Politik der Nationalen Front weiter überdacht und ausgearbeitet werden, und zwar so, daß sie wirklich zum Ort des Aufeinanderstoßens, des Wettbewerbs und der Abstimmung von Konzepten wird, die die Grundfragen der Entwicklung des Sozialismus, seiner Wirtschaft und Kultur lösen wollen, zum Ort des Übereinkommens aller sozialistischen und demokratischen Kräfte und Organisationen."

Während diese und ähnliche Vorstellungen entwickelt und theoretisch begründet wurden — Ansichten, die oft unzulänglich und nicht zu Ende gedacht erscheinen, aber immer auf dem Boden des marxistischen Sozialismus stehen und eigentlich gerade in ihrer manchmal naiven Form einen ungewöhnlichen Glauben an die Entscheidungsfähigkeit des Volkes und die Stärke der eigenen geistigen Positionen ausdrücken —, regte sich in der Partei und in den von ihrer ehemaligen Spitze abhängigen, vielleich von der neuen Entwicklung sogar bedrohten Gruppierungen und Schichten die Reaktion. Ihre Tätigkeit aufzufangen und sie aus Kreis-und Bezirksebene zu vertreiben, dienten die Kreis-und Bezirkskonferenzen im März 1968. Auf ihnen wurden nicht nur neue Führungsgremien, sondern auch die Delegierten zum künftigen außerordentlichen XIV. Parteitag der KPTsch gewählt, der Anfang September 1968 zusammentreten sollte.

In der Tat gelang es den progressiveren Kräften fast auf allen Konferenzen, ihre politische Linie durchzusetzen und stalinistische, konservativ-bürokratische Funktionäre aus deren Machtposition zu verdrängen. Mit Unruhe wurde jedoch im Lande eine Reaktivierung konservativ-reaktionärer Elemente . in den höchsten Parteigremien beobachtet, die ihre Zuversicht nicht ohne Grund aus der immer deutlicher zutage tretenden Unzufriedenheit der übrigen Warschauer Pakt-Staaten ableiteten. Gegenüber immer stärker werdenden Ru-20 fen, sie sollten ihre Ämter zur Verfügung stellen, da sie doch alles Vertrauen verloren hätten und eigentlich nur mehr sich selbst verträten, stellten sie sich taub. Diese Unverfrorenheit, aber auch eine sich verstärkende Furcht vor politischer oder wirtschaftlicher Intervention von außen, führte umgekehrt zu einer politischen Radikalisierung der Massen und einer mit ihr unmittelbar verknüpften Denktätigkeit, die in bestimmten Momenten das für die Parteiführung Dubeks in einer sehr komplizierten Situation ertragbare Maß überschreiten mußte. Für die Geschichtsforschung sind jedoch die vorgebrachten Gedanken deshalb interessant, weil sie wiederum eine neue, eine weitere Stufe der politischen Emanzipation darstellen, ob sie nun im gegebenen Augenblick schon opportun gewesen sein mögen oder nicht, ob sie das Mißtrauen der „Verbündeten" erhöht haben mögen oder nicht, ob sie sich in einem neuen demokratischen Sozialismus als praktikabel erwiesen hätten oder nicht.

Am 27. Juni 1968 wird in den veröffentlichten „ 2000 Worten" erklärt: „Fordern wir den Abgang der Leute, die ihre Macht mißbraucht, das öffentliche Eigentum geschädigt, ehrlos und grausam gehandelt haben. Man muß Methoden ausfindig machen, um sie zum Abgang zu veranlassen. Zum Beispiel: öffentliche Kritik, Resolutionen, Demonstrationen, demonstrative Arbeitsbrigaden, Spendensammlung für ihren Abgang in den Ruhestand, Streik, Boykott... Fordern wir öffentliche Sitzungen der Nationalausschüsse! Für Fragen, mit denen niemand etwas zu schaffen haben will, bilden wir eigene Bürgerausschüsse und -kommissio-nen. Das ist ganz einfach: Ein paar Leute kommen zusammen, wählen ihren Vorsitzenden, führen ordnungsgemäß Protokoll, veröffentlichen ihren Befund, fordern eine Lösung, lassen sich nicht einschüchtern. Verwandeln wir die Bezirks-und Ortspresse, die meist zu einem amtlichen Sprachrohr degeneriert ist, in eine Tribüne aller positiven politischen Kräfte, fordern wir die Bildung von Redaktionsräten aus Vertretern der Nationalen Front oder gründen wir andere Zeitungen, bilden wir Ausschüsse zur Verteidigung der Freiheit des Wortes. Organisieren wir bei unseren Versammlungen einen eigenen Ordnungsdienst! Sollten wir Gerüchte hören, so laßt sie uns beglaubigen, entsenden wir Delegationen zu den zuständigen Stellen, veröffentlichen wir ihre Antworten, etwa durch Anschlag am Tor ... Unterstützen wir die Sicherheitsorgane, wenn sie wirkliche Straftaten verfolgen: Unser Streben geht nicht dahin, Anarchie und einen Zustand allgemeiner Unsicherheit herbeizuführen ... Unserer Regierung können wir zu verstehen geben, daß wir notfalls mit der Waffe hinter ihr stehen werden, solange sie das tun wird, wofür wir unser Mandat geben, und unseren Verbündeten können wir versichern, daß wir unsere Bündnis-, Freundschafts-und Wirtschaftsverträge einhalten werden .. ."

In der Tat: das ist nicht mehr die Sprache von Untertanen — das ist die Rede jener souveränen Quelle aller Macht, auf die wohl in Verfassungen Bezug genommen wird, die aber doch so selten im System der vermittelten Demokratie zutage tritt. Hier wird sie zum erstenmal angesprochen, jene unmittelbare Teinahme an der Macht in einem nur skizzierten System der Selbstverwaltung, die ein Element einer möglichen Rätestruktur hätte sein können.

Die Parteiführung lehnte damals die 2000 Worte ab; sie begriff sie als Teil einer Eskalation, die die bestehenden Differenzen mit der Sowjetunion und deren Verbündeten zu einem Abgrund vertiefen mußte. Dem Partei-präsidium warf Ivan Svitäk vor: „Werden die Kommunisten ihre Partei als eine politische Partei des Volkes und der wichtigsten Schichten unserer Gesellschaft betrachten oder als einen Machtapparat, der seine unverhüllte Macht über die rechtlosen Massen mit Händen und Füßen verteidigen will? Von dieser Frage aller Fragen hängt fast alles ab: die Zukunft des Volkes, und die Existenz der Freiheit. Die KP hat immer noch Chancen, bei regulären, geheimen und freien Wahlen zu gewinnen, wenn sie die erste Alternative wählt und sich ihr Mandat zur Führung des Volkes der Tschechoslowakei bestätigen läßt. Die Partei eines siegreichen Demokratisierungsprozesses wird ebenso sicher solche Wahlen gewinnen, wie die Partei einer totgeborenen Demokratisierung solche Wahlen niemals erlauben wird.“

Die sich überstürzenden Entwicklungen der nächsten Wochen haben dann zustande gebracht, was sich weder die Parteispitze noch Ivan Svitäk je hätten träumen lassen: Wie noch nie in der Geschichte zuvor stand ein geeintes Volk hinter der Kommunistischen Partei und deren Führung, als sowjetische Truppen unter dem Vorwand von Manövern die Souveränität der Tschechoslowakei zu verletzen begannen und als sie dann zu nächtlicher Stunde, unter Mißachtung aller Abmachungen und der elementarsten Rechte dieses Landes, am 21. August in sein Territorium einbrachen. Das Manifest der 2000 Worte hatte mit den prophetischen Worten geendet: „Dieser Früh-ling ist soeben zu Ende gegangen und wird nie wiederkehren. Im Winter werden wir dann alles wissen ..." In diesem Winter sollte sich der Student Jan Palach vor dem Wenzelsdenkmal in Prag verbrennen.

III. Schwächen und Stärken des Prager Frühlings

Zweierlei Fragen werden bei der nachträglichen Bewertung der Nachjanuarentwicklung in der Tschechoslowakei gestellt: erstens, ob die gesamte Entwicklung nicht eines Tages notwendigerweise der Kontrolle der Partei hätte entgleiten müssen, zweitens, ob die Taktik bei der Anvisierung des Endziels wohl die richtige gewesen sei (den einen scheint das Tempo zu schnell gewesen zu sein, den anderen zu wenig hart gegenüber den Kräften, die der neuen Entwicklung hinderlich sein konnten, entweder durch unerwogenen Radikalismus oder durch gut organisierte Wühl-und Bremsarbeit gegen die neue politische Welle).

Zur ersten Frage: Sicherlich war der Weg, den die neue Parteiführung oft unter Druck der politisch und theoretisch entwickeltsten Gruppen eingeschlagen und weiter verfolgt hatte, ein risikenreicher Weg. Es mußte damit gerechnet werden, daß die Partei bei der Suche eines Auswegs aus der tiefen Krise, in die das stalinistische Modell des Sozialismus in der Tschechoslowakei und mit ihm die gegesamte Gesellschaft geraten waren, nicht mit allen von ihr vorgeschlagenen Maßnahmen auf ein positives Echo stoßen würde, ja, daß sie auch Niederlagen in Kauf werde nehmen müssen, und das um so wahrscheinlicher, je eher sich das politisch-soziale Modell des Sozialismus einer sozialistischen Demokratie genähert hätte. Die Partei konnte bei der Verwirklichung ihrer Politik sowohl auf Widerstand konservativen Charakters stoßen (am Anfang vor allem bei der Arbeiterschaft bei der Realisierung wirtschaftlicher Reformen)

als auch auf Ablehnung bei Gruppen, denen der Weg zu einem idealen Endziel zu beschwerlich, zu langsam schien. Typisch für derartige Konfliktmöglichkeiten war das Auftreten eines jungen Studentenführers bei einem Meeting auf dem Altstädter Ring, der ohne jede Verklausulierung erklärte, die Jugend sei noch bereit, der KP eine Art Blankoscheck auszustellen, der jedoch nur dann eingelöst würde, wenn die Partei die verspro-

ohenen Maßnahmen ehrlich und schnell verwirkliche. Diese Vollmacht sei man bereit auszufertigen nicht etwa aus Liebe zur Partei, sondern deshalb, weil sie heute noch die Macht habe und keine andere Kraft existiere, die im gegenwärtigen Augenblick eine Alternative darstellen könnte.

Sicherlich: der Nachjanuarweg war ein Weg des Risikos. Aber verglichen mit dem bisherigen Weg, der in eine tiefe Krise geführt hatte und unweigerlich in die Katastrophe des Sozialismus, der Partei und des Staates führen mußte, war er der einzige Ausweg. Gegenüber der Chance, die Hauptfrage vielleicht lösen zu können, nämlich den so kompromittierten Sozialismus in eine neue Epoche hinüberzuführen, in der eine neue Generation an der Spitze steht und in der die Probleme der zweiten Phase, der industriellen Revolution, zu lösen sind — und dies mit einer kommunistischen Partei oder sogar unter deren Führung —, hätte die Beibehaltung der bisherigen Methoden, der bisherigen Institutionen, der bisherigen geistigen Dürre mit Sicherheit bedeutet, hoffnungslos als sozialistische Kraft unterzugehen (wie es auch inzwischen geschehen ist).

Ohne Zweifel wurde der neue Weg nicht ohne Analyse der Möglichkeiten, der Schwächen, aber auch der positiven Faktoren für den Erfolg der neuen Linie, für die annehmbare Lösung der angeführten „Hauptfrage" begonnen und weitergeführt. Wie wir sahen, war der Saldo dieser prognostischen Bilanz günstig.

Wir sprachen bereits über die tschechoslowakischen Arbeiter als Faktor in diesem Prozeß, über ihre demokratischen und sozialistischen Erfahrungen. Wir sprachen bereits über die Intellektuellen. Durch ihre Traditionen, durch das eigentümliche „Plebejertum" der tschechischen und slowakischen Literatur war die intellektuelle Elite mit der breiten Masse bemerkenswert verbunden. Sicherlich haben auch andere Staaten, die zum osteuropäischen Staatensystem gehören, eine ähnliche gebildete und geschichtlich erfahrene Arbeiterklasse, z. B. die DDR, Polen und Ungarn. Sicherlich gibt es auch in Polen und Ungarn eine Jugend, die bereit wäre, sich mit jeder Kraft zu verbinden, die eine Änderung des jetzigen Zustandes herbeiführen wollte. Aller-dings ist es fraglich, ob die Jugend in diesen Ländern nach ihren bisherigen Erfahrungen mit der Entwicklung des Sozialismus — insbesondere mit dem Eingriff der Sowjets in Ungarn 1956, mit dem Niederschlagen der Unruhen in Posen 1956 und der Degeneration des Gomulka-Regimes bis zu den blutigen Auseinandersetzungen mit den Studenten 1967, die Repressionen gegen Arbeiter und Intellektuelle 1970 und 1972 — den einzuschlagenden Weg auf der Basis des Sozialismus sähe. In der Tschechoslowakei brauchte man keine Befürchtungen in dieser Richtung zu hegen.

Einer der entscheidenden Faktoren war die Tatsache, daß die Tschechoslowakei von allen osteuropäischen Staaten der einzige war, dessen geschichtliche Erfahrungen keine antirussischen oder in neuerer Zeit antisowjetischen Residuen hinterlassen hatten. Während beides in Polen, in Rumänien, in Ungarn und der DDR als objektive Faktoren vorhanden ist, konnte demgegenüber die tschechoslowakische Führung damit rechnen, daß als unerwünschtes Nebenprodukt der Demkratisierung nicht anderntags die Forderung nach Neutralität oder sogar Lostrennung vom osteuropäischen Wirtschaftsund Militärsystem erhoben würde. Die DDR, Ungarn, Rumänien, Bulgarien waren im Verlauf des Zweiten Weltkrieges von sowjetischen Armeen im Kampf besetzt worden — als Achsenmächte bzw.deren Verbündete waren sie jahrelang von der sowjetischen Okkupationsmacht als Feinde behandelt worden. Neben den Jugoslawen hatten die Tschechen und Slowaken als einzige ohne militärische „Nachhilfe" den Weg zum Sozialismus aus eigenen Stücken beschritten. Sie hatten der Roten Armee als Befreiungsarmee entgegen-gejubelt, ohne nachher wie die Polen einen riesigen territorialen Kaufpreis für die Befreiung zahlen zu müssen (die Abtretung der Karpatho-Ukraine war ein vergleichsweise leicht zu verschmerzender Tribut an Moskau gewesen).

Dieses Bündnisverhältnis ist viele Jahre un-angezweifelt und in seinen verschiedenen Aspekten unkritisiert geblieben. Die unmittelbar nach dem Kriege von der Sowjetunion geleistete Wirtschaftshilfe, besonders auf dem Gebiet der Versorgung mit Lebensmitteln (Weizen!), trug ein übriges zur langandauernden Fiktion bei, die möglichst enge Verknüpfung der Ökonomien beider Länder könne der tschechoslowakischen Wirtschaft nur Vorteile und wirtschaftliche Sicherheit, ein stetes Anwachsen der Produktion und damit soziale Sicherheit und steigenden Wohlstand bringen.

Natürlich wich gleichzeitig mit der zunehmenden Schärfe der Kritik am eigenen System auch jene naiv-gläubige Einstellung zur Sowjetunion einem differenzierteren Verhältnis. Schließlich hatte der XX. Parteitag der KPdSU die Schuld der sowjetischen KP an der furchtbaren Deformation sozialistischer Theorie und Praxis zugegeben. Aber bis zuletzt — zumindest bis zu jenem Zeitpunkt, als der warnende Zeigefinger aus Moskau zur drohenden Faust geballt worden war, bis zu den nervenzerreißenden Tagen der sowjetischen Manöver auf tschechoslowakischem Territorium und dann dem Überfall am 21. August 1968 — hat sich die Richtigkeit der Annahme bestätigt, die Demokratisierung führe keineswegs notwendig zu einer Stärkung der antisowjetischen (eine antirussische hat es ohnehin nie gegeben) Komponente.

Ohne Rücksicht auf die Richtigkeit kritischer Analysen hat man von sowjetischer Seite von Anfang an äußerst allergisch auf jede Äußerung reagiert, die als eine Schwächung der von der Sowjetführung proklamierten internationalen Verbindlichkeit des Leninismus aufgefaßt werden konnte. Dabei wurde geflissentlich übersehen, daß diese Kritik ebenso wie die Kritik am Stalinismus von durchaus sozialistischen, ja kommunistischen Positionen aus vorgebracht worden war und im Endeffekt darauf hinauslief, das durch die Fehler beider Seiten (die russischen Großmachtallüren gegenüber der kleinen Tschechoslowakei und die jahrelangen unwürdigen Kniefälle, die von der tschechoslowakischen Spitze gegenüber Moskau getan worden waren) wirklich gestörte Verhältnis zu bereinigen und dadurch zu festigen.

Es hat sich herausgestellt, daß die sowjetische Politik den Begriff des gleichberechtigten, souveränen Verbündeten — eines der Ziele der Nachjanuarpolitik — nicht aushalten kann. Sie kennt Feinde oder Vasallen. Kritik ziemt nicht dem Vasallen — kritisiert er trotzdem, wird er in die Klasse der Feinde eingestuft.

So geschah es Cestmir Cisär, bis August 1968 Sekretär im ZK, danach Präsident des Tschechischen Nationalrats, der in seiner Rede zum 150. Geburtstag von Karl Marx erklärt hatte: „Wir fühlen erneut und besonders stark das Bedürfnis, zu den reinen Quellen des wissenschaftlichen Kommunismus zurückzukehren. Nicht um uns an einzelne Lehren von Marx zu erinnern, nicht um in seinem Werk passende Zitate für heute zu suchen, sondern um uns zu überprüfen, wieweit wir seine Theorie und Methoden beherrschen, wieweit wir imstande sind, eine Antwort auf die drängenden Fragen unserer Gegenwart zu geben — kurz: inwieweit wir zeitgenössische Marxisten sind... Nicht mit allem, was im Namen des Marxismus und im Namen des Sieges des Sozialismus geschah, können wir einverstanden sein. Nicht alles war zum Nutzen des Menschen und der Gesellschaft. Nicht alles, was sich so nannte, war Marxismus ... Die Praxis und die Erfahrungen der bolschewistischen Partei führten auf natürlichem Weg zur Entstehung eines Zentrums der internationalen kommunistischen Bewegung in dem ersten und damals einzigen sozialistischen Staat... Doch kann man einige negative Seiten dieser Tatsache nicht leugnen. Besonders, daß die verallgemeinerten Erfahrungen der sowjetrussischen Kommunisten sich allmählich als einzig mögliche Richtung des marxistischen Denkens und der marxistischen Politik durchsetzten, daß also der Leninismus im Laufe der Zeit zur Monopolinterpretation des Marxismus umgewandelt wurde ...

Der Marxismus wurde einer schädlichen Revision im Sinne der pragmatischen Politik einer machtausübenden Gruppe und später der Macht einer Person unterworfen ..."

Scharf kritisiert vom Mitglied der Sowjetischen Akademie der Wissenschaften F. Konstantinow am 14. Juni 1968 in der Moskauer Prawda, in der Cs als weiteres Kügelchen in den verderblichen Rosenkranz der Kautsky, Martow und Dan, Kant und Mach, des „Jesuiten" Bochenski und der deutschen Sozialdemokraten, der Maoisten und anderer „Schädlinge" eingereiht wurde, unterstrich der tschechoslowakische Parteisekretär am 22. Juni 1968 noch deutlicher seinen Standpunkt im Rude prävo. Er konzedierte wohl, daß an der tiefen Krise der KP-Politik nicht der Leninismus schuld sei, sondern dessen stalinistische Deformation, betonte aber, daß „die Inspiration durch den Marxismus heute zu einer anderen Erkenntnis führe und führen könne als zu welcher Lenin vor einem halben Jahrhundert gelangt sei, und zwar in einer Reihe konkreter Fragen, wobei in vielen anderen Fragen die Schlußfolgerungen auch heute noch dieselben seien und sein könnten.

Aber dies ließe sich nicht durch . Treue’ zum Leninismus beweisen, sondern durch streng wissenschaftliche Prüfung der existierenden Realität. Nähmen wir eine andere Methodologie an, verließen wir den Boden des Marxismus-Leninismus und würden Dogmatiker, Metaphysiker"

Mit Absicht werden hier die beiden letztgenannten Begriffe in dem Sinn angewendet, in dem sie Stalin in seiner Schrift über den „Dialektischen und historischen Materialismus" gebraucht hat.

Als sicher kann gelten, daß auch die schärfsten kritischen Analysen in der Nachjanuarperiode keine Absage an die sowjetischtschechoslowakische Freundschaft, keine Absage an das Warschauer Pakt-System, keine Absage an den Comecon bedeuteten, sondern eher den Versuch darstellten, durch Überwindung unnötiger Mängel die integrierten Organisationen der sozialistischen Staaten effektiver zu gestalten, und dies bis zu einem Zeitpunkt, als die Sowjets die Basis für jedes wirkliche Vertrauensund Bündnisverhältnis selbst zerstörten.

Von diesem Zeitpunkt an existiert in der Tschechoslowakei ein ebenso tiefer Antisowjetismus wie in allen anderen Ländern des sozialistischen Blocks. Er ist schärfer, da die geschlagene Wunde tiefer, frischer ist. Sie wurde von Verbündeten, von Brüdern geschlagen. Schon deshalb ist das tschechoslowakische Experiment unwiederholbar — ebenso wie es unwiederholbar ist in anderen sozialistischen Ländern in der Form, wie es unter Führung der Kommunistischen Partei in der Tschechoslowakei versucht worden ist. Denn jeder Schritt zu einer angestrebten Demokratisierung brächte unausweichlich die Frage des Bündnisses mit der Sowjetunion aus der Sicht der staatlichen und nationalen Unabhängigkeit auf den Tisch.

Dies hat der nach 1968 konsequenteste Verfechter einer geistigen und politischen marxistischen Renaissance in Osteuropa, Rudolf Bahro, wohl erkannt. Dennoch meint er, „der sowjetischen Führung würde der analoge Entschluß ein weiteres Mal noch bedeutend schwerer fallen als 1968 ..." Die Fähigkeit, so schreibt der DDR-Autor optimistisch, militärisch gegen Volksbewegungen in anderen Ländern vorzugehen, könne überhaupt nur sehr bedingt von einem technologischen Standpunkt aus beurteilt werden. „Sie ist — wie das Militär überhaupt — nach aller bisherigen Erfahrung eine von vielen abhängige Variable. Man verzichtet auf den historischen Materialismus, wenn man vergißt, daß Truppen auf die Dauer nicht neue, höhere Produktivkräfte in Schach halten können, von denen überdies ihre Ausrüstung abhängt. Und die internationale Situation macht es selbst für kürzere Fristen nicht wahrscheinlich, daß die Sowjetführung ihre Rolle als regionaler Gendarm aufrechterhalten kann, während die USA als Weltpolizist gescheitert sind."

Eine nicht minder wichtige Voraussetzung für den Versuch, Sozialismus und politische Führung der kommunistischen Partei durch eine schrittweise Demokratisierung des öffentlichen Lebens zu erhalten, war der Umstand, daß es von allen Ländern des sozialistischen Staatensystems allein die Tschechoslowakei war, deren Kommunistische Partei positive Erfahrungen mit demokratischen Spielregeln gesammelt hatte. Weder die Völker Rußlands, noch Polens, Rumäniens, Ungarns, Bulgariens, Albaniens, Chinas, Koreas, Vietnams, Kubas haben in ihrer Geschichte je eine Periode ausgeprägter formeller Demokratie erlebt. Allein die Bewohner der DDR kennen aus Erfahrung die Zeitspanne der Weimarer Republik; ohne Zweifel ist jedoch diese historische Erfahrung deformiert und verzerrt durch das stärkere Erlebnis der nationalsozialistischen Ara, des Zusammenbruchs und der nachfolgenden Besatzungszeit, die der Gründung der DDR vorausging und in sie überging.

Im Unterschied zu all diesen Ländern, in denen für die Kommunistischen Parteien die Vorstellung jeder nicht von ihnen diktierten Herrschaft zusammenfällt mit antikommunistischem Terror, Unterdrückung, Repressalien usw., hat die Tschechoslowakei eine recht rege Periode formell demokratischer Prägung zwischen beiden Weltkriegen erlebt, während derer die KP eine bedeutende und keineswegs periphere Rolle spielen konnte. Daher bestand in der Partei keine allgemeine Unlust gegenüber der Ablösung diktatorisch repressiver Methoden durch politische Instrumente nach allgemein gültigen demokratischen Regeln.

All diese positiven Faktoren berechtigten die Führer der Nachjanuarpolitik dazu, den Ausweg aus der tiefen gesellschaftlichen Krise des stalinistischen Systems trotz der damit notwendig verbundenen Risiken zu beschreiten. Und in einem gewissen Sinn war ihnen dabei auch die Art, die Taktik, vorgeschrieben, die sie dabei zu wählen hatten. Die KP hatte den Prozeß ihrer eigenen Erneuerung und damit den Prozeß der Demokratisierung des Sozialismus in einer Situation eingeleitet, in der ihr vom ursprünglichen Kredit nur ein Bruchteil übriggeblieben war. Das Mißtrauen der Bevölkerung zu den von ihr vorgeschlagenen Maßnahmen unmittelbar nach dem Januar 1968, die Befürchtung, man versuche diesmal wieder wie zuvor Reformen und Verbesserungen vorzutäuschen, um schließlich das Wesen des bürokratisch-diktatorischen Regimes zu retten, zwangen die Partei, sich von den bisherigen Praktiken zu distanzieren.

Sie mußte, um die Zukunft zu gewinnen, zu ihrer eigenen Schwächung beitragen, indem sie aus eigener Initiative die Verfehlungen, ja Verbrechen ihrer Führung in den fünfziger und sechziger Jahren bloßstellte. Denn wenn das Endziel der Nachjanuarbewegung eine Gesellschaft sein sollte, in der die führende Position der Kommunistischen Partei nur durch den immer wieder demokratisch eingeholten Konsensus mit ihrer Politik gewährleistet sein sollte, konnte zu diesem Ziel überhaupt keine andere Methode als eine Politik der aufgedeckten Karten führen. Daher das Bestreben der neuen Männer an der Spitze der KP, von Anfang an die Rehabilitierung vom kommunistischen Regime unschuldig Verfolgter in aller Öffentlichkeit zu betreiben-, deshalb die Einleitung von Strafverfahren gegen Politiker und Beamte, die sich Verbrechen der Rechtsbeugung und Unmenschlichkeit hatten zuschulde kommen lassen; deshalb die demokratische Art, mit der von Anfang an grundsätzliche Streitfragen ausgetragen wurden unter Anteilnahme der Öffentlichkeit. Am 13. März 1968 wendet sich das Präsidium des ZK nach den Kreis-und Bezirkskonferenzen der KP an „alle Parteiorganisationen und Kommunisten mit der Aufforderung, sie mögen sich, eingedenk ihrer Verantwortung gegenüber den Völkern dieses Landes, an die Spitze dieser Bewegung stellen und ihre fortschrittlichen Ansichten und Forderungen äußern ... Kritische Aussagen“, so heißt es in der Erklärung, „müßten zu einem ständigen Zug in unserem Leben werden.“

Wollte die Partei überhaupt in Ansätzen die tiefe Talsohle überwinden, in der sie sich nach der Ära Gottwald-Zäpotocky-Novotny befand, durfte ihr nicht einfallen, ihre neue Linie mit anderen Methoden als denen der Überzeugung, der Diskussion, der Unterordnung unter allgemein gültige, wenn auch noch nicht verbindlich formulierte Spielregeln einer sozialistischen Demokratie durchzusetzen. Daher mußte sie auch unangenehme Akzente von ungeduldiger, vielleicht sogar un-oder antisozialistischer Seite ohne den Versuch von Repressionen ebenso hinnehmen, wie die mit Akribie betriebenen Umtriebe konservativer Elemente, den einmal entschiedenen Machtkampf wiederum — vielleicht mit Hilfe von außen — zu ihren Gunsten zu revidieren. Der Parteiführung Dubceks kann kaum der Vorwurf gemacht werden, sie habe die „Feinde" der sozialistischen Ordnung sogleich mit repressiven Methoden der Staatsmacht mund-tot oder unschädlich gemacht. Ging es doch darum, endlich in politischen Fragen ohne die repressive Methodik auszukommen, die doch so jämmerliche Früchte bei der Organisation einer modernen sozialistischen Gesellschaft gezeitigt hatte. Eigentlich wurzelte die Über-zeugung, dem Sozialismus könne nichts so abträglich sein wie die Unterbindung der freien politischen und geistigen Aktivität aller Bürger, in einem durchaus revolutionären Vertrauen zum Verstand, zur Mündigkeit, zur Einsicht und zu den Fähigkeiten eben dieser Bürger, eine Einstellung, die als ungeheuerlich angesehen wird in Regimen, von denen jede abweichende Meinung bereits mit Verbannung, Gefängnis, Ehrverlust, Berufsverbot usw. geahndet wird.

Man hat Dubcek nach der Katastrophe vom August 1968 vorgeworfen, er sei mit der sowjetischen III. Kolonne ebenfalls zu weich umgegangen, obwohl er hätte wissen müssen, wie sehr Bil’ak, Indra, Kolder, Jodäs, David, Novy u. a. gegen ihn und seine Politik intrigierten und alle Kräfte mobilisierten, um sich selbst zur gegebenen Zeit wieder an die Macht zu katapultieren. Man wirft ihm vor, er habe selbst die Kräfte in seinem Schatten groß werden lassen, die schließlich seinen Sturz herbeiführen und alles zertreten sollten, was er und seine Führung in den ersten acht Monaten des Jahres 1968 geschaffen hatten. Hier gilt, was von der Einstellung der neuen Politik zu den Gegnern aus dem Lager der allzu Ungeduldigen gesagt worden ist: ein Regime, das seine Stärke aus dem Konsensus der Mehrheit abzuleiten trachtete und daher die Konfrontation mit dem politischen Widersacher suchen mußte, mußte dem Streit mit den Konservativen, Reaktionären und Stalinisten ebenso offen stehen. Schließlich war eine führende Position aufgrund eines allgemein frei errungenen Mandats von allen Bürgern des Landes noch ferne Zukunftsmusik; noch war die Partei trotz aller Worte im uneingeschränkten Besitz der absoluten, autoritären Macht. Jede Andeutung eines Mißbrauchs dieser Macht hätte das langsam keimende Vertrauen zerstört, diese Partei meine es diesmal vielleicht doch ernst. Alle Opfer dieser Politik — die Selbstkritiken, das geistige Großreinemachen, die Distanzierungen von den Vergehen der Vergangenheit — wären umsonst gewesen und ein Zustand wäre eingetreten, der noch schlimmer gewesen wäre als die Lage in der letzten Phase der Ära Novotny. Denn zur Furcht vor der Macht der Partei wäre die Verachtung gegenüber der KP wegen Wortbruchs, Rechtsbeugung und willkürlicher Diktatur getreten.

Alles das trat dann auch mit einiger Verspätung ein, als die Sowjets und ihre Verbündeten in der Tschechoslowakei wieder eine Herrschaft nach eigenem Modell zwangsweise errichtet hatten-, die Verachtung gegenüber einer KP Husäks ist heute allgemein — in der Tschechoslowakei ebenso wie auf der internationalen, insbesondere euro-kommunistischen Bühne.

IV. Partei und Nation

Alle Diskussionen über den Charakter der sozialistischen Demokratie, alle kritischen und minder kritischen Definitionen der Nah-und Fernziele der Nachjanuarbewegung konnten nicht darüber hinwegtäuschen, daß vor der Kommunistischen Partei eine lange Durststrecke liegen mußte, wollte sie die Metamorphose von einer diktatorischen politischen Macht zu einer demokratischen führenden politischen Kraft durchstehen. Daß dann schließlich diese Strecke wie im Zeitraffer verkürzt wurde und die KP noch im selben Jahr unangefochten an der Spitze der Nation stand, verdankt sie eigentlich Urhebern, die genau das Gegenteil von dem beabsichtigt hatten, was sie wirklich bewirkten. Stationen dazu waren die Treffs der Führer der übrigen osteuropäischen kommunistischen Parteien untereinander oder mit den tschechoslowakischen Vertretern, wo sie ihre ernsten Warnungen vor der Entwicklung in der Tschechoslowakei vorbrachten: Dubcek in Moskau und Gipfeltreffen in Prag, Gipfeltreffen in Dresden und tschechoslowakisch-sowjetische Verhandlungen in Moskau und Prag, Moskauer Konferenz und Dubek in Budapest, Häjek bei Ulbricht, das Warschauer Treffen der Fünf mit einem Schrecken auslösenden Brief an die tschechoslowakische Bruderpartei, die Stationierung sowjetischer Truppen ringförmig um die größten Städte der Tschechoslowakei nach der Beendigung der Warschauer-Pakt-„Manöver“ und die eigenwillige Weigerung, das Land zu verlassen — das alles ließ eine Saite im tschechoslowakischen Volk erklingen, für die große Nationen nur selten Verständnis aufbringen. Ein Volk, daß Jahrhunderte um seine nationale Existenz, um die Wiedererlangung seiner staatlichen Eigenständigkeit gekämpft hatte, spürte, daß die Früchte seines uralten Kampfes wieder bedroht waren. Alle Erfahrungen aus der Zeit Osterreich-Ungarns, aus der Zeit der Abhängigkeit vom Versailler Staatensystem bis zum Münchener Ende, die Jahre der deutschen Okkupation — alles, was die Seele des Volkes traumatisiert hatte und was ebenso wie der Kampf gegen nationale Unterdrückung einfach ein Teil der lebenden nationalen Traditionen geworden war, brach hervor, als wiederum eine Großmacht, begleitet von Ländern, mit denen man unter ähnlichen Verhältnissen 1938 dieselben Erfahrungen gemacht hatte, daran ging, durch Machtdiktat sogar die bloße Illusion von nationaler und staatlicher Unabhängigkeit der Tschechen und Slowaken zu vernichten.

Die Nachjanuarbewegung bekam hier, und erst hier, ihre nationale Note, ihren spezifisch tschechoslowakischen Unterton. Und gerade hier traf der elementare Widerstand des Volkes gegen ein drohend sich zusammenziehendes Gewitter zusammen mit dem Widerstand jener politischen Kraft, die bisher eigentlich nur per definitionem in der Verfassung eine führende Rolle ausgeübt hatte: der Kommunistischen Partei. Ihr Widerstand gegen den Druck, die Einmischung, die Mißachtung ihrer Souveränität von Seiten der Verbündeten fußte nicht auf nationalen Beweggründen. Diese Partei wußte, daß sie nur einen einzigen Weg vor sich hatte — den Weg zur sozialistischen Demokratie, zum demokratischen Sozialismus. Es gab für sie kein Zurück mehr, denn der Weg zurück wäre unweigerlich der Weg in die Katastrophe, das endgültige Aufgeben jedes sozialistischen Ideals gewesen.

Aus Warschau hatte man ihr geschrieben, „antisozialistische und revisionistische Kräfte beschmutzen die gesamte Tätigkeit der Kommunistischen Partei, führten verleumderische Reden gegen ihre Kader, diskreditierten treue und der Partei ergebene Kommunisten". Man hatte ihr von dort — in einer Zeit, als in Wirklichkeit das geeinte Volk hinter der KP wie nie zuvor in der Geschichte stand — die rhetorische Frage gestellt: „Seht ihr denn nicht, daß die Konterrevolution eine Position nach der anderen nimmt? Daß die Partei die Kontrolle über die Entwicklung der Ereignisse verliert und immer mehr dem Druck antikommunistischer Kräfte weicht?" Drohend hatte es geklungen: „Nach unserer Überzeugung ist eine Situation entstanden, in der die Bedrohung der Grundlagen des Sozialismus in der Tschechoslowakei auch die gemeinsamen Lebensinteressen der anderen sozialistischen Länder bedroht" und „Wir sind der Meinung, daß der entschiedene Widerstand gegen die antikommunistischen Kräfte und der entschiedene Kampf um die Erhaltung der sozialistischen Ordnung in der Tschechslowakei nicht nur eure, sondern auch unsere Aufgabe ist..

Die Antwort der tschechoslowakischen KP-Führung auf die Warschauer Drohung klingt heute — im Wissen um die „Endlösung" der tschechoslowakischen Frage — wie ein rührender Versuch politisch Naiver, noch einmal ihre Prinzipientreue darzulegen: „Ihre Autorität kann sich die Partei nicht erzwingen; sie muß sie immer wieder aufs Neue durch ihre Taten erringen. Sie kann ihre Linie nicht durch Anordnungen, sondern nur durch die Tätigkeit ihrer Mitglieder, durch die Wahrhaftigkeit ihrer Ideale durchsetzen... Die KPTsch trachtet den Beweis zu erbringen, daß sie politisch anders als mit den verworfenen polizei-bürokratischen Methoden führen und leiten kann, und zwar durch die Kraft ihrer marxistisch-leninistischen Ideen, ihres Programms, ihrer richtigen und vom gesamten Volk unterstützten Politik ... Soll unsere Politik eine marxistisch-leninistische bleiben, kann sie nicht von oberflächlichen Phänomenen ausgehen, die nicht immer die tiefen Ursachen der gesellschaftlichen Entwicklung widerspiegeln, sondern muß das Wesen der Entwicklung erkennen und sich nach ihm richten..."

Am selben Tag, an dem das Parteipräsidium seine Antwort an die fünf Bruderparteien verfaßte, gab das Präsidium der Nationalen Front einen Aufruf an die Bürger der Tschechoslowakei heraus, in dem gesagt wird, was die Partei bewegt habe, ihren Weg trotz der offenen Feindseligkeit der in Warschau Versammelten fortzusetzen: „Wir drücken unsere Überzeugung aus, daß die Entscheidung über die Zukunft unserer Gesellschaft, über die Gestalt des Sozialismus in der Tschechoslowakei, die souveräne Angelegenheit unseres Volkes ist. Es allein kann die Art seines Lebens bestimmen und wählen, es allein kann über die Zukunft unserer Republik entscheiden. Seine Klugheit und Reife, die es durch sein ganzes Handeln in diesem Jahr gezeigt hat, sind die Garantie dafür, daß wir vom sozialistischen Weg nicht abkommen, daß die Konterrevolution in keiner Form Nährboden in unserem Land findet. Die positive Einstellung unseres Volkes zum Sozialismus ist ge-geben durch seinen tiefen Sinn für Gerechtigkeit und Recht, durch sein demokratisches Fühlen. — Die elementaren bürgerlichen Rechte, wie die Freiheit des Wortes, die Versammlungsfreiheit und Koalitionsfreiheit, die in unserem Lande wieder erneuert worden sind, sind aufs engste verknüpft mit den Bedürfnissen unseres Volkes, mit seinem Denken und Leben. Es kann gar nicht daran gezweifelt werden, daß unser Volk diese Freiheiten jemals anders als zum Wohle der Nation, des Fortschritts und des Sozialismus gebrauchen würde."

Am 21. August 1968 veröffentlichte TASS folgende Begründung für den Einmarsch der Truppen der Sowjetunion, Polens, Ungarns, Bulgariens und der DDR:

„Partei-und Staatsfunktionäre des CSSR haben sich an die Sowjetunion und andere Bündnisstaaten mit der Bitte gewandt, dem tschechoslowakischen Brudervolk dringend Hilfe zu erweisen, einschließlich der Hilfe mit Streitkräften. Diese Bitte ist auf die Gefahr zurückzuführen, die der in der CSSR bestehenden sozialistischen Ordnung und der auf der Verfassung basierenden Staatlichkeit von Seiten der konterrevolutionären Kräfte droht, die mit den Feinden des Sozialismus ein Komplott eingegangen sind ..."

Die Führer der KPTsch, die wie noch nie zuvor in einer anderen Kommunistischen Partei an der Spitze des Volkes gestanden hatten und wie in noch keiner anderen „Bruderpartei“ die Funktion der „führenden Rolle“ ausgeübt hatten, und dies nicht gegen den Willen des Volkes, sondern mit seiner ausdrücklichen Billigung, wurden wie Verbrecher verhaftet und nach Moskau verschleppt im Namen des Marxismus-Leninismus, im Namen des proletarischen Internationalismus, im Namen des Dogmas von der Unfehlbarkeit des Moskauer Politbüros.

V. Die Zerschlagung einer Illusion

Am l. März 1968 hatte Eduard Goldstücker in der ersten Nummer der wiedererstandenen Li-terärni listy in seiner großartigen Apotheose der Freiheit gesagt: „Ich wünsche mir, daß mein Wort im Geiste meiner Leser das Gefühl der Einzigartigkeit dieses Augenblicks erweckt, einer Chance, die uns von der Geschichte gewährt wird, auf daß wir wieder einmal nach dem Abklingen der Sturmflut des Zornes zum erstenmal im Lauf der Zeiten den Versuch unternehmen, zu treuer Ehe das zu verbinden, was unzertrennlich zueinander gehört: Sozialismus und Freiheit. Ich glaube, daß noch keine Revolution in der Geschichte eine solch reale Chance gehabt hat und daß das, was nun unser Los geworden ist, uns, die Erben dieses Landes, vor die größte Belastungsprobe stellt: zu zeigen, ob wir das anvertraute Erbe zu mehren fähig sind... Ich möchte meinen Lesern ein Reis der Hoffnung bringen und ihnen sagen, daß es weder aus Naivität noch Leichtfertigkeit erwuchs, sondern daß es die Qual des Zweifels, die Jahre des Prüfens seiner selbst, des Lebens und der Welt kennt, daß seinen Boden auch das Leiden befruchtet und daß auch Tränen der Enttäuschung es gefeuchtet haben. So biete ich es an — und trotz alledem bitte ich Sie, sich in dieser unserer heutigen Welt der Unsicherheit und Skepsis nicht zu fürchten, mit dem Reis nüchterner Hoffnung das Gewand ihres Geistes zu schmücken und es nicht für unangemessen zu halten, mit mir der Worte des alten Revolutionsliedes von der geliebten Freiheit zu gedenken: „Liberte, liberte cherie."

Dieser Glaube an die Verbindung dessen, was „unzertrennlich zueinander gehört" — Sozialismus und Freiheit oder Sozialismus und Demokratie oder Sozialismus und menschliches Antlitz —, obwohl „weder aus Naivität noch aus Leichtfertigkeit“ erwachsen, hat sich am 21. August 1968 und in der nachfolgenden Periode der unbarmherzigen Liquidierung der acht Monate des Revolutionsjahres 1968 trotz allem als Naivität erwiesen. Es war eine Naivität zu glauben, daß es den Verbündeten in Moskau, Warschau und Ost-Berlin um die Entfaltung des Sozialismus, um die Treue zu den Prinzipien des revolutionären Marxismus ging. Es war eine Naivität zu glauben — wie schon so oft in der Geschichte der Tschechen und Slowaken —, daß ein Bündnis mit einem übermächtigen Staat jemals den Charakter eines gleichwertigen Verhältnisses haben könne. Es war eine Naivität zu glauben, man könne eine neostalinistische Führerschicht in den Ländern des Warschauer Pakt-Systems von der Vorteilhaftigkeit eines Experimentes überzeugen, das auf einem überschaubaren Raum unter außerordentlich günstigen Ver-hältnissen begonnen worden war, eines Experiments, dessen positive und negative Erfahrungen nicht nur der sozialistischen Entwicklung in der Tschechoslowakei, sondern auch den übrigen Ostblockstaaten (die sich seit Jahren in derselben latenten gesellschaftlichen und ideologischen Krise befanden wie die Tschechoslowakei in den letzten Jahren der Novotny-Ära) hätte zugute kommen können. Es war eine Naivität zu glauben, daß es bei den strengen Wahrem der eigenen Macht in den Ländern des Warschauer Pakt-Systems vielleicht eingedenk der revolutionären Visionen des ursprünglichen Marxismus hätte Freude erwecken können, daß die Kunde von der tschechoslowakischen Entwicklung in der Jugend der westlichen Welt ein zündendes Echo gefunden hatte. Es war eine Naivität zu glauben, es handle sich bei der Definition der Beziehungen um ein Bruder-und Bündnisverhältnis und nicht um das Verhältnis von Herr und Knecht.

VI. Die Gründe für den Eingriff

In der Tat war der internationale Aspekt der tschechoslowakischen Entwicklung — wie es auch Dubek nach dem 21. August 1968 vor dem ZK bekannt hat — unterschätzt worden, oder besser: die internationale Bedeutung des tschechoslowakischen Experiments einer marxistischen Renaissance war nicht da gesehen worden, wo sie die Führer der anderen Pakt-Staaten lokalisierten. Es hat bei der immer härteren Formulierung ihrer Ablehnung eine eigenartige Rolle gespielt, daß eine Übertragung dessen, was in der Tschechoslowakei einen den Sozialismus weiterentwikkelnden Charakter hatte, auf andere Ostblockländer dort auf eine Vielzahl ungelöster Probleme gestoßen wäre, die sich unter Führung der dort herrschenden kommunistischen Parteien kaum hätten lösen lassen.

Jede echte Demokratisierung in Polen muß unweigerlich das Problem der Stellung der Kirche, das Problem des Verhältnisses zur DDR, das brennende Problem des Verhältnisses zur ungeliebten russischen Nation und zu jener Sowjetunion auf den Tisch bringen, die 1939 im Pakt mit Hitler Ostpolen annektiert, polnische Offiziere zu Tausenden in Katyn liquidiert, Gewehr bei Fuß der Niederschlagung des Warschauer Aufstandes vom östlichen Weichselufer aus zugesehen und sich schließlich 1944 Polens Osten einverleibt hatte. Jede\echte Demokratisierung in der DDR muß unweigerlich die Frage nach dem nationalen Sinn der Existenz der DDR, nach ihrem Verhältnis zur Bundesrepublik Deutschland, nach der Frage der Mauer und der Freizügigkeit auf den Tisch bringen: Fragen, die nie gestellt werden dürfen, solange die Gesellschaftsordnung der SED besteht, da ihre Beantwortung das Ende der Herrschaft der SED und ihres Staatskonzepts bedeuten würde.

Besonders im Hinblick auf die drohende Entwicklung im Fernen Osten mußte auch in sowjetischen Augen die tschechoslowakische Entwicklung ein Risiko bedeuten, das eher in ihrer Ansteckungsgefahr als in negativen Ergebnissen in der CSSR bestand. Bei den eigenen ungelösten Problemen — sei es die Nationalitätenfrage, sei es der Antagonismus zwischen notwendiger Freiheit des Denkens, des Forschens, der Kritik auf dem Gebiet der konkreten Wissenschaften im Interesse ihrer weiteren Entwicklung und der Unzulässigkeit freien Denkens, Forschens und Kritisierens auf dem Gebiet der sozialen, politischen und ökonomischen gesellschaftlichen Beziehungen, sei es die Unfähigkeit, den amerikanischen oder auch nur westeuropäischen Vorsprung auf allen Gebieten des materiellen Lebens aufzuholen, seien es die Mißerfolge der sowjetischen Politik gegenüber der Dritten Welt — mußte jede Veränderung des bestehenden Status eine Erschwerung der eigenen unübersichtlichen Position, zumindest eine weitere Erschütterung des Führungsanspruches der Sowjetunion im System der sozialistischen Staaten bedeuten.

VII. Die Rechtfertigung der Intervention

In den die Okkupation begründenden Veröffentlichungen ist außer von der drohenden Konterrevolution in der Tschechoslowakei von Bestrebungen die Rede gewesen, dieses Land vom politischen, wirtschaftlichen und militärischen Bündnis mit den übrigen sozialistischen Staaten des Moskauer Lagers abzutrennen. Die Autoren dieser Argumente wußten um die Unrichtigkeit ihrer Behauptungen. Sie wußten, daß die Tschechoslowakei in kei-ner Phase ihrer Nachkriegsentwicklung Zweifel hatte aufkommen lassen, daß sie das Bündnis mit der Sowjetunion als Fundament ihrer eigenen staatlichen und nationalen Existenz betrachte, als Grundlage für ihre gesamte außenpolitische Orientierung. In der Tat hat es keinen zweiten sozialistischen Staat gegeben, der die Weisungen Moskaus in konkreten Schritten der Außenpolitik so präzise befolgt hätte, wie gerade die Tschechoslowakei. Die zurückhaltende Politik und das winzige Maß an Normalisierung im Verhältnis zur Bundesrepublik Deutschland, das weit hinter dem von Ungarn, Polen, der Sowjetunion, Bulgarien, Rumänien usw. zurückstand (und auch unter Dubcek unverändert so blieb), sind ein deutliches Indiz dafür. Schließlich war es schon Bene gewesen, der für die Nachkriegsorientierung der Tschechoslowakei keine Alternative zu einem möglichst engen Bündnis mit der Sowjetunion gesehen hatte; die nach ihm folgenden kommunistischen Regierungen hatten diese Auffassung nur noch unterstrichen.

Allerdings zögerte man nicht, zur Zeit des Prager Frühlings auch kritisch zu werten, was bislang unantastbar schien: „Die stalinistische hierarchische und monopolistische Auffassung der Macht überträgt sich (nach dem Krieg) auch auf die Beziehungen zwischen den sozialistischen Staaten. Der sowjetische Stalinismus mischt sich grob in die Angelegenheiten der übrigen europäischen sozialistischen Länder ein. Hier handelt es sich nicht mehr um die bloße Einmischung in das Leben der kommunistischen Parteien wie vor dem Krieg, sondern um die Einmischung in die Angelegenheiten ganzer Staaten. Dies ist ein neues Element, das anscheinend entscheidend dazu beiträgt, daß die Spannung zum erstenmal durchbricht, daß der komplizierte, dramatische und oft tragische Prozeß der De-stalinisierung einsetzt“ schreibt Robert Kali-voda

Die Überwindung der Residuen des Stalinismus, die sich besonders in den außenpolitischen Beziehungen der Sowjetunion zu ihren Bündnispartnern als besonders hartnäckig erwiesen hatten (und die ihre ungeschmälerte Kraft am 21. August 1968 und in der darauf-folgenden Phase der Beziehungen zwischen der Sowjetunion und der Tschechoslowakei wieder bewiesen haben), sollte — und darin bestand ohne Zweifel der tiefe Sinn der kritischen Analyse der bisherigen zwischenstaatlichen Beziehungen — das Bündnis funktions-fähiger und dadurch für alle Beteiligten vorteilhafter gestalten.

In den letzten Jahren war der Kalte Krieg abgeflaut, hatte sich die Einsicht durchgesetzt, daß Ost und West in einen weltweiten Dialog einzutreten hätten, um unter den Bedingungen des atomaren Patts ihre Verantwortlichkeit für die Entwicklung und die Geschicke der Menschheit zu definieren. Die Existenz der Tschechoslowakei schien nicht mehr unmittelbar bedroht, der Weg nach Westeuropa offener zu sein als zuvor. Ohne Zweifel hat zu dieser positiven Möglichkeit die Ostpolitik der Bundesrepublik Deutschland erheblich beigetragen. Aber gleichzeitig konnte keine verantwortungsbewußte tschechoslowakische Außenpolitik übersehen, daß der Antagonismus zwischen dem westlichen und östlichen militärischen, politischen und ökonomischen System noch immer der entscheidende Faktor für die Gestaltung der konkreten politischen Beziehungen zwischen den Staaten im Rahmen der einzelnen Blöcke und der Staaten verschiedener Blöcke untereinander geblieben war.

Solange dieser Antagonismus andauerte, konnte für ein kleines Land in einer militärisch-strategischen Schlüsselposition nicht einmal entfernt die Möglichkeit bestehen, das Blocksystem zu verlassen, in das es inzwischen fest integriert war. Im Gegenteil, es mußte in seinem Interesse liegen, mit dazu beizutragen, daß die Ursachen und Begleiterscheinungen dieses Antagonismus so schnell wie möglich überwunden würden, da damit auch die zwischeneuropäischen Bande verstärkt werden könnten, ohne daß die Zugehörigkeit zu den bestehenden Blocksystemen — solange sie existierten — in Frage gestellt würde. Daher begrüßte Prag (im Unterschied zu Ost-Berlin und Warschau) die wesentlichen Komponenten der neuen deutschen Ost-politik, die Bestrebungen de Gaulles zur Überwindung der Spaltung Europas, die Versuche der Vereinigten Staaten, in der ersten Phase des Dialogs mit den Sowjets einen vernünftigen Modus vivendi in Europa zu erreichen. In diesem Sinne unterstützte auch die Tschechoslowakei die Forderung nach der Anerkennung der bestehenden Grenzen in Europa und nach der Respektierung der durch den Zweiten Weltkrieg geschaffenen Fakten, besonders der Existenz der DDR. Es gibt übrigens nicht den geringsten Beweis für die Annahme, man hätte in der Tschechoslowakei mit dem Gedanken einer Neutralisierung oder gar eines Übertritts vom sozialistischen zum westlichen Pakt-System gespielt. Jedes Auftreten Dubceks, Cerniks, Svobodas, Kriegls, Häjeks bestätigt die unveränderte Grundauffassung der offiziellen tschechoslowakischen Politik.

Die Moskauer Prawda („Wahrheit"), das Organ des ZK-Präsidiums der KPdSU, wußte es besser. In ihrem Redaktionsartikel „Die Verteidigung des Sozialismus ist die höchste internationalistische Pflicht" vom 22. August 1968 schrieb sie: „Die Führer der CSSR haben wiederholt Erklärungen über die unverbrüchliche tschechoslowakisch-sowjetische Freundschaft abgegeben... Natürlich kann man schöne Reden über Freundschaft und Solidarität, über Treue zur Bündnispflicht halten, wichtig sind aber nicht die Worte, sondern das, was dahinter steckt... "

Es blieb dem Ersten Sekretär des ZK der PVAP Wladyslaw Gomulka Vorbehalten festzustellen, „die Tschechoslowakei habe sich auf dem Wege zur Wiederherstellung des Kapitalismus, zum Bruch ihres Bündnisses mit den sozialistischen Staaten, zum Verlassen des Warschauer Vertrages befunden... Ihre Wirtschaft sei dabei gewesen, sich eng mit der Wirtschaft der kapitalistischen Staaten, vor allem mit der westdeutschen Wirschaft, zu verbinden... "

Gomulka wußte ebenso wie Ulbricht, Breshnew u. a., daß diese letzte Feststellung genauso unwahr war wie die vorhergegangenen Anschuldigungen. Er wußte aufgrund von Analysen der Führungsgremien des Comecon, wie eng die Wirtschaft der Tschechoslowakei mit der der im Comecon vereinten Staaten verknüpft war. Und er wußte ebenso gut, daß, hätte es wirklich einen Plan der Loslösung der tschechoslowakischen Wirtschaft aus den Banden des osteuropäischen ökonomischen Systems gegeben, dieser niemals aus dem Bereich der Vorstellungen hätte heraustreten und konkrete praktische Form annehmen können. Eine Wirtschaft, die so vollkommen abhängig von Rohstofflieferungen aus dem Osten ist wie die der Tschechoslowakei und die ihre Produktion so auf die quantitativen und qualitativen Ansprüche ihrer sozialistischen Handelspartner seit Jahren zugeschnitten hatte, wobei sie sich selbst weitgehend aus der internationalen Arbeitsteilung mit den am höchsten entwickelten Industrienationen der Welt ausgeschaltet hatte (über 70 °/o des tschechoslowakischen Außenhandelsvolumens wird mit sozialistischen, vor allem Comecon-Ländern abgewickelt, der Rest zu etwa gleichen Teilen mit westlichen Staaten und mit Entwicklungsländern), konnte überhaupt nicht daran denken, hier einen prinzipiellen, schnellen Umschwung herbeizuführen.

VIII. Die Auswirkungen des Eingriffs

Der Eingriff vom 21. August 1968 und die darauf folgende unaufhörliche Vergewaltigung der tschechoslowakischen Innen-und Außenpolitik hat nicht nur den Sozialismus in der Tschechoslowakei nicht gefestigt, das War-schauer Bündnis nicht gestärkt, die Partei nicht zur führenden Position gebracht, dem Marxismus-Leninismus nicht zum Sieg über das Ketzertum verhülfen, sondern genau das Gegenteil von dem bewirkt, weswegen er — angeblich — durchgeführt worden ist.

Zum erstenmal in der Geschichte der Völker der Tschechoslowakei ist ein tiefer, unauslöschbarer Antisowjetismus und Antirussis-mus entstanden, der von nun an als realer Faktor in der weiteren Entwicklung mitwirken wird.

Tschechen wie Slowaken ist klar geworden, daß das entscheidende Hindernis für einen Sozialismus mit menschlichem Antlitz die reaktionäre Gewalt der Sowjetunion war und sein wird: ihr erstarrtes, asiatisch-byzanti32) nisches Regierungssystem, ihre Unbeweglichkeit, ihre rigide Ablehnung jeglicher — auch marxistisch-revolutionärer — gesellschaftlicher, politischer, kultureller Entwicklung außerhalb ihrer eigenen Interessen. Die ursprüngliche Hoffnung, unbeirrt, trotz Okkupation und massiven Drucks von außen, den sozialistischen Weg im Lande weiter gehen zu können und mit etwas mehr Vorsicht und Umsicht doch noch das gesteckte Fernziel, vielleicht später und mühseliger, erreichen zu können, ist nach der zweiten sowjetischen Intervention Ende März 1969 zusammengebrochen. Eine neue Verschmelzung von Antisowjetismus und Antisozialismus hat stattgefunden; sie hat sich um so schneller vollzogen, je mehr die letzte Hoffnung zertreten wurde, der Sozialismus sei überhaupt unter den bestehenden Umständen realisierbar. Nicht nur das: Der fortschreitende Prozeß der Diskreditierung der KP durch die Tätigkeit stalinistischer Stoßtrupps, durch die Verabschiedung von Ausnahmegesetzen, die in einem gewissen Sinn das stalinistische System noch dadurch übertreffen, daß sie anstelle persönlicher Willkür einzelner das Unrecht allgemein legalisieren, und schließlich durch den Rückfall in Sprache, Methoden und Vorstellungen der fünfziger Jahre — dieser Prozeß führte dazu, daß die KP überhaupt als positiver Faktor aus der Erwägung ausscheidet, wie der jetzige Zustand unter günstigen innen-und außenpolitischen Bedingungen verändert werden könnte.

Das tschechoslowakische Experiment ist nie aus der Phase des Denkens, der Diskussion, der Formulierung von Nah-und Fernzielen herausgekommen. Es hat einige Teilmaßnahmen verwirklicht, es hat einige Grundfreiheiten wiederhergestellt, die schon Ergebnis der großen bürgerlichen Revolutionen des 17., 18. und 19. Jahrhunderts gewesen sind. Es hat weder Zeit noch Möglichkeit gehabt, weitere Freiheiten zu konstituieren und zu sichern, die über jene Rechte und Freiheiten hinausgehen oder die eine sozialistische Demokratie und einen demokratischen Sozialismus kennzeichnen sollten. Es ist überhaupt nicht erwiesen, ob der Sozialismus in der Praxis jene „Ehe" mit der Freiheit auch verträgt, von der Goldstücker am 1. März 1968 in der festen Zuversicht „Eppur si muove! ” (Und sie bewegt sich doch!) gesprochen hat.

Der Einmarsch hat die Möglichkeit zerschlagen, den wissenschaftlichen Wert des Marxismus in der Praxis zu beweisen — oder zu widerlegen.

Das Ergebnis der Invasion ist eine Kommunistische Partei in der CSSR ohne Perspektiven und Autorität, eine zerrüttete Wirtschaft, eine tiefe Abneigung gegen die Sowjetunion und ihre Verbündeten, ein wiederum zum Dogma und zur Phrase degradierter „Marxismus“, ein sozialistisches System faschistoider Prägung, ein zum Schweigen verurteiltes Denken.

Die Rechtfertigung des Eingriffs mit der Pflicht der Gemeinschaft, den Sozialismus überall zu verteidigen, wo er bedroht ist (Breshnew-Doktrin) — auch gegen den Willen und ohne Wissen der national zuständigen KP —, hat alle schon bestehenden zentrifugalen Tendenzen in der Kommunistischen Weltbewegung ungemein beschleunigt. Der Ruf „weg von Moskau" ist dagegen die Voraussetzung für Erfolge der westeuropäischen und ostasiatischen Kommunistischen Parteien im Kampf um die Erringung der Macht auf demokratischen Wege geworden.

Das Mißtrauen gegenüber Moskau ist geblieben — trotz Entspannungspolitik, trotz aktiver Ostpolitik. Wenn beim Partner der Grundsatz „pacta sunt servanda" nur bedingt gilt, werden zum Schutz vor ihm andere Sicherheitsgarantien gesucht.

Wo die Menschenrechte als quantite nglige-able betrachtet werden, kann es auch um die Moral in den internationalen Beziehungen nicht zum besten bestellt sein.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Rud prävo, 30. 9. 1967.

  2. Ebenda.

  3. Ebenda.

  4. Novä Mysl Nr. 5/68, S. 543.

  5. Novä Mysl Nr. 5/68, S. 546.

  6. Rude prävo, 23. 2. 1968.

  7. Ebenda.

  8. Zitiert nach Hanswilhelm Haefs, Die Ereignisse in der Tschechoslowakei, Bonn 1969, S. 44.

  9. Rude prävo, 17. 9. 1969.

  10. JifI Cvekl, Was für ein Modell des Sozialismus?, in: Nova Mysl Nr. 8/1968, S. 1013.

  11. Rude prävo, 2. 4. 1968.

  12. Rude prävo, 25. 4. 1968.

  13. Nov Mysl Nr. 5/1968, S. 577.

  14. Literärni Listy Nr. 6, 4. 4. 1968.

  15. Literrn Listy Nr. 6, 4. 4. 1968.

  16. Rude prävo, 7. 5. 1968.

  17. CTK, 15. 6. 1968.

  18. Nova mysl, Nr. 6/1968, S. 661.

  19. Josef Spacek, Entschlossen den außerordentlichen Parteitag vorbereiten, in: Nova Mysl Nr. 7/1968, S. 807 ff.

  20. Mladä fronta, 27. 6. 1968. !

  21. Literrn listy 18. 7. 1968.

  22. Rude prävo, 7. 5. 1968.

  23. Rude prävo, 22. 6. 1968.

  24. Rudolf Bahro, Die Alternative, EVA 1977, S. 394, 395.

  25. CTK, 14. 3. 1968.

  26. Rudd prävo, 19. 7. 1968.

  27. Rude prvo, 19. 7. 1968.

  28. TASS, 21. 8. 1968.

  29. Literrn listy, Nr. 1, 1. 3. 1968.

  30. Robert Kalivoda, Demokratisierung und kriti-sches Denken, in: Literrn listy Nr. 10/1968 vom 2, 5. 1968.

  31. Rede am 8. 9. 1968 in Warschau.

Weitere Inhalte

Vilem Fuchs, geb. 1923 in Saarbrücken; 1935 nach der Übernahme der Regierungsgewalt durch idie Nationalsozialisten im Saarland Auswanderung nach Prag; zwischen 1939 und 1945 Teilnahme am Widerstand; Gestapohaft bis Kriegsende. 1945— 1949 Studium an der Prager Karlsuniversität; 1949 Sekretär der Hochschule für Politik und Ökonomie; 1951 in der Vorbereitungsphase der Slnsk-Prozesse wieder politisch verfolgt; entlassen und als Hilfsarbeiter in die Fabrik geschickt. Nadi Stalins und Gottwalds Tod in einer Schreinerei tätig, später als Ingenieur und dann als Leiter der Organisationsabteilung des zweitgrößten tschechoslowakischen stahlverarbeitenden Unternehmens CKD. 1963 rehabilitiert; Wechsel zum Tschechoslowakischen Rundfunk; 1965 Bonn-Korrespondent von Radio Prag; 1969 die Abberufung nach Prag nicht befolgt; seither in der Bundesrepublik Deutschland, seit 1970 Redakteur bei Radio Bremen.