In seiner Studie „England blickt auf Deutschland" hat Donald C. Watt den Einfluß der britischen Besatzung auf Deutschland als einen der „faszinierendsten und am wenigsten untersuchten Aspekte der gesamten deutsch-britischen Beziehungen in der Nachkriegszeit" bezeichnet. Auch 13 Jahre nach Erscheinen des Buches von Watt wird seine Hypothese von der Eigenart und den Unterschieden der britischen Deutschlandpolitik im Vergleich zu der der anderen Westalliierten erst allmählich wahrgenommen. Die Öffnung der frühen Nachkriegsakten im Londoner Public Record Office begünstigt neuerdings eine gründliche Auseinandersetzung mit dieser Problematik. Der begrenzte Rahmen eines Aufsatzes legt es nahe, sich auf eine Thematik zu beschränken, an der Hintergründe und Mentalität der britischen Besatzungspolitik und -planung sich verdeutlichen lassen, ohne die allgemeinen Gesichtspunkte völlig zu vernachlässigen.
Früher und länger als die anderen Siegermächte hat sich die britische Regierung auf den Versuch einer „Re-education“, einer „Umerziehung" des deutschen Volkes weg vom Nationalsozialismus, eingelassen. Dieses Konzept war für die Briten keineswegs nur ein Lückenfüller für die „tatsächliche Paralyse der öffentlichen Entscheidung über Deutschland zwischen August 1944 und dem Tode Roosevelts" d. h. zwischen der deutschen Niederlage in Frankreich und dem Mai 1945. Zwar kommt der Begriff „Re-education“ in dem jüngsten Buch über „The British in Germany" nicht einmal mehr im Register vor; er ist vom Herausgeber Arthur Hearnden im Untertitel durch „Educational Reconstruction" ersetzt worden, aber der Tenor aller in dieser Anthologie enthaltenen Vorträge vermittelt unschwer einen Eindruck vom Erfolgsbewußtsein, das beteiligte Briten noch heute-an die Entwicklung eines demokratischen Bildungssystems in der von ihnen seinerzeit verwalteten Zone knüpfen.
I. „Re-education" im Streit der Kabinettspolitik
George Murray, von 1944 bis 1956 in der Edu-cation Branch der britischen Militärregierung tätig, datiert die Bemühungen um die Deutschlandplanung bis ins Jahr 1943 zurück Die Erfahrungen aus der Zeit nach 1918 haben die Briten veranlaßt, sich sehr früh Gedanken über die Behandlung des besiegten Weltkriegsgegners zu machen. Im Juni 1942 fanden zwischen dem War Office und dem Foreign Office erste Beratungen über die strategischen und nicht-strategischen Aspekte des Deutschland-Problems statt. Zehn Tage nach Beginn der Schlacht um England hatte das Kriegskabinett Churchill am 23. August 1940 ein War Aims Committee (W. A. C.) gebildet, dessen Vorsitzende nacheinander die Labour-Politiker Clement Attlee, Arthur Greenwood und Sir William Jowitt (letzter seit Februar 1942) waren
W. A. C., Informationsminister Duff Das vom Cooper lanciert, entstand ursprünglich als ein Instrument der Propaganda gegen die damals von den Nationalsozialisten unter dem Schlagwort „Neue Ordnung“ für Europa in Umlauf gebrachten Gesellschaftskonzepte, neben denen sich die traditionsverhaftete demokratische Klassengesellschaft Großbritanniens als allzu rückständig ausnehmen mußte. Das Versprechen gleicher Chancen und Rechte sollte die ideologische Alternative für den zu befreienden Kontinent liefern. Der Historiker Arnold Toynbee wurde beauftragt, ein Manifest zu formulieren, das zwar kaum Einfluß auf den Gang der späteren Verhandlungen im W. A. C. hatte, aber doch als Ausdruck der Gedankengänge gewertet werden kann, die damals im britischen Allparteien-Kabinett vorherrschten Unter Toynbees Reformvorschlägen etwa für das Schulsystem stand die Chancengleichheit an erster Stelle. Sie wurde der Angelpunkt des Education Act vom August 1944, der allerdings die Public Schools unberührt ließ
Erkenntnis, daß Die sich das britische Sekun-darschulsystem — neben anderen Erscheinun-gen der britischen Gesellschaft — als nicht gerade vorbildlich für die Neugestaltung eines demokratischen Systems in Deutschland möchte, wurde jedoch nicht erweisen vorerst geprüft, denn im Krieg sehr waren zunächst andere Aufgaben zu lösen. Immerhin wurde seither über Nachkriegsplanungen nachgedacht, und zwar unter einer sehr viel umfassenderen Zielsetzung, als sie bei Kriegsende unter dem Druck der dann zum Verhältnisse Tragen kam.
Bald regte sich auch im Foreign Office institutionelles Interesse, das Außenminister Anthony Eden am 29. Juli 1941 — wenige Tage nach dem deutschen Angriff auf die Sowjetunion — vor der Foreign Press Association in London so formulierte „Wenn wir den Frieden in unserer Zeit sichern wollen, muß das deutsche Volk vergessen lernen, was ihm beigebracht worden ist, nicht nur von Hitler, sondern während der letzten hundert Jahre von dessen Vorgängern, von so vielen seiner Philosophen und Lehrer, den Anhängern von Blut und Eisen." — Auf diesen recht simplen Nenner ist die in Großbritannien vorherrschende, wenn auch, wie noch zu zeigen'sein wird, keineswegs allgemein akzeptierte Interpretation der deutschen Geschichte und der Ursachen zweier Weltkriege zu bringen, die dem deutschen „Herrenvolk“ angelastet wurden.
Wie „The Times" am Tage nach Edens Rede in dem Leitartikel „Mr. Eden on Peace Aims" hervorhob, richteten sich die Anspielungen des britischen Außenministers auf ein politisch-ideologisches Nachkriegsprogramm nicht zuletzt an die Adresse der Vereinigten Staaten; denn Roosevelt und Churchill bereiteten sich gerade auf ihre erste Kriegskonferenz vor, die vom 9. bis 12. August 1941 in Placentia Bay vor Neufundland stattfand und als deren wichtigstes Ergebnis die Atlantik-Charta anzusehen ist.
Damals war „The Times" noch der Meinung, die Absetzung Hitlers sollte „das Werk des Volkes sein, dem er am meisten Unrecht getan, das er am tiefsten verletzt habe — des deutschen Volkes, das nicht nur körperlich versklavt, sondern auch in seiner Seele korrumpiert worden" sei. Eden versicherte, in England gebe es keine Rachegefühle. Im Gegenteil liege es im Interesse der Briten, die wirtschaftliche und moralische Gesundung Deutschlands zu fördern, weil ein hungerndes und bankrottes Land im Herzen Europas alle Nachbarn vergiften werde.
Ein Jahr später befürchtete man im Foreign Office bereits eine Wiederholung der Situation von 1918/19, als die britische Regierung wegen des unerwarteten Zusammenbruchs der kaiserlichen Armee auf die Probleme der Friedensbedingungen und der Rüstungskontrolle nicht vorbereitet gewesen sei
Um die Arbeit des W. A. C. zu intensivieren, wurde ihm daher im August 1942 ein Military Sub-Committee zugeordnet, in dem alle militärischen und zivilen Planungen für die auf dem Kontinent zu besetzenden Gebiete zusammenliefen. Im September 1943 ersetzte diesen das Post-Hostilities Unterausschuß Planning Sub-Committee des Chiefs of Staff Committee (P. H. P.), später der Post-Hostilities Planning Staff.
In einer am 23. September 1943 ausgegebenen Direktive wurden die politisch-strategischen Probleme als die Hauptaufgabe von P. H. P. bezeichnet. Entwürfe für die Phase nach der Kapitulation und für die Kontrolle in allen besetzten Gebieten waren -auszuarbei ten. Ferner sollte der Ausschuß vom Foreign Office und Ministerien von anderen vorgebrachten Fragen erörtern.
Wenige Wochen zuvor hatte das Foreign Office am 8. August 1943 erklärt: „. . . die einzige Politik, die vor der Zukunft bestehen kann, ist diejenige, die — unter Beachtung aller Vorsicht — letztlich auf die Wiederzulassung eines reformierten Deutschlands zum Leben Europas abzielt".
Diesen Satz wählte John Troutbeck von der German Advisory Section im Foreign Office am 3. Dezember 1943 als Motto einer Niederschrift über die „Regeneration of Germany" Er bezog sich zudem ausdrücklich auf die bereits zitierten Äußerungen Edens aus dem Jahre 1941, an deren Formulierung Troutbeck möglicherweise beteiligt war*). Er befürwortete wegen der Notwendigkeit, Deutschland im Interesse seiner Nachbarn vor dem Bankrott zu bewahren, daß der Nachdruck auf die „Umerziehung" des deutschen Volkes — eine Aufgabe von Jahrzehnten — gelegt werden müsse. Als konkrete Maßnahmen nannte Troutbeck, a) daß mit der Tradition der deutschen Geschichte gebrochen werden müsse, und zwar über eine christliche Erneuerung, die es zu ermöglichen und zu ermutigen gelte;
b) daß die Deutschen ermuntert werden müßten, sich als verantwortungsbewußte Bürger zu betrachten und nicht als blind gehorsame Untertanen.
Troutbeck unterstrich die Bedeutung eines vorbildlichen Verhaltens der Besatzungsmacht, die alle Handlungen zu vermeiden habe, deretwegen man sich später schämen müsse. Dieses bei aller Härte der vorgesehenen Maßnahmen (Besatzung, Entwaffnung, Demontage, Gebietsabtretung und Austreibung von Deutschen) auf eine bessere Zukunft gerichtete Programm sollte allerdings bald auf die Probe der Tagespolitik gestellt werden.
Alle damaligen Aktivitäten'der britischen Regierung hängen eng mit den im Oktober 1943 Westmächten -zwischen den und der Sowjet union geführten Verhandlungen zusammen, als deren Ergebnis die von Eden, d. h. vom Foreign Office (wenn auch in erweiterter Form), konzipierte European Advisory Commission (E. A. C.) als interalliiertes Planungs-und Entscheidungsgremium konstituiert wurde Die im Foreign Office entwickelten Vor-Schläge wurden erstmals mit den Vorstellungen der beiden anderen Großmächte konfrontiert.
Was die Planer, in den Regierungsabteilungen entwarfen, hatte jedoch vorerst kaum Aussicht, akzeptiert zu werden. Für das Klima der Gespräche ist eine Äußerung Roosevelts in einem Brief vom 29. Februar 1944 an Churchill charakteristisch. Der amerikanische Präsident drückte seine Sorge darüber aus, daß die zukünftigen Ereignisse allzu detailliert vorbereitet würden und bei ihrem Eintreffen dann möglicherweise Ärger entstehen könne. Die Haufen von Papier für die Zeit nach der Landung in Frankreich bezeichnete Roosevelt abschätzig als „Prophezeiungen von Propheten, die nicht unfehlbar sein könnten" Roosevelt kam damit der Haltung Churchills sehr entgegen Beide fühlten sich durch Umfang und Verselbständigung der Planungsbürokratie beunruhigt.
Der angeführte Brief Roosevelts belegt, daß die Briten (ähnlich wie die Sowjetunion) mit ihren Entwürfen recht weit gediehen waren. Das von den Combined Chiefs of Staff (C. C. S.) der Briten und Amerikaner in Washington am 28. April 1944 vorgelegte Memorandum für den Supreme Commander, Allied Expeditionary Force, beweist ebenfalls den insgesamt sehr fortgeschrittenen Stand der Planungen
Diese Direktive C. C. S. 551, deren Entwurf das Datum vom April 1944 trägt, ist die früheste nachweisbare Formulierung eines alliierten Programms für die Militärregierung in den besetzten Gebieten vor der Kapitulation. In diesem Zusammenhang ist der Appendix A, der als Political Guide deklariert war, besonders aufschlußreich. Er verfügte strikteste Non-Fraternisierung gegenüber der deutschen Bevölkerung. Hitler, die Nazi-Führer und alle Personen, die verdächtigt wurden, Kriegsverbrechen begangen zu haben, sollten sofort inhaftiert werden.
C. C. S. 551 macht dezidierte Aussagen über die Behandlung jener Institutionen, die an der Bildung des öffentlichen Bewußtseins maßgeblich beteiligt sind, wie Schulen, Massenmedien, konfessionelle Einrichtungen und politische Gruppen. Die Erfordernisse der militärischen Sicherheit hatten absolute Priorität. Ihr sollte die Zensur der Massenmedien und der Post dienen. Für die Bildungseinrichtungen wurde eine besondere Direktive angekündigt. Ausdrücklich verfügt C. C. S. 551, daß politische Gruppen wie auch deutsche Politiker im Exil an der Politik der Militärverwaltung nicht beteiligt werden sollten. Unterdessen hatten die Briten das P. H. P.des Kriegskabinetts stärker strukturiert. Die Kontrollsektion, die sich mit Deutschland beschäftigte, kann als Nukleus des seit Oktober 1945 zunächst dem War Office, seit Frühjahr 1947 dem Foreign Office zugeordneten Control Office angesehen werden, dessen Leitung John Hynd, im März 1947 Lord Pakenham übertragen wurde. Am 13. Mai 1944 verzeichnete ein Bericht des P. H. P. 17), daß die vorgelegten britischen Entwürfe bisher von den Amerikanern und den Russen in der E. A. C. noch nicht einmal diskutiert worden waren. Das vom Kriegskabinett gebildete Official Committee on Armistice Terms and Civil Administration erörterte im Sommer 1944 die verschiedenen britischen Direktiven, die anschließend als Handbook of British Policy für die Nachkriegsphase an die E. A. C. geleitet wurden
In der Sitzung des Official Committee am 18. Oktober 1944 wurde u. a. ein Zwischenbericht des Arbeitsausschusses über die „Umerziehung" Deutschlands (Working Party on the Re-education of Germany) behandelt. Es ging dabei vor allem um die bei Kriegsende erwartete Lücke an geeigneten Schulbüchern. Vom Foreign Office wurde das grundsätzliche Einverständnis mit den Empfehlungen erklärt, gleichzeitig aber auf eine Abstimmung mit den Amerikanern und dem alliierten Hauptquartier gedrängt. Sir William Strang als britischer Vertreter in der E. A. C.
hielt es nicht für notwendig, die Zustimmung der Russen einzuholen. Bedenken hegte Ivone Kirkpatrick, der den Aufbau der britischen Kontrollmission leitete, weil vorerst nicht genug Personal zur Verfügung stand, insbesondere kein Experte für die einschlägige Buchproduktion. Probleme bereitete das Urheberrecht. Unklar war, wer geeignete Bücher auswählen sollte und wo sie zu drucken seien. Das britische Erziehungsministerium hielt deutsche Druckorte für besser; es befürchtete, die Amerikaner würden dem Vorschlag nicht zustimmen, Ad-hoc-Material für Schulen von deutschen Emigranten vorbereiten zu lassen.
Ungeachtet dieser Unklarheiten erschienen kurz nach dem Fall Aachens im Oktober 1944 die sehr detaillierten britischen Direktiven, ohne vorher mit den Amerikanern und den Russen abgestimmt worden zu sein, in Form des erwähnten Handbuchs für die Politik der alliierten Oberkommandierenden in der Phase unmittelbar nach der Kapitulation Direktive Nr. 1 enthielt die Leitlinien für die Besatzungspolitik:
a) Völlige Entwaffnung und Zerstörung des deutschen Kriegspotentials.
b) Das deutsche Volk zu überzeugen, daß es eine totale militärische Niederlage erlitten habe, um die Legende von der Unbesiegbarkeit der deutschen Wehrmacht und den Glauben an den Nutzen von Aggressionen zu zerstören. c) Die NS-Partei und -Doktrin zu vernichten. d) überleben und Untergrundaktivitäten von Militarismus und Nationalismus zu verhindern. e) Die Grundlagen für den Rechtsstaat und eine Einbeziehung Deutschlands in die internationale Kooperation zu schaffen.
f) Unter den Deutschen individuelles und kollektives Verantwortungsbewußtsein zu wekken. Einige dieser Grundsätze lassen unschwer den Aspekt der „Umerziehung“ erkennen.
Der „Re-education" war speziell die Direktive Nr. 8 gewidmet. Sie zielte auf die Entnazifizierung des deutschen Erziehungssystems bei gleichzeitiger Offenhaltung der Schulen und Hochschulen. Alle Geschichts-, Lese-und Bio-logiebücher mußten aus dem Unterricht sofort verschwinden. Für die Übergangszeit waren Bücher aus der Zeit vor 1933 zugelassen. Die Lehrer sollten rasch mit neuen Lehrplänen versorgt werden. Das Lehrpersonal war in die Kategorien schwarz (Nazi), grau (Mitläufer) und weiß (Unbelastete) einzustufen und dementsprechend vom Unterricht auszuschließen oder zuzulassen. Die endgültige Entscheidung in Personalangelegenheiten wurde späterer gründlicher Überprüfung überlassen. Langfristige Ziele der „Umerziehung" waren: a) Wiederherstellung des früheren Lehrstandards, insbesondere Respektierung von Fakten und ihre Einbringung in Bereiche, wo sie früher nicht zur Geltung kamen.
b) Orientierung der Erziehungsziele an den Ideen der „populär democracy", d. h. Freiheit von Meinung, Rede, Presse und Religionsausübung. In der zweiten Phase der „Umerziehung" sollten die Deutschen ermuntert werden, unter Kontrolle eigene Lehrbücher zu produzieren und die Curricula zu reformieren. Unbelastete Lehrer sollten verstärkt herangezogen werden. Auch Lehrer, die aus dem Exil zurückkehrten, und Ausländer als Gäste für eine Übergangszeit waren jetzt entsprechend dem Bedarf zuzulassen. In die Belange der religiösen Unterweisung hatten sich die Militärbehörden nicht einzumischen. Komplementäre Maßnahmen sollten der Aufbau neuer Jugendorganisationen und der Erwachsenenbildung sein. Neben der Education Branch der Kontrollkommission wurden als durchführende Instanzen die regionalen und lokalen Behörden genannt.
Obwohl in den Direktiven 26 (Rundfunk) und 27 (Kontrolle und Zensur von Informationsmedien) die Massenmedien gesondert behandelt wurden, nahm Direktive Nr. 8 auf sie als Mittel der „Umerziehung" Bezug. Im Gegensatz zum Schulsystem blieben die Massenmedien jedoch vorerst ausschließlich in der Verfügungsgewalt der Besatzungsmacht. Zu diesem Zweck hatte das War Office im Spätsommer 1944 eine Arbeitsgruppe zusammengestellt, in der auch deutschsprachige Emigranten mitwirkten. Die etwa 30 jungen Offiziere wurden in Cobham (Surrey) auf ihre künftige Aufgabe vorbereitet, deutschsprachige Informationsmedien nach und nach neu aufzubauen.
II. „Re-education" in der öffentlichen Meinung Englands
In einem demokratischen Staat wie Großbritannien spielt die öffentliche Meinung, zumindest in der Form von Äußerungen der politischen Publizistik, eine wichtige Rolle. Ähnlich wie in den Vereinigten Staaten ist in England während des Krieges eine ganze Reihe von Büchern über die Behandlung der Deutschen nach Kriegsende publiziert worden. Ein Jahr nach den Veröffentlichungen von Carr und Newman erschien 1943 in London eine Schrift von Sir Walter Layton unter dem Titel „How to deal with Germany". Wie Carr empfahl Layton, das deutsche Problem im europäischen Zusammenhang zu lösen. Layton beschäftigte sich auch mit der „Umerziehung": „Ausländische Regierungen können die Ansichten des deutschen Volkes nur in begrenztem Umfang verändern. Wenn wir die Kurse, die Wahl der Bücher und die Auswahl der Lehrer für deutsche Schulen und Universitäten vorschreiben wollten, würden wir vermutlich eine heftige Reaktion auslösen. Eine kleine Anzahl von Deutschen kann gewiß in ausländischen Institutionen ausgebildet werden; aber die Masse der jungen Leute wird ihre Ansichten aus der deutschen Umwelt beziehen." Layton befürwortete, eines der fundamentalen Prinzipien der Demokratie, den freien Informationsfluß, bereits in der Besatzungsperiode zu gewährleisten. Dies und gewisse Änderungen im deutschen Bildungssystem hielt er für die wichtigsten Mittel der „Umerziehung".
Der aus Österreich geflüchtete jüdische Sozialist Julius Braunthai versuchte, in seinem vom Left Book Club 1943 herausgegebenen Essay „Need Germany Survive?" die britische Kritik am deutschen Patriotismus in Frage zu stellen und damit zugleich die Unterstellung einer Kontinuität deutscher Aggression: „Die Ähnlichkeit im Charakter des Patriotismus läßt sich klar erkennen. Das schlimme Laster des Gehorsams gegenüber den Staatsautoritäten, von dem, wie einige Engländer festgestellt haben, die Deutschen geradezu besessen sind, wird in England offenbar als patriotische Tugend gewertet." Braunthai bezog sich auf britische Autoren wie Leonard Woolf E. H. Carr und G. D. H. Cole die bereits mit soviel Weisheit, schöpferischer Phantasie und gesundem Menschenverstand die entscheidenden Probleme der Zukunft erörtert hätten.
Der Professor für Germanistik an der Universität Toronto, C. Lewis stellte eine weitgehende Übereinstimmung in der Beurteilung der deutschen Frage fest: „Das deutsche Volk muß umerzogen werden." Selbst Lord Vansit-tart, der „vermutlich schärfste Ankläger", halte einen solchen Prozeß für möglich 2S). Lewis hegte jedoch einige Zweifel. Weder sei den „effizienten" Preußen eine „Umerziehung" der Polen gelungen, noch den Italienern die der Südtiroler. Lewis sah die einzige Chance in einem drastischen Wandel der politischen und sozialen Bedingungen in Deutschland. Die Hauptursache der deutschen Geschichte seit 1914 sah er in dem ausschließlichen Interesse des deutschen Schulsystems an intellektuellen Qualitäten. Die kritischen Fähigkeiten und die Persönlichkeitsentwicklung würden vernachlässigt, da sich die Lehrer niemals außerhalb des Klassenzimmers um ihre Schüler kümmerten. Unter Bezugnahme auf die Atlantik-Charta schrieb Lewis: „Wenn die Umerziehung versucht werden soll, muß es im Einklang mit den allgemeinen Friedensbedingungen der Vereinten Nationen geschehen... Wenn wir nicht versuchen, Deutschland durch gerechte Behandlung im geistigen Sinne auf unsere Seite zu bringen, würde unsere einzige Hoffnung, den Frieden zu sichern, darin bestehen, das Land für immer als ein gigantisches Gefangenenlager zu behandeln. Abgesehen von den moralischen Einwänden gegen einen solchen Kurs..., könnte eine solche Politik der unbarmherzigen und endlosen Repression niemals Erfolg haben."
Lewis schlug vor, daß die Alliierten einen politischen Rahmen setzen sollten, „in dem aufgeklärte Deutsche die Aufgabe bewältigen könnten, alle jene Institutionen zu reformieren, die die öffentliche Meinung führen und den Charakter des Volkes formen". Solche abwägenden Stellungnahmen waren in der britischen Presse eher selten. Wie Michael Balfour feststellt, glaubte der Durchschnittsengländer (und die Massenpresse, sei hinzugefügt), „daß man die Deutschen fest anpacken müsse; er neigte zu Vansittarts These, daß sie nichts anderes verstünden als Gewalt". Man wollte die Fehler von 1918/19 nicht wiederholt sehen.
Henry Faulk macht in seiner jüngst erschienenen Untersuchung auf die Verwirrung über den Begriff „Demokratie" aufmerksam, die von jeder Besatzungsmacht unterschiedlich interpretiert wurde. In der Praxis bedeutete das den Import des jeweils eigenen Verwaltungssystems in die jeweilige Besatzungszone. Faulk schreibt: „In Großbritannien herrschte eine ähnliche Konfusion wegen der Konzepte von .demokratisch’ als eines Begriffs für eine menschliche Haltung des Respekts vor der Würde des anderen Menschen und Volkes und andererseits von politischer Demokratie als einer Norm der sozialen Organisation." Soweit die britische Öffentlichkeit überhaupt von der Politik der „Umerziehung" erfuhr, neigte sie gefühlsmäßig dazu, daß die Deutschen den Briten ähnlich gemacht werden müßten, ohne die erheblichen Unterschiede zwischen den Klassen und Volksgruppen im eigenen Lande zu bedenken.
Die Denkschemata der Kriegsjahre wurden weitgehend unverändert — wie sollte es anders sein — in die Nachkriegszeit übernommen. Wolfgang Buchow fand sie auch vorherrschend in der britischen Presse. Zwar war man klug genug, schon damals das deutsche Wirtschaftspotential in Rechnung zu stellen, aber dies begründete erst recht das tiefverwurzelte Mißtrauen gegen die deutsche „Arroganz" und „aggressive Effizienz". Als sich 1946 in der britischen Zone die Enttäuschung über die Besatzungspolitik verbreitete, gab das Labour-Organ „Daily Herald" am 20. August 1946 zu verstehen: „Die Deutschen glauben, daß ihre Schwierigkeiten nicht auf Hitler, sondern auf die Fehler der alliierten Besatzung zurückzuführen sind."
III. Die Bewährungsprobe
Abgesehen von der Versorgungslage lassen sich die beiden kritischen Komplexe der ersten Besatzungsphase vor und nach Kriegsende mit den Begriffen „Non-Fraternisierung" und „Entnazifizierung" kennzeichnen. Beide Maßnahmen stellten sich — je länger desto mehr — als Hindernisse für die „Umerziehung" heraus. Der Vorsitzende des Armistice and Post-War Committee des Kriegskabinetts Clement Attlee zeigte sich in einem Brief vom 11. Januar 1945 an den Privy Council über die Durchführung der Non-Fraternisierung besorgt Offenbar hatte der stellvertretende Premierminister seine Informationen aus deutschen Gewerkschaftskreisen, denen jede Aktivität untersagt worden war. Bei der Requirierung deutscher Wohnungen kam es angeblich zu Übergriffen. Nach Ansicht des Labour-Politikers trug dies alles dazu bei, den Widerstandswillen der Deutschen eher zu stärken und einen Untergrundkrieg auszulösen.
In der britischen Kontrollkommission für Deutschland wurde gleichzeitig eine Instruktion über die Beziehungen der alliierten Truppen und des Stabes der Kontrollkommission mit den Deutschen vorgelegt Sie ließ an Deutlichkeit nichts zu wünschen übrig und verrät den Wandel im englischen Denken seit 1941: Jetzt schien die Vokabel „Herrenvolk" Oberhand zu gewinnen, dessen blinder Gehor-sam allein durch Härte zu beeindrucken sei. In einem Anhang der Instruktion wurde als Ausdruck der Non-Fraternisierung jedes Händeschütteln untersagt. Mit den Deutschen sollte nur gesprochen werden, wenn man von ihnen Dienstleistungen erwartete
Sehr bald ergaben sich aus dieser Politik schwere Probleme. Soldaten und Offiziere, die mit deutschen Mädchen einließen, sich wurden von den Briten vor das Kriegsgericht gestellt. Die Amerikaner -gaben sich gelasse ner, und ihre Haltung führte im September 1945 dazu, daß die Non-Fraternisierung wenigstens formell vom alliierten Kontrollrat gelokkert wurde. Allerdings ließen sich durch solche Verhalten positives weder ein herbeiführen, noch Vorurteile abbauen
Im Gegensatz zu den Amerikanern mochten die Briten Emigranten deutscher Nationalität nicht in ihrer Militärverwaltung beschäftigen, angeblich, weil man von ihnen ein rachsüchtiges befürchtete Sehr große Schwierigkeiten machte die Besetzung der verschiedenen Abteilungen der Kontrollkommission geeigneten Mitarbeitern. Verantwortlich für das Foreign Office war Ivone Kirkpatrick, für das War Office Major-General S. W. Kirby. Obwohl „The Times“ ihre Aufbauleistung am 5. Mai 1945 in einem Bericht des diplomatischen Korrespondenten lobte, mußte Kirkpatrick seine vorgesetzte Dienstbehörde noch am 16. Februar 1945 mahnen, beim Ministry of Labour für die Freigabe geeigneter Dienstkräfte zu sorgen
Um einen Leiter der Education Branch zu finden, waren die Vizekanzler der Universitäten Cambridge, Oxford und London vergebens angeschrieben worden. Schließlich blieb es bei dem zunächst kommissarisch eingesetzten und vom Erziehungsminister R. A. Butler protegierten Schulinspektor Donald Riddy, dessen Ernennung John Troutbeck am 22. Februar 1945 als eine Art Armutszeugnis wertete. Zu Riddys Nachfolger wurde im Sommer 1946 Robert Birley, der frühere Direktor der Public School Charterhouse in London, als Educatio-nal Adviser der britischen Kontrollkommission bestellt. Birley, der später Eton leitete, fühlte sich als Repräsentant eines Eliteschulsystems der Bildungstradition besonders verpflichtet
Das Umerziehungs-Konzept der Briten, das im Schulsystem und in den Massenmedien angewendet wurde und dem die Einrichtung der Kulturhäuser „Die Brücke" diente, basierte im wesentlichen darauf, den im Bildungsbereich tätigen unaufdringlich alternative Angebote zu machen. Der zwanglose Charakter der Zusammenarbeit hat sich gewiß der Besatzungsphase bewährt, wenn er auch nicht dazu beitrug, Veränderungen im deutschen Bildungssystem dauerhaft durchzusetzen oder gar die endlich in den sechziger Jahren geführte Reformdiskussion zu fundieren
Als wesentlich dauerhafter haben sich die Weichenstellungen im Bereich der Presse und des Rundfunks erwiesen, ohne jedoch einen völlig neuen Journalismus herbeiführen zu können. Dazu reichte die Trennung von Nachricht und Meinung, wie das eher schlechte Beispiel der englischen Presse (bis auf wenige Ausnahmen) belegt, als bloß formales Kriterium keineswegs aus. Der einmal gewählte Weg wurde von der britischen Militärregierung auch dann beibehalten, als im Oktober 1945 im Berliner Kontrollrat deutlich geworden war, daß sich eine gleichmäßige Anwendung der ein Vierteljahr zuvor in Potsdam beschlossenen Prinzipien in allen vier Zonen nicht mehr durchsetzen ließ Die Briten blieben dabei, als sich ihr Verhältnis zu den Deutschen unter dem Einfluß von Demontagen, Versorgungsproblemen und Entnazifizierung krisenhaft verschärfte. Mit Nahrungsmittel-Rationen zwischen 1 000 und 1 275 Kalorien konnte der Demokratisierungsprozeß nicht überzeugend durchgesetzt werden. John Troutbeck meinte dazu am 3. Mai 1946: „Von der Lösung dieses Problems hängt nicht nur unser guter Name als Administratoren ab, sondern jede Hoffnung auf Umerziehung der Deutschen. Demokratie, wie sie im Westen verstanden wird, kann nicht auf Hunger aufgebaut werden"
In der Erfüllung der internationalen Vereinbarungen bewies die britische Regierung größte Vertragstreue. Selbst als den Besatzungsoffizieren die Entnazifizierungsverfahren suspekt und lästig geworden waren, liefen die einmal verfügten Untersuchungen weiter, wurden Haufen von Fragebogen gestapelt. Bis September 1946 entfernten die Briten in ihrer Zone 156 000 Deutsche auf Dauer oder vorübergehend aus ihren Ämtern, darunter 25 000 Lehrer.
Am 23. Oktober 1945 machte der Parlamentarische Unterstaatssekretär im War Office, Lord Nathan, im Oberhaus darauf aufmerksam, daß die Entnazifizierung als „Säuberung der Personen" ein komplexes Problem sei. Die mißbräuchliche Verwendung des Begriffs „Nazi" geschehe ähnlich wie „Faschist" oder „Kommunist" gegenüber Menschen, die man nicht möge. Er spielte damit auf das weitverbreitete Denunziantentum und die Schwierigkeit an, das tatsächliche Verhalten von Mitgliedern der NSDAP zu beurteilen.
Die als „Säuberung der “ Umerziehung Köpfe sollte sich nach Lord Nathan pragmatisch auf Beeinflussung eine der Bildungseinrichtungen konzentrieren. Nicht zuletzt der Verbreitung von Besatzungszeitungen schrieb er in dieser Hinsicht große Bedeutung zu. Für die späte Zulassung von Lizenzzeitungen waren der Mangel an geeigneten Verlegern und Journa-listen ebenso maßgebend wie der Zustand des Druckereiwesens und die Papierknappheit. Die Briten zeigten sich aber ebenso zurückhaltend bei der Zulassung von Parteien und Gewerkschaften, deren Organisation sich nach ihrem Verständnis von unten, nicht wie in der Sowjetzone von oben zentral gesteuert, entwickeln sollte
Andererseits gab es zu viele andere Probleme, die vordringlich gelöst werden mußten, bevor man sich intensiver um das politische und kulturelle Leben kümmern konnte. Vielfach entwickelte sich bei der Kooperation über diese Lebensfragen in den zerstörten Großstädten der britischen Zone die politische Organisation fast von selbst. Wenn Lord Nathan im Oktober 1945 erste Erfolge der „Umerziehung" verzeichnen zu können meinte, so sind diese Euphemismen gewiß mehr aus der Situation im Oberhaus zu erklären als durch die tatsächlichen Fortschritte.
Ende 1946 berichtete Dr. R. H. Samuel dem Research Department des Foreign Office über eine Reise in die britische Zone, bei der er die Situation kurz vor Übergabe der Verantwortlichkeit im Erziehungsbereich an die Deutschen erkunden sollte
Nach Samuel war es der Education Branch zwar gelungen, einen Kader zuverlässiger Deutscher heranzuziehen, aber sie seien noch zu unerfahren, um den zu erwartenden Belastungen gewachsen zu sein. Die Entnazifizierung sei Keineswegs erfolgreich abgeschlossen, nicht zuletzt wegen der großen Zahl von Ungerechtigkeiten und Einsprüchen. Den deutschen Behörden mißtraute Samuel, weil sie das Erziehungssystem gewiß sofort parteipolitisch beeinflussen würden Dieser deutschen Eigenart stünden die Besatzungsoffiziere ziemlich hilfos gegenüber, da sie keine entsprechenden Direktiven erhalten hätten. Samuel sah die Gefahr einer Bürokratisierung und Zentralisierung des Bildungswesens in den deutschen Kultusministerien heraufziehen. Er sprach sogar von bewußter Sabotage gegen die Absicht der Militärregierung, zu dezentralisieren und Initiativen von der Basis zu ermutigen.
In den Abteilungen der Militärregierung herrschte Ende 1946 eine gewisse Problemmü-digkeit, die vom stellvertretenden Militärgouverneur der britischen Zone, Sir Brian Robertson, am 17. August 1946 positiv gedeutet wurde „Demokratie und politische Verantwortlichkeit kann in Deutschland nicht aufgebaut werden, wenn wir die Verantwortlichkeit nicht den Deutschen selbst geben."
Bei dieser Fixierung auf ökonomische Effizienz und kurzfristige Versorgungsprobleme mußte das langfristige Programm der „Umerziehung", wie es in nur groben Umrissen konzipiert, aber nicht ausgearbeitet worden war, mehr und mehr in den Hintergrund treten. Auf den Sitzungen der Militärbehörden verfiel es, soweit es überhaupt angesprochen wurde, zu bloßer Deklamation — erst recht, seit der Ost-West-Konflikt ein neues Verhältnis zum besiegten Kriegsgegner begünstigte: Als die Ansätze der britischen Erziehungspolitik hätten fruchtbar gemacht werden können, gerieten sie in die überstürzte Neuorientierung der Deutschlandpolitik.
Unter den zahlreichen Berichten englischer Gruppen, die sich in Deutschland umsahen, findet sich auch der einer Frauendelegation vom September 1946. Die Berichterstatterin meinte, daß die demokratische Konstitution einer Gesellschaft von den mit Unterstützung der Education Branch gebildeten deutschen Frauenkomitees überhaupt nicht verstanden werde. Alle Aktivitäten beschränkten sich auf die Vorstände, während die einzelnen Mitglieder kaum Initiative entwickelten. Die „Umerziehung" von deutschen Frauen verbleibe im pädagogischen Bereich und nehme deshalb eher den Charakter der Erwachsenenbildung an. Von der Militärregierung würden die politisch erfahrenen älteren Frauen offensichtlich nicht ernst genommen. Die Offiziere behandelten sie wie Schülerinnen, denen man zwar Mitverwaltung, aber nur unter Kontrolle ihres Direktors, gestatte
Zusammenfassend läßt sich mit Wolfgang Rudzio feststellen, daß eine gemeinsame anglo-amerikanische Politik nur während der kurzen Phase des Oberkommandos von Eisenhower bis Mitte Juni 1945 zu verzeichnen war. Diese Politik, die sich auf die Joint Chiefs of Staff Direktive 1067 stützte, war bestimmt von der kurzfristigen Zielsetzung, mi-litärische Sicherheit aufrechtzuerhalten, den befürchteten deutschen administrativen Zusammenbruch zu vermeiden und gleichzeitig die deutsche Verwaltung zu entnazifizieren. Nach der Potsdamer Konferenz kam es zur entscheidenden Wende, deren Ursache nur zum Teil im Sieg der Labour Party zu suchen ist, mehr jedoch in der wachsenden Erkenntnis bei den Westmächten, daß die Zusammenarbeit mit der Sowjetunion immer schwieriger werden würde. Die Briten entwickelten eigene Leitsätze zur Demokratisierung und Dezentralisierung der politischen Struktur. Sie haben dies am augenfälligsten durch die Teilung der kommunalen Verwaltungsspitze in Bürgermeister und Stadtdirektor nach englischem Muster durchgesetzt, ohne damit politisch mehr als oberflächliche Ergebnisse zu erreichen. Die Idee der Teilung der Gewalten wurde von den Deutschen nur widerstrebend angenommen.
Wenn Außenminister Ernest Bevin am 23. Oktober 1946 im Unterhaus die Gemeinsamkeit alliierter Politik auf die alte Zielsetzung reduzierte, Deutschland an einer neuen Aggression zu hindern, dann machte das zugleich den innerhalb von zwei Jahren seit Ausgabe der ersten Direktive für die britische Besatzungspolitik eingetretenen tiefgreifenden Wandel erkennbar. Der britische Außenminister faßte damals die Politik seiner Regierung in drei Punkten zusammen:
geschaffen a) Es sollten Bedingungen werden, um die Welt vor jeder deutschen Wendung zur Diktatur und zur aggressiven Politik zu schützen.
b) Es sollten ökonomische Bedingungen geschaffen werden, die Deutschland befähigten, den Nachbarn in Frieden mit seiner Wirtschaft zu dienen.
c) Es sollten verfassungsmäßige Voraussetzungen geschaffen werden, die das deutsche Volk zu akzeptieren vermöge.
Von einer deutschen „Umerziehung" sprach Bevin nicht mehr. Die wirtschaftlichen und machtpolitischen Notwendigkeiten erwiesen sich wieder einmal als stärker. Für die westliche Ernüchterung war das Verhalten der Sowjetunion in Berlin und der erzwungene Parteienzusammenschluß zur SED maßgebend gewesen. Den Vätern der „Umerziehung" blieb nur noch die Hoffnung, daß die Einbeziehung der Deutschen in das westliche Bündnis-system ihr Bewußtsein dauerhaft beeinflussen könnte.