Im Jahre 1778, vor nunmehr zwei Jahrhunderten, starben Voltaire (am 30. Mai) und Rousseau (am 2. Juli). Binnen kurzer Frist traten somit zwei Männer von der Bühne ab, die die geistigen Strömungen und Auseinandersetzungen nicht nur des französischen Sprachraumes für mehrere Jahrzehnte weitgehend mitbestimmt, ja streckenweise beherrscht hatten. Sie sind Rivalen gewesen, haben einander befehdet, wobei jeder den anderen im Grunde wohl respektiert hat.
Voltaire gelangte zu seinen Lebzeiten zu beinahe gleichmäßig anwachsendem Ruhm; Rousseau, durch seine Hauptwerke je eine heftige Diskussion auslösend, hat von Fall zu Fall eher schockartig gewirkt. Voltaire zuzuschreibende Einflüsse im einzelnen nachzuweisen, bereitet einige Mühe, weil seine Leistung in das Ganze der Aufklärung, als deren Aufgipfelung man ihn ansehen mag, eingegangen ist. Anders ist dies bei Rousseau, der, wenn Heinrich Mann recht hat, „von allen, die je schrieben, den größten, greifbarsten Erfolg gehabt" hat. Rousseau, von der Aufklärung ausgehend, hat deren Rahmen durch das Wagnis gesprengt, ihrem Intellektualismus oder Rationalismus eine Hingabe an das Gefühl hinzuzufügen. Auf die Spannung, die dieses Bemühen in sein Werk hineinbringen mußte — eine Spannung, die offenbar schon in ihm selbst angelegt war —, ist mancher leicht festzustellende Widerspruch zurückzuführen. Aber wirksam geworden bis in das folgende Jahrhundert hinein ist Rousseau gerade durch den die Aufklärung deutlich überschreitenden Teil seines Gedankengutes, also durch jene Hinwendung zum Gefühl, zur Empfindsamkeit, durch seinen Irrationalismus oder Emotionalismus. Dort setzen die Linien an, die von ihm zum Sturm und Drang, zur deutschen Klassik, zur gesamten europäischen Romantik führen; von daher kommt auch sein Einfluß auf Kant, der gestanden hat, Rousseau habe ihn „zurecht gebracht", und dessen „Kritik der praktischen Vernunft", wie man gesagt hat, ohne jenen speziellen Anstoß kaum denkbar wäre.
Leben und Werke
Jean-Jacques Rousseau, geboren 1712 in Genf als Sohn eines Uhrmachers aus ursprünglich französischer Familie, verliert ganz früh seine Mutter und als Zehnjähriger den Vater, als sich dieser durch Flucht einer drohenden Strafverfolgung entzieht. In eine Handwerkslehre gegeben, rückt der Halbwüchsige aus und wandert hinüber ins nahe Savoyen. Dort nimmt sich eine vierzehn Jahre ältere adelige Dame seiner an, die den getauften Calvinisten zum Katholizismus bekehrt und ihm zu mehr und anderem als nur der „maman" wird, als die er sie tituliert. Die Beziehung zu dieser Madame de 'Watens bestimmt seinen Lebensweg bis etwa 1740: eine Zeit nicht streng geregelter Studien, wechselnder Tätigkeiten, zwischendurch des Umherschweifens — so etwas wie bürgerliche Seßhaftigkeit hat er eigentlich niemals kennen-gelernt. Danach ist er Hauslehrer in Lyon, kommt nach Paris und in dortige Salons, arbeitet an einer Oper, amtiert zeitweilig als Sekretär des französischen Gesandten in Venedig. Aus seiner Verbindung mit einer gänzlich ungebildeten Frau aus der Unterschicht gehen fünf Kinder hervor, die er, bald darauf ein wortmächtiger Theoretiker der Erziehung, jeweils im Hospice des Enfants trouves, zu deutsch Findelhaus, abliefert. Nun aber der Schriftsteller: Obwohl er schon in den vierziger Jahren für die berühmte Enzyklopädie, das Standardwerk der französischen Aufklärung, geschrieben hat, sieht man die Reihe seiner Hauptwerke erst 1750 eröffnet. Die Akademie von Dijon hatte im Jahre zuvor die Frage gestellt, ob durch die Wissenschaften und Künste die Sitten verbessert oder verdorben worden seien. Die preisgekrönte, größtes Aufsehen erregende Arbeit, die ein schon nicht mehr ganz junger, aber bis dahin fast unbekannter Autor einreichte, ist als Rousseaus „Erster Discours"
(„Discours sur les Sciences et les arts") in die Geistesgeschichte eingegangen.
Es folgten 1755 ein „Zweiter Discours“ („über den Ursprung und die Grundlagen der Ungleichheit unter den Menschen"), 1761 der Roman „Julie oder die neue Heloise", dann 1762 kurz nacheinander die Schrift über den Gesellschaftsvertrag („Du contrat social ou principes du droit politique") und „Emile oder über die Erziehung". Vom Spätwerk sind zu nennen die autobiographischen „Bekenntnisse", die nicht nur Hermann Hesse unter die großen Werke der Weltliteratur eingereiht hat. Noch einmal ins Feld der Staatslehre führt eine in den siebziger Jahren erschienene Schrift über die Verfassung Polens, die übrigens auf eine von polnischer Seite ergangene Aufforderung zurückgeht. Welche Beachtung das umfangreiche und vielschichtige Gesamtwerk fand, ersieht man auch daraus, daß noch vor Ende des Jahrhunderts eine elfbändige deutsche Gesamtausgabe veröffentlicht wurde, der eine gleich vollständige Publikation hierzulande freilich nicht gefolgt ist. Daß Rousseau „mit einer Feder, die das Papier, das sie berührt, verbrennt", geschrieben habe, hatte schon der Widersacher Voltaire zugestanden.
Die Stationen des Lebensweges, soweit dieser in die zweite Jahrhunderthälfte fällt, sind hier nicht einzeln aufzuführen. Da gibt es einen zweiten Bekenntniswechsel, die Rückkehr zum
Protestantismus Genfer Prägung. Da gibt es, wie zuvor, Damen der Gesellschaft, die den jedenfalls interessanten Zeitgenossen protegieren, und adelige Mäzene, die ihm unter die Arme greifen. Da gibt es aber auch eine Flucht aus Frankreich, als der „Emile" — durch das dort eingefügte „Glaubensbekenntnis des sa-
voyischen Vikars" christlicher Dogmatik widersprechend — der Zensur zum Opfer fällt. Rousseau hält sich erst in der Schweiz, dann in England auf, wohin ihn David Hume mitgenommen hat, der dafür nur Undank erntet. Aber der Tod ereilt den Heimatlosen dann doch in Frankreich. Daß der Sechsundsechzigjährige durch Selbstmord geendet habe, ist behauptet, aber auch entschieden bestritten worden. Die Gebeine, zunächst auf der Lande bestattet, wurden während der Revolution auf Veranlassung Robespierres ins Pariser Pantheon überführt.
Viel bewundert und viel gescholten: das gilt für wenige der Großen, deren Namen in die Menschheitsgeschichte eingegangen sind, in solchem Maße wie für Rousseau. Umstritten waren und sind nicht nur seine Schriften, getadelt hat man auch seine menschlichen Eigenschaften. Der Hochsensible, Hochtalentierte ist offenbar ein unausgeglichener, stimmungslabiler, wenig zuverlässiger Psychopath gewesen, der indessen die eigenen Schwächen sehr wohl erkannt und sich zuweilen bittere Vorwürfe gemacht hat. Als er in seiner Spätzeit an einer Art Verfolgungswahn litt, hat er die Grenze zur akuten Geisteskrankheit mindestens gestreift.
Abfall von der Natur
Den Ersten Discours von 1750, die Antwort auf die Preisfrage der Akademie von Dijon, hat Rousseau in einem später nachgeschobenen „Avertissement“ eine „höchstens mittelmäßige Arbeit" genannt. Tatsächlich bemerkt man Mängel im Aufbau und in den logischen Ableitungen. Dies gilt aber auch für die meisten der späteren Schriften. Descartes und Spinoza, um nur diese zu nennen, haben anders geschrieben. Der Denker Rousseau — darin konsequent, daß er dem von ihm gepriesenen Gefühl in und bei sich selbst freien Lauf ließ — ist als Schriftsteller immer auch ein Dichter gewesen. Dies trifft, gewiß in beschränktem Maße, sogar für die Staatslehre zu, in der man, bei einer für diesen Verfasser ziemlich stren-gen Systematik, Partien von bedeutender Sprachgewalt findet.
Die Akademie hatte nach dem Einfluß der Wissenschaften und Künste auf die Sitten gefragt. Ihn als höchst förderlich hinzustellen, hätte dem aufklärerischen, alle Geistestätigkeit begünstigenden Zeitgeist entsprochen. Rousseau aber urteilt genau entgegengesetzt. Zwar rühmt er einleitend, wohl um den Leser erst einmal anzuziehen, das „große und schöne Schauspiel, wie der Mensch gewissermaßen aus dem Nichts durch seine eigenen Anstrengungen hervorgeht, wie er durch das Licht der Vernunft die Finsternisse zerstreut, in die die Natur ihn hüllte“. Dann aber wird die Tonlage sogleich eine ganz andere. Hatte die Aufklä32 rung das Vernünftige mit dem Natürlichen ineinsgesetzt, so scheidet nun dieser Autor Natur und Kultur durch einen deutlichen Trennungsstrich, womit er manche spätere Kulturkritik im Kern vorwegnimmt. Der Mensch, ursprünglich gut, ist, so heißt es, verdorben worden. Der Weg, auf dem er den Naturzustand hinter sich ließ, um sich der Kultur zuzuwenden und sie dann fortschreitend zu vervollkommnen, hat ins Unheil geführt. An die Stelle einer Einfachheit des Lebens, wirklicher Freiheit und einer wie selbstverständlich geübten Tugend ist allerlei Künstelei, Täuschung, Zwang getreten. Vergiftet, zumal durch eine fortschreitende Ungleichheit, sind die zwischenmenschlichen Beziehungen. Besonders verderblich, weil die Charaktere schwächend, ist der Luxus: die Völker, die sich ihm ergeben haben, sind gesunken, ja aus der Geschichte ausgestrichen worden.
Natürlich ist eine solche Schmähung alles dessen, was die Zeitgenossen als höchst schätzenswerte Errungenschaft ansahen, nicht unwidersprochen geblieben. Und da hat dann Rousseau, durchaus nicht unempfindlich gegen Kritik, auch einmal ein wenig eingelenkt. So erwiderte er dem Polenkönig Stanislaus, der sich gegen die Schrift ausgesprochen hatte, es sei keineswegs daran gedacht, die Bibliotheken zu verbrennen und die Universitäten zu schließen. „Wenn die Menschen korrumpiert sind, ist es besser für sie, gebildet zu sein als unwissend." Gewiß hat er nicht an die Möglichkeit geglaubt, zu einem wie auch immer vorgestellten Naturzustand zurückzukehren.
Der Zweite Discours von 1755 aber ist dann erneut von äußerster Radikalität. Die Wucht des Angriffes trifft diesmal allein die Ungleichheit. Deutlich unterschieden ist dabei die „natürliche oder physische" von einer „moralischen oder politischen Ungleichheit". Die erstere, gegeben mit den „Verschiedenheiten des Alters, der Gesundheit, der Körperkräfte und der seelischen Anlagen", ist, das wird zugegeben, unaufhebbar. Zur verhängnisvollen moralischen oder politischen Ungleichheit — ihr wird auch die ökonomische Ungleichheit, der Unterschied von reich und arm, hinzugerechnet — ist es im Zuge des Abfalls von der Natur gekommen. Eine bemerkenswerte und zwar unrühmliche Rolle wird durch Rousseau der fortlaufenden Zunahme und Verdichtung der zwischenmenschlichen Beziehungen zugeschrieben. Hier unterstellt er so etwas wie einen Umschlag von Quantität in Qualität, wobei die gewonnene Qualität Verschlechterung bedeutet. Bei dem ausdrücklichen Zugeständnis, daß der von ihm gepriesene „Naturstand" nur erdacht und nicht historisch nachweisbar ist, sieht er in dem durch keine Kultur, zumal keine Reflexion verdorbenen Naturmenschen „ein Wesen, das einsam in den Wäldern umherirrt" und dabei „ohne Bedürfnis nach Gemeinschaft mit anderen, aber auch frei von dem Wunsche, ihnen zu schaden", ist. Einige Jahre danach wird der Verfasser im „Emile" dem „Wunderbuch" Robinson Crusoe, dem Bild des ganz auf sich allein gestellten Menschen, höchstes Lob spenden.
Doch beim isolierten Einzelmenschen ist es, und das bedauert der Bekenner eines entschiedenen, selbst in seiner Staatslehre noch transparenten Individualismus, nicht geblieben. „Vergessene und verschüttete Pfade haben den Naturmenschen zum Stand des Gesellschaftsmenschen geführt." Aber einiges erfährt man dann doch über diese Pfade. Als Stationen des Weges, der zum „Gesellschaftsmenschen“ oder „Kulturmenschen" und damit zur „Entartung der Gattung" führte, nennt Rousseau die Gründung fester Wohnsitze, den Zusammenschluß erst zu Horden, dann zu Völkerschaften, die Bearbeitung der Metalle und den Ackerbau, vor allem jedoch das Eigentum an Grund und Boden. Danach sind „viele scheinbar natürliche Ungleichheiten ein Werk der Gesellschaft“. Wiederum wird in solchem Zusammenhang der Luxus getadelt, und zwar durch die in unserer Zeit wohl bedenkenswerte Feststellung, „der ehedem freie und unabhängige Mensch" werde „mit den stets wachsenden Bedürfnissen immer mehr verknechtet an die Natur und namentlich an seinesgleichen". Es kommt zur Errichtung von Obrigkeiten und damit zur Scheidung in Herrschende und Beherrschte, schließlich in Herren und Sklaven.
Was jene Entstehung des Staates betrifft, so nimmt Rousseau eine durch die Reichgewordenen im Wege der Täuschung erschlichene Machtergreifung an, womit er dem späteren Begriff des einer Besitzwahrung dienenden Klassenstaates nahekommt. Daß er ganz allgemein die bei mancherlei äußerem Glanz im Grunde morbide Gesellschaft seiner Zeit hat treffen wollen — eine Gesellschaft übrigens, die zu seinem Vorteil auszunutzen er sich nicht gescheut hat —, kann kaum bezweifelt werden.
Was im tief pessimistischen Zweiten Discours, wie zuvor im Ersten, völlig fehlt, ist das „Prinzip Hoffnung“. In beiden Schriften führt die Darstellung bis an eine Gegenwart heran, die als beklagenswert hingestellt wird. Deutlicher konnte dem Glauben der Zeitgenossen, daß man soeben einen glücklichen Durchbruch erzielt habe und nun mit Sicherheit einer besseren Zukunft entgegengehe, kaum widersprochen werden.
Aber Rousseau ist bei seinem düsteren Geschichtsbild, dem Bild eines Niedergangs oder Verfalls, nicht stehengeblieben. Es ist nicht so, als ob er an die Zukunft keinen Gedanken verschwendet habe. Sie hat er im Sinn gehabt, als er den „Emile", das Buch über die Erziehung der Jugend, schrieb; ihr zugewandt ist auch die Schrift über den Gesellschaftsvertrag, den „Contrat social". Mit dem Jahre 1762, in dem der Fünfzigjährige binnen kurzer Frist diese beiden Werke veröffentlicht, wird er zu einem Klassiker einmal der Pädagogik, zum andern der Staatsphilosophie.
Der ideale Staat
Von Rousseaus staatstheoretischem Hauptwerk „Du Contrat social ou principes du droit politique" hat, wie durch neuere Forschung erwiesen ist, eine Erstfassung um etwa 1755 vorgelegen. Ob der Verfasser zu dieser Zeit noch daran gedacht hat, das im Jahrzehnt zuvor geplante umfangreiche Werk über politische Institutionen zu schreiben, das niemals zustande kam, muß dahingestellt bleiben. Was die Publikation von 1762 betrifft, die breiteste Wirkung und eine Fülle höchst unterschiedlicher Urteile auslösen sollte, so hat er selbst sie ausdrücklich nicht zu seinen Hauptwerken gerechnet. „Das ist ein Buch, das neu 1 geschrieben werden müßte", hat er später zu einem Besucher bemerkt. Wahrscheinlich hat er mindestens einige der Mängel, auf die bis in unsere Zeit herein die Kritiker hingewiesen haben, selbst empfunden, vielleicht sogar erkannt, daß Konsequenzen gezogen werden konnten, die mit seinen eigenen Ansichten und Absichten unvereinbar waren.
Der Titel ist insofern ein wenig irreführend, als der Vorschlag, sich die Entstehung des Staates als durch Vertragsabschluß geschehen vorzustellen, keineswegs die Mitte einnimmt. Der Zusatz „Grundsätze des Staats-rechtes" („principes du droit politique") bezeichnet den Inhalt besser. Auch deutet er „den ideologischen, der Wirklichkeit entgegengestellten Charakter eines Sollens — entgegen dem Seins-Staate" (Karl Vorländer) — an. Was nämlich das Buch nicht leisten sollte und tatsächlich nicht leistet, ist eine Schilderung der konkreten Staatenwelt, es sei dies eine damals vergangene oder die seinerzeitige. Wirklichkeitsfremd ist die Darstellung schon dadurch, daß, von wenigen Bemerkungen abgesehen, ausschließlich von dem Gemeinwesen die Rede ist, dem die Volkssouve-2 ränität zugrunde liegt. Als „Staatsoberhaupt" oder „Souverän" erscheint durchweg die Gesamtheit der Staatsangehörigen. Dies gilt nicht nur für die Demokratie, sondern ausdrücklich auch für die Aristokratie und die Monarchie. Damit sind Regierung oder Obrigkeit auf der einen, Souverän auf der anderen Seite, in jedem Falle zweierlei, so daß hier, entgegen sonstigem Sprachgebrauch, selbst der Monarch keineswegs Staatsoberhaupt ist. Das Ganze der Stimmbürgerschaft als den „Souverän" zu bezeichnen, ist übrigens nach wie vor in der Schweiz üblich, in der bei Wahlen oder Abstimmungen — gleichgültig, ob sie auf gemeindlicher, auf kantonaler, auf eidgenössischer Ebene stattfinden — von der Entscheidung des „Souveräns" gesprochen wird.
Durch den gedachten Gesellschaftsvertrag entstanden ist, so sagt Rousseau, „ein geistiger Gesamtkörper, der aus so vielen Gliedern besteht, wie die Versammlung Stimmen hat, und der durch eben diesen Akt seine Einheit, sein gemeinsames Ich, sein Leben und seinen Willen erhält". In diesen Körper hinein, und damit „als Gemeingut unter die oberste Leitung eines gemeinsamen Willens", gibt jeder „sich selbst und alles, was er vermag". Ist das nun die Preisgabe aller persönlichen Freiheit? Die Frage wäre zu bejahen, würde nicht im gegebenen Zusammenhang der Freiheitsbegriff modifiziert. Der einzelne Bürger ist frei, so erfahren wir zu unserer Überraschung, wenn sein individueller Wille mit dem allgemeinen Willen übereinstimmt. Er kann sogar gezwungen werden, frei zu sein: gemeint ist mit der erstaunlichen Wendung das der Gesamtheit ausdrücklich zugestandene Recht, das widerstrebende Mitglied zur Anerkennung der volonte generale zu zwingen.
Nun aber zur volonte generale und damit zum wichtigsten, ja wohl einzigen ganz originellen Begriff im „Contrat social". Dieser allgemeine Wille oder Gemeinwille, so Rousseau, ist „beständig der richtige", weil er „immer auf das allgemeine Beste abzielt". Oft aber sei „ein großer Unterschied zwischen dem Willen aller und dem allgemeinen Willen; letzterer geht nur auf das allgemeine Beste aus, ersterer auf das Privatinteresse und ist nur eine Summe einzelner Willensmeinungen". Der allgemeine Wille ist also nicht in dem Sinn allgemein, daß die Gewähr besteht, daß alle ihm zustimmen; seine Allgemeinheit besteht darin, daß er auf das allgemeine Beste, das Gemeinwohl, gerichtet ist. Dieses aber kann durch eine ihren Willen bekundende Bürgerschaft sehr wohl verfehlt werden, und verfehlt wird es, wenn die „volonte de tous“, der in partikularen Interessen gründende Wille aller — der, entgegen dieser Bezeichnung, auch ein Mehrheitswille sein kann —, in einem Falle zum Ausdruck kommt, in dem er der volonte generale zuwiderläuft.
Mit seiner „volonte de tous" rückt Rousseau, hier nüchterner Realist, die allemal gegebenen divergierenden, nicht auf eine höhere Einheit hin ausgerichteten Interessen ins Blickfeld. Indem er sie der volonte generale konfrontiert, nimmt er vorweg, was Hegel — dieser vielleicht durch ihn beeinflußt — und Lorenz von Stein im folgenden Jahrhundert als das Spannungsverhältnis von Gesellschaft und Staat dargestellt haben. Aber er will das „Privatinteresse", die „einzelnen Willensmeinungen", nicht einfach wuchern lassen, denkt hier sogar an institutioneile Vorkehrungen. Es soll, so dekretiert er recht verwegen, „keine partielle Verbindung" innerhalb des Staates bestehen. Verworfen, als dem Erkennen und der Durchsetzung der volont generale hinderlich, werden damit die heute so genannten Interessengruppen oder Verbände. Sind sie nicht zu beseitigen, so „muß man ihre Anzahl vermehren und ihrer Ungleichheit vorbeugen". Heben sie einander einigermaßen auf — das ist hier richtig erkannt —, so ist ein Raum ausgespart, der einer nicht primär an die Gruppeninteressen gebundenen Entscheidung zugute kommt. Offenbar ist mit der volonte generale die in die Staatsphilosophie reichende Frage angerührt, ob es ein a priori vorhandenes, allem Willensentscheid voraufliegendes Gemeinwohl überhaupt gibt — was, um es vorsichtig auszudrücken, heutzutage nicht jedermann zugeben wird — oder ob das bonum commune, oder was seine Stelle einnehmen soll, allemal nur die Resultante aus zunächst divergierenden Interessen, Meinungen, Bestrebungen, damit jedoch im Regelfälle errechenbar ist.
Ist Rousseau der gesellschaftliche Pluralismus unheimlich gewesen, so haben zwei andere, noch wesentlichere Merkmale der modernen Demokratie seinen Beifall ebensowenig gefunden: die Repräsentation im Sinne einer befristeten Machtübergabe an frei gewählte Vertreter und die Gewaltentrennung. Sein Bekenntnis gilt der direkten Demokratie, und es gibt keinen Zweifel, daß er an die kleinen Republiken seiner schweizerischen Heimat gedacht hat. So nennt er als Voraussetzung „einen sehr kleinen Staat, in dem das Volk leicht zu versammeln ist und jeder Bürger genügende Gelegenheit hat, alle anderen kennenzulernen“. Später hat er in seinen Vorschlägen zur Verfassung Polens in der „Größe der Nationen, Ausdehnung der Staaten", die „hauptsächlichste Quelle der Mißstände, die die Kulturvölker untergraben", gesehen und in diesem Zusammenhang eine weitgehende Aufgliederung des polnischen Staatskörpers — „das System der Föderativ-Verfassung, der einzigen, welche die Vorzüge der großen und der kleinen Staaten vereinigt“ — empfohlen. Bis in unsere Zeit herein blieb in kurzschlüssiger Rousseau-Kritik immer wieder unbemerkt, daß der Genfer bei seinen Forderungen oder Wunschvorstellungen ausschließlich den Kleinstaat — wir müssen inzwischen sogar sagen: Kleinststaat — vor Augen gehabt hat. Weitere Erfordernisse, durch die das Ganze mindestens für uns Heutige in den Bereich der Utopie entrückt erscheint, sind für ihn eine „große Einfachheit der Sitten" und eine „fast vollkommene Gleichheit in bezug auf Stand und Vermögen"; wiederum werden bei solcher Gelegenheit Luxus und Reichtum verurteilt. „Gäbe es ein Volk von Göttern, so würde es sich demokratisch regieren. Eine so vollkommene Regierung paßt für Menschen nicht." Rousseau, der das Demokratie-Kapitel im 3. Buch des „Contrat social" in diese überraschenden Sätze ausklingen läßt, hat die beinahe unabsehbaren Schwierigkeiten erkannt, die sich der Errichtung und Bewahrung eines demokratischen Gemeinwesens entgegenstellen. Die Republik, dies vor allem wünscht er zu betonen, gedeiht nur in dem Maße, in dem der allgemeine Wille, wie er ihn versteht, gegenüber den divergierenden Meinungen und Interessen sich durchsetzt. Und eben hier zweifelt er: die Stärke der menschlichen Selbstsucht, die er in früheren Texten als den „amour-propre" getadelt hat, stellt er in seiner Staatslehre voll in Rechnung, So ist denn die Schrift über den Gesellschaftsvertrag mißverstanden, wenn man ihr das Modell für einen ohne weiteres zu errichtenden Staat entnehmen zu können glaubt. Rousseau „unternimmt den Versuch, einen Idealstaat zu konstruieren. Dabei will er die Prinzipien und Strukturen aufzeigen, die einen idealen Staat bestimmen sollten, ohne dabei anzunehmen, daß es diesen Staat je geben würde" (Friedrich. Glum)
Unüberhörbar ist jedenfalls ein dringender Appell. Der Autor, „durch und durch Moralist" (Iring Fetscher) ruft nach dem Staatsbürger. „Ihr habt alles, wenn ihr Bürger bildet": das hat er schon im Enzyklopädie-Artikel „über die politische Ökonomie" von 1755 geschrieben, nachdem er im Ersten Discours beklagt hatte, daß es „keine Bürger mehr" gebe. Im 1. Buch des „Contrat social" bringt er in sein Menschenbild einen freundlicheren Zug hinein, indem er den Menschen, der den „Stand der Natur" hinter sich gelassen hat, für fähig hält, einen „staatsbürgerlichen Zustand" zu erreichen. Dieser Status einer höheren Moralität ist dadurch gekennzeichnet, daß im individuellen Verhalten „Gerechtigkeit an die Stelle des Instinktes tritt und sich in den Handlungen der sittliche Sinn zeigt, der ihnen vorher fehlte"; vernommen wird nun die „Stimme der Pflicht". Erscheint auf solche Weise des Verfassers Pessimismus einmal ein wenig abgeschwächt, so bleibt dieser Grundton, der das Gesamtwerk durchzieht, doch auch in dieser Schrift vernehmbar.
Wirkungen und Urteile
Daß Rousseau sein staatstheoretisches Hauptwerk nicht als sein letztes Wort zur Sadie angesehen hat, wurde bereits bemerkt. Der dort niedergelegten Lehre gibt er schon nach zwei Jahren in den „Briefen vom Berge" („Lettres ecrites de la montagne", 1764) „eine solche Elastizität der Begriffe und der Argumente, daß sozusagen der ganze einschließlich Montesquieu der Gewaltenteilung, der Zwischen-instanzen und selbst des Repräsentativsystems in ihr Platz finden kann" (Ernst Reibstein) Zu einem der Wegbereiter der Französischen Revolution ist er dann nur dadurch geworden, daß man den „Contrat social" recht eng interpretierte. Er selbst hat von gewaltsamem Umsturz nichts wissen wollen und sich noch in seiner Spätzeit als einen Mann bezeichnet, „der den allerhöchsten und aufrichtigsten Respekt'vor den nationalen Gesetzen und Verfassungen fühlt und den höchsten Abscheu vor Revolutionen und Verschwörern hegt". Im übrigen ist für ihn, der einen allgemeinen Niedergang diagnostiziert und die Möglichkeit, sich daraus emporzuarbeiten, recht zurückhaltend eingeschätzt hatte, speziell das zeitgenössische Frankreich ein nahezu hoffnungsloser Fall gewesen. Darüber, daß er sich vom jakobinischen Terror, wenn er diesen erlebt hätte, mit Ent-3 setzen abgewandt haben würde, kann es überhaupt keinen Zweifel geben.
Tatsächlich haben sich während der Revolution nicht nur deren radikale Verfechter auf ihn berufen. Daß das Buch vom Gesellschaftsvertrag nicht zum Umsturz, wohl aber zur Verwirklichung einer wie auch immer verstandenen Freiheit aufgefordert hatte, wurde nicht etwa durchweg übersehen. So „fiel es den Gegnern Robespierres leicht, daraus Sätze zu zitieren, um damit gegen den Zwang und den Zentralismus des Wohlfahrtsausschusses zu polemisieren" In jüngster Zeit wurden für einen in London vorgelegten Forschungsbericht nicht weniger als sechsunddreißig schon um 1790 in Frankreich erschienene Flugschriften untersucht, deren Autoren bemüht gewesen sind, die Unvereinbarkeit des revolutionären Geschehens, zumal der Beschlüsse der Pariser Versammlung, mit Rousseaus Vorstellungen und Absichten nachzuweisen Wenn Iring Fetscher den Verfasser des „Contrat" — aber eben auch anderer Schriften — einen Konservativen nennt, so geschieht das, wie er gleich hinzufügt, nicht aus einer Neigung zum Paradox Bertrand de Jouvenel, den er er-wähnt, hat nicht viel anders geurteilt. Für Friedrich Glum ist Rousseau im Grunde „ein tief religiöser Mensch" gewesen, dessen politisches Werk nur von daher zu verstehen sei
Lang ist die Reihe der liberalen Autoren, die mehr oder weniger leidenschaftlich beklagt haben, daß der „Contrat" das Individuum mit allem, was es ist und was es hat, ohne jede schützende Vorkehrung zur Disposition der als Gesetzgeber fungierenden Gesamtheit stellt; tatsächlich ist kaum eine andere Partie in der Schrift in gleicher Weise angreifbar. Die Linie dieser Kritik fortsetzend, ist man in unserer Zeit so weit gegangen, dem Genfer eine Mitschuld an den Diktatursystemen des 20. Jahrhunderts anzulasten. Hierhin gehört J. L. Talmon mit seinem Buch „Die Ursprünge der totalitären Demokratie" gehört aber auch Bertrand Russell, der Hitler kurzerhand eine „Folgeerscheinung Rousseaus" genannt hat
Bei näherem Zusehen jedoch erweist sich der Verfasser des „Contrat" als „dauernder Mahner gegenüber der demokratischen Wirklichkeit", der von den Menschen fordert, „daß sie aus den Grenzen ihres partikularen Bewußtseins heraustreten und in das Wissen und die Verantwortung eines gehobeneren Daseins, in den Zustand des Bürgers und zugleich in die wahre Teilhabe an der Gemeinschaft hineinwachsen" (Max Imboden) Er hat gewußt, daß die Republik, um Bestand zu haben, geistig-sittlicher Kräfte bedarf. Und diese von ihm gewollte Republik nennt er „eine moralische Person, deren Leben in der Verbindung ihrer Glieder besteht". Was er auf solche Weise verneint, ist der vom Volke abgetrennt dastehende Staat; was er fordert, ist das Gemeinwesen, das in einem dauernden Zusammenwirken freier, nur ihrem Gewissen verpflichteter Bürger seinen Bestand hat. Im Deutschland des vorigen Jahrhunderts hat Otto von Gierke, der Historiker des Genossenschaftsrechtes, dazu aufgerufen, „den Staat in das Volk zurückzuverlegen" Noch überdauert hierzulande ein Etatismus, der im Staate ein eigenständiges, sozusagen personhaftes Wesen sieht. Wer sich dieser Auffassung widersetzt, was nicht das Bekenntnis zur iden-titären Demokratie im Sinne einer Aufgabe des Repräsentativsystems und der Gewaltenteilung bedeuten muß, ist Republikaner in der Nachfolge von Jean-Jacques Rousseau.