Der kaum heilbare Bruch im Selbstverständnis, den die DDR-Literatur während der Jahre 1975— 1978 erfuhr und der sich in absehbarer Zeit als für die innenpolitische Situation noch folgenschwerer erweisen wird als die Entdekkung der DDR-Wirklichkeit nach dem Mauerbau 1961, ist das unmittelbare Ergebnis einer kaum abtragbaren Hypothek auf dem kulturpolitischen Erbe Walter Ulbrichts, das Erich Honecker 1971 anzutreten hatte. Die einmalige Gelegenheit, nach dem Tod des doktrinären Amtsvorgängers im Sommer 1973 nicht nur — wie dann im November 1973 auch geschehen — den längst anachronistisch gewordenen „Bitterfelder Weg" zu verabschieden, sondern auch das von gegenseitigem’Mißtrauen erfüllte Verhältnis zwischen Schriftstellern und Parteifunktionären zu entspannen, verstrich ungenutzt. Auch die gern zitierte Leer-formel, ein DDR-Autor könne über alle Themen schreiben, wenn er nur immer „von der festen Position des Sozialismus" ausginge, half da nicht weiter. Weder wurden die seit 1965 und 1968 unerledigten Fälle des „Liedermachers" Wolf Biermann und des Lyrikers Reiner Kunze bereinigt noch durfte der Erzähler Werner Bräunig, der im August 1976 krank und verbittert in Halle-Neustadt starb, sein auf dem berüchtigten Dezemberplenum 1965 attackiertes Romanmanuskript „Der Eiserne Vorhang" veröffentlichen. Diese Beispiele stehen für viele andere Fälle der Diskriminierung von Schriftstellern, die nach einer grundsätzlichen Lösung drängten, von den für die Kulturpolitik Verantwortlichen aber hartnäckig ignoriert wurden.
Schon vor dem VII. Schriftstellerkongreß im November 1973 kehrten die Kulturfunktionäre zur bewährten Praxis der Autorenbeschimpfung zurück, als sie dem Lyrikband „Zaubersprüche" (1973) von Sarah Kirsch „Pessimismus" vorwarfen, wogegen Franz Fühmann freilich Einspruch erhob. Es zeugte auch nicht von kulturpolitischer Transparenz, die immer wieder von den Betroffenen gefordert wurde und die auch auf dem VIII. Schriftstellerkongreß vom 29. bis 31. Mai in Ost-Berlin nicht gewährleistet ist, sondern eher von Geheimdiplomatie im Stile des 19. Jahrhunderts, daß erst im März 1975, also anderthalb Jahre später, in den beiden Protokollbänden des Kongresses nachgelesen werden konnte, was da eigentlich hinter verschlossenen Türen diskutiert worden war, und auch das nur deshalb, weil einige verärgerte Schriftsteller auf Publikation ihrer Beiträge gedrängt hatten.
Was sich in den Jahren 1975/76, als mehrere aufsässige Autoren mit Veröffentlichungsverboten und Westreisesperren bestraft wurden, inoffiziell vorbereitete und was dann zur Entstehung einer äußerst kritischen Untergrund-literatur und zur vom Politbüro verfügten Ausbürgerungswelle 1976/77 führte, konnte man ansatzweise schon an zwei Veröffentlichungen des Sommers 1974 — dem Roman von Stefan Heym über den Aufstand vom 17. Juni 1953 und dem Roman von Max Walter Schulz über die Sowjetokkupation der Tschechoslowakei vom 21. August 1968 — ablesen. Während den auf Absicherung ihrer Machtposition bedachten DDR-Behörden ein gegen die Prager „Konterrevolution" gerichtetes Buch höchst genehm war, wurde das andere, das ein noch immer verbotenes Thema berührte, zur „illegalen" Literatur erklärt und konnte nur in einem westdeutschen Verlag erscheinen.
Parteilegenden 1953 und 1968
Bei Stefan Heyms Roman „Fünf Tage im Juni" (München 1974) handelt es sich um die 1972/73 umgearbeitete Fassung eines schon 1959 mit dem Titel „Der Tag X" abgeschlossenen Manuskripts, worüber Robert Havemann in seiner Autobiographie „Fragen, Antworten, Fragen" (München 1970) mitteilte: „Mein Freund Stefan Heym hat die Vorgeschichte und den Ablauf des Volksaufstandes vom 17. Juni in einem Roman dargestellt... Aber das Buch durfte nicht veröffentlicht werden. Ich war damals entschieden für die Veröffentlichung. Inzwischen habe ich meine Meinung geändert. Stefan Heym sollte der Partei dankbar sein, daß , Der TagX’ nie erschienen ist. Heym übernimmt nämlich die grundfalsche offizielle Lesart, wonach der , 17. Juni’ ein von den westlichen Geheimdiensten organisiertes konterrevolutionäres Unternehmen war."
Was der Verfasser bei der Umarbeitung des Buches, das vom Verlag als „ehrliche Auseinandersetzung eines DDR-Bürgers mit den Ereignissen um den 17. Juni 1953" (Umschlag) angeboten wird, Abstrichen läßt an vornahm, sich nur vermuten. Er selbst erklärte in einem Gespräch mit der „Stuttgarter Zeitung" vom 18. Oktober 1974: „Denn ich fand jetzt eine Menge von Mängeln literarischer Art. Und da stellte ich fest, daß ich in der Zwischenzeit doch auch einiges politisch gelernt hatte, daß ich zu Erkenntnissen gekommen war, hauptsächlich über die Widersprüche im Sozialismus, die es ja gibt.“
Daß es sich dabei um den Widerspruch zwischen den politischen Wünschen der Bevölkerung und dem aufgezwungenen System des Staatssozialismus handelt, wird bei der Lektüre dieses ansonsten enttäuschend langweiligen, spannungsarmen und streckenweise fast unlesbaren Romans deutlich, wobei anzuerkennen ist, daß der Autor seine ursprüngliche These von der „faschistischen Provokation", auf der noch die Erstfassung basierte, heute nicht mehr vertritt. Dennoch läßt er eine Anzahl aus West-Berlin eingeschleuster Schlägertypen, Strichjungen und Nutten als Aufwiegler und Agenten in Aktion treten, die mit Sicherheit andere Ziele verfolgten als die streikenden Bauarbeiter der Stalinallee, die aber doch nur, wie auch die Plünderungen zahlreichen durch DDR-Kriminelle, periphere Bedeutung hatten. Hätte Stefan Heym die Handlung in die DDR-Provinz verlegt, zum ins Beispiel sächsische Industrierevier bei Halle-Merseburg-Bitterfeld, dann wäre die auch noch in der Zweitfassung angedeutete Agententheorie unhaltbar gewesen und die Frage, warum denn Arbeiter gegen eine angebliche Arbeiterregierung streiken konnten, hätte schlüssiger beantwortet werden müssen. Der Autor, der sich im Laufe der Jahre eine 3 000 Schreibmaschinenseiten umfassende Materialsammlung über den 17. Juni erarbeitet hat, hält sich genau an den historischen Ablauf, verlegt aber die Handlung in eine fiktive Ost-Berliner Fabrik: Am 28. Mai wurden die Arbeitsnormen um 10 Prozent heraufgesetzt, worauf es zu Unruhen und Arbeitsniederlegungen kam, die am 16. Juni, als in einem Artikel der Gewerkschaftszeitung „Tribüne" die Normerhöhung gerechtfertigt wurde, zum Spontanstreik Ost-Berliner Arbeiter führten, der rasch auf die Republik Übergriff. Auf einer Kundgebung vor dem „Haus der Ministerien" wurde Fritz Selbmann niedergeschrieen. Am 17. Juni, als politische Forderungen nach Rücktritt der Regierung und freien Wahlen laut wurden, griff die russische Besatzungsmacht über 13 ein; 000 Verhaftungen und mehrere Todesurteile folgten.
Um seinen Roman, der sich in ein Vorspiel, 63 Kurzkapitel und ein Nachspiel gliedert, einen möglichst authentischen Anstrich zu geben, hat Stefan Heym den Text durch einmontierte Zitate aus Zeitungen, Rundfunksendungen und politischen Kommentaren aufgelockert. Das alles ist sicher richtig zitiert, aber wenig beweiskräftig. Wichtiger ist das Verhalten der Belegschaft vom Sonntag, im „VEB Merkur"
den 13. Juni, als auf einem Betriebsausflug die neuen Normen diskutiert werden, bis zum Mittwoch, den 17. Juni, als die Arbeiter wie unmündige Kinder, die auf verbotenen Wegen ertappt wurden, von einem Gewerkschaftsfunktionär in die Fabrik zurückgeführt werden. *) GL-Vorsitzender Martin Witte, der sich in der Normenfrage zuerst mit den Arbeitern solidarisierte (welche Funktion eine echte Gewerkschaft haben sollte, wird hier über-deutlich!) und deshalb den Betrieb nicht mehr betreten darf, ist schließlich gegen den Streik und für die Partei und wirft den Arbeitern die „Das alten Schlagworte an den Kopf: Sein formt das Bewußtsein ... das gesellschaftliche Sein . . . und es gibt Schwierigkeiten bei der Bewußtseinsbildung." Ihm ist schlicht unvorstellbar, daß in der DDR gestreikt wird („Streik gegen wen? Gegen euch selber?"), wenn ihm auch manchmal Zweifel an seiner Funktion kommen: „Verdammter Widerspruch, in dem ich mich finde: die ich verteidigen soll, bedrohen die Macht, die ich verteidigen muß." Neben ihm steht der BPO-Vorsitzende **) Wilhelm Banggartz, der auch leere Phrasen drischt: „Wenn du die Republik stärkst, stärkst du dich selber!", und immer dann, wenn er nicht mehr weiter weiß, die „Staatssicherheit" einschaltet. Die politisch interessanteste Gestalt ist aber der Sozialdemokrat August Kallmann, das „Musterbild des ehrlichen, etwas hilflosen Arbeiters", der allerdings, so will es der Autor, vom SPD-Ostbüro zu politischen Aktionen verführt wird. Er organisiert am 17. Juni eine Protestdemonstration, obwohl die Partei in der Normenfrage längst Zugeständnisse gemacht hat. Der Marsch durchs Fabriktor unter dem Absingen von Arbeiterkampfliedern wie „Brüder, zur Sonne, zur Freiheit!", dem Martin Witte, der über erstaunlich gute Beziehungen zu russischen Offizieren verfügt, machtlos und aufgeregt zusehen muß, gehört zu den stärksten Szenen des Romans.
Schließlich tauchen schemenhaft russische Panzer in Ost-Berlin auf, und der Rest der Handlung gerät zur Politidylle: Agent Fred Gadebusch verschwindet in West-Berlin, nachdem seine Freundin, die Nachtklubtänzerin Gudrun Kasischke, von einer russischen Kugel getroffen wurde; Agent Heinz Hofer, Sohn eines SS-Offiziers, wird verhaftet; die Arbeiter aber, durch gutes Zureden wieder friedlich geworden, wollen auf keinen Fall den „Aufbau des Sozialismus" versäumen. Nach dem gescheiterten Aufstand gefällt sich Martin Witte, der sehr gut weiß, daß das DDR-System nicht politisch legitimiert ist und der deshalb im Auftrag einer imaginären Revolution zu handeln vorgibt, als Schönredner. Während die Flüchtlingszahlen ansteigen und die Zuchthäuser sich füllen, philosophiert er, an seinen Schreibtisch gelehnt, vor sich hin: „Die Weltgeschichte hat sich den Spaß erlaubt, von uns zu verlangen, daß wir den Sozialismus in einem Drittel eines geteilten Landes aufbauen, und das mit Menschen, die sich den Sozialismus keineswegs alle gewünscht haben."
Man wird Stefan Heym schwerlich den Vorwurf machen können, daß er Kommunist ist. Darin, daß er die russische Intervention befürwortet, unterscheidet er sich kaum von Max Walter Schulz. Daß er mit seinem Buch ost-westliche Legenden zerstören will, ist anzuerkennen. Zu bemängeln ist allerdings, wenn er aus dieser Sicht schönfärbt: Die gewaltige Verhaftungswelle nach dem 17. Juni, ein Racheakt vom „Volk" enttäuschter Funktionäre, verschweigt er vollkommen. Ein August Kallmann wäre hier nicht unter zehn Jahren Zuchthaus weggekommenl Außerdem sollte man sich fragen, ob das Thema diesen Aufwand überhaupt lohnt: Die Legende vom „faschistischen Putschversuch", die Stefan Heym zerstören will, ist zählebig und für die SED auf lange Zeit unverzichtbar.
Wichtig ist das Buch, das heute ebenso zur heimlich importierten Untergrundliteratur gehört wie Volker Brauns „Unvollendete Geschichte" (1975), aber deshalb, weil cs die Denkprozesse bei DDR-Intellektuellen erkennen läßt, die schon 1961 einsetzten, aber erst nach 1971 zum literarischen Manifest werden konnten. Was hier gefordert wird, ist eine Revision des offiziellen Geschichtsbilds, die nicht auf den 17. Juni 1953 beschränkt bliebe, sondern auch den 13. August 1961 und den 21. August 1968 erfassen könnte, zumal als der eigentliche Held der Geschichte in diesem Roman die selbstbewußte Arbeiterklasse auftritt, die die unfähigen Funktionäre einer „Arbeiterpartei" einfach zur Seite schiebt. Deshalb wird der Staatsapparat, der um seine Machtpositionen fürchtet, immer die Schriftsteller als „progressiv" und „sozialistisch" ausgeben, die das parteiamtlich beglaubigte Geschichtsbild illustrieren wie Max Walter Schulz mit seinem Roman „Triptychon mit sieben Brücken" (Halle und München 1974).
Die Fabel dieses überaus geschwätzigen Buches, dessen Einband der siebenfarbige Regenbogen der Verheißung schmückt, ist denkbar einfach: Am 21. August 1968 passieren sowjetrussische Panzereinheiten das Dorf Siebenhäuser im Erzgebirge (wobei verschwiegen wird, daß auch DDR-Truppen an der Invasion beteiligt waren!), wodurch den SED-Genossen Dr. Rudi Hagedorn, Germanist und Dozent an einem Leipziger Institut („Er schreibt in einem Kollektiv über Macht und Geist der herrschenden Arbeiterklasse") und seiner Frau Lea Hagedorn, Lehrerin, die Rückfahrt mit ihren Kindern nach Leipzig versperrt bleibt. Ihre unterschiedliche Reaktion auf diese „brüderliche Hilfe“ für die Tschechen und Slowaken, die zur Besetzung ihres Landes keineswegs eingeladen hatten, führt zu einer zwei Tage lang anhaltenden Ehekrise.
Rudolf Hagedorn nämlich, der 1956 über Friedrich Hölderlin promovierte und 1968 als bornierter Parteimann auftritt, bekennt sich bedenkenlos zum Einmarsch ins „sozialistische Bruderland", ohne informiert zu sein, was da überhaupt geschieht. Die militärische Aktion gegen die „Liquidatoren" des Sozialismus in Prag erscheint ihm als „das Notwendige", erst danach könne man „wieder aufatmen". Was im fernen Moskau im Namen des Sozialismus beschlossen wurde, ist ihm unbefragt höchste Offenbarung.
Seiner Frau Lea, Halbjüdin mit Konzentrationslagererfahrung, erschließt sich die politische Situation nicht so eindeutig. Sie verkraftet diese Art „Panzerkommunismus" (Ernst Fischer) nicht, verfällt statt dessen in heftige Weinkrämpfe und hat offensichtlich ihre, wenn auch nirgends klar artikulierten Zweifel am Moskauer Gewaltakt. Am Morgen des 21. August jedenfalls beschwört sie die russischen Panzersoldaten, nicht zuerst zu schießen. Für ihren politischen Argumenten unzugänglichen Ehemann und die stur sozialistische Dorfgemeinschaft stößt diese Bitte auf Unverständnis und wird als „staatsfeindlicher Akt", fast als Aufruf zur „Konterrevolution"
angesehen.
Die Folge von Leas schüchternem Versuch, eine eigene Meinung zu äußern, ist nicht nur Kopfschütteln beim erzgebirgischen Landvolk, sondern auch die rasche Reaktion der aufgeschreckten Partei. Der LPG-Sekretär zum Beispiel telefoniert umgehend mit der SED-Kreis-leitung, und eine eilends anreisende Partei-tante aus der Kreisstadt, die die Rotarmisten mit Suppe beköstigt, zeigt sich äußerst erregt. Lea wird überhaupt seit Jahren von ihrem engstirnigen Ehemann und seinem Uber-Ich, der Partei, psychisch und politisch unterdrückt. Als sie sich 1966 weigerte, eine Reise-gruppe ins frühere Konzentrationslager Buchenwald zu begleiten, weil sie dann in der Kaserne der SS-Wachmannschaft hätte übernachten müssen, witterte die Partei sofort „klassenfeindliches" Verhalten.
Als sie 1968 ohne Verlagsauftrag und nur für sich ein Buch aus dem Russischen, offensichtlich einen Bericht über stalinistische Verfolgungen 1941, übersetzen will, schreitet Ehemann und Genosse Rudolf rigoros ein: „Und außerdem sollten wir es aus parteilicher Einsicht unterlassen, bestimmte erschütternde Geschichten, die sich in diesem schrecklichen Jahr einundvierzig unter sowjetischen Menschen abgespielt haben, für uns zu übersetzen. Darüber zu reden und zu rechten steht uns nicht an. Besonders nicht in literarischen Diskussionen. Ich will nicht, daß du an diesem Buch weiterarbeitest. Und ich werde dir auch sagen, warum. Wir müssen uns darüber in aller parteilicher Härte einig werden: das sozialistische und das staatsbürgerliche Bewußtsein unserer Menschen hat sich, wenn wir ans Kriegsende zurückdenken und an die ständigen antikommunistischen Beeinflussungsversuche des Westens, auf breiter Basis stabilisiert. Und trotzdem erlaubt uns dieser für unwahrscheinlich gehaltene Erfolg in der Bewußtseinsbildung noch immer nicht, das typische Bild des Sowjetmenschen durch einzelne menschliche Tragödien, die es gegeben hat, zu erweitern."
Solche Argumente stellen der Überzeugungskraft der Staatsideologie des Marxismus-Leninismus ein recht dürftiges Zeugnis aus, ganz abgesehen davon, daß es die von westlichen Nachrichtensendungen völlig abgeschirmte und einseitig auf SED-Kurs getrimmte DDR-Realität nirgendwo gibt; vielmehr sind die DDR-Bürger bis in die Funktionärsschicht hinein sehr gut darüber informiert, was 1968 in der Tschechoslowakei geschah. Die hier publizierte Ignoranz gegenüber den tatsächlichen Vorgängen zeigt nur die Isolierung einer privilegierten „Klasse", in der solche Funktionärsliteratur gedeiht. Je mehr sich im Laufe der Jahre die Okkupation der Tschechoslowakei als politischer Fehler größten Ausmaßes erweist, desto mehr wird dieser Roman von der offiziellen Pflichtlektüre zur ignorierten Makulatur absinken.
So quälend zu lesen dieses Buch in seiner umständlichen Erzählweise und seiner verquollenen Sprache auch ist, so informativ bis zur Denunziation der Funktionärskaste ist es als Lehrstück in politischer Psychologie. Man sollte diese Klassenkampfprosa nicht als Stück heruntergekommener DDR-Literatur lesen, sondern als Psychogramm eines aus dem Bürgertum in die „Neue Klasse" (Milovan Djilas) der DDR-Prominenz aufgestiegenen Ideologen, der krampfhaft bemüht ist, der Partei seine durch und durch „sozialistische" Gesinnung vorzuführen. Aus dieser unsäglichen Mixtur: „Klassenverrat" am Bürgertum plus Verherrlichung des Sowjetimperialismus plus „machtgeschützte Innerlichkeit" (Thomas Mann) entstand dieser als Literatur getarnte Politschmöker, welcher der Bitterkeit und Ehrlichkeit der Prag-Gedichte eines Reiner Kunze weit unterlegen ist.
Literatur der „aufsteigenden Klasse"
Diese beiden Romane von Stefan Heym und Max Walter Schulz sind nicht nur zwei politisch einschneidenden Ereignissen in der Geschichte Europas gewidmet, deren 25. und 10. Jahrestag 1978 begangen wird, ihre Veröffentlichung 1974 bildet zugleich auch den Schnittpunkt zwischen den kulturpolitischen Konzeptionen Walter Ulbrichts und Erich Honekkers, auch wenn die seit 1971 propagierte Gesprächsbereitschaft rasch wieder in die alte Restriktionspolitik umschlug. Bis zum Herbst 1976 aber läßt sich ein Nebeneinander zweier Literaturstränge feststellen, von denen der eine — die Funktionärsliteratur vom Schlage eines Erik Neutsch und Max Walter Schulz — in der fast tausend Seiten starken „Geschichte der Literatur der Deutschen Demokratischen Republik" (1976) ihren staatlich sanktionierten Ausdruck fand.
Blättert man in diesem von einem siebenundzwanzigköpfigen Autorenkollektiv unter Leitung von Horst Haase, Hans Jürgen Geerdts, Erich Kühne, Walter Pallus erarbeiteten Jahrhundertwerk des Ost-Berliner Verlags „Volk und Wissen", so hat man den Eindruck, daß derart dickleibige Kompendien die lebende Literatur mit einem Überangebot parteilicher Interpretationen und marxistischer Literatur-theorie einnebeln und ersticken sollen. Die Vorstellung, daß sich die Literaturentwicklung verselbständigen und nicht nach Plan verlaufen könnte, scheint die Parteigermanistik zu bedrücken. Deshalb auch wurde von den Kulturplanern des Politbüros das Fehlen einer DDR-eigenen Geschichte der DDR-Literatur seit mehreren Jahren beklagt. Noch auf dem VII. Schriftstellerkongreß äußerte Hermann Kant als Vizepräsident des Verbands seinen Mißmut über das Versagen der Germanistenriege, was er eine „peinliche Angelegenheit" nannte. Peinlich war diese Angelegenheit deswegen, weil die beruflich mit Literatur befaßten DDR-Bürger mit der längst überholten „Deutschen Literaturgeschichte in einem Band" (Ost-Berlin 1966) von Hans Jürgen Geerdts, die zudem nur bis 1964 reichte, nicht mehr arbeiten konnten und zunehmend auf die ideologisch suspekten Werke des „westdeutschen Klassenfeinds" angewiesen waren, auf die Bücher von Konrad Franke (1971), Fritz J. Raddatz (1972), Hans-Dietrich Sander (1972), Werner Brettschneider (1972) und Manfred Jäger (1973).
Diese offensichtliche Diskrepanz zwischen westdeutschem Überangebot und hauseigenem Mangel verschreckte die Kulturfunktionäre, die hier „ideologische Diversion" witterten, was den Parteigermanisten Hermann Kähler zu der wirren These verführte, die er später in seiner Kampfschrift „Der kalte Krieg der Kritiker. Zur antikommunistischen Kritik an der DDR-Literatur" (Ost-Berlin 1974) zu begründen suchte, daß hier „Literatur als Dekkung" mißbraucht würde „für eine publizistische Schlacht gegen den Sozialismus und die Politik der revolutionären Arbeiterpartei" (Hermann Kähler), zumal solche Literaturkritik verfaßt würde „von unseren politischen Widersachern ... von Experten in Sachen DDR, deren Hauptlegitimation darin besteht, einmal aus dieser entlaufen zu sein" (Hermann Kant). Solche Politängste einiger Abgrenzungsideologen scheinen nun ausgeräumt zu sein, nachdem im Mai 1976 „Zu Ehren des IX. Parteitages der SED", wie ein beigelegter Zettel eigens vermerkte, und „besonders gefördert durch das Institut für Gesellschaftswissenschaften beim ZK der SED" die „erstmals vom marxistischen Standpunkt ausführlich und geschlossen" (Vorwort) erarbeitete Gesamtdarstellung der DDR-Literatur 1945— 1974 erschien, die nun für Jahrzehnte mit allen Verdikten und Euphemismen das offizielle Standardwerk zur „sozialistischen deutschen Nationalliteratur" bleiben soll. Obwohl das Buch als elfter Band einer „Geschichte der deutschen Literatur" geführt wird, für die noch ein zwölfter über die westdeutsche Literatur vorgesehen ist, wird man davon ausgehen dürfen, daß aus der Konzeption des Gesamtwerks allen nicht-sozialistischen Literaturen deutscher Sprache als „ideologischer Ausdruck" einer „untergehenden Gesellschaftsordnung" nur noch marginale Bedeutung zukommt: DDR-Literatur gilt als zukunftsträchtige Ausformung deutscher Gegenwartsliteratur schlechthin, sie ist die Literatur der „aufsteigenden Klasse".
Schon in der Einleitung wird dieser wirklichkeitsfremde Dualismus ausdrücklich bestätigt: Das Buch behandelt die „Vorbereitung, Entstehung und Entfaltung der sozialistischen Nationalliteratur der Deutschen Demokratischen Republik", die „ständig heftigen Anfeindungen durch den Imperialismus ausgesetzt" sei, aber gleichwohl unbeirrbar ihren „Klassenauftrag" erfülle. In Westdeutschland dagegen existiere eine von „Klassenwidersprüchen zerrissene Literatur", die immer nur die grausame „Wirklichkeit des Imperialismus widerspiegelt". Solcher auf die Literaturentwicklung übertragene Geschichtsdeterminismus, der sich als materialistische Wissenschaft ausgibt, zwingt die Verfasser andauernd dazu, Daten der politischen Geschichte, der Kulturpolitik und des Literaturprozesses gleichzuschalten. So sind die drei Hauptabschnitte, die auf die politökonomischen Planphasen bezogen werden, jeweils unterteilt in „Gesellschaftliche Entwicklung und Literaturverhältnisse" einerseits sowie „Wirklichkeitsverhältnis und literarische Gestaltung" andererseits, wobei man freilich über die Periodisierung der DDR-Literatur durch die verschiedenen SED-Parteitage streiten kann.
Die auffallend nüchterne, fast distanzierte Einschätzung des „Bitterfelder Weges" (1959/64) unter der nichtssagenden Überschrift „Neue Impulse für das literarische Leben" läßt sich nur daraus erklären, daß diese Literaturbewegung eine Schöpfung des längst vergessenen Walter Ulbricht (1893-1973) war, der im ganzen Buch nur einmal, für das Jahr 1948, erwähnt wird. Erstaunlich ist auch, daß der Mauerbau von 1961 und seine Folgen für die Literatur völlig ignoriert werden, weshalb man sich, um einer Diskussion auszuweichen, mit ungenauen Daten behilft: Man spricht lieber vom „Anfang der sechziger Jahre" als vom 13. August 1961. Dabei dürfte doch bekannt sein, daß eine kritische DDR-Literatur, die die Bitterfelder „Kulturoffensive" nach 1959 rasch neutralisierte, erst nach der gewaltsamen Abriegelung und der Konfrontation mit der DDR-Realität entstehen konnte. Ein ähnlich einschneidendes Datum für die Literatur war der Amtsantritt Erich Honeckers im Mai 1971, den man als „Beginn der siebziger Jahre" umschreibt. Man sieht, daß die materialistische Konzeption des Buches gerade dort, wo sie angebracht wäre, nicht angewandt wird.
Selbstverständlich arbeiten die Verfasser auch anderswo mit der „Liquidation der Fakten" (Walter Hinck), wo diese die Geschichtsvision einer klassenlosen Gesellschaft widerlegen könnten. Fast immer fehlen — ihr Beitrag zur DDR-Literatur mag noch so bedeutend gewesen sein — die Namen der Autoren, die in schnöder Undankbarkeit den „Arbeiterund Bauernstaat" verließen, wie etwa Gerhard Zwerenz 1957, Uwe Johnson 1959, Christa Reinig 1964, Hartmut Lange 1965. Wo eine Erwähnung unumgänglich ist, wird abgewertet: Alfred Kantorowicz, im Sommer 1957 geflohen, gilt als „späterer Renegat"; Wolfgang
Hädecke und Peter Jokostra, die 1957/58 weggingen, dürfen sich „bürgerliche Lyriker" nennen; Manfred Bieler, der 1967/68 über Prag nach München kam, vertrat schon 1965 „antisozialistische Positionen". Sachlicher wiederum sind die drei Seiten über Peter Hüchel, der im April 1971 ausgewiesen wurde und in „Meyers Taschenlexikon Schriftsteller der DDR" (Leipzig 1974) noch nicht vorkam, wenn man auch die Bemerkung nicht unterdrücken konnte, daß er „kein produktives Verhältnis" zum „Sieg der sozialistischen Produktionsverhältnisse" fand. Auch Hans Mayer, der 1963 seinen Leipziger Lehrstuhl aufgab (und dessen Wirkung auf die DDR-Literatur beträchtlich war), muß sich vorwerfen lassen, eine „ahistorische, klassenindifferente Konzeption in Literaturfragen" vertreten zu haben.
Politische Zensuren werden auch an Schriftsteller ausgeteilt, die anderweitig Schwierigkeiten mit ihrem Staat hatten: daß Erich Loest zum Beispiel sieben Jahre im Zuchthaus Bautzen saß, wird verschwiegen; daß Peter Hacks'Stück „Die Sorgen und die Macht"
(1962) bis heute verboten ist, kommt nicht vor; daß Werner Bräunigs Romanmanuskript unveröffentlicht blieb, wird nicht erwähnt, auch wenn heute zugegeben wird: „Bei der Durchführung der auf der 11. Tagung gefaßten Beschlüsse kam es zu einzelnen Überspitzungen und Fehlern." Immerhin wird Wolf Biermann, was heute wie ein Anachronismus erscheint, auf zweiundzwanzig Zeilen genannt, wenn ihm auch „prinzipielle Gegnerschaft zum realen Sozialismus" nachgesagt wird. Daß drei Romane Stefan Heyms unter Walter Ulbricht verboten waren, daß Volker Brauns letzte Stücke erst unter Erich Honekker aufgeführt werden durften, daß Reiner Kunze fünf Jahre Berufsverbot hatte („verzerrtes Bild der sozialistischen Gesellschaft"), daß Rainer Kirsch wegen seines Dramas „Heinrich Schlaghands Höllenfahrt" (1973) aus der SED ausgeschlossen wurde — nach solchen Informationen sucht man in diesem Standardwerk vergebens! Statt dessen bekommt man seitenlange Auskünfte über die schreibenden Kulturfunktionäre Hermann Kant, Erik Neutsch, Max Walter Schulz geboten. Dieses von Parteigermanisten geschriebene Kompendium, das Walter Ulbricht kaum nennen möchte und seine kulturpolitische Konzeption überwunden zu haben vorgibt, ist dem engen Literaturverständnis der fünfziger Jahre noch auf jeder Seite verpflichtet.
Magdeburger Realismus
Jenseits dieses Literaturdirigismus gibt es aber eine sich seit siebzehn Jahren immer stärker bemerkbar machende Strömung gegenoffizieller Literatur, die von einer ideologisch fixierten Literaturgeschichtsschreibung nicht erfaßt oder aber umgedeutet wird, weil sie ihren Ursprung in der Krise der DDR-Gesellschaft seit dem Mauerbau 1961 hat. Denn schon ein knappes Jahr vor dem Erscheinen des offiziellen Standardwerks, das noch eine ganze Reihe von Autoren verzeichnet, die 1976/77 zur Emigration gezwungen wurden, erschien in der Literaturzeitschrift „Sinn und Form", deren Chefredakteur sinnigerweise der Altstalinist Wilhelm Girnus ist, Volker Brauns äußerst kritische Erzählung „Unvollendete Geschichte". Dieses brisante Stück DDR-Prosa von 39 Seiten, das bei Suhrkamp in Frankfurt am Main inzwischen in einem Taschenbuch vorliegt (1977), in DDR-Büchereien aber kaum noch aufzutreiben ist, stammt von einem Autor, der 1945 erst sechs Jahre alt war, der Staatspartei SED also Schulbildung, Studium, Aufstieg und Dichter-ruhm verdankt — womit der Vorwurf, hier würden ideologische Restbestände „bürgerlichen" Denkens konserviert, nicht mehr verfängt:
Am 23. Dezember eines ungenannten Jahres — es könnte sich um 1974 handeln — hat der „Ratsvorsitzende des Kreises K." mit seiner achtzehnjährigen Tochter Karin eine Aussprache, ihren politisch unzuverlässigen Freund Frank betreffend („er müsse sie warnen"), der wie sein Vater vorbestraft und zudem auch noch in eine dunkle Sache verwickelt sei, über die er, Karins Vater, nicht sprechen dürfe; Karin solle sich jedenfalls von Frank schleunigst trennen („das ist für uns untragbar").
Die immer folgsame Funktionärstochter will sich dem väterlichen Gebot, so vage auch die Andeutungen über „gewisse Dinge”, die „vieles oder, im schlimmsten Fall, alles in ihrem Leben ändern könnten", gewesen sein mögen, nicht widersetzen. Telephonisch kündigt sie Frank das Liebesverhältnis auf und fährt in die Bezirkshauptstadt M. (gemeint ist Magdeburg), um ein Volontariat bei der SED-Bezirkszeitung (Mageburger „Volksstimme") anzutreten, trifft sich aber heimlich mit ihrem Freund, der als Fernmeldetechniker arbeitet: „Sie überlegten angestrengt, was man ihm vorwerfen könnte, es fiel ihnen nichts ein."
Schließlich lesen sie noch einmal die Briefe durch, die ein republikflüchtiger Schulfreund aus Westdeutschland schrieb, der einen noch unentdeckten Fluchtweg wußte: „Das war zu lächerlich, sie suchten andere Sätze, aber fanden nichts, das den Verdacht erhärten konnte. Das konnte es nicht sein."
Aber der Verdacht ist da. Daß Frank von der „Staatssicherheit" überwacht wird, ist offensichtlich. Als SED-Kandidatin Karin, die inzwischen für das Bezirksorgan Parteitagsreden redigiert, an Frank einen Brief abschickt, denkt sie voller Angst daran, „daß er gelesen werden könnte". In den folgenden Tagen wird ihr sozialistisches Weltbild einer harten Bewährungsprobe ausgesetzt, bis es schließlich vollends in die Brüche geht. Bisher nämlich hatte sie ihre DDR-Mitbürger immer nur in zwei Kategorien aufgeteilt: in solche, die vom Sozialismus überzeugt waren, und in solche, die noch überzeugt werden mußten: „Es gab dann noch eine dritte Position, aber die war ganz verloren. Das war die feindliche. Mit dem Feind diskutierte man nicht." Nun aber öffnet ihr der Gewissenskonflikt zwischen ihrer „parteifeindlichen" Liebe zu Frank einerseits und ihrer sozialistischen Erziehung andererseits die Augen für die DDR-Wirklichkeit. Sie entdeckt auf einmal, daß es Zensur gibt, weil die kritische Rede einer Arbeiterin in der Bezirkspresse nicht abgedruckt wird; als sie ihrem Parteisekretär die Briefe Franks aushändigt, bekommt sie Berufsverbot („Zur Bewährung in die Produktion. Aber was für ein Denken, dem das als Strafe gilt?"); bei ihrem Vorgesetzten findet sind weder Verständnis noch die vielgepriesene Menschlichkeit, sondern zerstörendes Mißtrauen; auch von ihrem karrieresüchtigen Vater und ihrer parteifrommen Mutter fühlt sie sich verraten.
Was dieses „ungewöhnlich kritische und pessimistische Bild der DDR" (so der „Spiegel" vom 22. Dezember 1975), das in dieser Erzählung geboten wird, für Westleser (DDR-Bürgern dürften die Tatsachen vertraut sein) so aufschlußreich macht, ist der bei der Heldin jäh einsetzende Entpolitisierungsprozeß, der die Politpädagogik der DDR zum realitätsfremden Abstraktum degradiert: „Sich nicht herauslocken lassen. Nicht außer sich geraten, um bei sich zu bleiben. Abstumpfen. Du mußt hart bleiben. Abstumpfen, um bei Sinnen zu bleiben !.. Sie spürte eine ungewohnte, exotische Versuchung, sich vom gesell-21 schaftlichen Leben abzukehren, ihre Ideale zu vergessen, ihre Aufgaben wegzuwerfen. Und in die bekannte Gleichgültigkeit zu fallen, die politische Abstinenz, die sie sonst verachtet hatte." Als sie nun mit ihrem Privatleben selbst in Schwierigkeiten gerät, sieht sie die Wirklichkeit komplexer und stößt auf den Gegensatz zwischen Ideologie und Realität: „Sich politisch entwickeln, hieß nicht gleich, sich menschlich entwickeln, das mußte sich widersprechen. Sie war ganz starr vom Denken. Ihr Kopf schmerzte."
Fast sollte man ihr diesen dornenvollen Weg, der sie endlich zum Denken führt, gönnen.
Denn als Funktionärskind hat sie das Delikt „Republikflucht" — das es, allen Menschenrechten widersprechend, seit dem 11. Dezember 1957 gibt — als Ausdruck sozialistischer Gesetzlichkeit interpretieren gelernt; nun gehört sie selbst zu den Betroffenen und sieht die privilegierte Funktionärskaste, zu der auch ihre Eltern gehören, aus kritischer Distanz: „Diese dicken und dünnen Beamten, denen der Schweiß ausbricht, wenn sie etwas verantworten sollen! Denen ihr Amt lieber ist als Gebrauch davon zu machen. .. Die ihre Rechte verteidigen, statt daran zu denken, sie allen zu verschaffen!"
„Kafkaeske" Tradition
Die Erzählung Volker Brauns, die heute zur in der DDR verbotenen Literatur zählt, weil die innenpolitischen Zustände, gegen die sie gerichtet ist, weiterhin zur Tagesordnung gehören, mag in ihrer unmittelbaren Kritik an den Staatsorganen und in ihrer uneingeschränkten Parteinahme für die Opfer ein Sonderfall sein, wobei sicher auch die ansonsten staatstreue Haltung ihres Verfassers bei der Veröffentlichung ins Gewicht fiel. Andere Autoren wie Klaus Schlesinger oder Erich Köhler stellen sich der Wirklichkeit nur mittelbar, verfremden sie bei der literarischen Aufarbeitung, weichen aus in Alptraumwelten oder utopische Bereiche, erklären aber gerade dadurch die Alltagswirklichkeit im Sozialismus, der keine Alternativen anbietet, für höchst ungenügend.
Klaus Schlesingers drittes Buch „Alte Filme"
(1975), im Untertitel eine „Berliner Geschichte" genannt, ist dem Rostocker Lektor Kurt Batt (1931— 1975) gewidmet, was fast einem Gütezeichen gleichkommt. In dieser Erzählung wird mit verhaltener Trauer vom vergeblichen Ausbruchsversuch eines Schlossers berichtet, der sich über die Betriebsakademie zum Teilkonstrukteur im Transformatoren-werk Schöneweide qualifiziert hat, dadurch aber die Verbindung zur Arbeiterklasse verliert und mit dem sozialistischen Alltag nicht mehr zurechtkommt. Dabei geht es nur vordergründig um die Wohnungsnot, die den proletarischen Aufsteiger Günter Kotte in seiner privaten Existenz einschränkt, sondern um die niederdrückende Enge des Lebens im „realen Sozialismus" überhaupt, gegen die an manchen Fernsehabenden eben nur die scheinbar befreiende Ersatzwirklichkeit alter Unterhaltungsfilme aus den zwanziger Jahren hilft.
Aber gerade diese Flucht in die Scheinrealität löst in Günter Kotte einen tiefen Konflikt aus: Eines Abends nämlich gibt sich die Unter-mieterin Jeske, deren störender Husten noch nachts in der hellhörigen Wohnung zu vernehmen ist, als die junge Schleiertänzerin zu erkennen, die in einer Szene des eben laufenden Films auftritt. Nun beginnt sie ausschweifend von ihren Liebhabern und ihren Auslandsreisen vor fünfzig Jahren zu erzählen, was Günter Kotte so verstört, daß er erkrankt und der Arbeit fernbleibt. Er irrt einige Tage durch Ost-Berliner Straßen, steht unschlüssig an der Mauer, die ihm den Blick versperrt, läuft in der DDR-Provinz einem fremden Mädchen nach und gerät am Wochenende in eine Gruppe junger Leute, die in einem Freiraum abseits der Politik leben, wo sie zwanglos nur sie selbst sein wollen. Als Günter Kotte eine Nacht mit dem Mädchen Ulla verbracht hat, gewinnt er ein solches Übermaß an Lebensfreude, daß er freiheitsdurstig in den Brunnen am Alexander-platz steigt und die Säule erklimmt, was von der unverständigen „Volkspolizei" freilich als grober Unfug ausgelegt wird.
Danach wird alles fast wieder wie vorher. Von der Kaderleiterin im Betrieb wegen seines „unüberlegten Dummenjungenstreiches" zurechtgewiesen und mit Kulturaufgaben betraut, ordnet sich Günter Kotte ein in den täglichen Arbeitsablauf und sieht abends zu-hause im Fernsehen alte Filme, jetzt aber mit einer unerklärlichen und kaum zu bezwingenden Erregung, die ihn ahnen läßt, daß es noch andere Lebensmöglichkeiten gibt. Dieses Prosastück will nicht belehren oder aufklären, sondern nur an einem beliebigen Schicksal vorführen, wie das verläuft, was man „Entfremdung im Sozialismus" nennen könnte. Günter Kotte begreift durchaus nicht, was ihm zustößt, leidet aber unter der Verkümmerung seines Lebens und versucht, sich mit seinen Mitteln dagegen zu wehren. Daß diese Mittel untauglich sind, diese Erkenntnis führt ihn, wie der Schluß zeigt, einen kleinen Schritt weiter. Aufschlußreich ist die Rezeption dieser Erzählung durch die DDR-Literaturkritik. Lotte Meyer zum Beispiel interpretiert in „Neues Deutschland" vom 24. Januar 1976, die gesellschaftskritischen Akzente verkennend oder unterschlagend, munter an den Absichten des Autors vorbei und nimmt die Verzweiflung des jungen Arbeiters nicht wahr. Die existenziellen Ängste, die nicht Ausdruck „sozialistischer Gesellschaftsordnung" sein dürfen, werden privatisiert und mit Entwicklungsschwierigkeiten der Romanfigur erklärt: „Die Geschichte des Kotte weist auf eine wichtige Frage in unserer Gesellschaft hin: daß junge Leute Bewußtsein und Ziel erst finden müssen. Mir scheint aber, der Autor stellt viele Fragen, doch läßt er in ihrer Beantwortung Konsequenz vermissen. Er führt, zumindest verbal, die Ursache für Kottes Unbehagen auf seine noch eintönige Arbeit zurück."
Die Alptraumwelt Ost-Berlins ist auch das Thema mehrerer Erzählungen im vierten Buch Klaus Schlesingers „Berliner Traum" (1977), nur werden hier die politischen Umstände, die Reaktionen der Figuren auslösen, deutlicher sichtbar. Die beiden wichtigsten Texte, die bei DDR-Lesern heftige Diskussionen ausgelöst haben dürften, beschäftigen sich mit dem Mauerbau 1961 und seinen Spätfolgen auf die Psyche der DDR-Bürger. Denn daß die Gewaltaktion vom 13. August 1961 ihre pathogenen Wirkungen hat, zeigt nicht nur das Buch „Die Berliner Mauerkrankheit" (1971) des geflüchteten Psychiaters Dietfried Müller-Hegemann, sondern wird hier auch literarisch verarbeitet. In der Fluchtgeschichte „Am Ende der Jugend" werden die Gewissensqualen eines jungen Mannes geschildert, der am 13. August — als er mit seinem Freund in einem wissenschaftlichen Institut eine unverschlossene Tür entdeckt, die auf West-Berliner Gebiet führt — für Sekundenbruchteile vor einer Entscheidung steht, die sein ganzes späteres Leben bestimmen wird. Was hier noch auf zwei Personen, von denen eine die Flucht vollzieht, während die andere wie betäubt zurückweicht, aufgeteilt ist, wird in der „kafkaesken" Erzählung „Die Spaltung des Erwin Racholl", dem Glanzstück des Bandes, einer einzigen Figur aufgebürdet. Es ist das Protokoll einer im Traum vollzogenen „Republikflucht", die nicht nur mit schlechtem Gewissen, sondern schließlich auch mit Bewußtseinsspaltung erkauft wird: SED-Mitglied Racholl, der von heute auf morgen den Posten seines Chefs übernehmen soll, ist dem jähen Aufstieg nicht gewachsen. Als er an seinem 35. Geburtstag mit der Stadtbahn zur Dienststelle fährt, landet er gegen seinen Willen in West-Berlin. Seine vergeblichen Versuche, den Rückweg zu finden, führen ihn in eine Vorstadtkneipe, in deren Hinterzimmer über sein unwürdiges Verhalten ein strenges Parteigericht veranstaltet wird. Das klingt nach Traumlogik und surrealistischer Prosa, doch läßt der Autor die Frage offen, ob hier ein Alptraum, aus dem der Held schweißgebadet erwachen wird, oder nachprüfbare Realität vorliegt. Die Folgen jedenfalls sind eindeutig: Racholl trifft sich selbst in der Stadtbahn, die Diagnose der Schizophrenie bestätigt sich.
Einen Krankheitsfall, wenn auch mit positivem Ausgang, analysiert auch Erich Köhler in seiner utopisch anmutenden DDR-Satire „Der Krott“ (1975), die bereits 1970 im Manuskript vorlag und zuerst im West-Berliner Rot-buch-Verlag erschien. Geschildert wird der Krankheitsfall des Kultursekretärs Paul Jordan, der beim Tauchen im Baggersee vom Krott, einem wallnußgroßen Käfer, befallen wird, worauf seine Denkfähigkeit unermeßlich gesteigert wird. Der Krott pflegt sich nämlich an der Schädeldecke seiner Opfer festzusaugen und durch ein heimtückisches Gift die sozialistisch eingefahrenen Gedankenbahnen zu stören. Diese Bewußtseinsstörung, von der Umwelt kaum registriert, äußert sich in utopischen Wachträumen von einer „kommunistischen Weltrepublik", in der es ganz anders zugehen wird als im grauen DDR-Sozialismus von heute: „Es gibt keinen Klassenantagonismus, keine gegensätzlichen Gesellschaftssysteme, höchstens noch Rudimente vernunftwidriger Verhaltensweisen und hie und da ein paar abenteuerliche Restfeinde." Um aber dieses hehre Ziel zu erreichen, ist recht umständliche Kleinarbeit nötig. Die beginnt für Paul Jordan schon mit der Rekapitulierung des tagtäglichen Leerlaufs seiner im Grunde ziemlich überflüssigen Tätigkeit als Kulturfunktionär, steigert sich dann zu vorwitziger Sprachkritik an den unsäglichen Politformeln des „Betriebskollektivvertrages" und der Protokolle des VII. Parteitages (April 1967) und findet schließlich ihren sichtbaren Ausdruck in Rundgängen durch den Betrieb, um die seit Jahrzehnten verfestigte Entfremdung zur Arbeiterklasse aufzuheben.
Trotz zaghafter Ansätze bleibt die Kritik am „realen Sozialismus", die sich aus der utopischen Sicht des unerwartet Erkrankten hätte entwickeln können, seltsam unkonkret: Wozu die neuen Gedanken, Wunschvorstellungen, Wahngebilde, die das Euphorie verbreitende Käfergift auslöst, überhaupt notwendig sind, bleibt unersichtlich, zumal schon eine einfache Portion gesunden Menschenverstands ausreicht, den DDR-Sozialismus als ein in jeder Beziehung gescheitertes Unternehmen zu erkennen. Die angeblich segensreiche Wirkung des Krott, der schließlich durch einen Hammerschlag auf die Schädeldecke zertrümmert wird, sprengt den Dunstkreis des Funktionärshorizonts nicht. Es bleibt nur die schale Sehnsucht nach einer technischen Utopie, die den Menschen von heute mit seinen Sorgen, Ängsten, Verzweiflungen ausklammert.
Helsinki und die Folgen
Wenn man auch die seit 1971 stärker hervorgetretenen Manifestationen einer kritisch gewordenen DDR-Literatur nur bedingt als Vorläufer einer politischen Opposition verstehen kann, so zeigt doch die überaus heftige Reaktion von Partei und Staatsorganen auf die nicht nur in Ost-Berlin (Wolf Biermann, Thomas Brasch), sondern auch in der DDR-Provinz wie Greiz (Reiner Kunze), Jena (Jürgen Fuchs), Dresden (Siegmar Faust) seit Jahren existente Unterströmung gegenoffizieller Literatur, die mit ungedruckten und im Ringtauschverfahren verbreiteten Manuskripten von sich reden machte, daß man die Gefahr für den Bestand des Systems genau erkannt hatte und ihr mit administrativen Mitteln zu begegnen suchte. Wie die zahlreichen Verhaftungen und Ausbürgerungen seit dem Sommer 1975 — als in Helsinki die KSZE-Schlußakte unterzeichnet wurde, auf die sich jetzt jede DDR-Opposition berufen kann — beweisen, fürchtet man weniger eine leicht auszuschaltende Opposition von „Einzelkämpfern", die man ohne Aufsehen für Jahre in den Zuchthäusern verschwinden lassen kann, als vielmehr solidarische Aktionen unzufriedener Gruppen. Daß der Literatur hierbei in einem Land, das keine freie Presse kennt, eine besondere Rolle zufällt, steht außer Frage. -Es geht längst nicht mehr um Wolf Bier-mann, der im November 1976 ausgebürgert wurde, oder um Reiner Kunze, der im April nach 1977 Bayern emigrierte, oder um Sarah Kirsch, die im August 1977 nach West-Berlin umzog, oder um Jurek Becker, der im Dezember 1977 mit einem auf zwei Jahre befristeten Visum ausreisen durfte, sondern um die mit aller Gewalt versuchte Eindämmung einer Oppositionsbewegung, die sich auf die humanitären Vereinbarungen von Helsinki beruft.
Daß die literarische Opposition, die nicht mehr zu taktieren bereit ist, sondern den „gesellschaftlichen Auftrag" rundweg verweigert, von dieser Strafaktion besonders betroffen ist, erklärt sich aus der wichtigen Funktion, die der SED-Staat dem kulturellen über-bau bei der Ideologisierung des öffentlichen Bewußtseins zuschreibt.
Das nichtliterarische Umfeld dieser Opposition reicht von marxistischen Systemkritikern wie Rudolf Bahro (Ost-Berlin) und Helmut Warmbier (Leipzig), deren Verhaftung man noch als innerparteiliche Aktion, mit der Fraktionsbildung verhindert werden sollte, verstehen kann, über die anonyme Verfassergruppe des im Dezember 1977 im „Spiegel" veröffentlichten „Manifests" bis zum Hilferuf des Leipziger Lektors Rolf Mainz: „Genossen, kommt doch zu uns" in der „Zeit" vom 1. Oktober 1976, der dem Verfasser neun Jahre Zuchthaus einbrachte: „Daß man Menschen töten kann, ohne sie physisch zu liquidieren, ist freilich keine Erfindung der realsozialistischen Autokratie, aber sie hat die Lizenz unerhört perfekt weiterentwickelt. Der Krieg währt nun schon 30 Jahre. Sein erfahrenster General heißt Totschweigen. Berufsverbote gibt es hier nicht, sie werden weder offiziell ausgesprochen noch öffentlich diskutiert. Was es öffentlich nicht gibt, existiert nicht. Die DDR ist frei von Berufsverboten. So ist es nur legitim, daß die Berufsverbotenen frei sein wollen von der DDR."
Zu diesem Umfeld gehören auch Bürgerrechtler wie die Gruppe um den Riesaer Arzt Karl-Heinz Nitschke und den Ost-Berliner Professor Hellmuth Nitsche, die Widerstandstätigkeit in den Kirchen beider Konfessionen, die Erich Honecker kürzlich zu Zugeständnissen zwang, und die in der Selbstverbrennung des Pfarrers Oskar Brüsewitz im Sommer 1975 in Zeitz gipfelte; und dazu gehört auch die Opposition bei der Jugend, deren kritischste Köpfe seit Jahren andauernden Verfolgungen ausgesetzt sind.
Wie wenig hier sozialistische Erziehung an Schule und Universität gegen die tagtäglich erfahrene Realität auszurichten vermag, zeigen die in Westzeitungen veröffentlichten Lebenszeugnisse von Nico Hübner (geb. 1956) und Helgard Krumm (geb. 1954), die einen derart ausweglosen Pessimismus offenbaren, daß ein Großteil der offiziellen DDR-Literatur, die auf einen staatlich verordneten Optimismus verpflichtet ist, auf den Leser so wirkt, als wäre sie in der obrigkeitsstaatlichen Biedermeierzeit geschrieben worden.
Nico Hübner, der am 14. März 1978 verhaftet wurde, weil er als Ost-Berliner den „Ehrendienst" in der „Nationalen Volksarmee" verweigerte, ist der Sohn eines Dozenten an der SED-Parteihochschule „Karl Marx" und einer Redakteurin am „Berliner Rundfunk". In seiner gesellschaftskritischen Studie geht er auf die Situation eines DDR-Bürgers ein, der einen Ausreiseantrag gestellt hat und nach einem alternativen Wertsystem zum Marxismus-Leninismus sucht, das für ihn die Philosophie Arthur Schopenhauers ist, dessen Werke in der DDR verboten sind: „Mir dient die Beschäftigung mit der Philosophie Arthur Schopenhauers als Wehr gegen äußere Schikanen und zur Erleichterung der Bürde einer Isolation, einer fehlenden Geborgenheit. , Meine Philosophie hat mir nichts eingebracht, aber sie hat mich vor vielem bewahrt', sagte Schopenhauer über sich selbst. Diese Funktion hat sie auch heute in der DDR. Seine Philosophie kann am besten begriffen werden, wo ich lebe. Das Leben stellt sich dar als ein fortgesetzter Betrug, im kleinen wie im großen. Was es versprochen, so hält es nicht; es sei denn, um zu zeigen, wie wenig wünschenswert das Gewünschte war: So täuscht uns also bald die Hoffnung, bald das Gehoffte'. Dieser objektiv-pessimistische Standpunkt kommt der Wahrheit in der DDR näher und behält trotzdem für positive Überraschungen noch einen Platz frei. Vielleicht ändert sich doch noch einmal etwas, und die blutige Grenze durch Deutschland wird unblutig überschritten werden können. Meine Haltung bewahrt mich vor Luftschlössern und daher allzu tiefen Enttäuschungen. So mache ich mich darauf gefaßt, den Strafvollzug eines Regimes von innen kennenzulernen, denn es ist möglich, jeden Kritiker und jeden Antragsteller einzusperren. Ich will mich nicht einem System beugen, das sich nur durch totalitäre Bewußtseinsmanipulation, durch Bespitzelung von (Anders-) Denkenden, durch Erpressung und Verleumdung an der Macht halten kann." (Abgedruckt in: „Die Welt" vom 31. März 1978). Ähnlich verlief das Leben Helgard Krumms bis zu ihrer Verhaftung im Oktober 1977, nur daß sie nicht aus einem kommunistischen Elternhaus stammte. Wegen ihrer Wahrheitsliebe hatte sie schon während der Schulzeit Schwierigkeiten und war während ihrer Ausbildung zum Facharbeiter 1970 ständigen Diskriminierungen ausgesetzt. Da sie ihre christliche Überzeugung nicht verleugnen wollte, war sie mehrmals arbeitslos und durfte auch ihren Urlaub nicht im sozialistischen Ausland verbringen. Nach mehreren Vorladungen zur „Staatssicherheit" und nach Konfiszierung ihres Personalausweises litt sie unter starken Depressionen und stellte daraufhin im März 1977, als sie als Hilfspflegerin in einem Evangelischen Kinderheim arbeitete, ihren ersten Ausreiseantrag. Als auch der dritte Antrag unbeantwortet blieb, schrieb sie einen ausführlichen Bericht über ihre hoffnungslose Situation, der im Oktober 1977 in der „Frankfurter Allgemeinen" veröffentlicht wurde: „Auch zunehmende Aggressivität und extreme Stimmungsschwankungen als Folge dieser Erlebnisse muß ich mir öfter vorhalten lassen. Neben dieser Angst steht noch die unüberwindliche Verzweiflung über mein Schicksal, über dieses Leben, in dem ich kein Ziel und Sinn mehr erblicken kann. Schon zuviel kostbare Zeit meiner Jugend mußte ich opfern, und so werde ich eines Tages über mein ganzes Leben resümieren müssen, wenn ich nicht jetzt etwas unternehme, um diesem Leben seinen Sinn zurückzugeben, mir noch einige berufliche und private Wünsche und Sehnsüchte zu erfüllen versuche. Dies alles scheint hier unmöglich. Seit anderthalb Jahren habe ich keinen Personalausweis, den ich auch im folgenden Jahr nicht zurückerhalten werde. Meine Freundschaften werden gewaltsam zerstört. Verwandte und Bekannte im Ausland darf ich nicht sehen. Ich bin nun bald 24 Jahre alt und müßte eigentlich schon wesentliche Konzeptionen für das Leben angelegt und mit ihrer Realisierung begonnen haben. Statt dessen zerschlagen sich alle Pläne. Zukunftsaussichten gibt es nicht. Einstige Lebens-25 freude weicht mehr und mehr dem Pessimismus. Wie soll ich eine Familie haben können, Kinder, für die das Leben hier nach meinen Erfahrungen unzumutbar sein muß? ... In völliger Hilflosigkeit und Verzweiflung sende ich Ihnen diesen Bericht und bitte Sie, alle vorhandenen Möglichkeiten auszuschöpfen und mir zu helfen, dieser Sinnlosigkeit zu entkommen. Noch habe ich die Hoffnung, daß es einen Ausweg und irgendwo hilfreiche Menschen gibt, die ihn kennen. .. Es ist nur ein Versuch, denn noch möchte ich mich nicht selbst aufgeben müssen." (Zitiert nach dem Manuskript).
Reiner Kunze und Bernd Jentzsch
Als einziger DDR-Autor, der abseits des Literaturbetriebs im thüringischen Greiz lebte, hat sich Reiner Kunze mit seinem Buch „Die wunderbaren Jahre" (1976), dessen Veröffentlichung im Frankfurter Fischer-Verlag den kaum rehabilitierten Verfasser die Mitgliedschaft im Schriftstellerverband und die DDR-Staatsbürgerschaft im April 1977 kostete, der Situation der DDR-Jugend angenommen. Reiner Kunze war am 21. August 1968 aus Protest gegen die Sowjetokkupation der Tschechoslowakei aus der SED ausgetreten und daraufhin mit fünf Jahren Berufsverbot belegt worden. Seine Gedichtbände „Sensible Wege"
(1969) und „Zimmerlautstärke" (1972) wie das Kinderbuch „Der Löwe Leopold" (1971) erschienen nur in westdeutschen Verlagen. Erst im Herbst 1973 druckte der Leipziger Reclam-Verlag eine gereinigte Lyrikauswahl „Brief mit blauem Siegel" in zwei Auflagen von insgesamt 30 000 Exemplaren, die in kürzester Zeit ausverkauft waren. Was Reiner Kunze mit seinem bisher letzten Buch „Die wunderbaren Jahre", das auch auf die innenpolitische Situation in der Tschechoslowakei nach 1968 eingeht, auf sich genommen hat, erklärte er in seinem Brief an seine Verlegerin Monika Schoeller: „Nach Erscheinen des Buches rechnen wir, meine Frau und ich, mit jeder (wirklich: jeder) Maßnahme, die eine Regierung gegen einen Schriftsteller treffen kann. Wir hoffen, daß uns das Schlimmste erspart bleibt, aber ich bin auch darauf vorbereitet. Seien Sie jedenfalls versichert, daß ich meinen Teil gründlich bedacht habe."
In der Tat lesen sich diese knappen, auf die Pointe verkürzten Prosastücke, die dem Leser einen „einmalig schrecklichen Einblick" (Heinrich Böll) in die Verfassung eines Staates bieten, der die „reale Perspektive" für ganz Deutschland sein will, wie Illustrationen zu Oskar Brüsewitz'Aufruf: „Verderbt diese Jugend nicht!" Da wird von Oberschülern berichtet, die im Klassenraum eingeschlossen werden, damit sie nicht zur Beerdigung eines durch Selbstmord geendeten Mitschülers gehen können; das Tragen schwarzer Armbinden gilt da gleich als „staatsfeindlicher Akt"; ein Lehrling bekommt politische Schwierigkeiten, weil er in seinem Zimmer im Lehrlingswohnheim eine Bibel stehen hat; eine Schülerin wird „bürgerlicher" Neigungen verdächtigt, weil sie eine Nickelbrille trägt. — Das sind Streiflichter aus dem sozialistischen Alltag.
In Reiner Kunzes Buch wird von einer Studentin berichtet, die im Auftrag der „Staatssicherheit" den Jenaer Studenten Jürgen Fuchs, einen Freund Wolf Biermanns und Robert Havemanns, aushorchen sollte. Für diesen Auftrag sei sie zwei Tage lang von einem Spezialisten für DDR-Literatur geschult worden. Diesen Leuten dürfte es auch nicht schwer gefallen sein, das Pseudonym „CarlJacob Danziger" aufzudecken, unter welchem der Ost-Berliner Schriftsteller Joachim Chajm Schwarz seine Lebensbeichte 1950/69 „Die Partei hat immer recht" (1976) im Stuttgarter Werner-Gebühr-Verlag veröffentlichte. Der Autor, der eine Reihe verlogener Aufbauromane und Betriebsreportagen schrieb, der für die „Tägliche Rundschau" und „Neues Deutschland" arbeitete, bevor er angeblich erkannte, daß er seine besten Jahre für die falschen Ideale geopfert hatte, ist wegen seiner reichlich späten Einsichten eher zu bemitleiden als zu bewundern. Da kam er 1950 voll revolutionärer Hoffnung in das Land des DDR-Sozialismus, wurde aber wegen eines dunklen Punktes in der Kaderakte aus der Partei ausgeschlossen. Zerknirscht verlegte er sich aufs Bücherschreiben und lieferte „immer bereit" die erwünschte Verklärungsliteratur, die ihm ein materiell sorgenfreies Leben ermöglichte: „Hat er nicht schon 1951, ein Jahr, nachdem er aus Israel in die eben installierte DDR zog, geahnt, wohin das alles führen, wie das enden könnte?" (Heinrich Böll). Jedenfalls ist sein autobiographisches Buch, trotz aller Bitterkeit, nur der unreflektierte Lebenslauf eines Opportunisten, das Psychogramm eines Vielschreibers und Schönfärbers, den man aufs kulturpolitische Abstellgleis schob und der sich dafür rächen wollte. Aber auch dieser authentische Bericht, der durch Werner Heiduczeks Roman „Tod am Meer" (1977) ein fiktives Gegenstück bekam, ist Teil der im Entstehungsland ungedruckten DDR-Literatur, die vom Umdenkungsprozeß auch bei älteren Schriftstellern und ihrer Bereitschaft, die eigene Vergangenheit kritisch aufzuarbeiten, zeugt.
Es steht außer Zweifel, daß die Mehrzahl der offiziell anerkannten DDR-Schriftsteller mit der Wirklichkeit des Staates, in dem sie leben und arbeiten, vertraut sind. Belegstellen dafür ließen sich in zahllosen Gedichten, Theaterstücken, Erzählungen und Romanen finden. Aber wenn einzelne Schriftsteller nur für sich selbst und ihr umstrittenes, weil realistisches Manuskript einzutreten hatten, war der Verlagslektor, der zwischen Staat und Autor zu vermitteln hatte, in einer noch schwierigeren Position. Er gewann aus dem täglichen Umgang mit Autoren, die schreiben, aber kaum durften, ein nahezu umfassendes Bild der Vorgänge unten an der „Basis", derer sich die „sozialistische Nationalliteratur" nicht annahm. Durch Bernd Jentzsch, bis zum Herbst 1976 Lektor beim Ost-Berliner Verlag „Neues Leben", der im Dienstauftrag in die Schweiz gereist war, um eine Lyrikanthologie zu erarbeiten, und der von dort einen „Offenen Brief an Erich Honecker" abgeschickt hatte, worauf er ausgebürgert wurde, ist man annähernd informiert über das kulturpolitische Klima vor der Ausweisung Wolf Biermanns: „Es gab eine Menge Autoren, die allmählich zu Sorgenkindern geworden waren ... Zu Sorgenkindern der Leute, die über Druck oder Nichtdruck von Manuskripten oder die Aufführung oder Nichtaufführung von Stücken zu befinden haben. Heiner Müller gehört dazu, Peter Hacks, Stefan Heym, Christa Wolf und noch eine ganze Reihe von Autoren — die sind sozusagen ohne Lärm wieder integriert worden in das Ensemble der Literatur. Das waren sehr erfreuliche Dinge . . . . Mit dem VIII. Parteitag wurde der gordische Knoten zerschlagen, die zurückgehaltenen Manuskripte konnten nach und nach publiziert werden . .. Jetzt sind aber plötzlich wieder neue Bücher, Theaterstücke und Gedichte da. Jetzt haben sie wieder so ein Problem .. . und da stelle ich mir vor, daß es eine dritte Gruppe oder eine dritte Welle von Literatur geben wird, die genau das irgendwann, direkt oder indirekt, in ihren Romanen, Erzählungen und Gedichten widerspiegelt. Es wird erneut zu einem Stau kommen. Ich habe das Gefühl, daß das, was man immer gefordert hat, nämlich die Realitäten in der DDR zu beschreiben, daß das im Moment stark da ist und immer mehr an Umfang und auch an Qualität gewinnt — und das ist für gewisse Leute offenbar das Problem, daß sich die DDR in der Literatur und in der bildenden Kunst immer realistischer abbilden will ... Ich kenne eigentlich keinen Autor, der in völliger Opposition zum gesellschaftlichen System in der DDR steht, aber ich kenne eine ganze Reihe von Kollegen, die zu dieser oder jener Sache ihre eigene Meinung haben. Leider besitzen sie nicht die Möglichkeit, das in einer Zeitung in Form eines Artikels kundzutun und eine Diskussion darüber auszulösen, was ich für eine sehr gute Sache halte. Wenn Schriftsteller in Schwierigkeiten zu dem gesellschaftlichen System, in dem sie leben, gekommen sind, dann hängt das doch oft einfach mit ganz praktischen Sachen, die ihren Beruf betreffen, zusammen. Daß sie beispielsweise die Mitteilung bekamen, daß ihr Manuskript nicht erscheint oder ... daß ein Film, der produziert ist, nicht aufgeführt wird" (zitiert nach „Weltwoche" vom 2. Februar 1977).
Das alles klingt noch ziemlich harmlos gegenüber den Vorwürfen, die Bernd Jentzsch nach der Ausbürgerung Wolf Biermanns an die Kulturbürokratie seines Staates richtete und die ihm, falls er nach Ost-Berlin zurückgekehrt wäre, Zuchthaushaft eingebracht hätten, da er schon auf der Fahndungsliste stand: „In den Wochen und Monaten vor meiner Reise in die Schweiz haben sich in geradezu beängstigender Weise Vorfälle gehäuft, die den Satz von der . blühenden Kunst'wie einen Hohn erscheinen lassen. Ich besitze Informationen über Haussuchungen bei Schriftstellern, über anschließende stundenlange Verhöre durch Mitarbeiter des Staatssicherheitsdienstes, über die Beschlagnahmung von Manuskripten, Aufzeichnungen, Tagebüchern, Briefen und Büchern ... Es ist vorgekommen, daß Haussuchungen ohne Durchsuchungsbefehl versucht und nach einigen Stunden in Anwesenheit eines Staatsanwalts erzwungen worden sind. Zwei musikalisch-literarische Veranstaltungsreihen wurden verboten; eine der bekanntesten Beat-Gruppen wurde aufgelöst, die Mitglieder und der Texter der Gruppe, denen die Berufsausweise entzogen worden sind, erhielten unbefristetes Berufsverbot... Noch immer kommt es vor, daß DEFA-Filme nicht in das reguläre Kinoprogramm gelangen oder unaufgeführt magaziniert oder gar mit Salzsäure behandelt werden... Die Theater-stücke eines Autors, dem das DDR-Schrift-stellerlexikon bestätigt, ein . politischer Dichter von hohem geistigen und ästhetischen Niveau'zu sein, werden zum Teil überhaupt nicht oder nach einem halben Jahrzehnt in der Provinz aufgeführt ...“ (zitiert nach „Der Bund" vom 24. November 1976).
DDR-Literatur in Manuskriptform
Das Verfahren von Zensur und Selbstzensur, das einen literarischen Text verstümmelt, aber dennoch seit mehr als drei Jahrzehnten von der älteren Autorengeneration akzeptiert und praktiziert wird, findet bei einer Reihe jüngerer, um 1945 und später geborener Schriftsteller strikte Ablehnung, weil es die poetische Substanz ihrer Manuskripte zu zerstören droht. Sie weichen in den eng umgrenzten Freundes-und Bekanntenkreis aus, wo ihre Arbeiten diskutiert und „illegal" reproduziert werden, bis sie eines Tages, wie die Gedächtnisprotokolle von Jürgen Fuchs, bei einem westdeutschen Verlag ankommen. Der Vorgang allerdings, der zur Entstehung einer Untergrundliteratur führte, ist für DDR-Verhältnisse nicht neu: Die Vorarbeiten zu den beiden Romanen „Aufs Rad geflochten" (1959) und „Die Liebe der toten Männer"
(1959), die Gerhard Zwerenz nach seiner Flucht aus Leipzig (Sommer 1957) in Köln veröffentlichte, mögen schon 1956/57 unter dem Eindruck des „Tauwetters" entstanden sein; die Erstfassung des Romans „Mutmaßungen über Jakob" (1959) von Uwe Johnson lag dem Ost-Berliner Aufbau-Verlag vor, erschien aber aus politischen Gründen bei Suhrkamp in Frankfurt am Main; Christa Reinigs „Gedichte" (1963), für die sie 1964 den „Bremer Literaturpreis" bekam, Hartmut Langes Dramen, an DDR-Theatern nicht aufgeführt, Fritz Rudolf Fries'erster Roman „Der Weg nach Oobliadooh" (1966) erschienen nur in westdeutschen Verlagen; Peter Hucheis Lyrik wurde, während der Autor neun Jahre lang in Wilhelmshorst bei Potsdam im inneren Exil lebte, bis er 1971 ausreisen durfte, in zwei westdeutschen Ausgaben gedruckt; Stefan Heym konnte sich 1969/74 mit drei Romanen nur an die literarische Offentlichkeit hierzulande wenden; Günter Kunerts einziger Roman „Im Namen der Hüte“ (München 1967) erschien mit neunjähriger Verspätung im Land seiner Entstehung. In der Regel folgten die Autoren bis 1965 und in Einzelfällen auch danach ihren auf Umwegen nach Westdeutschland expedierten Manuskripten — wie die Lyriker Wolfgang Hädecke und Peter Jokostra 1958 — oder emigrierten zumindest ins sozialistische Ausland, wie der Erzähler Manfred Bieler, der 1967 wegen seines ungedruckt gebliebenen Romans „Maria Morzeck oder Das Kaninchen bin ich" (München 1969) nach Prag und von dort im Sommer 1968 nach München ging.
Es gibt auch Fälle, die ganz anders verliefen:
Der schon erwähnte Werner Bräunig resignierte und starb, nachdem sein Wismut-Roman bei Bergarbeitern auf Ablehnung stieß, verbittert im Sommer 1976 in Halle-Neustadt; und von Hermann Kant, dem Vizepräsidenten des DDR-Schriftstellerverbands, kam kein Einspruch, als die Vorveröffentlichung seines Romans „Das Impressum" (1972)
in der FDJ-Zeitschrift „Forum" 1969 ohne Angabe von Gründen abgebrochen wurde.
Neu an einer sich seit sieben Jahren artikulierenden Untergrundliteratur ist aber, daß ihre Verfasser „unvermischtes DDR-Produkt"
(Wolf Biermann) sind, die das sozialistische Erziehungssystem vom Kindergarten bis zur Universität und zur „Nationalen Volksarmee"
durchlaufen haben und nichts kennen außer dem tristen Angebot des „realen Sozialismus". Ihr „Proletariernachweis" ist kaum anfechtbar: ...... die Väter sind lupenreine Proletarier, möglicherweise Altkommunisten ... Die Söhne, ganz in der DDR aufgewachsen, im Glauben an den Sozialismus erzogen von der Familie, von Kindergarten und Schule. Mit zunehmender intellektueller Reife und engerem Kontakt mit der Arbeitswelt aufgrund der sogenannten . polytechnischen Erziehung'die ersten Zweifel. Dann ein Schlüsselerlebnis, das fast immer . Prag 1968'heißt und einen schier unheilbaren Bruch mit der SED bedeutet" (Karl Corino). Lebenserfahrungen aus der Sicht einer Klasse, die angeblich die herrschende ist, gemacht in einer Gesellschaftsordnung, die keine Alternative kennt, eingebracht schließlich in Literatur, die nicht gedruckt wird, sind unveräuB ßerlich. Weil sich diese Autoren weigern, am häuslichen Schreibtisch gegen geregeltes Einkommen, Altersversorgung und Priviegien wie Westreisen einen für die Partei akzeptablen Beitrag zur „sozialistischen Nationalliteratur" zu leisten, tauchen ihre Namen in keinem Literaturlexikon auf, zu öffentlichen Lesungen werden sie nicht eingeladen, von staatlichen Stellen nicht gefördert. Zu diesen Autoren gehören nicht nur Thomas Brasch, Siegmar Faust, Jürgen Fuchs, Gerald Zschorsch, deren Namen dem bundesdeutschen Zeitungsleser geläufig sind, sondern auch völlig unbekannte Leute in der Provinz, deren literarische Existenz sich nur dadurch ausdrückt, daß ihre Manuskripte heimlich abgeschrieben und weitergereicht werden: der im November 1976 verhaftete und inzwischen ausgewiesene Bühnenarbeiter Wolfgang Hinkeldey aus Jena; der Arbeiter Wolfgang Hilbig aus Meuselwitz bei Altenburg; der zweimal exmatrikulierte Pfarrerssohn Odwin Quast aus Magdeburg; der Lyriker Siegfried Heinrichs aus Leipzig, der nach seiner Zuchthaushaft jetzt in West-Berlin lebt; die im November 1976 verhafteten und im August 1977 ausgewiesenen Sänger und Liedermacher Christian Kunert und Gerulf Pannach aus Leipzig; der Architekt Wolf Deinert, der aus dem Zuchthaus Cottbus nach West-Berlin abgeschoben wurde; das Leipziger Ehepaar Heide und Gert Härtl, vom Literaturinstitut exmatrikuliert und aus der Partei ausgeschlossen; der Schauspieler Rudolf Koloc und die aus dem Schuldienst entlassene Lehrerin Ursula Großmann aus Dresden.
Was sich Wolfgang Hilbig in seinem Gedicht „Brief in eine andere Gegend" wünscht, nämlich offene Horizonte und die Möglichkeit, Weggehen zu dürfen, hat der 1951 in Plauen im Vogtland geborene Gerald Zschorsch — gegen seinen Willen — erreicht. Nach streng kommunistischer Erziehung durch seine Mutter, die noch heute als Jugendrichterin in Sachsen wirkt, und seinen Vater, der als Diplomat der Moskauer DDR-Botschaft angehört, revoltierte er wie zahlreiche Söhne von Parteifunktionären gegen den Einmarsch in Prag 1968, wurde zwei Tage später verhaftet und zu 18 Monaten Jugendstrafe verurteilt. Im Sommer 1972, als er am Stadttheater Plauen angestellt war und sein erstes Stück schrieb, folgen wieder zweite Verhaftung und Verurteilung zu fünfeinhalb Jahren Zuchthaus. Im Dezember 1974 wurde er, nachdem sich seine Eltern von ihm losgesagt hatten, aus dem Zuchthaus Cottbus nach Westdeutschland abgeschoben. In seinem ersten Buch „Glaubt bloß nicht, daß ich traurig bin" (West-Berlin 1977) sind die Eindrücke gesammelt, die der scharf beobachtende Autor im DDR-Alltag, im Zuchthaus und im westdeutschen Exil machte. Es sind Fragmente über die wachsende Desillusionierung durch den Staats-sozialismus bei den nach 1949 Geborenen. Das beginnt schon beim Entsetzen der Lehrer, als Schüler Zschorsch zum Fahnenappell in Blau-hemd und Blue Jeans erscheint. Später fährt er mit Freunden heimlich zur Autobahn, um die Papierkörbe auf den Parkplätzen zu leeren, in der Hoffnung, streng verbotene Westzeitungen zu finden. Oder er hört „illegal" eingeführte Schallplatten Wolf Biermanns oder hängt 1968 die Fahne der Tschechoslowakei aus dem Fenster, um an die deutsche Besetzung von 1938 zu erinnern. Da er sich seine Meinung nicht vorschreiben lassen will, stellt er im Geschichtsunterricht provozierende Fragen nach der russischen Beteiligung am Über-fall auf Polen 1939, was offiziell verschwiegen wird, worüber ihn aber sein Vater, ein ehemaliger Buchenwald-Häftling, aufgeklärt hat. Der Weg ins Zuchthaus scheint bei solcher Einstellung vorgezeichnet. Aber erst dort lernt er die ganze Wirklichkeit des „realen Sozialismus" kennen, die er dann in seinem Cottbusser Gefängnistagebuch beschreibt.
Am 18. Dezember 1974 wurde Gerald Zschorsch ausgewiesen — ins westliche Exil, in das er nicht wollte: „Ging auf dem letzten Meter DDR-Gebiet in Richtung Westen. Nach dreiundzwanzig Jahren wurde ich nicht mehr gebraucht, mußte ich mein Land verlassen."
Gefangen in Sachsen
Von Siegmar Faust, einem Dresdner Freund Wolf Biermanns und Volker Brauns, der zur selben Zeit im Zuchthaus Cottbus einsaß wie Gerald Zschorsch, existieren nur ein paar Gedichte und unveröffentlichte Romanmanu-skripte, von denen ein Teil in den Akten-schränken des Staatssicherheitsdienstes liegt. Er wurde 1944 in Heidenau bei Pirna geboren, besuchte die Oberschule in Dresden, machte 1964 Abitur und arbeitete danach ein Jahr in der sozialistischen Landwirtschaft. Die bedrückenden Zustände dort verhinderten jedoch nicht, daß er einen Aufnahmeantrag in die SED stellte: „Dazu gehörte ein unheimlicher Idealismus, denn dort zerbrachen schon meine Schulbuchweisheiten über die Arbeiterklasse, weil die Verhältnisse auf diesem Gut sehr rückschrittlich waren. Meine Eltern und Freunde verstanden nicht, wie ich überhaupt in die Landwirtschaft gehen konnte, wie ich es dort aushielte und warum ich dann noch in die Partei eintreten wollte."
Danach verdiente er seinen Lebensunterhalt als Kellner in der Sächsischen Schweiz, bis er im Herbst 1965 zum Studium der Geschichte und Kunsterziehung an der Leipziger Universität zugelassen und schon im Sommer 1966 wegen „Disziplinlosigkeit und politischer Unzuverlässigkeit" exmatrikuliert wurde.
Bis zum Sommer 1967 arbeitete Siegmar Faust, wie es der Bitterfelder Losung von 1959 „Schriftsteller in die Betriebe!" entsprach, als Viskosewäscher im sächsischen Kunstseidewerk Pirna und wurde von der Belegschaft dort zum Studium ans Leipziger Literaturinstitut delegiert, dem er Gedichte eingeschickt hatte. Dieses am 18. September 1955 eröffnete Institut untersteht dem Ost-Berliner Kulturministerium und gilt als Kaderschule für Nachwuchsautoren, die dort zu „DiplomSchriftstellern" ausgebildet werden. Wem dieses Prädikat verliehen wird, der darf sich zur Kulturelite im SED-Staat zählen.
Im Jahr 1968 freilich, während der Pariser Maidemonstrationen und der Prager Reformbewegung, schien das Vertrauensverhältnis zwischen Dozenten und Studenten des Instituts so tiefgehend gestört, daß überraschend ein Praktikum angesetzt wurde, um die politischen Diskussionen zu unterbinden. Siegmar Faust wurde in das Braunkohlenkombinat „Otto Grotewohl" nach Böhlen geschickt und erlebte unter den Arbeitern des westsächsischen Kohlenreviers eine ähnliche Unruhe, wie er sie vom Institut schon kannte. In dieser Situation schrieb Siegmar Faust seine „Ballade vom Schwelofen", die er im Betrieb vortrug und worin der 17. Juni 1953 erwähnt wurde. Diese öffentliche Lesung kostete ihn den Arbeitsplatz in Böhlen und den Studien-platz in Leipzig. Nach Wochen der Arbeitslosigkeit, die es im Sozialismus nicht gibt, wurde Siegmar Faust eines Tages vom Staatssicherheitsdienst zur Mitarbeit aufgefordert, was er, nach Rücksprache mit Volker Braun, ablehnte. Im September 1968 aus Leipzig ausgewiesen, kehrte er nach Heidenau zurück, war als Kellner und Transportarbeiter tätig, schrieb an seinem ersten Roman und gründete mit Freunden eine Laienbühne, die verboten wurde.
Durch Wohnungstausch gelang es ihm 1971, nach Leipzig zurückzukehren und in der Deutschen Bücherei eine Anstellung als Nachtpförtner zu finden. Dadurch hatte er Zugang zur täglich eingehenden Westliteratur, die in der Regel im „Giftschrank" landete. Bei einer überraschend vorgenommenen Haussuchung fand man bei ihm Briefe an westdeutsche Verlage und Vorarbeiten zu einer Anthologie verbotener DDR-Literatur, was zu seiner ersten Verhaftung am 27. November 1971 führte. Nach elf Monaten Untersuchungshaft, von denen er sieben Wochen in der psychiatrischen Anstalt des Zuchthauses Waldheim verbrachte, fiel er am 30. Oktober 1972 unter eine plötzliche Amnestie, wurde nach Heidenau ausgewiesen und in eine Papierfabrik als Fahrstuhlführer zwangsverpflichtet. Dort erlebte er die Verarbeitung von Westliteratur zu Wellpappe, darunter auch Heinrich Bölls Roman „Gruppenbild mit Dame", die die Zollorgane aus Westpaketen beschlagnahmt hatten; er wurde in den Dresdner Freundeskreis Wolf Biermanns aufgenommen. Immer wieder stellte er Ausreise-anträge. Nachdem er am 29. April 1974 am Schwarzen Brett der Papierfabrik einen Anschlag befestigt hatte, worin er sich auf die ihm verweigerten Menschenrechte berief, wurde er am 10. Mai zum zweiten Mal verhaftet und wegen „staatsfeindlicher Hetze" zu viereinhalb Jahren Zuchthaus verurteilt. Im Zuchthaus Cottbus kam Siegmar Faust im Februar 1975 wegen „psychologischer Kriegführung" in Einzelhaft. Auf Fürsprache Robert Havemanns, der sich brieflich an seinen Brandenburger Mithäftling vor 1945, Erich Honecker, wandte, wurde er am 22. Mai 1976 nach Heidenau entlassen. Er durfte nach Ost-Berlin übersiedeln und am 1. September 1976 in die Bundesrepublik ausreisen. Heute lebt er in Berlin-Kreuzberg und versucht, sich eine Existenz als Schriftsteller aufzubauen. Zur Zeit arbeitet er an einer sechsteiligen ZDF-Serie über „Christen im Sozialismus", die im Herbst 1979 gesendet wird.
Schlichte Wahrheiten
Den Namen des Vaters von Thomas Brasch, Horst Brasch, kann man in einem westdeutschen Handbuch „Namen und Daten. Biographien wichtiger Personen der DDR" (1973) finden. Dort bekommt man chronologisch aufgeschlüsselt, den steilen Aufstieg eines SED-Funktionärs geboten, der es immerhin bis zum ZK-Mitglied, Staatssekretär und stellvertretenden Kulturminister brachte. Im Sommer 1968 aber, dem Jahr der Sowjetinvasion in die Tschechoslowakei, wurde diese Karriere plötzlich unterbrochen: Horst Brasch wurde für zwei Jahre zur Parteischulung nach Moskau geschickt und 1970 in die Provinz zur SED-Bezirksleitung Karl-Marx-Stadt versetzt, was einer Degradierung gleichkam.
Die Erklärung dafür findet man im atypischen Lebenslauf des Sohnes Thomas Brasch, geboren 1945, der sich normenwidrig verhielt, weil er wie Bertolt Brecht die „herrschende Klasse", aus der er selbst stammt, zu durchschauen begann. Auf der Kadettenschule der „Nationalen Volksarmee" erzogen, ging er nach dem Abitur in Ost-Berlin für ein Jahr in die Produktion, bevor er in Leipzig Journalistik studierte. Wegen „Verunglimpfung führender Persönlichkeiten der DDR" und „existenzialistischer Anschauungen" wurde er 1965 exmatrikuliert; jetzt lernte er den „Arbeiter-und Bauern-Staat" aus der Sicht derer kennen, in deren Namen und angeblichem Auftrag die SED die Macht ausübt. Im Jahr 1967 zum Studium der Dramaturgie an der Film-hochschule in Potsdam-Babelsberg zugelassen, wurde er nach dem 21. August 1968 erneut exmatrikuliert, verhaftet und zu über zwei Jahren Gefängnis verurteilt, weil er mit sechs Freunden, darunter die Söhne Robert Havemanns, 1 500 Flugblätter gegen die Okkupation verteilt hatte, was seinen Vater Amt und Würden kostete. 1969 wurde er begnadigt und zur Arbeit als Fräser ins Ost-Berliner Transformatorenwerk „Karl Liebknecht" zwangsverpflichtet. Helene Weigel verschaffte dem angehenden Dramatiker 1971 eine Arbeitsstelle im Bertolt-Brecht-Archiv, die er 1972 wieder verlor. Bernd Jentzsch edierte 1975 in der Reihe „Poesiealbum" eine schmale Auswahl der mehr als 200 Gedichte Thomas Braschs, die rasch vergriffen war.
Diese biographischen Daten muß man kennen, wenn man den literarischen Wert seiner schmucklos erzählten, aber eindringlichen Geschichten „Vor den Vätern sterben die Söhne" beurteilen will; hier schreibt sich ein der Kulturbürokratie unerwünschter Autor, der den vielbeschworenen „Bitterfelder Weg" auf seine Weise ernst nahm, seine ganze Verzweiflung vom Herzen. In diesen Erzählungen wird nirgends, ohne daß dabei gegen den Staat polemisiert würde, Einverständnis mit der Gesellschaftsordnung vorgeführt oder eine „sozialistische Perspektive" aufgezeigt. Vielmehr geht es um vergebliche Fluchtversuche über die „Staatsgrenze West", um die bedrückenden Zustände an der „ökonomischen Basis", wo doppelt entfremdete Arbeit verrichtet wird: „Einmal herrscht da noch die alte Produktionsweise und zum andern eine Ideologie, die behauptet, es wäre eine neue". Es geht um die Verzweiflung eines entlassenen Häftlings, der mit Frauen nichts mehr anzufangen weiß: „Wie hätte ich ihr erklären sollen, daß die Stille der Einzelzelle einen Ring um das Herz legt und das Gehirn austrocknet, bis es wie ein ausgewrungener Lappen im Schädel begraben ist." Solche Erfahrungen, wie sie der Autor im Gefängnis und im Ost-Berliner Fabrikalltag sammeln konnte, lassen sich weder verdrängen noch als „Übergangserscheinungen" wegdiskutieren, sondern allenfalls literarisch fixieren, was, wie es in der Erzählung „Und über uns schließt sich ein Himmel aus Stahl" ausgedrückt wird, schon schwer genug ist: „Vielleicht hast du recht, sagte er, tatsächlich zerspringt mir der Kopf von all den Theorien, Systemen und historischen Gesetzmäßigkeiten, die ich gelernt habe. Sie wollen unseren Blick auf die angeblich großen Dinge lenken, damit wir unsere eigenen Erfahrungen nicht ernst nehmen. Wir dürfen auf die Barrikaden gehen, wenn es um Musik geht oder um Frisuren oder um Hosen ... " .
Thomas Brasch, dessen Theaterstücke vom Ost-Berliner Henschel-Verlag abgelehnt und dessen Prosatexte vom Rostocker Hinstorff-Verlag als „grobe Verzerrung der DDR-Arbeitswelt" bezeichnet wurden, wurde am 10. Dezember 1976 mit seiner Freundin, der Schauspielerin am „Berliner Ensemble" und Tochter Benno Bessons, Katharina Thalbach, nach West-Berlin ausgewiesen.
Literatur als „staatsfeindlicher Akt"
Der in der Bundesrepublik vor einem Dreivierteljahr noch völlig unbekannte Schriftsteller Jürgen Fuchs, 1950 in Reichenbach bei Zwikkau geboren, ein Freund Wolf Biermanns, Siegmar Fausts und Reiner Kunzes, wurde am 19. November 1976 in Ost-Berlin verhaftet. Sein unbeirrbarer, fast zwangsläufig erscheinender Weg ins Zuchthaus hat eine zweijährige Vorgeschichte, die man jetzt in seinen „Gedächtnisprotokollen" (Reinbek 1977) nachlesen kann. Er begann im Herbst 1974, als Jürgen Fuchs, dessen erste Gedichte in Bernd Jentzschs Anthologie „Auswahl 74" erschienen waren, in Heft 5 der Literaturzeitschrift „Sinn und Form" einen kritischen Beitrag zu Andreas Reimanns Aufsatz „Die neuen Leiden der jungen Lyrik" (Heft 2) lieferte. Während der Leipziger Lyriker Reimann nur den „Niedergang des Formbewußtseins" beklagt hatte, stellte der Jenaer Psychologiestudent Fuchs die provokatorische Frage: „Wie aber, wenn dieser verkommenen Form ein verkommener Inhalt entspricht?"
Die folgenden Stationen, von der Anklage („Schlag mitten ins Gesicht des Sozialismus") durch die Parteileitung der „Sektion Psychologie" bis zur Exmatrikulation („wegen Schädigung des Ansehens der Universität in der Öffentlichkeit") und deren Bestätigung durch den DDR-Ministerrat, hat er dokumentiert. Es sind authentische Texte von höchstem Informationswert: Aufzeichnungen von Verhören durch Partei-und Staatsorgane (leider wurde das „Gedächtnisprotokoll einer Befragung durch den Staatssicherheitsdienst" 'aus dem Rowohlt-Band „Wolf Biermann. Liedermacher und Sozialist", Reinbek 1976, nicht aufgenommen). Schuld an diesen ständigen Anhörungen sind die literarischen Versuche von Jürgen Fuchs, die in diesem Band manchmal kaum eine Seite füllen und die, auf halboffiziellen Veranstaltungen in der Provinz vorgetragen und „illegal" verbreitet, der immer wachsamen „Staatssicherheit" schon frühzeitig aufgefallen sein dürften. Das erste dieser achtzehn — an Reiner Kunzes letztes Buch erinnernden — Prosastücke (alle davor geschriebenen wurden aus Angst vernichtet) zeigt die verständnislose Reaktion der Eltern („Wir haben's weggetan, sagte sie, wir haben’s verbrannt") und den Vorsatz des Sohnes, sich von jetzt an nicht mehr der Selbstzensur zu unterwerfen. Also würde er es in Zukunft ablehnen, sich der „Sklavensprache" zu bedienen, geschweige denn, wie in dem Stück „Das Interesse" geschildert, seine Texte den Behörden zur Zensur einzureichen: „Wir sind wachsam, zeigen Sie uns Ihre Gedichte, bevor sie gedruckt werden, bevor sie gelesen werden, bevor sie gehört werden, bevor sie gelobt werden, bevor sie kritisiert werden, bevor sie geschrieben werden."
Jürgen Fuchs wurde zusammen mit Christian Kunert und Gerulf Pannach — allen dreien war mit zehn Jahren Zuchthaus gedroht worden — am 26. August 1977 nach West-Berlin abgeschoben. Unter dem Titel „Du sollst zerbrechen" berichtete er im Oktober/November 1977 im „Spiegel" über seine Hafterfahrungen.
Linguistische Verfremdungen
Hans Joachim Schädlich, 1935 in Reichenbach/Vogtland geboren, der vorerst letzte Autor, der im Dezember 1977 ausgebürgert wurde, arbeitete schon einige Jahre als Linguist an der Ost-Berliner „Akademie der Wissenschaften" und als Übersetzer in Berlin-Köpenick, ehe er zu schreiben und seine sehr präzise gearbeiteten Texte DDR-Verlagen anzubieten begann, die ihn zwei Jahre lang mit „Diskussionen" aufhielten und ihm schließlich „Umkehr und Besinnung" anempfahlen. Sein Buch „Versuchte Nähe" erschien dann im Sommer 1977 im Hamburger Rowohlt-Verlag.
Schon die Titelerzählung macht offenkundig, daß die zuständigen DDR-Lektoren überfordert waren, als sie diese minutiöse Schilderung einer Mai-Demonstration aus der Sicht des — scheinbar — vom Volk umjubelten Potentaten eines ungenannten Staates zu prüfen hatten. Dieser Mann, der dem Volk entfremdet und von Sprechchören umbrandet auf seinem Podest steht, trägt nicht von ungefähr die Züge Erich Honeckers. Ähnliche Bezüge zur DDR-Realität zeigt die etwas unbeholfene Skizze „Nachlaß", worin die Freund-Feindschaft zwischen Walter Ul-B bricht und seinem Staatsdichter Johannes R. Becher einen ernüchternden Einblick in die Zensurpraxis gibt, die erst nach dem Dichter-tod voll wirksam wird.
Dennoch bieten nur wenige Texte — da Namen und Daten nicht genannt werden — einen unverstellten Blick auf die DDR-Wirklichkeit, wie etwa „Schwer leserlicher Brief", in dem ein Arbeiter, der seinen kranken Vater in West-Berlin nicht besuchen durfte, nun erbittert einen Antrag auf Ausbürgerung stellt (...... ersuche ich hiermit Sie, auf der Liste der Einwohner mich auszustreichen"), oder „Unter den achtzehn Türmen der Maria vor dem Teyn", wo zwei DDR-Jugendliche am 22. August 1968 in Prag dem Westfernsehen ein Interview geben, mit dem Rücken zur Kamera selbstverständlich, worauf versierte Tontechniker des „Instituts für einheimische Sprache" nach den Besitzern der „zwei eingefangenen Stimmen" fahnden, um sie der „Staatssicherheit" zuzuführen; in den meisten Fällen aber bevorzugt der Autor die Verfremdung seiner Texte, macht sie unkenntlich durch historische Einkleidung und kommt dabei zu ganz überraschenden Ergebnissen. Die Erzählung „Letzte Ehre großem Sohn" zum Beispiel besteht nur aus der regierungsamtlichen Todesanzeige des russischen Außenministers 1896. Der byzantinisch schwülstige Stil der Lobeshymne auf den Verstorbenen aber ist ganz offensichtlich dem Tonfall kommunistischer Zeitungen bei Todesfällen nachempfunden — eine Sprachsatire, deren Modelle täglich im „Neuen Deutschland" nachzulesen sind. Auch der Text „Besuch des Kaisers von Ruß-land bei dem Kaiser von Deutschland" gegen Ende des 19. Jahrhunderts in Breslau und die beiderseitige Warnung vor der Gefahr des „Buddhismus" in Ostasien spricht aus, indem er verhüllt. Preußische und russische Geschichte scheinen dem Autor unerschöpfliches Arsenal für die Erhellung der Gegenwart zu sein.
Das Meisterwerk heißt „Satzsuchung" und behandelt , Selbstzensur und Uminterpretation der Wirklichkeit im Vorfeld der Berliner Mauer, vorgenommen durch den gelähmten Dichter Paul Scarron (1610— 1660), der über keine Wirklichkeitserfahrungen verfügt und sich deshalb am Fenster einen Reim auf die Umwelt zu machen sucht.
Übergänge: Volker Braun und Andreas Reimann
Es gibt freilich auch zwei Gegenbeispiele zur Untergrundliteratur, wo es der Partei halbwegs gelungen ist, ihre Ansprüche durchzusetzen: Volker Braun und Andreas Reimann. Durch seinen Essayband „Es genügt nicht die einfache Wahrheit" (Leipzig 1975 und Frankfurt 1976), der inzwischen vergriffen ist, wurde Volker Braun bei jungen Intellektuellen fast zur moralischen Instanz, auf die sich immer wieder oppositionelle Studenten beriefen, die vor der Exmatrikulation standen und sich strafweise in der Produktion zu bewähren hatten. Die Erzählung „Unvollendete Geschichte" (1975) schien eine Eroberung bisher verleugneter Wirklichkeitsbereiche anzudeuten. Doch seine Wortmeldung zum IX. Parteitag: „Denn in der Partei sind alle gleich; und deshalb vermag sie die Erfahrungen der verschiedensten Tätigkeiten und Ebenen zu bündeln zum revolutionären Plan“ und das nachträgliche Abrücken vom mitunterzeichneten Protestschreiben gegen die Ausbürgerung Wolf Biermanns zeigte wohl ein neues Einschwenken auf den offiziellen Kurs.
Noch augenfälliger ist die Entwicklung des Leipziger Lyrikers Andreas Reimann vom Jahrgang 1946, dessen Eltern 1953 Selbstmord begingen. Er kam in ein staatliches Erziehungsheim und schrieb schon mit fünfzehn Jahren frühreife Gedichte. Von Franz Fühmann gefördert, wurde er durch die Lyrikdiskussion 1964 bekannt; 1968 kritisierte er den Einmarsch in die Tschechoslowakei, wurde verhaftet, kam in die psychiatrische Anstalt des Zuchthauses Waldheim und wurde vorzeitig entlassen. In der Bundesrepublik wurden einige Gedichte 1966 in Peter Hamms Anthologie „Aussichten" gedruckt; 1975. erschien sein erster Gedichtband „Die Weisheit des Fleischs"; 1976 wurde ihm der Leipziger „Förderpreis für Literatur" verliehen. Dennoch zeigen sich auch bei ihm, lyrisch verschlüsselt, Zweifel am DDR-Sozialismus: „Luft! Und welche Worte nun, und wie, sagen, wem, und ohne Luft, der Strick, ist, der mich so würgt, Verzweiflung: ach, daß ich weiß, wir werden siegen, ist wenig tröstlich für die Witwen, weckt keinen Blitzlang die Toten auf.“ Es ist auch hier zu erwarten, daß diese noch verdeckte Sprache eines Tages umschlägt in die offene Aussage darüber, woher diese Erstikkungsängste kommen.
Vor dem VIII. Schriftstellerkongreß
Die Politik der Ausweisung und Verhaftung von Wolf Biermann im November 1976 über Jürgen Fuchs bis zu Hans Joachim Schädlich im Dezember 1977, die zu einer Beruhigung an der literarischen Front, das heißt zur Einschüchterung der Wortführer hätte führen sollen, bewirkte genau das Gegenteil: Die in der DDR verbliebenen Schriftsteller, besonders die Verfasser der Petition 1976 an Erich Honecker, zeigten sich verbittert und äußerten, sofern sie nicht wie Christa Wolf und Jurek Becker mit literarischen Plänen beschäftigt waren oder aber Proteste überhaupt für sinnlos hielten, ihren Unmut in der Westpresse. Am 16. Juli 1977 veröffentlichte Rolf Schneider, wenige Wochen vor der Ausweisung der Lyrikerin Sarah Kirsch im August, in der „Frankfurter Allgemeinen" sein Romanfragment „November", der das Schicksal der Ost-Berliner Schriftstellerin Natascha Roth behandelte. Der Roman selbst, der vom stellvertretenden Kulturminister Klaus Höpcke auf der Leipziger Buchmesse im März 1978 kritisiert wurde, blieb bis heute ungedruckt.
Die Serie der „Offenen Briefe", mit der sich mehrere DDR-Autoren im Sommer 1977 in der Presse des „Klassenfeinds" miteinander verständigten, wurde am 19. Juli 1977 mit Joachim Seyppels Schreiben an Jurek Becker, der aus dem Schriftstellerverband ausgetreten war, eröffnet. Joachim Seyppel, der erst im Herbst 1973 aus der Bundesrepublik nach Ost-Berlin übergesiedelt war, äußerte darin den Verdacht, Jurek Becker wolle die DDR verlassen und nach Israel auswandern. Auf diesen Brief antwortete nun aber nicht der Angesprochene, sondern Günter Kunert, und zwar in der „Zeit" vom 5. August 1977. Die Antwort fiel allerdings so verschlüsselt aus, daß man sich den Text erst übersetzen mußte:
„Der Theorie nach kulminiert alle vorangegangene Menschheitsgeschichte in der sozialistischen Gesellschaft, in welcher einstige Sehnsüchte und Bedürfnisse und Träume sowohl erfüllt als aufgehoben sind. Mit einem Satz: die Utopie ist prinzipiell realisiert; das Leben kann nur noch besser, noch schöner, noch reicher, noch vielfältiger werden. Doch die Verwirklichung im Reiche der euphorisch ignorierten Notwendigkeiten und falsch eingeschätzten massiven Realitäten bringt es mit sich, daß die Gegebenheiten sich häufig als die stärkeren erweisen und zu dominieren beginnen. Das bedeutet, da das Ideal nicht ohne Abstriche umgesetzt werden kann, daß die rapide zunehmende Anzahl von Abstrichen tabuiert wird. Und nun kommt der Schriftsteller daher, für den ausgerechnet das Spannungsverhältnis zwischen Ideal und Wirklichkeit ein Grundelement seiner Intentionen darstellt, und an ihm und seinem Werk wird die Kluft deutlich . .. Die Unterdrückung von Kritik, dem einzigen Korrektiv für die Funktionsfähigkeit von Gesellschaften — es gäbe keine bürgerliche mehr ohne sie — und die absolute Begriffsstutzigkeit für den erforderlichen Widerspruch, diesen Prüfstein der eigenen Theorie und Praxis, sie haben im Laufe von Jahren dazu geführt, daß jede abweichende Ansicht eo ipso als ein mit der . Waffe des Worts'vollzogenes Attentat gewertet wird."
In der „Frankfurter Rundschau" vom 11. August 1977 antwortete Joachim Seyppel auf Günter Kunerts Brief und schrieb im WestBerliner „Tagesspiegel" vom 28. August 1977, dem Tag ihrer Ausreise, einen „Eilbrief an Sarah Kirsch", auf den zwar nicht die ausgebürgerte Lyrikerin antwortete, wohl aber Stefan Heym, Günter Kunert und Heiner Müller, die alle den von Joachim Seyppel angegriffenen Stephan Hermlin verteidigten, der im November 1976 die Aktion zugunsten Wolf Biermanns koordiniert, sich später aber davon distanziert hatte. Im „Stern" vom 24. November 1977 griff Rolf Schneider noch einmal den Streit um Wolf Biermann auf und bekannte sich zur Petition vom November 1976, äußerte aber zugleich auch einige wirklichkeitsfremde Gedanken, die bei der Kulturbürokratie nicht auf Wohlwollen gestoßen sein dürften: „Unsere vor einem Jahr genährte Hoffnung, die DDR werde Wolf Biermann wieder Zutritt zu ihrem Territorium gestatten, war sicher utopisch, und sie ist utopisch geblieben. Blikke ich genau hin, ist sie heute etwas weniger utopisch als vor einem Jahr. Zu allen Zeiten war es das Geschäft der Marxisten, die Utopie der Wirklichkeit anzunähern und die Wirklichkeit der Utopie."
Das ist ein verwirrendes Spiel für den Betrachter von außerhalb, zumal Rolf Schneider am 28. April 1978 in der „Frankfurter Rundschau" wieder einen „Offenen Brief" abdrukken ließ, worin er sich über den SED-Ideologen Hans Koch beklagte, der ihm im „Neuen Deutschland" vom 15. April 1978 die sozialistische Gesinnung abgesprochen hatte. Klar wird aus dieser Korrespondenz nur, daß auch die DDR-Schriftsteller auf den öffentlichen Meinungsstreit angewiesen sind und sich das Recht dazu, wenn es ihnen nicht in den eigenen Medien zugestanden wird, außerhalb der Landesgrenzen suchen müssen.
Außerhalb der DDR-Grenzen erschien auch Jurek Beckers vierter Roman „Schlaflose Tage" (Frankfurt 1978), der den selbstverschuldeten Abstieg des Ost-Berliner Lehrers Karl Simrock zum halbwegs zufriedenen Arbeiter in einer Brotfabrik zeigt, weil ihm die Lust zur Anpassung fehlt. Er trennt sich von seiner Frau, wohnt bei Antonia, die von der Universität verwiesen wurde und in Ungarn einen Fluchtversuch unternimmt, und möchte seinen Selbsterziehungsplan als Versuch verstanden wissen, den „Zustand seiner Umgebung und seiner sozialistischen Hoffnungen" einander anzunähern.
Hier kämpft ein DDR-Bürger um seine verletzte Menschenwürde, womit dieser Roman an die Tradition der Bitterfelder Literatur um 1964 anknüpft. Die Schlüsselszene beschreibt den Versuch der Schulbehörde, den mit Berufsverbot bestraften Lehrer zu begnadigen: „Wie können Sie hoffen, ich entschuldigte mich für ein Unrecht, das man mir zugefügt hat? Wie können Sie von mir erwarten, daß ich Dankbarkeit für eine Demütigung aufbringe? Und vor allem: Wie können Sie sich einen Lehrer wünschen, der auf solche Angebote einzugehen bereit ist?"
Solche Bücher, unmittelbar vor dem VIII. Schriftstellerkongreß veröffentlicht, der für den 29. bis 31. Mai 1978 nach Ost-Berlin einberufen wurde, lassen den tiefen Konflikt erkennen, der im Herbst 1976 zwischen einer Gruppe international angesehener, aber dennoch ständig gedemütigter DDR-Autoren und einer selbstherrlichen Kulturbürokratie aufgebrochen ist. Dieser Konflikt wird noch dadurch verschärft, daß zum ersten Mal in der Verbandsgeschichte seit 1952 die Gruppe der „Unruhestifter", wozu Christa Wolf, Franz Fühmann, Stefan Heym, Günter Kunert, Klaus Schlesinger gehören, zum Kongreß nicht zugelassen wurden. Bei Christa Wolf mag noch erschwerend ins Gewicht fallen, daß ihr bei Funktionären umstrittener Roman „Kindheitsmuster" (1976) einige auf die DDR-Gegenwart bezogene Passagen enthält; so schreibt sie zum Beispiel über den Selbstmord eines Lehrers mit seiner Freundin am 1. Februar 1973: „Sie war zum zweitenmal nicht zum Medizin-studium zugelassen, obwohl sie alle Voraussetzungen glänzend erfüllte", womit angedeutet wird, welche Wirkung Berufsverbote auch in der DDR haben können.
Verwunderlich ist die nach anderthalb Jahrzehnten Mauererfahrung von der enttäuschten DDR-Bevölkerung in die Literatur ausgreifende Verzweiflung keineswegs. Es sind heute nicht mehr nur die Schriftsteller ersten Ranges, die die Gesellschaft jenseits der vorgegebenen Ideologie erkunden wollen, sondern auch Autoren wie Werner Heiduczek, die der SED Aufstieg und Erfolg verdanken. Sein dritter Roman „Tod am Meer" (1977), die Selbst-anklage eines gescheiterten Schriftstellers, der am Schwarzen Meer seine Lebensbeichte niederschreibt, ist nur auf Untergang und Verdüsterung gestimmt. Wie vorsichtig der Autor dabei zu Werke ging, sieht man daran, daß er den als fiktiv erkennbaren Handlungsablauf, der sicher autobiographische Züge trägt, noch durch ein „Vorwort des Herausgebers" verfremden mußte. In diesem Buch wird das Psychogramm eines sozialistischen Schriftstellers sichtbar, der durch Jahrzehnte immer nur Auftragsliteratur geliefert hat und jetzt an innerer Leere zugrunde geht.
Die Literaturkritik sprach von einer „geradezu hitzigen Sucht nach Ehrlichkeit" und von einer „erbitterten Suche nach seelischen Verwundungen, nach innerer Verkrüppelung". Daß solche Bücher, so ehrlich sie auch sind, das auf Hochglanz polierte Bild einer „sozialistischen Nationalliteratur" empfindlich stören, ist offensichtlich. Hans Koch erwähnte denn auch in seinem programmatischen Aufsatz „Kunst und realer Sozialismus" im „Neuen Deutschland" vom 15. April 1978 ausdrücklich dieses Buch. Es lasse den Aufbau des Sozialismus als „Golgatha-Weg ... als eine Häufung von Begebenheiten, die zu moralischer Bedrückung und Scham Anlaß bieten, als eine Art Trampelpfad zwischen Unrecht und Anmaßung" erscheinen und stelle dadurch das „Gesellschaftsbild des realen Sozialismus in Frage".