I.
„Die Deutschen können ihrer Vergangenheit nicht entfliehen; sie können aber auch nicht erwarten, daß ihre Nachbarn die Vergangenheit vergessen. Ihre heutigen Auseinandersetzungen sind vom Vokabular des vergangenen Desasters geprägt." So beschreibt Fritz Stern, Professor für Geschichte an der Columbia-Universität, zum Jahresausklang 1977 in der NEW YORK TIMES den Zustand des Dialogs zwischen den Deutschen und dem Ausland.
Diese Feststellung hat, blickt man zurück, seit Kriegsende mehr oder minder pointiert gegolten. Oft waren es punktuelle Ereignisse von geringem Repräsentationswert, die verborgene Animositäten zur Oberfläche brachten. So rasch der Disput um Wert oder Un-wert der deutschen Demokratie ausbrach, so rasch schlief er im allgemeinen wieder ein. Die politischen Machtkonstellationen waren stets stärker; sie verhinderten aus Gründen übergeordneter Opportunität die ständige Auseinandersetzung. Gleichwohl blieb das Potential von Mißtrauen und Mißverständnis stets vorhanden *).
Zur Zeit des Kalten Krieges waren die Kontrahenten ironischerweise bemüht, sich gerade der gefürchteten deutschen Eigenschaften wie Disziplin, Präzision, Verläßlichkeit usw. zu versichern. Beide Seiten behandelten „ihre" Deutschen an der Frontlinie pfleglich; allenfalls sah man in dem Tun des anderen die Konservierung deutscher Laster. Die tatsächliche Entwicklung der Bundesrepublik auf einer Linie, die durchaus voll den Vorstellungen der westlichen Staaten entsprach, wirkte dort dämpfend auf die Kritik. Das Entstehen einer stabilen Republik mit moderaten Parteien in einer Gesellschaft, die sich zunehmend auf eine ideologiearme Mitte hinbewegte, erzeugte ein Bild ungetrübten Wohlwollens bei den westlichen Nachbarn und Bündnispartnern, sieht man ab von jenen Kräften, deren Ziel die Isolierung Deutschlands vor allem zum Zwecke der Störung des europäischen Einigungsprozesses war.
Mit dem Verbot der KPD 1956 war die extrem linke Seite im Spektrum vollends zur quantite negligeable geworden, nachdem sie schon durch das Wählervotum in eine aussichtslose Lage gebracht worden war; wobei sich im westlichen Ausland freilich auch die Frage nach der Angemessenheit des Verbots stellte, eine Frage, die aber mit dem Hinweis auf die besondere Gefährdung der Bundesrepublik aus dem Osten (Grenzlage, Sprachgemeinsamkeit mit der DDR, daher Infiltrationsgefahr usw.) befriedigend zu beantworten war.
Rechtsaußen sah es ähnlich aus. Die SRP erschien nur wenigen Beobachtern als eine ernst zu nehmende Gefahr. Die Zeitungen der extremen Rechten waren eher ärgerlich als gefährlich. Globkes Position oder Kiesingers Wahl zum Bundeskanzler erschienen den meisten Rezensenten der deutschen Szene eher als eine Frage des Geschmacks und waren nicht von symptomatischer Bedeutung. Das mag nicht zuletzt daher rühren, daß solche Erscheinungen auch als Teil der innerdeutschen „Versöhnung durch Integration" betrachtet wurden. Mit größerer Aufmerksamkeit reagierte das Ausland auf Hakenkreuz-zwischenfälle, weil der anonyme Hintergrund nicht abzuschätzen war, und auf die Tätigkeit der Vertriebenenverbände, da deren Postulat Dieser Beitrag erscheint in Kürze auch in: Extremismus und Radikalismus in der Bundesrepublik Deutschland. Ausgewählte Texte und Dokumente zur aktuellen Diskussion, hrsg. von Manfred Funke, Bd. 122 der Schriftenreihe der Bundeszentrale für politische Bildung. Zukunft dieses Staates und seiner internationalen Verflechtung in rosigem Licht erscheinen. Nicht nur die maßgeblichen Stimmen der Linken, auch die bürgerliche Mitte verfolgte mit Genugtuung die Bekenntnisse regierender deutscher Politiker. Die wirkliche oder vermeintliche Rechte war dort, wo sie nach überwiegender Meinung des Auslandes sein sollte: die extreme Richtung durch das Wählervotum so gut wie verbannt, die gemäßigte in der Opposition; dazu ging die Entspannung zügig voran.
Es ist müßig zu fragen, welchen Weg diese Entwicklung weitergegangen wäre ohne die einschneidenden Veränderungen um die Mitte der siebziger Jahre. Der Wechsel vom Visionär Willy Brandt zum Pragmatiker Helmut Schmidt, die Ölkrise mit ihrer fatalen Gefahr einer Desintegration Europas und des ganzen Westens, die Wirtschaftsrezession und — in ihrem Gefolge — die. nachhaltige Störung der internationalen Balance, die Regression der Studentenbewegung auf einen quasi elitär-romantischen Anarchismus — diese und andere damit korrespondierende Ereignisse drohten die „angestammte Rolle" der Bundesrepublik im Welttheater zu restaurieren.
Die vergleichsweise gelungene Bewältigung der wirtschaftlichen Krisen, ein selbstbewußter Kanzler, der mit Kritik nicht sparte und Rezepte anbot, erzeugten von der Mitte des Jahres 1976 an eine neue Artikulation weit-verbreiteten Unbehagens in der veröffentlichten Meinung des Auslandes, vor allem der Nachbarn und Verbündeten, ein Gefühl, gespeist teils aus unverhohlenem Neid, teils aus Furcht vor der Perfektion, die im Gefüge der Europäischen Gemeinschaft und der Allianz leicht zur Dominanz der Bundesrepublik Deutschland führen könnte. Diese Vorstellung vom einstigen Kriegsbrandstifter als Führungsmacht in Europa (und außerdem Statthalter der Amerikaner) bewirkte eine derart kritische Grundeinstellung, daß es nur eines oder weniger Anlässe bedurfte, um dieses Gefühl virulent werden zu lassen.
Gespeist wurde das Unbehagen ferner nicht zuletzt durch die nationalen deutschen Querelen zwischen den politischen Parteien und damit in der öffentlichen Meinung. Je irrationaler der Meinungsstreit in der Bundesrepublik geführt wurde, je mehr er sich aufs Persönliche zurückzog und Argumenten keinen Raum mehr ließ, um so kritischer entwickelte sich das Auslandsecho auf diese Entwicklung. Aber noch bevor sich die öffentliche Meinung im Ausland zu einem übersichtlichen Tableau konsolidierte, hatte die Überempfindlichkeit der deutschen Beobachter bereits ein Phänomen entdeckt, das erst durch kräftige Nachhilfe von eigener Seite Realität werden sollte: das Bild vom „häßlichen Deutschen als solchem".
Es muß festgehalten werden, daß die Übertragung des wohlfeilen Bestseller-Topos „The Ugly American" auf den Deutschen zuerst in der deutschen Presse erschien. Daß dieser Gag dankbar aufgegriffen wurde, ist die eine Folge; daß er nun mit Tatsachen — und wenn sie geschaffen werden mußten — zu belegen war, die andere. Das Bild war da und schien auf irgendeine Weise legitimiert werden zu müssen. Die Bausteine lieferten die Deutschen selbst — sowohl das Anschauungsmaterial als auch die abstrakten Argumente.
Worin liegt nun die Erklärung für die Bereitwilligkeit, das Klischee vom „häßlichen Deutschen" aufzunehmen und zu illustrieren?
II.
LA LIBRE BELGIQUE schreibt am 29. August 1977: „Die Erklärung liegt vielleicht in der Tatsache, daß eine bestimmte verbündete Linke und eine unbestimmte Rechte (im Ausland) sich im Chauvinismus und im Nationalismus gefallen." Und die im allgemeinen gar nicht unkritische LA STAMPA spricht am 22. Okto-ber 1977 von einer „monströsen Allianz von Linksfaschisten und Ultra-Rechten, die die fortschrittlichste gegenwärtig denkbare Regierung" des Faschismus beschuldige, um sie zu isolieren. Man kann davon ausgehen, daß das aktuelle Ungleichgewicht in Europa einerseits und die überaktuelle Aversion gegen „Recht auf Heimat" mit der Absichtserklärung „nur mit friedlichen Mitteln" in einem unauflöslichen Widerspruch zu liegen schien. Die zeitweiligen, doch rasch vergänglichen Erfolge der NPD stifteten einige Unruhe — nicht mehr.
Vereinfacht, aber im ganzen zutreffend, läßt sich feststellen: Mehr als dreißig Jahre seit Beendigung des Krieges haben nicht vermocht, ein gewisses Reservoir an Vorbehalten gegenüber „den Deutschen an sich" auch in den Ländern abzubauen, mit denen dieser Staat freundschaftliche Beziehungen unterhält, im Bündnis ist und gemeinsam den Weg zum europäischen Zusammenschluß angetreten hat. Diese Vorbehalte existieren als Klischees zählebig, ungeachtet der Tatsache, daß die zunehmende Begegnung zwischen Gruppen und Individuen zur Relativierung dieser Vorurteile beigetragen hat. Immer wieder steht der Deutsche vor der absurden Erfahrung, als einzelner vom Klischee ausgenommen zu werden. „Sie sind natürlich anders”, hört man, „aber die Deutschen allgemein .. Nun ist dies ein Phänomen, das in der Völkerpsychologie allenthalben auftritt und nicht auf Deutsche beschränkt ist. Man sollte es ernst nehmen, soweit konkrete Vorwürfe sich auf den Konsens mit Nachbarn und Freunden schädigend auswirken; man sollte es jedoch nicht dramatisieren und durch beleidigte oder aggressive Reaktion die Animosität eskalieren. Rückblickend auf die Schleyer-Krise schrieb der Berner BUND am 7. Dezember 1977:
„Zahlreiche westdeutsche Institutionen, Parteien, Intellektuelle, Zeitungen, Radio und Fernsehen sowie weite Teile der Bevölkerung (sind) von einer gewissen Mitschuld an der Überreaktion des Auslands auf den deutschen Terror nicht ganz freizusprechen. Und hier beginnt vielleicht auch, was . besonders deutsch'ist am Terror: die deutsche Neigung zur Überreaktion, ... in der ganzen Ordnungsphilosophie von Staat und Gesellschaft begründet. Die deutsche Terrordebatte läuft ... in einer unangemessen pathetischen Sprache ... Eine Bevölkerung mit mehrheitlich konservativer Grundhaltung verlangt vom Staat absoluten Rechtsschutz, Ordnung auf allen Sektoren ... Allenfalls sind auch die Reaktionen der demokratischen Linken nicht frei von unzulässigen Übertreibungen, von einer gewissen Überempfindlichkeit und Wehleidigkeit ... Die westdeutschen Parteien sind gegenwärtig damit beschäftigt, den geistigen Ursachen des Terrors nachzugehen ... Sie alle täten gut daran, sich die Frage vorzulegen, ob nicht auch dieser überflüssige verbale Radikalismus ihrer Polemik zu den Wegbereitern des Terrors gehört. Laßt doch gewisse Wörter in Ruhe!"
III.
Seit der Großen Koalition mit ihrem Pendant, der „Außerparlamentarischen Opposition", seit Beginn der Protestbewegung der Studenten mit ihren internationalen Parallelerscheinungen verstärkte sich das Interesse an der Entwicklung in der Bundesrepublik und damit naturgemäß vor allem an der Auseinandersetzung mit diesen Phänomenen zwischen den Deutschen selbst. Als Realisation der Ideen der „Frankfurter Schule" konnte die deutsche Studentenrebellion auf große Sympathien in den geistesverwandten Kreisen in allen westlichen Ländern, vor allem in den USA und Frankreich, rechnen. Ihre Argumente wurden diskutiert und damit zwangsläufig die Reaktion des etablierten Staates beobachtet. Je stärker sich die Verbundenheit mit der gärenden akademischen Linken entwickelte, um so stärker mußte naturgemäß auch die kritische Einstellung zum Staat der Bundesrepublik und seinen politischen und vor allem wirtschaftlichen Exponenten werden. Die Vorstellung, daß das politische System der prosperierenden Bundesrepublik auf „Stamokap" beruhe, galt lange, bevor der Terrorismus entstand.
Mit der Bildung der sozial-liberalen Koalitionsregierung setzte ein merklicher Stimmungsumschwung ein. Das deutsche Volk hatte für eine gemäßigte Linke votiert und sich mit Willy Brandt gegen die eigene Vergangenheit entschieden. Die gesellschaftspolitischen Reformvorhaben ließen überdies die ein Europa, das durch ein wirtschaftlich und politisch stabiles Deutschland beherrscht werden könnte, in der Tat die heterogensten Bundesgenossen zusammenführte.
Für die pro-europäische Presse ist es denn auch eine ausgemachte Sache, daß die Angriffe von extrem rechts und extrem links die Kalamität nutzen, um auf dem Umweg über die Zielscheibe Bundesrepublik das europäische Einigungswerk zu stören. Unter diesem Aspekt vor allem erscheint es geboten, sich bei der Analyse im Rahmen der nachfolgenden Beschreibung auf die Medien in Süd-, Westund Nordeuropa zu konzentrieren. Denn Interesse und Sensibilität erlahmen mit zunehmender Distanz. Das gilt räumlich wie ideologisch: Die Medien des sozialistischen Lagers in Europa sind soweit prä-fixiert, daß sich eine Analyse weitgehend auf die Beschreibung der offiziellen Zielsetzung beschränken kann. Der individuelle Terror wird abgelehnt. Er schadet der sozialistischen Bewegung, mit der er von den Klassenfeinden identifiziert wird. Seine Protagonisten sind „Früchte der Bourgeoisie", keine Marxisten, sondern richtungslose Anarchisten ohne jedes politische Konzept, die die autorisierten Bewegungen diskreditieren und den Polizeistaat und Faschismus herbeischießen.
Hier zeigt sich ein fundamentaler Unterschied zur sowjetischen Politik der zwanziger und dreißiger Jahre. Diese ging wie die „Politik" der Terroristen der zweiten Generation davon aus, daß die Faschisierung Deutschlands die revolutionsreife Situation erst schaffe. Der Feind war damals der Sozialdemokratismus, der dem Entstehen einer solchen Situation im Wege stand. Während die Baader und Mein-hof noch glaubten, durch spontane „Aktionen" das Bewußtsein der Konsumgesellschaft wecken oder verwandeln zu können, setzten die Epigonen auf die alte Komintern-Taktik. Das sozialistische Lager hat aber längst erkannt, daß eine repressive Rechtsregierung in der Bundesrepublik vermutlich kaum den „Aufstand der Massen" provozieren, sondern eher ein Gefühl vermehrter Sicherheit vermitteln würde. Daher die eindeutige Distanzierung von allen anarchistischen, terroristischen, aber auch linksextremistischen Kräften wie den K-Gruppen.
Ein Wort zur amerikanischen Presse: Sei es die Entfernung oder das unterschwellige Bewußtsein, daß eine in sich zerstrittene und bei seinen Nachbarn nicht wohl gelittene Bundesrepublik Amerikas europäischen Interessen schaden könnte — die USA hielten und halten in der Regierung wie in den Medien gelassen und objektiv zu ihrem stärksten Verbündeten auf dem europäischen Kontinent. Lediglich in einigen wenigen Berichten wird die Verschärfung von Kontrollen und die Einschränkung der Freizügigkeit („wenn sie lange Haare haben oder in einer Kommune leben") apostrophiert.
Die Dritte Welt schließlich reflektiert schwach die Informationen, die ihr durch Agenturen zufallen. Kommentare und Analysen zum innerdeutschen Disput gibt es so gut wie gar nicht.
IV.
Im folgenden wird sich also die Betrachtung im wesentlichen auf den Schauplatz beschränken, der gleichsam den neuralgischen Gürtel um uns bildet: Italien, Frankreich, die Benelux-Länder, Großbritannien und die skandinavischen Länder. Seit Ölkrise und Wirtschaftsrezession entwickelte sich ein gewisser Antagonismus zwischen Ländern, die mit den Problemen besser fertig wurden (an ihrer Spitze die Bundesrepublik Deutschland), und den anderen. Wie gesagt, eine solche Diskrepanz förderte Empfindlichkeiten und Animositäten.
Orientiert an den Fakten und Entwicklungen schälten sich im Laufe der Zeit mehr oder weniger umrissen und intensiv verhandelt eine Reihe von Vorwürfen heraus, die alle auf irgendeine Weise miteinander verknüpft sind. (Spätestens seit der Mitte des Jahres 1976 finden sie Nahrung durch tatsächliche oder vermeintliche Anlässe).
Für alle nachstehend beschriebenen Phänomene in der Auslandspublizistik gibt es aber wie beim „häßlichen Deutschen" stets Initialzün-düngen aus der Bundesrepublik selbst. Das heißt, so gut wie nichts von der Substanz, die die Vorwürfe prägt, ist nicht schon vorher in den Medien der Bundesrepublik oder in den politischen Auseinandersetzungen innerhalb und außerhalb seiner Parlamente vorfabriziert worden. Das geht bis in die Terminologie hinein.
Erster Vorwurf: In der Bundesrepublik entwickele sich zunehmend ein Klima der Intoleranz, ungerechtfertigten Mißtrauens und daraus folgend die Gesinnungsschnüffelei. Der Beweis: der sogenannte Radikalen-
Erlaß. Dieser Terminus und die von dorther abgeleitete gefährlich vage Formel „Berufsverbot" wurden weithin unkritisch oder auch als willkommene Formulierungshilfe aus der deutschen Diskussion übernommen. So blieben die wahren Zusammenhänge verschleiert und diskutiert wurde ein Phantom. Nicht wahrgenommen wurde die Tatsache, daß es einen solchen Erlaß nicht gibt, sondern vielmehr einen Ministerpräsidentenbeschluß ohne Rechtsqualität, mit dem festgestellt wird, daß es bei den bis dahin geltenden Gesetzen und ihrer Auslegung bleiben soll (vgl. Martin Kriele, Legitimationsprobleme der Bundesrepublik, München 1977, S. 146 ff.). Diese Vereinbarung schreibt also fest, daß es keine Sondergesetze oder Verschärfung der bereits bestehenden geben darf. Wenn dennoch paradoxerweise dieser Beschluß Gegenstand aller-schärfster Kritik wurde, so liegt das einmal an der von Deutschen selbst fabrizierten Terminologie, aber auch an Widersprüchen, die in der Bundesrepublik selbst das Thema überspitzten, z. B. durch unterschiedliche Handhabung des Beschlusses in den Ländern. Und schließlich: Daß die Zahl der Ablehnungen von Bewerbern für den öffentlichen Dienst vergleichsweise anstieg, wurde nicht in Relation gestellt zur sprunghaft angestiegenen Zahl extremistischer verfassungsfeindlicher Gruppen im akademischen Bereich, dem Reservoir vor allem des höheren öffentlichen Dienstes.
Daß von dorther die innerdeutsche Diskussion bewußt in die des Auslands hineingetragen wurde, zeigt die große Zahl von Interviews mit abgelehnten Bewerbern (so z. B. im niederländischen Fernsehen). Bundespräsident Scheel sah sich veranlaßt, das weitreichende Medium der Weihnachtsansprache an die Deutschen im Ausland über die Deutsche Welle 1977 zu nutzen, um anhand konkreter Zahlen die ausgeuferte Debatte auf die Realität zurückzuführen. Er legte die Ziffern von Nordrhein-Westfalen für den Zeitraum vom 1. Januar bis 1. September 1977 vor. Ergebnis: von 34 158 Bewerbern wurden 20 abgelehnt, das sind 0, 05 Prozent.
Solche Fakten wiegen aber in der hektischen Auseinandersetzung wenig im Vergleich zum Diskurs über Prinzipien und Methoden. Aus ihr beziehen die Gegner des Staates und ihre ausländischen Freunde das Argument der „Repression".
Am 7. September 1977 — zwei Tage nach der Entführung Schleyers — schrieb LE MONDE: „Schon jetzt sind die Anzeichen einer Verhärtung der westdeutschen Gesellschaft nicht mehr zu zählen. Diese Entwicklung lag schon im Keim vor, als man jeglichen Dialog mit der außerparlamentarischen Opposition ablehnte ... Selbst die Sozialdemokraten haben es vorgezogen, sich zu den unerbittlichen Hütern von Gesetz, Ordnung und Profit zu machen, anstatt sich die grundsätzlichen Fragen anzuhören, die ihnen gestellt wurden."
Diese Feststellung enthält den Kern der Kritik, die von linken und linksliberalen Publizisten gegen die Bundesrepublik der späten siebziger Jahre vorgetragen wird und etwa auf folgende Formel gebracht werden kann: Eine saturierte, selbstgefällige, im Innern im-mobile und nach außen gelegentlich arrogant und schulmeisterlich auftretende Gesellschaft, die „immer noch unsicherer und intoleranter gegenüber Abweichungen ist als ihre Nachbarn" (TIMES, London), weigert sich, das eigene System in Frage zu stellen und auf seine Reformbedürftigkeit zu überprüfen. Sie versucht die Symptome von Extremismus und Terrorismus zu kurieren, weil sie sich vor den Ursachen der Entwicklung fürchtet oder sie nicht wahrhaben will.
In ihrer Folge „Dreißig Jahre Nachkriegsdeutschland" resümierte VPRO, Hilversum, den Zustand der deutschen Republik am 1. Januar 1978: „Die Entwicklungen der letzten Jahre ... haben ein Bild entstehen lassen, als ob Westdeutschland nicht mehr eine Demokratie, sondern ein autoritärer Polizeistaat sei, aber das ist Schein. Die Wirklichkeit ist viel unklarer. Tatsache ist, daß der nicht ohne eigenes Verdienst wieder zu Wohlstand gelangte Bürger der zweiten deutschen Republik vor eine Lage gestellt worden ist, die er nicht gewollt hat, innerhalb eines Systems, in das er nach einer niemals verarbeiteten Vergangenheit gestellt wurde. Die Antwort auf die vermeintliche Bedrohung der mit viel Anstrengung wieder aufgebauten und daher überaus verhätschelten Gesellschaft hat zu falschen Reaktionen geführt... Was Abbild einer lebendigen, vielschichtigen Gesellschaft hätte sein müssen, entwickelt sich zu einem Organ, das Maßnahmen trifft, deren Auswirkungen überschätzt und deren Tragweite unterschätzt werden."
Und die Londoner TIMES sieht als „auffälligstes Charakteristikum der Entwicklung die Enthumanisierung beider": der Extremisten und des etablierten Systems.
Ein zweiter Vorwurf, der den Hang zur Restauration und zum Konservatismus beschwört, findet seine Nahrung auf einem eher recht trivialen Felde, dem der vermeintlichen NS-Nostalgie. Es ist natürlich nicht mehr als ein Zufall, daß Hitler redivivus in Büchern, Filmen (Film von Joachim Fest: „Hitler — eine Karriere", Hitler-Biographie von Joachim Fest, Goebbels-Tagebücher und die Flut von Trivialliteratur an Bahnhofskiosken) koinzi-dierte mit einem ebenso banalen Ereignis: der spektakulären Flucht von Herbert Kappler aus einem römischen Krankenhaus. Für den, der seine antideutsche vorgefaßte Meinung bestätigt sehen wollte, konnte es aber kaum eine günstigere Konstellation geben. Die Polemik vor allem linker Sekten verfehlte es denn auch nicht, einen Zusammenhang herzustellen, ja, eine innerdeutsche Genugtuung zu konstatieren — in der italienischen Presse war von ungeschminktem Jubelgeheul die Rede. Die Nazis ante portas — damit rehabilitierte sich verletzter Nationalstolz, demonstrierte sich aber auch ein gewisses Unvermögen, die eigene Vergangenheit einzuordnen. Kappler war, obgleich unbedeutend, eine Art Faustpfand, ein lebendes Symbol, dessen man bedurfte, um die eigene Distanzierung vom Faschismus handgreiflich vorzuführen. So mußten Blätter wie der CORRIERE DELLA SERA eine Harmonie zwischen Kappler und der deutschen Bevölkerung konstruieren, einen Konsens, den es in Wirklichkeit nirgendwo gab. Nach anfänglicher Verwirrung waren es denn auch — vor allem angelsächsische — Stimmen der Besonnenheit, die das Problem in die richtigen Dimensionen stellten mit der an die internationalen Kritiker gestellten Frage: Nach dem Gesetz darf kein Deutscher ausgeliefert werden. Darf man nun verlangen, daß die Deutschen ihre Verfassung ignorieren? Steht das patriotische Bedürfnis der italienischen Sühne über dem Gesetz, das Deutschlands Integrität (auch im Blick auf die internationalen Beziehungen) verbürgt? Die weitaus überwiegende Antwort: Die Verfassungstreue der Deutschen steht an erster Stelle der Optionen des Auslands. Mit zeitlichem Abstand wurden dann auch in Italien die Stimmen schwächer, die forderten, die Bundesregierung müsse in diesem Fall über ihren Schatten springen.
Ohne die eskalierende Wirkung dieses und anderer Ereignisse hätte vermutlich die Nostalgiewelle, die keine war, weit weniger Aufmerksamkeit gefunden. Ihr kommerzielles Gewand wäre sichtbar geworden, Hitler und seine Zeit wären auf eine freilich etwas makabre „Folklore" (J. J. Servan-Schreiber) reduziert worden.
Alles in allem hat dieser Trend in den ausländischen Medien nur vorübergehend Besorgnis bewirkt, wohl in erster Linie deshalb, weil die Welle des von Verlegern und Filmproduzenten vorausgesetzten Interesses nur zu einer Scheinblüte führte, weitere eskalierende Ereignisse wie der Fall Kappler ausblieben und die innerdeutsche Diskussion sich durch große Gelassenheit und Distanz auszeichnete.
So finden sich am Ende ausgewogene und verständnisvolle Beurteilungen, etwa der Art: Interessieren sich die Deutschen nicht für ihre Vergangenheit, so wirft man ihnen Vergangenheitsverdrängung vor, stehen sie vor den Kinos, die den Hitler-Film zeigen, Schlange, geben sie ihren alten Dämonen nach. Derartige Krisen haben ihr Gutes: Sie tragen dazu bei zu klären, was von der Vergangenheit tatsächlich bewältigt wurde, sie fördern eine Standortbeschreibung der deutschen Demokratie und andererseits eine Bestandsaufnahme der offenen und unterschwelligen Vorurteile gegenüber den Deutschen und ihrer demokratischen Zuverlässigkeit. Der französische Fernsehjournalist Michel Meyer, Bonner Korrespondent und Verfasser zweier Bücher über Deutschland, forderte kürzlich in einer Podiumsdiskussion provokativ weitere Krisen wie die der letzten Jahre, weil nur durch sie die neuralgischen Stellen im Verhältnis zwischen den Völkern sichtbar werden und nur durch diese Transparenz der Abbau von Mißverständnissen und Mißtrauen möglich sei.
V.
Die Krise, auf die sich Meyer im besonderen bezog, entlud sich eruptiv mit der Entführung von Hanns Martin Schleyer am 5. September 1977. Lange aufgestaute Antagonismen formulierten sich unter dem Einfluß einer hektischen innerdeutschen Diskussion um Mittel und Wege der Terrorismusbekämpfung. Es verdient aber festgehalten zu werden, daß ein Teil der linken und linksliberalen Öffentlichkeit in Westeuropa bereits vor dem Ereignis sensibilisiert und gleichsam eingestimmt war auf einen besonderen Ton. Die schon erwähnten Ereignisse im Zusammenhang mit der Kappler-Flucht und der Akkumulation von NS-Erinnerungen, dann die kritische Behandlung des Stammheim-Prozesses mit dem Vorwurf der Isolationsfolter, durch den Besuch Sartres in Stammheim quasi mit einem Güte-siegel versehen, hatten das Terrain für eine zunehmend pauschale Verurteilung der Bundesrepublik als Hort der Reaktion, als zumindest faschistoiden Staat, bereitet.
Drei Tage vor der Entführung Schleyers veröffentlichte LE MONDE in seiner Rubrik POINT DE VUE (mit dessen Inhalt sich die Redaktion nicht identifiziert) einen umfangreichen Beitrag von Jean Genet unter dem Titel „Gewalttätigkeit und Brutalität". In ihm beschreibt er eine Bundesrepublik, in der ein Faschismus existiert, gestützt vom amerikanischen Antisowjetismus und exekutiert mit modernen, raffinierten Mitteln. Es war dieser Artikel vom 2. September 1977, der nachhaltig jene Atmosphäre wechselseitigen Mißbehagens schuf, in der sich die Auseinandersetzungen in den Wochen danach hochstilisieren konnten.
Dieser Artikel eines unumstrittenen Literaten, aber umstrittenen homo politicus ist jedoch über Gebühr zum Drehpunkt der Diskussion um das Deutschenbild während dieser Krisenzeit gemacht worden. Der FIGARO reagierte am 10. September: „Die Männer der Feder sind vom Blut fasziniert und Genet mit seinem unglaublichen Jargon eines ewigen Studenten ist ein verschärfter Reflex einer geistigen Perversion, die man in einem großen Teil der französischen Intelligenz findet."
Der linke LE MATIN gab Golo Mann Gelegenheit zu der Rückfrage: „Wenn ich lese, was LE MONDE ... über die Bundesrepublik schreibt, habe ich das gleiche Gefühl wie beim Gespräch mit jungen Deutschen der äußersten Linken. Aber von welchem Land sprechen sie denn? Von Chile, von Uganda? Aber dann haben sie jeden Kontakt mit der Wirklichkeit verloren." Und LE MONDE selbst nimmt Genets Frontalangriff in einem Leitartikel zurück, wenn es heißt: „Deutschland ist, wir wissen es wohl, nicht . unmenschlich', wie Jean Genet behauptet. Es ist im Gegenteil weich, erschlafft, gefräßig, komfortabel, jeder Ideologie abhold — kurz: eher zu menschlich. Jedes Verbrechen der , Roten Armee Fraktion'droht die alten Dämonen zu wecken, die man vergessen zu können glaubte. Sind wir aber so sicher, daß sie nicht auch bei uns erwachten, wenn die gleichen Verbrechen bei uns begangen würden?"
Mit einiger Beruhigung darf konstatiert werden, daß die Beschwörung der neofaschistischen Gefahr zwar dank ihrer Lautstärke dem sensiblen Ohr als Fanfarenstoß erscheinen mußte, in Wirklichkeit jedoch weder an Umfang noch an Nachhall von dauerhafter Wirkung gewesen ist. Zwar gilt das demokratische Gefüge noch nicht als unzerstörbar oder unbegrenzt belastbar, es herrscht aber die Meinung vor, die NRC-HANDELSBLAD, Rotterdam, am 17. September 1977 lapidar formuliert: „Es gibt wohl in der Bundesrepublik Deutschland nicht mehr besorgniserregende Erscheinungen als in anderen Ländern." Und J’INFORME, Paris, schreibt am 21. September 1977: „Schließlich haben sie (die Terroristen) in der Sache selbst wohl eine überwältigende Mehrheit von Deutschen dazu gebracht, über den Wert und die Vorzüge der sehr jungen Bonner Demokratie nachzudenken. Dieses Nachdenken führt auch die öffentliche Meinung zu der Einschätzung, daß dieses Regime es wert ist, verteidigt zu werden."
DIE TAT, Zürich, schreibt: „Kein anderer Staat hat die Verwirklichung der Grundrechte und die Idee des Rechtsstaates mit solchem Ernst und solcher Konsequenz in seinem neuen Grundgesetz zu verwirklichen gesucht wie die Bundesrepublik".
LE FIGARO, Paris, am 7. Oktober 1977: „Die Beharrlichkeit, mit der eine gewisse Presse in den letzten Tagen den Geist der Weimarer Republik und die tragischen Folgeerscheinungen beschworen hat, ist allzu offensichtlich, um nicht verdächtig zu sein ... Zu behaupten, daß der Nazismus in Westdeutschland wieder auflebt, grenzt ans Groteske und an Provokation ... Was den Nazismus betrifft, so ist er Gott sei Dank tot, ganz tot. Wer die Bundesregierung damit fälschlicherweise belastet, begeht eine intellektuelle Unredlichkeit, deren Folgen auf längere Sicht dramatisch werden können.“
VI.
Gegenstand anfänglicher Skepsis, aber späteren Verständnisses waren und sind die im Zusammenhang mit dem Terrorismus vollzogenen Änderungen im strafprozessuralen und Strafvollzugsbereich. „Isolationsfolter" und Kontaktsperregesetz bleiben allerdings für die im Anti-Germanismus verharrenden Gruppen privilegierte Steckenpferde. Daran ändern weder Augenschein noch Gegendarstellung etwas. Sie werden einfach dringend benötigt als Beleg für die Faschistisierung der Bundesrepublik. Die weitaus überwiegende Zustimmung zu den Maßnahmen innerhalb der deutschen veröffentlichten Meinung dient ihnen als zusätzlicher Beweis für die fortschreitende Restauration auch innerhalb der Bevölkerung selbst. So, wenn Nico Haasbrok im holländischen Fernsehen unablässig nachweisen möchte, daß die Initiative des Terrors vom Staate ausging, oder der niederländische Rechtsanwalt Bakker-Schut von den Terroristen als „Kriegsgefangenen" oder gar „Geiseln" der Schmidt-Regierung spricht, die büßen müßten, wann immer draußen etwas passiere. Weniger lautstark, aber zahlreicher sind Stimmen der Besonnenheit.
Der GUARDIAN meint am 11. Oktober 1977: „Bundesregierung und Bundestag verdienen es sicherlich nicht, jetzt mit Namen wie Faschisten belegt zu werden... Es ist an der Zeit, daß die Rechtsanwälte von sich aus einmal prüfen, inwieweit die Zusammenarbeit mit den Terroristen den ethischen Prinzipien entspricht, die für den Anwaltsberuf gelten."
Die Empfindlichkeit der französischen Presse gerade in dieser Frage ist nicht zuletzt auf die besondere Stellung des Advokaten, des „maitre" — im romanischen Rechtsbewußtsein symbolhafter Garant der Unverletzlichkeit des Rechts —, zurückzuführen. Das zeigte sich in den besonders heftigen Reaktionen, ja Demonstrationen französischer Anwälte anläßlich der Auslieferung Croissants. Diese Reaktion prinzipieller Natur blieb daher auch nicht auf die Linke beschränkt.
Der oft vorgetragene Vorwurf, Kontaktsperre und Verteidigerausschluß seien eine einmalige Erscheinung ohne Vorbild, ist von deutscher offizieller Seite und der deutschen Presse zu spät und zu schwach zurückgewiesen worden. Erst Anfang Dezember 1977 veröffentlichte das Bundesjustizministerium eine Dokumentation über die Rechtsstellung des Verteidigers in vergleichbaren europäischen Ländern. Bedenkt man, daß in Großbritannien im Vorermittlungsverfahren die Polizei über die Zulassung eines Verteidigers entscheiden kann, wobei es Rechtsbehelfe gegen die Entscheidung nicht gibt, dann stimmt — auch im Blick auf die anderen verglichenen Länder Belgien, Niederlande, Frankreich, Dänemark, Italien, Österreich, Schweiz und Schweden —, was die Frankfurter Allgemeine Zeitung in ihrer zusammenfassenden Darstellung vom 8. Dezember 1977 behauptet: „Die Bundesrepublik braucht einen internationalen Vergleich nicht zu scheuen."
Gültig bleibt, daß der weitaus größere Teil der ausländischen Medien in diesen Maßnahmen eher solche zur Sicherung als solche zum Abbau der Demokratie sehen und darin die ausgewogene deutsche Mehrheitsmeinung unterstützen. Bei allen Zweifeln herrscht darüber hinaus die Auffassung vor, die deutsche Demokratie habe in den zur Zeit regierenden Kräften eine Garantie, eventuelle restaurative Tendenzen in der Opposition und ihrer Nachbarschaft zu bremsen. ALGEMEEN DAG-BLAD, Rotterdam, nannte am 16. September 1977 die Regierungserklärung von Bundeskanzler Schmidt nach der Schleyer-Entführung „eine verständige Erklärung, die ... die Versicherung abgibt, daß die Regierung sich nicht zu Maßnahmen verleiten lassen wird, die mit dem Wesen der Demokratie unvereinbar sind". Die holländische TIJDE schreibt am 7. Oktober 1977: „Es ist übertrieben und unwahr zu behaupten, daß Westdeutschland kein Rechtsstaat mehr sei, aber häufig bekommt man den Eindruck, daß allein die Sozialisten und Liberalen noch zwischen Demokratie und Polizeistaat stehen."
Hier müssen einige Stimmen aus der kritischsten Phase der Terrorismus-und Extremismus-Diskussion in Deutschland eingefügt werden, Beispiele für den Facettenreichtum der ausländischen Sehweisen zur Frage der Dauerhaftigkeit und Verwurzelung der Demokratie in Deutschland und zum gelegentlich besorgniserregenden Problem der „Solidarität der Demokraten", wie sie von innen und außen oft beschworen wurde.
DAILY EXPRESS, London, schreibt am 13. September 1977: „Wir sind all den Männern Sympathie schuldig, die das Land während der letzten drei Dekaden zu dem gemacht haben, was es jetzt ist: Westdeutschland ist ein freies und liberales Land."
Am gleichen Tag meint die INTERNATIONAL HERALD TRIBUNE: „Natürlich ist Westdeutschland nicht die Weimarer Republik und noch viel weniger das Dritte Reich. Man kann sich jedoch den Beobachtungen nicht entziehen, ... daß die Denkungsart, die Hitler an die Macht gebracht hat ..., noch immer bei einigen Deutschen — ich möchte ungern darüber Spekulationen anstellen, bei wie vielen — tief verwurzelt ist."
Der KURIER, Wien, am 15. September 1977: „Am bestürzendsten an den westeuropäischen Reaktionen ist: Linksradikaler Wahnsinn in der Bundesrepublik Deutschland und die sicherlich vorhandene Gefahr einer rechten . faschistischen'Überreaktion werden dem .deutschen Wesen'als solchem zugeschrieben ... Das ist eine chauvinistische, ja, rassistische Sicht der Dinge, die man längst überwunden glaubte ..."
LE POINT, Paris, am 19. September 1977: „Die Bundesrepublik ist eine Demokratie, die Vorsorge getroffen hat, daß die Freiheit trotz gegenteiliger Bemühungen seiner Feinde geachtet wird . .. Sie hat zum Beispiel niemals eine Behörde geschaffen, die unserem Staatssicherheitsgerichtshof entspricht. . ."
TROUW, Amsterdam, am 21. September 1977: „Faschismus und Polizeistaat sind in der Tat Begriffe, mit denen vorsichtig umgegangen werden muß. Auf die Bundesrepublik treffen sie nicht zu. Glücklicherweise regiert in Bonn noch immer die sozial-liberale Koalition, die gemäßigter und besonnener ist als die konservative Opposition."
IL GIORNALE, Mailand, am 26. Oktober 1977: „Die Bundesrepublik ist ein Rechtsstaat; die Gegner des Regimes verstecken sich nicht. Doktrinäre und revolutionäre Bücher werden veröffentlicht, und viele Studenten demonstrieren für Standpunkte, die keineswegs konformistisch sind."
LE FIGARO, Paris, am 24. Oktober 1977: „Wenn sich ein demokratisches Regime durch die Respektierung des Gesetzes definiert — inwiefern ist dann die Demokratie in Deutschland bedroht? . .. Sie (die Extremisten) können sogar bei Wahlen kandidieren. Mit dem bekannten Ergebnis — die Extremisten der Linken und der Rechten erreichen gemeinsam mit Mühe und Not ein halbes Prozent der Wählerstimmen. Da sie also ihre Mitbürger nicht überzeugen können, wollen sie sie zwingen. Ist das wirklich Demokratie? Oder verlangt sie im Gegenteil nicht, daß die Behörden alles tun, um die Bürger zu schützen, die ihren Willen durch Wahlen ausgedrückt haben?"
Das gleiche Blatt hatte bereits früher, am 19. Oktober 1977, festgestellt: „Für die Deut-schen ist der Beweis erbracht worden, daß die Demokratie in der Lage ist, intelligent, energisch und wirkungsvoll vorzugehen, ohne unnötige Grausamkeiten. Die Bundesrepublik wird erwachsen."
VII.
Mit der Zuspitzung der Krise September/Oktober 1977 blickt der besorgte ausländische Beobachter aber auf die Gefahr der Erosion der demokratischen Solidarität.
L'AURORE, Paris, bemerkte schon am 15. September 1977: „Die Entführer Schleyers erreichen ..., das politische Klima in Bonn zu trüben, eine dramatische Spannung zwischen den Anhängern der demokratischen Freiheit und denen der repressiven Autorität zu erzeugen."
Und die KRONENZEITUNG, Wien, am gleichen Tage: „Manchmal hat man das Gefühl, als ob beide Parteien auf ein Verbrechen wie die Schleyer-Entführung gewartet hätten, um sich in allen ihren Vorurteilen bestätigen zu lassen. Der, der in der Mitte steht und alles etwas weniger leidenschaftlich betrachtet, der liberaler denkt .. ., gerät in die Gefahr, charakterlos und feige gescholten zu werden."
FRANCE-SOIR, Paris, sieht am 22. September 1977 eine Verschlechterung des Klimas zwischen Regierung und Opposition, und auch die BASELER ZEITUNG befürchtet eine Vertiefung der innenpolitischen Konfrontation und fügt wenige Tage später hinzu, einer der hinterhältigsten „Erfolge" der Terroristen bestehe darin, „daß sie bei einer wachsenden Zahl von Leuten das Gefühl für angemessene Proportionen zerstören".
TAGWACHT, Zürich, schildert die Situation am 15. Oktober 1977 so: „Die Scharfmacher geben den Ton an. Das sind auf der einen Seite Gruppen . links'von der SPD ..., auf der anderen Seite sind es Strauß und seine Bewunderer, die im Terrorismus einen Ausdruck des Marxismus erblicken und daraus eine Verwandtschaft mit der SPD — im Extremfall sogar eine Komplizenschaft ableiten."
Am 18. Oktober 1977 konstatiert die BASELER ZEITUNG: „Bisher hat die . Solidarität der Demokraten'stets nur bis einige Tage nach einem Verbrechen gedauert. Wenn es diesmal auch so sein soll .. ., dann kann einem bange um die Demokratie in der Bundesrepublik werden."
THE TIMES, London, am 19. Oktober 1977: „Wichtig ist jetzt, daß die Kräfte in der Bundesrepublik Deutschland sich zur Mitte hin bei der Verteidigung der Demokratie zusammenfinden und ein Bruch zwischen Rechts und Links vermieden wird."
VIII.
Durch nichts erscheint dem Ausland — fast ausnahmslos — die Solidarität der Demokraten in Deutschland stärker bedroht als durch das „Sympathisanten-Syndrom". Der Begriff konstituiert schon deshalb eine Gefahr, weil er ohne genaue Abgrenzung und somit je nach Belieben auf jeden Kritiker auch politischer Details ausgedehnt werden kann.
Fritz Stern hat in dem bereits erwähnten Artikel der NEW YORK TIMES geschrieben: „Es hat immer schon Spannungen zwischen dem deutschen kulturellen Radikalismus und dem politischen Konservatismus gegeben. Von Heine bis Brecht haben die Radikalen ein Talent gezeigt, die Verletzbarkeiten ihrer Gesellschaft aufzuspüren und bloßzulegen, während acht-B bare , Bürger'dazu neigen, sich in selbstbetrügerische und selbstgerechte Tugendmäntel zu hüllen."
Er beschreibt damit eine in der Tat relevante und historisch belegbare Voraussetzung für eine deutsche Antinomie: das fatale Verhältnis wechselseitigen Mißtrauens wenn nicht gar der Verachtung zwischen Macht und Geist, Praktikern und Theoretikern.
INFORMATION, Kopenhagen, erklärt am 2. Oktober 1977: „Der wütende Kampf eines 60-Millionen-Volkes gegen einen Kern von wahnsinnigen Terroristen ist ... ein Overkill. Die Springer-Presse und die christlichen Oppositionsparteien haben bereits klargestellt, daß der Kampf ein anderes, größeres Ziel hat."
In den Augen des Auslands dient die Sympathisanten-Kampagne der deutschen Rechte dem Ziel, kritischen Geist zu diffamieren und zu ersticken, sei es aus gerechtfertigter oder vorgegebener Berufung auf die Gefahr des Kommunismus. Nur wenige Stimmen billigen den Gegnern der „Sympathisanten" einen Anspruch auf Verteidigung der demokratischen Werte zu, so das Wiener konservative Blatt DIE PRESSE am 7. Oktober 1977: „Man könnte sich fragen, ob denn im Nachbarland keine dringlicheren Probleme zur Debatte stehen als die Wehleidigkeit mehr oder weniger prominenter Intellektueller . . . Daß das Herz all dieser wohldotierten, wohlwollenden, wahrhaftig gutmeinenden Herren und Damen links schlägt, versteht sich . . . Nun, das alles ist im Grunde äußerst ehrenwert, meinetwegen auch Zeugnis erlesenster Sensibilität. Mehr aber gewiß nicht. Was abstößt, ist die Empfindlichkeit, wenn es um die eigene Person geht, das völlig fehlende Gefühl für das richtige Maß, das ebenso fehlende Eingeständnis, den Anfängen nicht gewehrt zu haben ..."
Doch eine solche Haltung findet sich höchst selten. Es überwiegt dagegen einmütige Empörung quer durch alle Länder und soziologischen Schichten. Vor allem zwei Gründe sind es, die eine solche Einheitsfront ermöglichten: Einmal die Furcht vor reaktionären Kräften, die die Krise zur Blockierung sozialer Reformen und zur Restauration nutzen möchten, zur Konsolidierung von schon bestehenden gesellschaftlichen Machtverteilungsstrukturen, wozu die Isolierung linker und liberaler Individualisten von Einfluß notwendig ist, was nicht ohne internationale Folgen bliebe. Zum anderen — und das scheint, von noch größerer Bedeutung zu sein — handelt es sich bei den als Sympathisanten etikettierten Persönlichkeiten um eben jene öffentlichen Repräsentanten der Bundesrepublik, die zur Rückgewinnung und Festigung des Ansehens der Nation wie kaum jemand sonst beigetragen haben.
So kommt es zu einem äußerst starken Identifikationsprozeß mit den Angegriffenen, den Schriftstellern, Theologen und Politikern — unter diesen vor allem Willy Brandt, Heinrich Böll und Günter Grass. Hier ist anzumerken, daß laut demoskopischer Umfrage nach etwa zwei Jahren Regierung Brandt jeder fünfte Franzose erklärte, seine Meinung über die Deutschen habe sich dank der Kanzlerschaft Brandts positiv verändert (vgl. Koch-Hillebrecht, Das Deutschenbild).
BASELER ZEITUNG vom 7. Oktober 1977: „Was hat Böll eigentlich verbrochen? Aus helvetischer Sicht nichts. Im Gegenteil. Mit Willy Brandt verkörpert er das, was wir so sehr . naive'Ausländer uns unter einem anständigen Deutschen vorstellen . . . Lieber Heinrich Böll! . . . Halten Sie durch, bitte! Ihr Ziel ist unser, mein Ziel..."
THE GUARDIAN, London, am 3. Oktober 1977: „McCarthy lebt, und zwar gut in Deutschland ... Die Konservativen haben schon allzu lange auf diesen Tag der Abrechnung mit der Neuen Linken gewartet. . . Das politische Klima ist schon vergiftet!"
SRS (Schweizer Rundfunk) vom 4. Oktober 1977: „Für liberale Denker wird die Luft eng in der Bundesrepublik. Pauschal und hinterhältig sind die persönlichen Angriffe auf Leute wie Gollwitzer und Albertz — Theologen, deren Stellungnahmen oft Kopfschütteln hervorgerufen haben ... Wenn nun . . . eine Art Pogromstimmung aufkommt und dabei unbequeme und angreifbare Schriftsteller mit den echten Propagandisten des Terrors in einen Topf geworfen werden, dann ist das kein Beitrag zur notwendigen Reflexion und Kritik."
Ihren Gipfel erreicht die Reaktion des Auslands auf die Sympathisantendebatte nach Er-33 scheinen der von CDU-Generalsekretär Geissler herausgegebenen Dokumentation „Terrorismus in der Bundesrepublik Deutschland".
Die BERNER NACHRICHTEN dazu am 14. Oktober 1977: „Man hat Mühe, den Sinn dieser Sammlung zu begreifen ... Nach kritischer Prüfung erscheinen die meisten Zitate, auch wenn sie Jahre zurückliegen, durchaus überzeugend und ehrenwert, was der . Dokumentation'ein vernichtendes Zeugnis ausstellt."
DIE TAT, Zürich, am selben Tage: „Geissler hat nicht das Format, die Fehler Kohls auszubügeln. Vielmehr multipliziert er sie durch eigene Fehlleistungen. Ein passendes Paar."
Milde Kritik üben die SALZBURGER NACHRICHTEN: „Es ehrt Böll vollauf, daß er durch die jüngste Terrorwelle zu einer Neueinschätzung fand. Das ändert freilich nichts daran, daß irreparabler Schaden angerichtet war. Böll mußte bei seinen Plädoyers davon ausgehen, daß seinen Erklärungen in der Öffentlichkeit großes Gewicht beigemessen würde."
THE TIMES, London, formuliert am 21. Oktober 1977 den weitverbreiteten Grundtenor der Auslandskritik: „Es entsteht in starkem Maße der Verdacht, daß einige Politiker der Rechten die Angelegenheit auszunutzen versuchen, um die Linke insgesamt in Verruf zu bringen, obgleich der größte Teil der Linken ebenso wie sie selbst in erbitterter Gegnerschaft zu den Terroristen steht. Diese Haltung ist verantwortungslos, weil sie dazu führt, die Geschäfte der Terroristen zu besorgen, indem sie den Staat mehr zu dem macht, was er den Behauptungen der Terroristen zufolge ohnehin schon ist."
IX.
In meist sehr ausgewogener Weise vollzieht sich im Ausland die Diskussion um die Ursachen von Extremismus und Terrorismus. Während in der deutschen Öffentlichkeit wechselseitige Beschuldigungen nur zu leicht einen objektiven Blick trüben, bietet der Diskurs in den ausländischen Medien ein distanzierteres, unvoreingenommeneres Bild.
THE NEW YORK TIMES am 22. September 1977: „Ihre (der Terroristen) Motivierung entspringt oftmals einer Unzufriedenheit mit der übersättigten westdeutschen Gesellschaft und deren antiintellektuellen Strömungen."
DIE TAT, Zürich, am 6. Oktober 1977: „Die Analyse des Phänomens Terrorismus steht noch aus. Wir müssen uns dahinter machen, unter Einkalkulierung des Risikos, von einigen Positionen der Selbstgerechtigkeit Abschied nehmen zu müssen. Denn es dürfte unbestritten sein, aus dem puren Nichts sind weder Genesis noch Eskalation des Terrorismus zu erklären."
LE MATIN, Paris, am 2. November 1977: „Das ist die Gefahr in Deutschland. Eine enttäuschte Jugend glaubt nicht mehr an die von den Parteien angebotenen Perspektiven ... Gefühle der Frustration und sogar der Verzweiflung könnten eine neue Generation in den politischen Extremismus und in den Terrorismus treiben."
CORRIERE DELLA SERA, Mailand, am 24. Oktober 1977: „Der Terrorismus läßt sich sicher zurückführen auf Instabilität und Verfall moralischer Werte, aber auch auf viele Irrtümer unserer Gesellschaften und Staaten."
Zwei einander extreme Gegenpositionen:
HAAGSCHE COURANT, Den Haag, am 23. Oktober 1977: „Ihre (der RAF) Feinde sitzen in der Bundesrepublik, weil dort die Autoritäten nie offen waren für die Wünsche von links, sondern als Antwort Gewalt anwendeten und bewußt eine harte Konfrontation angesteuert haben, wofür ihnen jetzt die Rechnung präsentiert wird."
DIE PRESSE, Wien, am 27. September 1977: „Die vom Haß leben wie andere von Liebe und Brot, diese Nihilisten der Verzweiflung, sind ein Zersetzungsprodukt, ein abstoßender Homunkulus aus krankem Hochschulmilieu, marxistischer Schickeria und massenmedialer Manipulation.“
Solche Extreme sind selten; die Mehrzahl der Analysen bewegt sich auf der einer abgewogenen Linie, die auch Selbsterforschung einschließt.
Am 16. September 1977 schreibt DAGENS NYHETER, Stockholm: „Die internationale Aufmerksamkeit für die Entwicklung in Westdeutschland ist ... teilweise Ausdruck einer Selbstbespiegelung. Das müssen wir erkennen, damit die Kritik an der Entwicklung in Westdeutschland nicht eine Flucht aus der Verantwortung für das wird, was in Europa als Ganzen und in unserem eigenen Land geschieht."
X.
In diesen Sätzen wird bereits eine Einstellung deutlich, die bei zunehmender Internationalisierung des Terrors mehr und mehr an Raum gewinnt: das Gefühl für die Interdependenz der Bedrohungen und damit wachsendes Verständnis für die bedrohte Bundesrepublik. Die Verhaftung Knut Folkerts’ in Utrecht und die damit ausgelöste grenzüberschreitende Fahndung sowie die Entführung der „Landshut“ und die Geiselbefreiung fördern diese Entwicklung beträchtlich. Warnende Stimmen weisen auf die Gefahren hin, die eine durch ständige Kritik verursachte Isolierung der Deutschen heraufbeschwören könnte, und entdecken sogar in der Bundesrepublik einen Hort demokratischer Stabilität.
BERLINGSKE TIDENDE, Kopenhagen, am 22. September 1977: „Die Fürsorge für die deutsche Demokratie wirkt wenig überzeugend, wenn sie im Ausland in herabsetzenden Beurteilungen der politischen und sozialen Situation in Deutschland und durch Zweifel am Willen und der Zähigkeit der Deutschen Ausdruck findet."
DER BUND, Bern, am 24. September 1977: „Die übertriebene Kritik an der Bundesrepublik Deutschland riskiert, aus den Westdeutschen, die doch bisher in allen Wahlen allen Extremen zur Linken wie zur Rechten eine vernichtende Absage erteilt haben . . ., eben jene Gefahr zu machen, als die sie jetzt zu Unrecht an die Wand gemalt werden.“
HET PAROOL, Amsterdam, am 25. September 1977: „Die Niederlande stehen nun plötzlich Auge in Auge mit der Baader-Meinhof-Erscheinung, die man bis jetzt als eine typisch deutsche Angelegenheit angesehen hatte, worüber man sich luxuriöse und zurechtweisende Betrachtungen erlauben konnte.“
LA STAMPA, Turin, am 30. September 1977: „Die ausländischen Beobachter müssen zunächst summarische Urteile, allgemeine und übertriebene Verdammungen und Verdächtigungen bezüglich einer angeborenen Tendenz der Deutschen zum Despotismus und Vorurteile bezüglich einer wachsenden Unpopularität Deutschlands vermeiden."
LA CROIX, Paris, am 5. Oktober 1977: „Die Nachbarn Deutschlands sollten aufmerksam diese gefahrvolle Gratwanderung verfolgen, zu der ein demokratischer Staat gezwungen ist, der in mehr als einer Beziehung vorbildlich ist. Denn auch sie können früher oder später mit den gleichen beängstigenden Fragen konfrontiert werden."
Spätestens seit der „Landshut" -Entführung zeichnete sich eine rapide Entwicklung zu Verständnis und Solidarität ab. Es gehört zur Ironie der Geschichte, daß ein Begriff zusehends an Bedeutung gewann und zitiert wurde, der als zentrale Losung bei Anti-Vietnam-Demonstrationen und vergleichbaren Veranstaltungen zu beobachten war: die „internationale Solidarität".
LE QUOTIDIEN DE PARIS am 17. Oktober 1977: „Wir sind alle Geiseln. Zu glauben, daß Deutschland die Konsequenzen bezahlen wird oder daß der Terrorismus eine so verschärfte Form nur in Deutschland annehmen kann, das alles ist illusorisch." L’AURORE, Paris, am 1. Oktober 1977: „Die Terroristen haben ... diesen Westen, den sie zu zerstören träumten, wieder zusammengeschweißt."
LA REPUBBLICA, Rom, am gleichen Tage: „Nicht eine einzige Stimme, von welcher Ecke der Welt auch immer, hat sich zu ihrer (der Terroristen) Verteidigung erhoben, und sei es auch nur, um die Motive ihrer Tat zu . verstehen'. 1'
L’AURORE, Paris, am 19. Oktober 1977, nach der Befreiung der „Landshut" -Geiseln: „Die zivilisierte Welt ist zu oft von der Erpressung und Gewalt erniedrigt worden, um die Freude und den Stolz Deutschlands nicht zu teilen."
THE GUARDIAN, London, am gleichen Tage: „Die Antwort auf den Terrorismus ist internationale Entschlossenheit und Solidarität." (sic!)
BASELER ZEITUNG vom gleichen Tage: „Je eher und entschiedener zugleich die europäischen Länder zu gemeinsamem Handeln zurückfinden und entsprechende Perspektiven entwerfen, um so leichter werden sie verhindern, daß Extremisten das nationalistische Handeln für ihre Pläne einsetzen."
In solchen Stimmen zeigen sich Versuche, die neue Erfahrung für die Zukunft auszuwerten. Es gab und gibt seit dem Ende des Schleyer-Dramas zahllose ernsthafte Bestrebungen, Geschehen und Hintergründe zu analysieren mit dem Blick auf die Zukunft. Für zwei der am häufigsten angestellten Überlegungen zwei Beispiele:
BERNER NACHRICHTEN am 22. Oktober 1977: „Was ... künftig ausschlaggebend sein wird, ist das Bürgerverhältnis zu den Rand-gruppen unserer Gesellschaft, wird die Notwendigkeit eines stets offenen Dialogs mit Andersdenkenden sein, wie es sich in einer offenen pluralistischen Gesellschaft geziemt."
THE TIMES, London, am 3. November 1977;
„Die Westdeutschen sind sich sehr genau der Tatsache bewußt, daß sie noch mit den Erinnerungen an den Krieg leben. Aber sie haben an ihrer Rehabilitierung nach innen und außen hart gearbeitet und haben sich mit größerer Energie als die meisten ihrer Kritiker der Europäischen Gemeinschaft gewidmet. Wenn die Deutschen das Gefühl erhalten sollten, daß nichts recht ist, was sie tun, daß sie ein Europa unterstützen, das ihnen mit Ablehnung zurückzahlt, könnten sie irgendwann einmal verbittert werden — und Politiker wären zur Hand, um diese Bitterkeit auszubeuten. Die Gefahr ist noch weit weg; es wäre jedoch unverantwortlich, sie zu fördern."
Es scheint, daß diese Beobachtungen und Mahnungen den Kern der Sorge erhellen, der prominente Politiker und Publizisten bewogen hat, sich öffentlich an die Seite der Bundesrepublik zu stellen, unter ihnen so achtbare und wirkungsstarke Persönlichkeiten wie die Franzosen Alfred Grosser, P. Pflimlin, J. J.
Servan-Schreiber, der Italiener Gustavo Selva und viele andere. In diesen Kontext gehört auch die Aktivität, die deutsche „Sympathisanten" im Ausland in Veranstaltungen und Interviews entwickeln konnten, um bei aller Kritik ihre Solidarität mit ihrem Lande zu unterstreichen und gewisse übertriebene Vorstellungen auf das rechte Maß zu reduzieren, wie bei Günter Grass, der seine ausländischen Zuhörer und Leser immer wieder dringlich bat: „Hört auf, uns Faschisten zu nennen!"
Xl
Am Ende der Entwicklung, am Ende des kritischen Jahres 1977, in dem die Weltöffentlichkeit der deutschen Szene Aufmerksamkeit in einem Ausmaß schenkte, wie es seit dem Bau der Berliner Mauer nicht mehr geschehen ist, läßt sich als Ergebnis der Diskussionen im Lande und zwischen der Bundesrepublik und dem Ausland mit einiger Gewißheit folgendes feststellen:
Je „transnationaler" (Wördemann) und damit gleichzeitig anonymer und auswechselbarer in seinen Motiven und Ansprüchen der Terror wirkt, um so größer ist die Bereitschaft zur Solidarisierung der Nationen und Gesellschaften gegen eine allgemeine, unberechenbare und nur vage begründbare Bedrohung. Krisen solcher Art fördern das Bewußtsein der Interdependenz. Sie fördern andererseits — über die Behandlung der Symptome hinaus — zumindest teilweise die Offenlegung der Impulse rationaler und irrationaler Antagonismen, was für eine langfristige Therapie nur von Nutzen sein kann. Sie könnten auch zur wachsenden Bereitschaft führen, im internationalen Dialog gemeinsam dem Vermeidbaren zu begegnen, bevor aus Aversionen Aggressionen werden.
Naditrag: Als diese Arbeit abgeschlossen wurde, hatte der neue Schlag des internationalen Terrorismus, die Entführung und Ermordung Aldo Moros, noch nicht stattgefunden. Die Reaktion in der Weltpresse fördert nun die Erkenntnis zutage, daß Tendenzen im Wandel durch Ereignisse in der Tat bestätigt werden. Vergleiche zwischen der Entführung Schleyers und der Moros boten sich an, die um so exemplarischer erscheinen mußten, als die Vergangenheit beider Länder ausreichend Material dazu anbietet und das Verhältnis daher besonders sensibel ist. In beiden Ländern besteht in gewissem Maße ein gespaltenes Verhältnis zu allem, was mit Ausübung der Staatsgewalt zu tun hat. RADIO HILVERSUM, AVRO kommentiert am 19. 3. 1978: „Wegen der Erinnerungen an Mussolini und Hitler sind in Italien wie in der Bundesrepublik denen die Hände gebunden, die die Ordnung zu wahren haben . .. und so haben jene, die es auf die öffentliche Ordnung abgesehen haben, ein leichteres Spiel als anderswo. Zielbewußte Aktionen (wie gegen die Südmolukker) sind bei uns (in Holland) leichter durchzuführen, weil niemand, der mit dem Verlauf solcher Aktionen einverstanden ist, als heimlicher Autokrat oder die Regierung als Polizeistaat bezeichnet werden würde .. .“
Verglichen werden die polizeilichen Maßnahmen und ihre Effizienz. Verglichen werden die Methoden und Motive der Terroristen. Auch hierbei hilft die Vergangenheit den Überlegungen nach. BBC spricht am 18. 3. 1978 von der erklärten Entschlossenheit der Terroristen, in beiden Ländern den faschistischen Staatsstreich zu provozieren, wobei die Geschichte allerdings gezeigt habe, daß weder in Italien noch in Deutschland den faschistischen Staatsstreichen eine Machtübernahme durch die Kommunisten gefolgt sei. Die vermutete Zusammenarbeit zwischen Roten Brigaden und RAF fördert im übrigen das komparative Element in der Kommentierung.
Was sich bereits gegen Ende der Schleyer-Krise tendenziell — wie beschrieben — deutlich abzeichnete, fand angesichts der Moro-Entführung seine eindeutige Festigung: gemeint ist der Trend zu differenzierterer Beurteilung der großen Gefahr für die Demokratien und die Stärkung des Rufs nach internationaler Solidarität. So beklagt der Spanische Rundfunk am 16. 3. 1978 lebhaft, daß die Europäische Konvention gegen den Terrorismus, die eine Antwort auf die Herausforderung sein könnte, noch von keinem Land ratifiziert worden sei. Am gleichen Tage ruft Italiens Rundfunk RAI aus: „Der internationale Terrorismus dieses Ausmaßes kann erfolgreich nur durch die entschlossene Solidarität aller demokratischen Kräfte Europas bekämpft werden."
Wenn — alles in allem gesehen — die weltweite Diskussion nach der Entführung Moros keine wesentlich anderen Elemente enthält als die anläßlich der Entführung Schleyers, so zeigt sich in ihrem Verlauf doch deutlich das Bedürfnis nach endlicher Solidarisierung in Gesamteuropa, aber auch zwischen den am stärksten betroffenen Partnern Deutschland und Italien. Kennzeichnend dafür sind die Bemerkungen der weit links angesiedelten LA RE-
PUBBLICA an die Adresse der italienischen Germanophoben: „Jeder, der in diesen Monaten auf der Suche nach Beweisen für die Germanisierung Italiens gewesen ist, kann nun endlich befriedigt sein . . . Vielleicht sollten die Herren einmal darüber nachdenken, daß sich die Frage des Kampfes für die Freiheit des einzelnen und die Würde des Staates beiden Ländern gleichermaßen stellt. Wer das nicht begreift und Brücken einreißt, hat den Ernst der Stunde nicht begriffen."
Es wäre entschieden zu wünschen, daß diese Lehre von allen Betroffenen gezogen würde und zu praktischen Konsequenzen führte.