Die russische Oktoberrevolution ist nicht mehr für alle Kommunisten das Marxsche Weihnachtsfest. Der Mann, der dies zu wagen gesagt hatte, heißt Santiago Carrillo, Generalsekretär der Kommunistischen Partei Spaniens. Die Strafe für solch ketzerisches Gehabe gegenüber Moskau im Jahr der Feierlichkeiten zum 60. Jahrestag der „siegreichen Oktoberrevolution" folgte auf dem Fuße: Carrillo wurde von der Liste der Festtagsredner gestrichen. Die offiziöse sowjetische Wochen-zeitschrift „Nowoje Wremja" (Neue Zeit) hatte ihn zuvor als „Spalter", „Verleumder" und „Revisionisten" bezeichnet. Der publizistischen Attacke gegen den spanischen KP-Chef war die Veröffentlichung von dessen Buch „. Eurokommunismus'und Staat" vorausgegangen. In diesem Buch lehnte es Carrillo unter anderem ab, die Sowjetunion als Modell für einen sozialistischen Staat anzuerkennen;
er sprach sich für einen von Moskau unabhängigen Sozialismus in Freiheit aus: für den Eurokommunismus.
Carrillos Buch hat alle Chancen, eine Art Katechismus für sogenannte Eurokommunisten zu werden, für die italienischen, französischen und spanischen Kommunisten. In ihm wurde in bisher unübertroffener Deutlichkeit festgehalten, wie breit und wie tief der Graben ist, der sich zwischen den Kommunisten innerhalb und außerhalb des Moskauer Machtbereichs aufgetan hat.
Begriffsbestimmung Eurokommunismus ist in den Augen Moskauer Propagandisten und Ideologen eine „für den Sozialismus schädliche Erfindung der westlichen Bourgeoisie", eine „musische Parole des Antikommunismus", um den „real existierenden Sozialismus" in der Sowjetunion und den anderen kommunistisch regierten Ländern „zu beschmutzen" (so Radio Prag). In einem neu erschienenen Moskauer Lehrbuch für Parteikader-Ausbildung heißt es, das Konzept des Eurokommunismus sei von der bourgeoisen Propaganda mit dem Ziel erfunden worden, den „westlichen" und „östlichen" Kommunismus in Konfrontation zu bringen und die internationale Einheit der kommunistischen Partei zu zerbrechen.
Für die jugoslawischen Kommunisten, die dein Eurokommunismus zunächst skeptisch gegenüberstanden, mittlerweile aber zu dessen lautstarken Befürwortern gehören, ist „das wichtigste an seinem Auftreten, daß er eine bestimmte gesellschaftliche Realität zutage fördert. Diese gesellschaftliche Realität beinhaltet die Stärkung der Rolle und der Bedeutung der kommunistischen Parteien in den Ländern des westeuropäischen Mittelmeerraumes und in diesem Lichte auch die neuen Dimensionen, die ihre Besonderheiten als einflußreichen politischen Faktor in diesem Teil der Welt annehmen“ — so die Belgrader Zeitschrift „Internationale Politik". Auch wenn in den Augen der jugoslawischen Kommunisten manche Erscheinungen, die die Eurokommunisten im gesellschaftspolitischen Kräftespiel ihrer Länder akzeptieren wollen (Pluralismus westlicher Art, Mehrparteien-Demokratie und Abwählbarkeit), fragwürdig sind, so „bestätigt der Eurokommunismus auf jeden Fall die wachsende Verschiedenheit der Wege zum Sozialismus. Ohne in die gleichen Irrtümer zu verfallen wie diejenigen, die ihre Erfahrungen als die einzig richtigen hinstellen, leisten die Verfechter des Eurokommunismus einen wertvollen Beitrag zur Affirmation des Sozialismus in den westlichen Ländern sowie zur weiteren Stärkung der Autonomie und Gleichberechtigung in der internationalen Arbeiterbewegung", schreibt „Internationale Politik". Weniger ideologisch verbrämt, dafür für jedermann deutlich, beschreibt Santiago Carrillo seinen eurokommunistischen Standpunkt:
„Jahrelang war Moskau der Ort, wo unsere Träume Wirklichkeit zu werden begannen — unser Rom. Wir sprachen von der großen Oktoberrevolution, als wäre sie unsere Weihnacht. Diesem Kindesalter sind wir längst entwachsen." Und um zu beweisen, daß sie ganz und gar erwachsen geworden sind, wollen die spanischen Kommunisten auf ihrem bevorstehenden Parteikongreß im April noch weiter gehen. Sie beabsichtigten, den Begriff „Leninismus" aus ihren Statuten zu streichen; sie wollen sich nur noch „marxistisch" nennen. Nachdem sie bereits auf die „Diktatur des Proletariats" und auf den „proletarischen Internationalismus" verzichtet haben, geht es nun um die Beseitigung des aus Moskauer Sicht lebenswichtigsten Dogmas: Der Leninismus, gewissermaßen die sowjetische Durchführungsverordnung für Marxsche Ideen, die bisher für alle Kommunisten in Ost und West verbindlich war, soll in Spanien außer Kraft gesetzt werden. In bauernschlauer Bescheidenheit weist Carrillo allerdings die Unterstellung von sich, die spanischen Kommunisten seien die einzigen, die sich vom „Leninismus“ lossagen würden: „Es gab noch eine Partei, die sich nicht . leninistisch’ nannte, das war Lenins eigene Partei. Sie war nur marxistisch ..
Um den Marxschen Propheten Penin endgültig vom ideologischen Denkmalssockel stoßen zu können, hatte Carillo in seinem „Eurokommunismus" -Buch schon vorbeugend geschrieben: „Es mag sein, daß es jemandem wie Gotteslästerung vorkommt, wenn er in dem Buch liest, daß einige Thesen Lenins überholt sind. Aber das können nur die denken, die nicht wissen, daß Lenin solches auch über Marx gesagt hat..
Italiener, Franzosen und Spanier feiern — um bei Carrillos kirchlichen Begriffen zu bleiben eigenes Weihnachtsfest. Und dem — ihr auf Gabentisch, mit dem sie nach der Devise „Ihr Kinderlein kommet" Popularität und Zulauf erheischen wollen, bieten sie für orthodoxe Kommunisten ketzerisches an wie: freie Wahlen, parlamentarische Demokratie, Garantierung aller bürgerlichen Freiheiten, des Privateigentums auch an Produktionsmitteln, Marktwirtschaft und — als all dies ermöglichende Zugabe — die strikte Ablehnung jeglichen sowjetischen Führungs-und Mitspracheanspruchs. Also ein rein nationales Weihnachtsfest. Solche Wahlversprechen gehen, wie der -Ba seler Philosoph Arnold Künzli meinte, „den orthodoxen Marxisten und bürgerlichen Konservativen nicht in den gleichermaßen vernagelten Kopf".
National-Kommunismus
Angriffe der Art, wie sie heute von Moskau aus gegen die Eurokommunisten gestartet werden, haben ihre Parallele in den Angriffen auf die jugoslawischen Kommunisten vor 30 Jahren. Was sich 1947 anbahnte, die ideologischen Unterschiede zwischen Belgrad und Moskau, führte ein Jahr später, 1948, zum Bruch zwischen Stalin und Tito. Es war das erste tatsächliche Schisma in der kommunistischen Weltbewegung. Die Lösung Jugoslawiens von Moskau wurde aber auch dadurch begünstigt, daß die damalige weltpolitische Konstellation kein militärisches Eingreifen der Sowjets gestattete. Die westlichen Alliierten fungierten erstmals, wenn auch zunächst ungewollt, als Schutzschild eines nach Eigenständigkeit und Unabhängigkeit von Moskau strebenden kommunistischen Landes, ohne sich in die inneren Angelegenheiten ihres Schützlings einzumischen. Statt dessen schickten die Amerikaner Wirtschaftsund Militärhilfe. Heute fühlen sich auch die Eurokommunisten im westlichen NATO-Bündnis sicherer als im Warschauer-Pakt, wie Italiens KP-Chef Enrico Berlinguer andeutete. Georges Marchais, Generalsekretär der KPF, will sogar General de Gaulles Atomstreitmacht, die er einst heftig bekämpfte, heute gegen jeden Angreifer von außen einsetzen: also auch gegen den Warschauer-Pakt. Und Santiago Carrillo ist dem Schicksal immer noch dankbar, daß „die Rote Armee nach dem Krieg nicht den Kommunismus nach Spanien gebracht hat".
Jugoslawiens nationale Verteidigungskonzeption ist heute immer noch vorrangig auf einen möglichen Angriff aus dem Osten ausgerichtet.
Ideologischer Kampf
Todo Kurtovic, Mitglied des Zentralkomitees des Bundes der Jugoslawischen Kommunisten (BKJ), beklagte während einer Diskussion über das Thema „proletarischer Internationalismus in Theorie und Praxis", daß es immer noch Versuche geben würde, die Komin-
form-Resolution (die Bukarester Resolution des Kommunistischen Informationsbüro [Ko-
minform] führte 1948 zur formellen Spaltung)
und die Politik Stalins gegenüber Jugoslawien zu rechtfertigen. Der Druck auf die unabhängige Politik Jugoslawiens existiere heute noch, wenn auch in anderer Form.
Moskaus derzeit eifrigster Propagandist gegen den Eurokommunismus, der tschechoslowakische ZK-Sekretär Vasil Bilak, meinte denn auch in der sowjetischen Zeitschrift „Woprossy istorii" (Fragen der Geschichte), daß „die Idee des nationalen Sozialismus wenig wirksam" gewesen sei; „danach kam man mit dem demokratischen, dem christlichen Sozialismus und dem Sozialismus mit menschlichem Antlitz und neuerdings mit dem sogenannten Eu-
rokommunismus". Und in „Rude Pravo", dem Prager Parteiorgan, schrieb Bilak, es sei „nicht möglich, in der Isolierung zu leben". Auf Geheiß des Prager Superpropagandisten Bilak verstieg sich die Prager Zeitschrift „Tribuna" gar zu der Feststellung, unabhängige Wege zum Sozialismus seien mit Nationalsozialismus, sprich Faschismus gleichzusetzen. Radio Zagreb konterte in einem Kommentar, daß „mit dem Vorwurf des Faschismus zur Zeit des Kominform viel Unfug getrieben" worden wäre. Und Jugoslawiens Star-Kommentator Milika Sundic ging in einem Bei-B trag von Radio Belgrad in scharfer Form auf Vasil Bilaks Pro-Moskau-Propaganda-Thesen ein: „Indem er den Tatbestand in Abrede stellt, daß die KPdSU jemals jemandem ihren Willen aufgezwungen habe, rehabilitiert der tschechoslowakische Führer und erste Ideologe im Grunde mittelbar das Kominform und die Kominform-Methoden, vor allem damit, daß er in seinem Artikel nicht von dem groben Anschlag Stalins und der stalinistischen Politik gegenüber Jugoslawien spricht und den Einmarsch der Warschauer-Pakt-Truppen 1968 in die Tschechoslowakei als Beispiel internationalistischer Hilfe anführt, dabei aber ganz vergißt, daß außer ihm und einigen anderen niemand je die Truppen des Warschauer-Paktes gerufen hat, jedenfalls nicht legal, um den Sozialismus in der Tschechoslowakei zu retten.“
Die Schärfe der Auseinandersetzung wird an diesen jugoslawischen Entgegnungen deutlich.
Alte Erfahrungen
BKJ-Präsidiumsmitglied Rato Dugonjic erläuterte, warum man in Jugoslawien so empfindlich darauf reagiert und Carrillo wie selbstverständlich in Schutz nimmt: „Wieder einmal haben die Angriffe und Klischees eingesetzt —-die Verdammung einer Partei, der spanischen Partei —, all dies erinnert uns deutlich in Inhalt und Ton an eine Zeit, von der wir wahrhaft hofften, sie läge hinter uns; eine Zeit, in der ein Zentrum glaubte, es hätte das Recht, anderen Parteien Schelte zu erteilen . . . und sie als revisionistische oder imperialistische Partei zu bezeichnen. Wir wurden zu der Zeit mit noch viel übleren Bezeichnungen belegt.“
Den Bruch Titos mit Stalin haben die Sowjets den Jugoslawen auch heute noch nicht verziehen, entgegen allen anderslautenden Beteuerungen. Die Belgrader Deklaration von 1956, die zur Beilegung der Zwistigkeiten zwischen Jugoslawien und der Sowjetunion führte und Jugoslawiens mittlerweile eingeschlagenen „eigenen Weg zum Sozialismus" sanktionieren sollte, wurde von den sowjetischen Ideologen nur als taktisches Manöver akzeptiert, um die Weltbewegung als solche nicht aus dem Griff zu verlieren. 20 Jahre später, auf dem Ost-Berliner Kommunisten-Gipfel im Juni 1976, sahen sich die Sowjets wieder mit der Notwendigkeit konfrontiert, unliebsame Zugeständnisse zu machen, um die Kontrolle nicht zu verlieren und um das Gesicht zu wahren. Auf Drängen der euro-kommunistischen Parteien sowie der kommunistischen Parteien Jugoslawiens und Rumäniens wurde der Begriff „Proletarischer Internationalismus“ aus dem Schlußdokument gestrichen.
Mit diesem Begriff hatte Moskau seinen absoluten Führungsanspruch in der kommunistischen Welt begründet. Von den westlichen Parteien sowie den Jugoslawen und Rumänen wurde die Streichung dieser Formel als Sieg und Bestätigung anderer Wege zum Sozialismus gefeiert. Präsident Tito erklärte nach dieser Ost-Berliner KP-Konferenz: „Wir sind mit unserem eigenen Weg zum Sozialismus nicht mehr allein. Heute ist hier ein für allemal der Geist des Kominform-Büros beerdigt worden. Das bedeutet wiederum nicht, daß es in Zukunft keine Versuche geben wird, das Erreichte zu minimieren oder es im alten Geiste zu interpretieren."
Tito hatte Recht mit seinem Zweifel. Die Sowjets haben bereits unmittelbar nach dem KP-Gipfel deutlich werden lassen, daß es sich bei diesem Kompromiß nur um ein taktisches Nachgeben handelt. Seither wird das in den Ost-Berliner Dokumenten gestrichene Dogma vom „Proletarischen Internationalismus" noch stärker denn je als oberstes und heiliges Prinzip jeder kommunistischen Partei verkündet. „Die unentwegte Ablehnung verschiedener Wege zum Sozialismus durch einige Parteien der sogenannten sozialistischen Gemeinschaft und hohe Persönlichkeiten in diesen Parteien bedeutet im Grunde eine Ablehnung der Grundprinzipien der gleichberechtigten Zusammenarbeit in der kommunistischen und Arbeiterbewegung und eine Mißbilligung des Dokumentes der Berliner Konferenz der 29 kommunistischen Parteien Europas", erklärte Milika Sundic in einem Kommentar von Radio Belgrad, lange bevor Carrillo die Sowjets mit seinen Thesen herausforderte.
Hegemonie-Bestrebungen
Knapp sechs Monate nach der Ost-Berliner Konferenz verlangte Leonid Breschnew bei seinem Jugoslawien-Besuch unter anderem von Tito, er solle öffentlich erklären, daß das jugoslawische System der Arbeiterselbstverwaltung nur eine vorübergehende Phase in der sozialistischen Entwicklung sei. Tito lehnte Breschnews Forderungen mit Nachdruck ab. Seitdem ist es im Verhältnis Belgrad-Moskau zu immer schärferen Spannungen gekommen.
Daß es noch nicht zu direkten polemischen Angriffen Moskaus auf Jugoslawien gekommen ist, hat seine besonderen Gründe. Einmal war der Augenblick dafür nicht günstig, weil Tito Gastgeber der Helsinki-Nachfolgekonferenz war; eine offene, direkte Polemik hätte den sowieso nicht leichten Stand der Sowjetunion und ihrer Verbündeten auf dieser Konferenz noch erschweren können. Jugoslawien hätte überdeutlich vor allem Teilnehmerstaaten an der KSZE-Nachfolgekonferenz beweisen können, daß der Titoismus, die Selbstverwaltung, als eigener und von Moskau unabhängiger Weg zum Sozialismus den Bürgern dieses Landes so etwas wie Lebenqualität gegeben hat, wovon die Bürger in der Sowjetunion und den anderen Staaten des sowjetischen Machtbereichs nur träumen können.
Zum anderen müssen die sowjetischen Ideologie-Strategen erst noch abwarten, wie und ob sie die renitenten Eurokommunisten wieder an die Leine legen können. Sobald dies von den Kreml-Mächtigen als — in welcher Form auch immer — erledigt abgehakt werden kann, wird man sich mit aller Vehemenz und allem Raffinement der ideologischen Krieg-führung auf Jugoslawien stürzen. Denn Jugoslawien bleibt in den Vorstellungen der Moskauer Politiker die Pforte zum Mittelmeer.
Kategorisch hatte Leonid Breschnew bei seinem Jugoslawien-Besuch im November 1976 vom jugoslawischen Präsidenten Josip Broz Tito die Errichtung sowjetischer Militärbasen an der Adria-Küste und ein unbegrenztes überflugrecht für sowjetische Militärflugzeuge gefordert. Zudem sollte Jugoslawien seine blockfreie Politik aufgeben. Präsident Tito lehnte die Zerstörung seines Lebenswerks entschieden ab.. Er will dem inzwischen mächtigsten Mann in Europa, Leonid Breschnew, beweisen, daß er, der Stalin widerstanden hat (und dies im niederländischen Fernsehen als „den mutigsten Augenblick meines Lebens“ bezeichnete), auch vor dem jetzigen Kreml-Herm nicht zu kuschen bereit ist. Der 85jäh-rige Tito hat deshalb nicht nur Moskau, sondern auch Peking besucht. Gesten und Formalien dieser Art bedeuten für das Verhalten osteuropäisch-slawischer Kommunisten untereinander mehr als unzählige Zeitungskommentare und Analysen.
Daß Machterhaltung, Machtausbreitung und letztlich die Weltherrschaft immer noch die vorherrschenden Ziele in den Köpfen eingefleischter Ideologen Moskauer Couleur sind, wobei selbstverständlich nationalkommunistische Ideen wie der Titoismus störend wirken, machte einer der eifrigsten Verfechter des „realen Sozialismus" (sprich: Sowjetkommunismus), der bereits zitierte tschechoslowakische ZK-Funktionär Vasil Bilak, deutlich: «Unsere Feinde werden sicherlich einige kontinentale Sozialismen oder Kommunismen erfinden — den Afrokommunismus oder Asiokommunismus —, und das nur deshalb, weil dies ihren Zielen dient und der Schwächung der revolutionären Bewegung. Die Eurokommunisten wie auch die Afrokommunisten oder Asiokommunisten sind nur bestrebt, die internationale kommunistische Bewegung in: geographische Zonen und verschiedene Gebiete auseinanderzuschlagen."
Diese unzweideutig auch gegen Jugoslawien > und sein Engagement in der Blockfreien-1 Bewegung gerichtete Kampagne „kulminierte" — so die Zagreber Wochenzeitung" Vjes-i nik u Srijedu" — in dem Angriff von „Nowo-je Wremija" auf Carrillo.
Im Spannungsfeld Moskaus
Bilaks Schelte läßt erahnen, was mit Zielrichtung Jugoslawien in Moskau noch alles zusammengebraut werden wird, um beweisen zu.
können, daß es nicht möglich ist für Kommu-I nisten, ob Titoisten oder Eurokommunisten, 1 „in der Isolation zu leben". Die Vorstellungen „brüderlicher Hilfe", wie 1968 im Fall Tschechoslowakei praktiziert, sind im Moskauer Lager längst nicht ad acta gelegt. Der sowje-
tische ZK-Sekretär Boris Ponomarjow, zuständig für die kommunistischen Parteien im Westen, gebrauchte die alte stalinistische Formel:
von den „Lagern" auf einer Ende April in Prag abgehaltenen Ideologie-Konferenz. Die:
Ostblockländer hatten hochrangige Funktio-
näre entsandt, um dieser Konferenz offiziellen Anschein zu geben; die westlichen Parteien i waren durchweg durch rangniedrige Abgesandte vertreten, denn es handelte sich letztlich nur um eine Redaktions-Konferenz der in Prag beheimateten internationalen KP-Zeitschrift „Probleme des Friedens und des Sozia-.
lismus", die eine Art Nachfolge-Organ des früheren Kominform-Bulletins sein soll. Laut i Ponomarjow's in Prag verkündeten Thesen findet gegenwärtig ein „alles umfassender ideologisch politischer Kampf" statt. Dabei befinden sich in dem einen Lager die „Kräfte des Friedens und des Sozialismus" und im anderen die „Kräfte der Aggression und des Imperialismus". Nach „Nowoje Wremja" (Neue Zeit, Moskau) repräsentieren die einen den 1 „realen Sozialismus", der die Stütze der internationalen Arbeiterbewegung sei. Im anderen Lager seien die Verfechter des „Antikommunismus und Antisowjetismus". Danach ist also jedwede Kritik auch aus kommunistischem Munde an der Sowjetunion, wo den „reale Sozialismus" bereits existiere, mitl „Antikommunismus und Antisowjetismus“ “ gleichzusetzen. Solche ideologischen Interpretationen der Prager Redaktionskonferenz, wie sie nur von den Ostblockmedien wiedergegeben wurden, wollten Spanier, Franzosen und Italiener nicht mitmachen. Die Jugoslawen gehören dieser Runde erst gar nicht an. Der französische KP-Delegierte weigerte sich über ande-1 res zu sprechen als über Themen, die in der Zeitschrift erscheinen sollten; Berlihguers Abgesandter verlangte zudem, daß künftig nicht i hur prosowjetische Meinungen in der Zeitschrift sondern abgedruckt werden sollten, „objektive Informationen über die Politik und den Standpunkt jeder einzelnen Partei". , > ’ Die Moskauer „Prawda" ließ in einem Kom-t mentar über die Prager Zusammenkunft eini1 ges über die Meinungsverschiedenheiten durchblicken, die es in Prag gegeben hatte:
„Die Vertreter einer Reihe von Parteien legten besonderen Nachdruck auf die Notwendigkeit eines konsequenten und unablässigen Kampfes gegen den rechten und linken Opportunismus sowie gegen neuerliche Versuche, die kommunistische Bewegung zu zerschlagen und zu entzweien — ganz gleich, woher solche Versuche auch kommen mögen." Als Opportunisten, das hatte der russische Chefredakteur der Zeitschrift der kommunistischen Internationale, Konstantin Zarodow, schon 1975 in der „Prawda" deutlich gemacht, galten für Moskau alle westeuropäischen Kommunisten, die einen Machtwechsel durch Wahlen anstrebten. Die von Lenin 1905 kreierte „revolutionäre Diktatur des Proletariats", die auf einer politischen und nicht arithmetischen Mehrheit basieren müsse, widerlege „die immer noch umlaufenden opportunistischen Konzeptionen, die darauf hinauslaufen, die Machtergreifung sollte das Resultat einer Art von nationaler Volksabstimmung sein".
Konferenz-Serie
Ende Juni 1977 traf sich der Prager Redaktionszirkel der Zeitschrift „Probleme des Friedens und des Sozialismus" erneut. Diesmal um aus Anlaß ihres 60. Geburtstags die „siegreiche russische Oktoberrevolution" zu feiern. Im Vordergrund aber standen, wenn man dem tschechoslowakischen Parteiorgan „Rude Pra-vo“ glaubt, mehr die Probleme des Sozialisrhus als die des Friedens.
Inzwischen war Santiago Carrillos Buch „, Eurokommunismus’ und Staat" in der Moskauer „Neuen Zeit" verrissen und der Autor als . Spalter" und „Revisionist" gebrandmarkt worden. „Rude Pravo" hieb in diese Kerbe und prangerte den Eurokommunismus als eine Erfindung der imperialistischen, antikommunistischen und antisowjetischen Kräfte an. Er sei ein „Kuckucksei der Bourgeoisie", das die westeuropäischen Kommunisten dazu bringen solle, ihre Politik und Ideologie den Interessen der Klassenfeinde unterzuordnen. Carrillo brüte dieses Kuckucksei mit „unver-holener Geschmacklosigkeit" aus.
Was Spaniens KP-Chef Santiago Carrillo in seinem Buche alles ausgebrütet hat, muß strenggläubigen Leninisten Moskauer Prägung kalte Schauer über den Rücken jagen. Solche Ideen kann man im Kreml und den Hauptstädten Osteuropas tatsächlich nur als ernsthafte Bedrohung ansehen, da sie beginnend mit Lenin alles in Zweifel ziehen, was sowjetische Ideologen jemals erdacht haben, und was Carrillo für die westlichen Parteien als „nicht empfehlenswert" abstempelt. Diese Ideen bedrohen den Lebensnerv des sowjetischen Systems und der von Moskau gelenkten osteuropäischen Länder, in denen der Ruf nach verbrieften Freiheiten und Rechten sowieso schon manche interne Erschütterung verursacht hat.
Die Bedrohung
Eurokommunismus ist in der Sicht Carrillos eine „Tendenz der modernen, fortschrittlichen und revolutionären Bewegung, die sich an die Realitäten unseres Kontinents zu halten versucht“. Sie stehen der anderen Tendenz entgegen, „angeführt von den sowjetischen Genossen, die die Bewegung weiterhin an eine Reihe von Dogmen binden will, die einen propagandistischen Wert für das in der Sowjetunion erreichte System bilden können, aber -— ausgenommen seltene Fälle — den anderen kommunistischen Parteien nicht dabei helfen, in Regierungsparteien zu verwandeln sich 11
Mit dem Staat Sowjetunion geht Carrillo streng ins Gericht. Das „stalinistische Phänomen" habe sich als „System nicht verändert", sich „nicht demokratisiert, und es hat sogar in vieler Hinsicht den Zwang in den Beziehungen mit den sozialistischen Staaten des Ostens beibehalten, wie es brutal bei der militärischen Besetzung der Tschechoslowakei unterstrichen wurde". Die Sowjetunion sei „nicht der Staat, den Lenin sich vorstellte", sie sei „zu Entstellungen und Verfallserscheinungen gelangt, die wir uns zu anderen Zeiten nur in imperialistischen Staaten vorstellen konnten“. Die Gründe für solche Deformationen im Mutterland des Kommunismus sieht der Spanier darin, daß die „bürokratische Führungsschicht über eine unmäßige und fast unkontrollierte Macht verfügt. Sie entscheidet und herrscht gegen den Willen der Arbeiterklasse ... Ein Staat, in dem die Armee und die Staatsorgane eine so große Rolle spielen, läuft Gefahr, Stärke als sein Hauptziel zu sehen, auch wenn er ein Staat ohne Kapitalisten ist und den Kampf der Völker für ihre Befreiung unterstützt; er neigt dazu, den Kampf um den Sozialismus im Weltmaßstab als Hilfe für seine Stärke in der weltweiten Auseinandersetzung zu nutzen, den Internationalismus als sein Machtinstrument zu benutzen.“
Die Abrechnung
Die Strafe für solch ketzerische Äußerungen über die „größte sozialistische Macht der Welt" (Bilak), wo dr „reale Sozialismus" (Ponomarjow) bereits Wirklichkeit sei, kam mit einiger Verspätung. Bereits im April wurde Carrillos Buch veröffentlicht, und man darf davon ausgehen, daß eines der ersten Exemplare schnell in Moskau landete. Doch erst Ende Juni traf den spanischen Kommunisten-Führer der Bannstrahl. Moskau ließ sich Zeit.
Denn erst galt es Kreml-Interna zu lösen, wie die Ablösung Podgornis als Staatschef und die kurz darauf folgende Inthronisierung Breschnews als dessen Nachfolger. Es galt — in dieser frischgebackenen Position — Paris zu besuchen und, durch gezielte Vorabangriffe auf die Eurokommunisten insgesamt, die Reaktion der französischen und italienischen Genossen zu prüfen. Daß man Carrillo nicht den Gefallen tun wollte, ihn vor den ersten freien Wahlen in Spanien seit 40 Jahren als Ketzer abzustempeln, um dadurch möglicherweise seinen Wahlerfolg zu verbessern, versteht sich von selbst. Abgewartet werden mußte auch der Ausgang der Brüsseler Konferenz westeuropäischer kommunistischer Parteien, die für Moskau trotz Störaktionen gegenüber den Eurokommunisten seitens moskautreuer Westparteien ergebnislos verlief. Auch direkt nach den Wahlen in Spanien unternommene Versuche sowjetischer Emissäre, die spanischen Kommunisten wegen des nur mäßigen Abschneidens bei der Wahl gegen Carrillo aufzuwiegeln, blieben erfolglos. Wäre das geglückt, hätte man den Ketzer unverzüglich fallen lassen können. So aber bahnt sich ein neues Schisma der kommunistischen Glaubenslehre an. Das Redeverbot auf dem Oktoberfest war logische Folge. Santiago Carrillo sprach bereits vorher von der „Exkommunizierung durch das heilige Offizium" Kreml. Seitdem er die russische Oktoberrevolution nicht mehr als Weihnachtsfest der Kommunisten empfindet, hat er sich um die Gründung seiner kommunistischen National-kirche gekümmert. Sein Katechismus liegt vor: „Eurokommunismus und Staat".
Daß dies die moskaugläubigen Kommunisten in tiefster Seele treffen muß, ist verständlich. Daß man Carrillo nach stalinistischer Manier als „Agenten des Imperialismus" zu verteufeln versucht, darf nicht verwundern. Intimste Kenntnis sowjetisch-kommunistischer Realität kann ihm, der den Kreml und die kommunistische Bewegung von innen erlebt hat, keiner absprechen.
Die Herausforderung
Carrillos Thesen und Feststellungen sind auch eine Herausforderung an die beiden größten westlichen eurokommunistischen Parteien: die französische und die italienische.
Nach den ersten Angriffen Moskaus auf Carrillo stellten sich beide Parteien scheinbar spontan hinter ihn. Er habe das Recht, auf den eigenen, unabhängigen Weg Spaniens zum Sozialismus zu bestehen. Auffallend wurden jedoch sehr schnell die Unterschiede in der Art, wie Italiener und Franzosen Carrillo in Schutz nahmen. Das Zentralorgan der italienischen KP „UNITA" bezeichnete den Angriff Moskaus auf Carrillo als „anachronistisch", bekundete „tiefen Dissens" mit dem Ton und „einigen Behauptungen“ und bescheinigte der den Angriff führenden Zeitung „Neue Zeit" Unverständnis für die Realität der Arbeiterbewegung, da es keinen monolithischen Charakter der kommunistischen Bewegung gebe. Der Generalsekretär der französischen Kommunisten, Georges Marchais, erklärte, der Eurokommunismus sei „keine imperialistische Erfindung, sondern ein Bestandteil von kommunistischen Parteien, die sich in beinahe identischen Positionen befinden".
Es könne auch nicht die Rede „von einem neuen Zentrum" sein. „Wir sind definitiv ausgeschieden aus jeglicher internationaler Organisation, sowohl im weltweiten wie im regionalen Sinn."
Die größte Unterstützung und das meiste Verständnis für seine Haltung fand Santiago Carrillo jedoch nicht von ungefähr bei den Jugoslawen. Ihr Parteiblatt „Komunist" erinnerte in einem Artikel aus Anlaß des Jahrestages der Ost-Berliner Kommunisten-Konferenz daran, daß auch sie seinerzeit unter Druck gesetzt und dem Versuch einer Exkommunizierung ausgesetzt waren. Es sei „gefährlich und schädlich", wenn man heute aus der „Mottenkiste politischer Requisiten" Elemente und Begriffe hervorkrame, die längst abgelegt worden seien. Die Berliner Konferenz würde durch einige Parteien so interpretiert, als gelte es, „die alten Grundlagen, Kriterien und das System der Beziehungen aus der Zeit zu erhalten, als in einem Zentrum die programB matische Strategie und die politische Taktik der kommunistischen Parteien festgelegt wurde". Den Jugoslawen geht es um die Festigung des „Polyzentrismus" innerhalb der kommunistischen Bewegung, um die Errichtung von moskauunabhängigen Bewegungen. In Santiago Carrillo sehen sie einen starken Verbündeten.
Sozialistisches Weltsystem
Wie allein Spanier und Jugoslawen allerdings in der kommunistischen Welt dastehen, macht eine Verlautbarung der tschechoslowakischen Presseagentur „Ceteka" über das Ergebnis der zweiten Prager Redaktionskonferenz der Zeitschrift „Probleme des Friedens und des Sozialismus" deutlich. Italiener und Franzosen hatten, an dieser Konferenz teilgenommen, nicht aber die Spanier. Laut „Ceteka" wurde „einmütig die Errichtung des sozialistischen Weltsystems als ein Meilenstein in der Entwicklung des revolutionären Prozesses" bezeichnet. Die Konferenzteilnehmer seien zu dem Schluß gekommen, daß „die Arbeiterklasse und die kommunistischen Parteien in den kapitalistischen Ländern sich die Erfahrungen des Oktober zunutze machen und sich auf die wachsende Stärke des sozialistischen Weltsystems verlassen ...". Von der Sowjetunion als dem Land des „realen Sozialismus", wie im Angriff der Zeitschrift „Novoje Wremja“ auf Carrillo wiederholt dargelegt, ist keine Rede mehr, stellt die jugoslawische Presseagentur „Tanjug" fest. Die Sowjetunion läßt sich im 60. Jubiläumsjahr der Oktoberrevolution von den ihr ergebenen Parteien mit dem neuen Begriff „Sozialistisches Weltsystem" feiern.
Hinter dieser neuen Bezeichnung verbirgt sich eine ideologisch verbrämte Verdeutlichung des imperialen Anspruchs, den die Sowjetunion stellt. Dieser Anspruch gilt insbesondere für den Mittelmeerraum, von dessen Beherrschung schon die Petersburger Zaren träumten.
In der Juli-Ausgabe der sowjetischen Monatszeitschrift „Meshdunarodnaja Shisn" wurde interpretiert, welche Ziele der Weltsozialismus verfolgt. Im Ideologen-Russisch heißt es da: „Einen der Wege zur Festigung der Geschlossenheit der sozialistischen Gemeinschaft bildet die Entwicklung der verschiedenartigen Formen der Zusammenarbeit, in denen die Übereinstimmung der nationalen Interessen mit den internationalen, die Anhäufung der quantitativen mit den qualitativen Faktoren der Annäherung der Interessen ihren Ausdruck findet. Hierzu gehört... die aktive Teilnahme aller sozialistischen Staaten an der Verteidigung der nationalen Interessen der einzelnen sozialistischen Länder, wie dies zum Beispiel in der Frage der Unverletzlichkeit der Westgrenzen der CSSR (sprich CSSR-Invasion 1968) ... zutage trat.“
Eine Exegese dieser Textstellen bringt mehr an den Tag. Die Invasion der Warschauer-Pakt-Truppen 1968 in der Tschechoslowakei kann sich an anderer Stelle, in einem anderen Land, in dem die „Geschlossenheit der sozialistischen Gemeinschaft" bedroht ist, wiederholen. Es wird sogar zur Pflicht erhoben, daran teilzunehmen. Unter „sozialistische Gemeinschaft" wird nicht mehr nur die Sowjetunion und ihre Ostblocksatelliten inklusive Kuba und Mongolei verstanden, sondern alle Länder, in denen kommunistische Parteien aktiv sind. Die Vorhut für die „Festigung der Macht der sozialistischen Gemeinschaft", so die russische Zeitschrift an anderer Stelle, bilden aber derzeit noch die „sozialistischen Staaten", also die bereits kommunistisch regierten Länder.
Nationalkommunistische Entwicklungen sind nur statthaft, wenn sie mit den internationalen Interessen, d. h.dem proletarischen Internationalismus, übereinstimmen. Das wiederum heißt, daß im eigentlichen Sinne unabhängige, nationale Wege zum Sozialismus nach wie vor tabu sind, ja, sich gegen die sozialistische Gemeinschaft richten. Und westliche kommunistische Parteien, die über freie Wahlen — quantitativ — die Macht erringen, haben dies umzuwandeln in eine Parteiherrschaft, in die „qualitativen Faktoren" der Diktatur des Proletariats. Die leninistische Formel, nach der nicht die „arithmetische Mehrheit", sprich Wahlerfolg, sondern die „politische Mehrheit", sprich Diktat einer Minderheit über die Mehrheit, für die Etablierung kommunistischer Systeme erforderlich ist und ihr Weiterbestehen garantiert, wird weiterhin als einzig und allein anzustrebendes Ziel dargestellt.
Auf dem Wege dorthin stören die Eurokommunisten, so, wie sie sich derzeit gebärden; hat Josip Broz Tito schon immer gestört; sind den Sowjets auch die aufmüpfigen Albaner in ihrer kleinen mittelmeerischen Trutzburg ein Dorn im Auge; und auch die Chinesen werden darum mit nicht nachlassender Heftigkeit als „Spalter" der kommunistischen Weltbewegung gebrandmarkt.
Das „sozialistische Weltsystem* der Ära Breschnew hat seinen imperialistischen Führungsanspruch in der Welt gerade in der Auseinandersetzung mit den Eurokommunisten wieder drastisch vor Augen geführt. Mit Ideologischen Schachzügen sollen die unbotmäßigen westlichen KP's wieder auf Vordermann gebracht werden. Auf Mitsprache in diesen Parteien, und damit auch auf die Möglichkeit des direkten Eingreifens in die Angelegenheiten der westlichen Staaten, will Moskau um keinen Preis verzichten.
Zwiespältigkeiten
Noch bevor die Delegation der italienischen Kommunisten — kurz nach dem Scherbengericht über Carrillo — nach Moskau reiste, um „bilaterale" Fragen und auch das Verhältnis zwischen der KPdSU und den Eurokommunisten zu erörtern, distanzierte sich die KP Italiens deutlich von dem spanischen KP-Chef.
Zwischen den spanischen und den italienischen Genossen bestünden „einige Unterschiede in der Art und Weise, die Realitäten in den Ostländern und insbesondere in der UdSSR zu beurteilen", sagte der kommunistische Senator Emanuele Macaluso. Aus der sowjetischen Hauptstadt zurückgekehrt, gestand derselbe Senator in einem Interview mit der kommunistischen Parteizeitung „Unitä" zwar ein, daß „die Beziehungen zwischen der Sowjetunion und den kommunistischen Parteien Westeuropas schwierig" seien, aber „die Beziehungen zur Sowjetunion werden aufrechterhalten, die Debatte muß weitergehen". Im Abschlußkommunique, von Moskaus oberster Ideologengarnitur — Suslov, Ponomarjow und Sagladin — und den Außenpolitikern der KPI — Pajetta, Macaluso und Bufalini — unterzeichnet, wurde festgestellt, daß „der Beitrag einer jeden Partei zur gemeinsamen internationalen Sache mit ihrer selbständigen Suche und der Ausarbeitung einer eigenen Politik untrennbar verbunden ist". Die Sowjets hatten also ihre „gemeinsame internationale Sache", die Italiener ihre „selbständige Suche und die Ausarbeitung einer eigenen Politik". Wenn dies aber tatsächlich „untrennbar verbunden" ist, kann die „eigene Politik" nur nach sowjetischen Maßstäben gemessen werden. Das Interpretationsgerangel wird erneut anfangen. Eine im „Unitä" -Interview gemachte Bemerkung Macalusos gibt Aufklärung über den Argwohn, mit dem Moskau trotz aller Kommuniques und Ergebenheitsadressen auf die Eurokommunisten schaut. Die „Beteiligung westeuropäischer kommunistischer Parteien an der Regierung" ihres Landes bereite den Sowjets „aus außenpolitischen Gründen gewisse Sorgen". Dies ist mehr als verständlich, könnte doch beispielsweise in Italien ein kommunistischer Verteidigungsminister Truppen befehligen, die der NATO unterstehen. Oder ein französischer kommunistischer Außenminister könnte die Sowjets beispielsweise an die Einhaltung des Viermächteabkommens über Berlin erinnern und dabei einen westlichen und eben nicht sowjetischen Standpunkt einnehmen. Außenpolitisch hat der Kreml schon durch das Engagement Jugoslawiens bei den Blockfreien der Dritten Welt manche schwere Nuß zu knacken, was auch aus Breschnews Forderungen an Tito ersichtlich wurde, die Blockfreienbewegung den sowjetischen weltpolitischen Zielen zu unterstellen.
Bei dem erklärten Ziel der sowjetischen Politik, den Westen zu schwächen, wo immer sich nur eine Möglichkeit dazu bietet, ist Moskau nicht damit gedient, dort eventuell auf Regierungsämter bekleidende Kommunisten zu stoßen, die nicht das vom kapitalistischen Westen Erreichte zerstören, sondern — so ist den Programmen der Eurokommunisten zu entnehmen —• dies in eine angeblich gerechtere und humanere Gesellschaft umformen wollen, einschließlich aller bürgerlichen Freiheiten und rechtsstaatlichen Errungenschaften. Käme es zu dieser Situation, dann würde es auch keine ideologische Notwendigkeit mehr geben, die osteuropäischen Diktaturen zu verteidigen. Das gesamte Sowjetimperium würde, bildlich gesehen, wie eine Seifenblase zerplatzen. Solange aber — wie es sich auch im gesamten Komplex der Menschenrechtsfrage zeigt — die Ideologie nur zur Machterhaltung und Machtausübung einer imperialistischen Großmacht dient (Carrillo hat dies in schonungsloser Offenheit dargestellt; Tito nennt das Hegemonismus), solange kann Moskau keinen Grund haben, die Genossen im Westen zu stärken, sondern, im Gegenteil, sie müssen schwach und auf kleiner Flamme gehalten werden. Schwierigkeiten zwischen den großen westeuropäischen kommunistischen Parteien und der KPdSU bahnten sich bekanntlich auch erst an, als diese Parteien erstarkten und die anderen demokratischen Parteien in den pluralistischen Gesellschaften des Westens sich ernsthaft und nicht mehr nur mittels polemischer Angstmacherei mit ihnen auseinandersetzen mußten.
Basis gegen Funktionäre
Das einzige in sowjetischen Augen probate Mittel, eine starke und sich unabhängig gebärdende Partei an die Zügel zu legen, ist die Spaltung einer solchen Partei, ist der Versuch, sie zu unterlaufen, die Diversion.
Seit 1948 sieht sich Jugoslawien mit diesem Problem konfrontiert. Nicht umsonst sind ein großer Teil der im wahrsten Sinne des Wortes „politischen Gefangenen" in Jugoslawien moskauhörige Kommunisten. Das politische Werk des Kommunisten Tito, das die Wurzel zu allem schismatischen Übel in der kommunistischen Weltbewegung legte, ist gekennzeichnet von einer permanenten Auseinandersetzung mit der jeweiligen doktrinären Moskauer Führungsschicht. Tito konnte die Sowjets immer in Schach halten, weil er weitsichtiger dachte und undogmatischer vorging als seine sowjetischen Kontrahenten. Und er hatte den entschiedenen Vorteil, sich in einer Situation von Moskau loslösen zu können, die es Stalin nicht erlaubte, militärische Gewalt anzuwenden. Jugoslawiens Bruch mit der Sowjetunion kam überdies dem westlichen Sicherheitsinteresse entgegen. Seitdem beweist ein kleines Land, daß es auch ohne die Ratschläge des großen Bruders einen eigenen sozialistischen Weg beschreiten kann.
Ein Nachahmen des jugoslawischen Weges, das zeigt die Heftigkeit der ideologischen Angriffe auf die Eurokommunisten, will der Kreml verhindern. Folglich appelliert Moskau an die sogenannten „gesunden Kräfte" in der Basis der westeuropäischen kommunistischen Parteien. Und diese Basis, so vernahm man es vor kurzem auch aus Italien, schickt sich an, gegen die Parteiaristokratie zu rebellieren. Je näher Enrico Berlinguer seinem Ziele kommt, dem „historischen Kompromiß", desto stärker rumort es an besagter Basis. In Frankreich mußte der Volksfront-Taktiker Marchais Schelte von der Basis einstecken, weil bei den Regionalwahlen angeblich sichere Wahlkreise der Kommunisten aufgrund einer fehlerhaften Politik Marchais'an die Sozialisten verloren gingen.
Beispiele dieser Art gäbe es eine ganze Reihe. Daß die Sowjets das Handwerk des Intrigierens verstehen, machte „Prawda" -Kommentator Vitalji Korionow im Frühjahr 1977 in einem Kommentar über die Entwicklungen in der italienischen Partei deutlich: Er ließ einen Mann des Volkes, einen von der Basis, einen italienischen Altkommunisten, dessen Name selbstverständlich nicht genannt wurde, zu Wort kommen: „Der Feind will uns überzeugen, daß sich der Kapitalismus verbessern ließe, daß es nicht notwendig ist, für den Sozialismus zu kämpfen, sondern, daß es genügt, , däs Aufgebaute zu verändern'; und dann wird sich auch die Basis umwandeln, und auf diese Art wird die Gesellschaft sich dann unbemerkt vom Kapitalismus in den Sozialismus verwandeln. Eine vergebliche Liebesmühe, das werden wir nie schlucken.“
Realitäten
Italiens kommunistischer Gewerkschaftsführer Luciano Lama verlangte von seinen Genossen aber mittlerweile weit mehr. Er sprach sich für eine „Politik der Opfer" aus, die aus Verzicht auf Lohnerhöhungen und Stillstand in Sachen Streiks bestehen sollte, um ein freundlicheres Investitionsklima zu schaffen. Nach diesem Rezept, das oberflächlich gesehen eher aus einem Lehrbuch für Kapitalisten als aus der Einsicht eines Kommunisten stammen könnte, versprach sich Lama einen nachhaltigen Abbau der bedrückenden Arbeitslosigkeit und einen Weg zur Lösung der Wirtschaftskrise. •
Daß die Kommunisten einen solchen Kurs sowieso einschlagen müßten, sollten sie an der Regierung beteiligt werden, sagten weder der Gewerkschaftler noch die Partei. Sie verlassen sich — auch bei für ihre Gefolgschaft unangenehmen Entscheidungen — auf die Disziplin eines eingespielten und streng durchorganisierten Parteiapparats, einer Konstruktion, die nicht nach demokratischen, sondern leninistisch-zentralistischen Prinzipien funktioniert, nach dem Prinzip der Herrschaft einer qualifizierten Minderheit über die quantitative Mehrheit.
Mit der innerparteilichen Demokratie ist es bei den Eurokommunisten noch durchaus schlecht bestellt. Der Widerspruch zwischen innerer Struktur und programmatischem Pluralismusbekenntnis nach außen hin ist der wohl wesentlichste Grund, die Glaubwürdigkeit in Zweifel zu ziehen. Innerparteiliche Kritiker, das zeigt vor allem die Geschichte der französischen kommunistischen Partei, werden auf nicht gerade demokratische Weise abserviert. Die Parteidisziplin ist das oberste Gebot. Ohne sie hätte es auch für Carrillo und seine Partei im Franco-Spanien kein überleben gegeben. Und weil die einmal als verbindlich festgelegte Ideologie keiner Meinungsfindung mehr von der Basis her bedarf, beschränkt sich die innerparteiliche Demokratie bestenfalls nur auf Diskussionen über Durchführungstaktiken, auf die organisatorische Realisierbarkeit der von oben vorgegebenen Beschlüsse.
Diese innerparteilichen Strukturen der westeuropäischen Kommunisten erklären unter anderem auch, warum gerade in einer für diese Parteien wichtigen Zeit (Regierungskrise in Italien und mögliche Beteiligung der Kommunisten an der Regierung; Wahlen in Frankreich; Parteikongreß in Spanien) die offenen Angriffe aus Moskau nicht eingestellt werden, ja sogar noch an Heftigkeit zunehmen. Darin eine Wahlhilfe (Frankreich) oder Eselsbrücke zur Macht (Italien) sehen zu wollen, wäre nicht nur oberflächlich, sondern schlechthin irrig. Es gilt, die Männer an der Spitze zu treffen, dort, wo die Partei am stärksten und gefestigtsten ist, indem man das Parteivolk durch ideologische Attacken verunsichert und den Eindruck zu vermitteln versucht, die kommunistische Anhängerschaft werde von Abweichlern irregeleitet. Ein nicht den Erwartungen entsprechendes Abschneiden der französischen Kommunisten bei den Wahlen könnte Moskau beispielsweise als Bestätigung seiner Thesen ausschlachten.
Marchais, Berlinguer und Carrillo, aber auch Tito und Ceausescu haben den Sowjets jegliches Recht auf eine Führungsrolie in der kommünistischen Bewegung und aüf Einmischung in die nationalen Belange ihrer Parteien und Länder abgesprocheh. Im Schlußdoku-ment der Ost-Berliner Kommunisten-Konferenz wurde eindeutig die Selbständigkeit jeder nationalen kommunistischen Partei festgehalten. Doch seitdem es dieses Dokument gibt, versucht Moskau Schritt für Schritt diese Festschreibung zu revidieren.
Nach altem Muster
Nach neuester Moskauer Lesart ist das Ost-Berliner Dokument keine Bestätigung der eigenen Wege zum Sozialismus, sondern ein Ausdruck des „Kommunistischen Monolithis-mus". Die Belgrader Parteizeitung „Borba" stufte diesen Ausdruck, hinter dem sich der sowjetische Absolutheitsanspruch verbirgt, ein als „Bezeichnung, die für die dogmatische Periode der internationalen kommunistischen Bewegung charakteristisch" war. Das war die Zeit Stalins und des Kominform. In einem unter der Federführung des Ideologen Wadim Sagladin (im ZK der KPdSU für die Beziehungen zu den nichtregierenden kommunistischen Parteien mitverantwortlich) vor kurzem erschienenen Buch mit dem Titel „Für ein Europa des Friedens und des Fortschritts" wird der „Monolithismus" als Grundlage der internationalen kommunistischen Bewegung angepriesen und gefordert. Den im Ost-Berliner Dokument niedergelegten Begriff „internationalistische Solidarität" bezeichnet Sagladin lediglich als Synonym für den damals gestrichenen Begriff „proletarischer Internationalismus". Aus Moskauer Dogmatikersicht hat sich also nichts geändert am Alleinführungsanspruch. Westeuropäische Kommunistenführer (und nicht nur diese), die aufgrund des Ost-Berliner Dokuments gegenüber ihrem Parteivolk von der Nationalisierung und absoluten Selbständigkeit ihrer Partei gesprochen hatten, haben demnach die Unwahrheit verbreitet. Und um die Eurokommunisten so unglaubwürdig wie nur eben möglich zu machen, werden sie wie seinerzeit die Jugoslawen als „trojanisches Pferd im internationalen Kommunismus" und als „Agentur der Konterrevolution", so die Prager Zeitschrift „Tvorba", bezeichnet. Die Moskauer Zeitschrift „Neue Zeit" hatte sich speziell den spanischen KP-Spitzenfunktionär Manuel Azcarate vorgeknöpft, der gleich Carrillo die sowjetische Form des Marxismus-Leninismus schärfstens ablehnt. Die „Neue Zeit" identifizierte ihn und die Eurokommunisten schlechthin als Imperialisten und Sowjetfeinde und somit als Antikommunisten, die dem eigenen Lande und der Partei Schaden zufügen würden: „Die Sowjetfeindschaft ist ihrem Wesen nach zwangsläufig auf die Unterhöhlung des Einflusses und Ansehens der kommunistischen Parteien in den kapitalistischen Ländern, auf die Schwächung ihrer Verbindung zur Arbeiterklasse sowie zu anderen demokratischen* sozialen und politischen Kräften gerichtet. Jede antikommunistische Kampagne stimuliert Kommunistenfeinde. Man kann nicht wirksam für Freiheit und Demokratie im eigenen Lande, auch in Spanien, kämpfen* wenn man den realen Sozialismus (die Sowjetunion) diskreditiert.“
Die Jugoslawen sehen in der ideologischen Starrheit der sowjetischen Dogmatiker eine weitaus gefährlichere Entwicklung und warnen vor einer Wiederholung der nunmehr zehn Jahre zurückliegenden Ereignisse in der Tschechoslowakei. Das Mitglied des Partei-präsidiums Dobrivoje Vidic verlangte in einem „Borba" -Artikel, daß „die Methoden der militärischen Intervention im Rahmen der so-genannten Doktrin der begrenzten Souveränität bzw. im Namen der sogenannten höheren Interessen des Sozialismus, womit man die Aggression zu rechtfertigen sucht, für alle Zeiten beseitigt und als unvereinbar mit dem Völkerrecht, der UN-Charta und mit den Interessen des Friedens und der friedlichen Zusammenarbeit zwischen Völkern und Ländern gebrandmarkt und Verurteilt" werden müssen.
Moskau arbeitet auf Hochtouren, um den Eurokommunismus als Verrat am Sozialismus zu verdächtigen und unglaubwürdig zu machen. Die Möglichkeit zur direkten Einflußnahme auf die inneren Ereignisse in Spanien, Italien oder Frankreich mittels moskautreuer Funktionäre ist den sowjetischen Machtpolitikern wichtiger als ein zufriedenstellendes Abschneiden unbotmäßiger Parteien bei demokratischen Wahlen.