Verständigungsschwierigkeiten behindern die Rechtsfindung
Die Justiz steht nicht zu Unrecht in dem Ruf, durch formales Gleichheitsdenken soziale Ungleichheiten zu übersehen, die z. B.den Ausgang eines Zivilprozesses nachhaltig beeinflussen können. In den letzten Jahren ist jedoch auch in der Rechtspflege ein Umdenken in Gang gekommen, das sich auf den Sozialstaatsgedanken des Grundgesetzes beruft und versucht, die Benachteiligung der sozial Schwachen im Gerichtsverfahren auszugleichen. Neben der Erweiterung der Prozeßkostenhilfe werden richterliche Hilfen im Prozeß selbst gefordert, die verhindern sollen, daß ungewandte und unbeholfene Prozeßparteien, die an sich im Recht sind, einen Prozeß verlieren, weil ihr Gegner gewandter ist und seine Überlegenheit auszuspielen weiß.
Die Begegnung der Gerichtspraxis mit der sich entwickelnden Justizsoziologie hat ferner die Erkenntnis gefördert, daß die mündliche Gerichtsverhandlung, in der das Gericht den Streit in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht mit den Beteiligten erörtert, stärker Das Zivilprozeßrecht regelt die staatliche Rechtspflege in „bürgerlichen Rechtsangelegenheiten" (§ 13, GVG), dient also dem Austragen und der Erledigung von Konflikten in solchen Verfahren, die private Rechtsverhältnisse zum Gegenstand haben. Wie jedes Gerichtsverfahren, so ist auch der Zivilprozeß nicht nur ein System von Rechtsbeziehungen zwischen den am Verfahren Beteiligten, sondern auch ein Sozialverhältnis, nämlich ein Geflecht sozialer Beziehungen oder, wie die Soziologen heute gern sagen, ein Netzwerk von Interaktionen zwischen den Personen, die als Inhaber von Verfahrenspositionen oder -rollen an dem Geschehen beteiligt sind.
Den Juristen geläufiger ist die Charakterisierung des Prozesses als „Rechtsverhältnis". Diese Begriffsbestimmung hat den Sinn, die rechtliche Miteinanderverwobenheit aller prozessualen Handlungen deutlich zu machen und den gerichtlichen Prozeß aus dem Bereich der Macht und der bloßen Willkür beB als bisher in den Mittelpunkt des gerichtlichen Verfahrens gestellt werden muß. Ihren gesetzgeberischen Ausdruck hat diese Erkenntnis in der Zivilprozeßnovelle vom 3. Dezember 1976 (BGBl. I 3281) gefunden, die, von der Öffentlichkeit kaum beachtet, die Zivilprozeßordnung von 1877 in wichtigen Punkten geändert hat und am 1. Juli 1977 in Kraft getreten ist.
In den nachstehenden Ausführungen werden die daraus resultierenden Wandlungen der Rechtspraxis unter dem Gesichtspunkt untersucht, wie die Zusammenarbeit unter den Verfahrensbeteiligten zur Erreichung des Prozeßziels gefördert und auf welche Weise das Gericht dazu beitragen kann, daß jedermann, ohne Rücksicht auf seine soziale Lage, die gleichen Chancen hat, vor Gericht Recht zu bekommen. Aus sozialwissenschaftlicher Sicht handelt es sich um Probleme der Kommunikation und Kompensation; die Juristen sprechen von „Rechtsgespräch" und „kompensatorischer" oder „kompensierender" Gerichtsverhandlung.
I. Die Gerichtsverhandlung als Sozialverhältnis
grifflich herauszurücken. Es sollte als beherrschender Gesichtspunkt deutlich gemacht werden, in welchem Verhältnis im Rechtsstaat der Bürger gegenüber der Rechtspflege-macht des Staates gesichert ist. Wer am Prozeß beteiligt ist, gleichviel in welcher Rolle (Partei, Anwalt, Richter, Zeuge, Sachverständiger), hat seiner prozessualen Stellung gemäß bestimmte Rechte und Pflichten, die sich wechselseitig bedingen, also voneinander abhängig sind. Der Begriff des Prozeßrechtsverhältnisses'zeigt an, daß die Handlungen der Verfahrensbeteiligten unter einer rechtlichen Ordnung stehen. Auch in seiner Rechtspflege-aufgabe verbindet der Staat mit der Sicherung der persönlichen Sphäre des Individuums die Rücksicht auf Freiheit und Gleichheit, die der Rechtsstaat seinen Bürgern schuldet.
Außer Frage steht, daß diese juristische Begriffsbildung den rechtsstaatlichen Charakter des modernen Zivilprozesses befestigt hat. Im Laufe der Zeit ist jedoch mehr und mehr offenbar geworden, daß die rein juristische Betrachtung das Phänomen des Prozesses nicht voll erfaßt, sondern nur einen Ausschnitt daraus liefert. Die Rechtsnormen beispielsweise, nach denen sich die Gerichte bei der Verfahrensgestaltung richten sollen, sind in allen Orten der Bundesrepublik dieselben. Tatsächlich aber weist die Praxis von Gericht zu Gericht nicht unerhebliche Unterschiede auf, was Normanwendung und tatsächliches Verhalten betrifft. Das liegt vor allem daran, daß die Normen der Prozeßordnung das reale Verhalten der Prozeßbeteiligten nicht vollständig bestimmen, sondern oft nur einen Rahmen setzen, den die Verfahrensbeteiligten ausfüllen. Die Art und Weise, wie sie das tun, macht die soziale Wirklichkeit des Prozesses aus.
Der neueren Sozialwissenschaft ist dabei die Erkenntnis zu danken, daß das Ergebnis des Prozesses entscheidend von der Möglichkeit sprachlicher Verständigung im Verfahren abhängt. Verfehlt wäre es allerdings, das gerichtliche Verfahren entsprechend der Lehre von Habermas als Kommunikation nach dem Modell des rationalen Diskurses zu verstehen, wie das gelegentlich versucht wird Eine ideale Sprechsituation in diesem Sinn, in der die Kommunikation weder durch äußere Einwirkungen noch durch Zwänge behindert wird, die sich aus der Struktur der Kommunikation selbst ergeben, gibt es vor Gericht nicht. Das gerichtliche Verfahren zielt primär nicht auf Konsens, sondern auf Entscheidung, nicht auf den Vergleich, sondern auf das Urteil. Die Unmöglichkeit, in unserem Gerichtsverfahren einen uneingeschränkt herrschaftsfreien Dialog zu führen, schließt aber nicht aus, daß seitens der Gerichte alles getan wird, um eine Situation zu schaffen, in der die Findung eines richtigen, d. h.der Rechtslage entsprechenden Urteils so wenig wie möglich behindert wird. Eine solche Verpflichtung ist im Sozialstaatspostulat des Grundgesetzes einbeschlossen, das als Staatszielbestimmung auch für die Rechtsprechung verbindliche Richtschnur des Handelns ist.
II. Vom geschlossenen zum offenen Verhandlungstyp
Für die gerichtliche Praxis bedeutet das vor allem ein Dreifaches: einmal die Reduzierung der Herrschaftsmechanismen im Prozeß, zum anderen die Herstellung von Partizipationschancen und drittens die Stärkung der Hand-lungsund Sprachkompetenz der Verfahrens-beteiligten. Das ist nur dem Namen nach eine neue Aufgabe für die Justiz. In der Sache ist sie unter Begriffen wie „Stil des Richtens" seit langem diskutiert worden. Vielen Richtern hat auch diese Diskussion nichts Neues gebracht, weil sie schon so verfuhren, wie es gefordert wurde. Immerhin wurde aber auf diese Weise das Sozialverhalten des Richters im Prozeß problematisiert, was auf jeden Fall den Vorteil hatte, daß nunmehr bewußt geschehen konnte, was vorher unbewußt und oft auch nur mit gleichsam schlechtem Gewissen getan wurde, weil es von den in der Ausbildung erworbenen Verhaltensmustern abwich.
Es ist deshalb nicht richtig, wenn man den Studentenunruhen Ende der sechziger Jahre und den damit verbundenen Provokationen das Verdienst daran zuschreibt, daß es zu einer „Liberalisierung" der Gerichtsverhandlung gekommen ist; diese Entwicklung war längst im Gange Ich selbst habe seit Anfang der sechziger Jahre auf Fortbildungstagungen Vorträge in diesem Sinne gehalten, und das waren keineswegs isolierte Versuche, dem uralten Problem des gerichtlichen Verhandlungsstils vom Standpunkt eines gewandelten Lebensge-fühls und eines Demokratiebegriffs zu Leibe zu gehen, der Demokratie nicht bloß als politische Methode, sondern auch als Lebensform verstand. Die Clownerien des Studenten Fritz Teufel und sein berühmtes „Wenn es der Wahrheitsfindung dient", womit er in einem der damaligen Moabiter Demonstrationsprozesse der Aufforderung des Vorsitzenden, sich zu erheben, nach langem Widerstreben schließlich nachkam, haben zwar die Öffentlichkeit auf einige Probleme aufmerksam gemacht; davon, daß Teufel und seine Mitprovokateure der Justiz erst den Anstoß zur Humanisierung der Gerichtsverhandlung gegeben hätten, kann aber keine Rede sein. Tatsächlich ist die Wirkung, die von ihren Auftritten und vom politischen Umfeld der APO ausging, für die im Gang befindlichen Veränderungsprozesse eher hinderlich als förderlich gewesen. Ein sehr großer Teil der Richter, der das Hineinwachsen der Justiz in die demokratische Lebensform bis dahin mitgetragen hat-te, fühlte sich dadurch verunsichert. Das Ergebnis waren Verzögerungen in der Durchsetzung des modernen Verhandlungsstils und auch Verkrampfungen, die in manchen Teilen der Justiz noch heute den Fortgang dieser „inneren Justizreform" behindern
Systematisch lassen sich mehrere Diskussionsansätze unterscheiden, die bei der stufenweise „Demokratisierung" des Verhandlungsstils nach 1945 eine Rolle spielten:
Der zeitlich erste Ansatz stand im Zeichen einer Ethisierung, die christliche Moralgrundsätze in den Vordergrund stellte. Diese Verknüpfung war für einen Soziologen nichts weniger als ein Zufall. Nach 1945 hatte ein großer Teil der Beamtenelite Anschluß an die christlichen Kirchen gesucht, weil diese in den Unsicherheiten der Zeit Halt versprachen. Man darf aber auch nicht verkennen, daß zwischen der protestantischen Ethik und dem Dienstethos der Richter und Beamten ohnehin eine innere Beziehung bestand und teilweise auch heute noch besteht. Der Rückgriff auf Maximen dieser Herkunft bot sich daher gleichsam an, wenn nach einer das positive Recht übersteigenden Rechtfertigung oder Überhöhung richterlicher Tätigkeit gesucht wurde. Ein eindrucksvolles Dokument für die Fundierung richterlichen Handelns im biblischen Menschenbild ist z. B. die Ansprache, die der spätere Präsident des Bundesgerichtshofs, Bruno Heusinger, 1955 bei seiner Einführung als Oberlandesgerichtspräsident in Celle hielt. Als Strafrechtspraktiker hat sich insbesondere der Hamburger Richter Fritz Valentin um eine christlich ausgerichtete, vom „Krampf der Milde“ befreite, aber sich zur Demut hinwendende Verhandlungsführung verdient gemacht
Ich habe als junger Richter oft solche Appelle mit ihrem schlichten, aber ergreifenden Pathos miterlebt, hinter dem oft ein im Wider-stand gegen das NS-Regime erprobtes Richter-
und Menschenbild stand, dem man auch heute seinen Respekt nicht versagen kann.
Der zweite Ansatz zielte auf die liberalrechtsstaatliche Durchdringung des Gerichtsverfahrens unter dem Gesichtspunkt der strikten Beachtung der rechtsstaatlichen Verfahrensgarantien und des rechtlichen Gehörs.
Dieser Strömung ging es darum, die Rechtsgarantien, die den Bürger vor der Willkür gerichtlicher Macht schützen, in der Prozeßwirklichkeit zu stärken, sie vor einer „Minimalisierung" durch fortbestehende obrigkeitsstaatliche Verfahrensgewohnheiten zu bewahren.
Die Strenge, mit der die höchstrichterliche Rechtsprechung auf die Respektierung der Vorschriften bestand, brachte dem gehetzten Praktiker, der sehen muß, wie er seine Prozesse „durchzieht", nicht selten Verdruß.
Die Rechtsuchenden hatten jedoch den Vorteil davon. Die Aktualisierung des rechtlichen Gehörs (Art. 103 Abs. 1 GG), bei der sich auch Anwälte wie Adolf Arndt hervorgetan ha-ben führte gleichsam zu einer stillen Revolution der Verfahrenspraxis, durch die der rechtsuchende Bürger vor Überraschungsentscheidungen geschützt wurde.
Als es 1967 und 1968 zu den ersten Zusammenstößen zwischen provozierenden Studenten und Richtern im Gerichtssaal kam, wurde unter diesem Ansatz erörtert, warum man nicht Provokationen und auch kleinere Unverschämtheiten hinnehmen sollte, die den Gang der Verhandlung an sich nicht beeinträchtigen. Der Richter wurde von der Aufgabe, die Würde des Gerichts zu wahren, entlastet; er sollte sich nurmehr darauf konzentrieren, den ordnungsgemäßen Ablauf der Verhandlung sicherzustellen. Der Richter sollte auch so weit wie möglich selbst seinen Verhaltens- und Ausdrucksstil auf den Ton funktionaler Sachlichkeit (Martin Kriele) reduzieren und sich nicht im Versuch, „das Unzwingbare, den inneren Respekt vor der im Talar sich dokumentierenden Würde zu erzwingen" in Machtkämpfe verstricken, ferner provozierende Bemerkungen, herablassendes Wohlwollen, Ungeduld, in der Kampfsituation verfehlte pädagogische Ermahnungen unterlassen. Der Richter sollte mit seiner Individualität hinter seiner Funktion zurücktre-ten und sich dementsprechend verhalten und ausdrücken.
Damit wurde auch das Problem der Richter-autoritätaufgeworfen, und zwar im Zusammenhang mit einer Debatte, die sich nicht nur gegen Autoritätsstrapazierungen im Gerichtssaal richtete, sondern auch im gesamtgesellschaftlichen Bereich keine der etablierten Autoritäten unbefragt ließ. Die starke Stellung des Vorsitzenden (insbesondere im Strafprozeß), seine Ordnungsstrafgewalt und auch das Verfahrenszeremoniell wurden zum Problem gemacht und darauf geprüft, wieweit sie richterlichem Autoritarismus und Ritualismus Vorschub leisteten. Altliberales Freiheitsdenken, anarchistische Gedankengänge und technokratische Effizienzvorstellungen verknüpften und verhakten sich dabei auf mitunter wunderliche Weise.
Konsens wurde schnell darüber erzielt, daß der Bürger in einer demokratisch verfaßten Gesellschaft nicht mehr als der Untertan betrachtet werden darf, der sich, wie es in Lehrbüchern hieß, mit der Bitte um Rechtsschutz an die Obrigkeit wendet. In einem freiheitlichen Gemeinwesen verbietet sich jede Obrigkeitsattitüde und ebenso jeder Glaube an die eigene Unfehlbarkeit und Selbstherrlichkeit, wie er im Begriff des Autoritarismus zusammengefaßt ist.
Es gelang aber auch, den demokratischen Autoritätsbegriff in anderer Richtung ohne Rückgriff auf den beliebten, in Richterbeurteilungen immer wieder auftauchenden Begriff der „natürlichen Autorität" abzugrenzen. Organisation ohne Autorität ist nicht möglich. Als auf dem Höhepunkt der antiautoritären Bewegung in Frankfurt seitens der Demonstranten schlechtweg jede Autorität verdammt wurde, konnte ihnen ein Satz von Friedrich Engels aus dem Almanacco Republicano von 1873 entgegengehalten werden in dem jener fragt, was wohl mit dem ersten abgehenden Zuge geschähe, wenn „die Autorität der Bahnangestellten über die Herren Reisenden" abgeschafft würde. Was Engels hier für den Eisenbahnbetrieb sagt, gilt auch für das Gerichtsverfahren: Ohne funktionale Autorität ist nicht auszukommen. Man kann sie nicht abschaffen, sondern nur auf jene Grenzen beschränken, in denen die sozialen Bedingungen sie unvermeidlich machen. Die funktionale Autorität ist in der Demokratie geliehene Autorität; sie muß sich durch Sachkompetenz ausweisen und die durch die Funktion gesetzten Grenzen beachten.
Der dritte Ansatz knüpfte an das Grundrecht der Menschenwürde (Art. 1 GG) an und verband dieses mit dem Demokratiegebot der Verfassung; sein Ziel ist die Humanisierung und Demokratisierung des Gerichtsverfahrens. + Zunächst wurde allgemein die Stellung des Bürgers vor Gericht thematisiert, etwa auf dem Rechtspolitischen Kongreß der SPD 1965 in Heidelberg Die Forderung nach Über-windung autoritärer Denk-und Verhaltensweisen im Gerichtsverfahren bekämpfte den „Gerichtsuntertanen" und führte zur Propagierung eines liberalen und demokratischen Verhandlungsstils, der die Atmosphäre in den Gerichtssälen humaner machen sollte. Ihren Höhepunkt erreichte die Diskussion über diese Problematik während der Studentenunruhen im Frankfurter Symposion vom Mai 1969, als profilierte Hochschullehrer und Journalisten gemeinsam mit bekannten Rechts-und Staatsanwälten sowie Richtern Leitlinien für einen zeitgemäßen Verhandlungsstil zu entwickeln versuchten
Hier wurde deutlich gemacht, daß es nicht darauf ankommt, vor Unbotmäßigkeiten, die man nicht hindern kann, zurückzuweichen, Ordnungsverstöße zu tolerieren oder „Machtkämpfen" aus dem Wege zu gehen, „die man schlechterdings nicht gewinnen kann" Eine bewußte — und nicht bloß taktische — Abwendung vom herkömmlichen Verfahrens-stil wurde gefordert, die Hinwendung zu einem menschlichen, auf Kooperation und Partizipation zielenden Verfahrensstil, der davon ausgeht, daß nicht Abstraktionen vor Gericht erscheinen, sondern konkrete Menschen in ihrer Macht und Ohnmacht, und der deshalb bewußt darauf gerichtet ist, im Rahmen der gegebenen Möglichkeiten optimale Voraussetzungen für eine gerechte Rechtsfindung zu schaffen.
Das wurde damals für den Strafprozeß präzisiert, war aber für jedes gerichtliche Verfahren gedacht, und wurde so auch anschließend auf vielen Richtertagungen diskutiert. Wenngleich sich die Debatte oft auch an mehr am Rande liegenden — wenn auch keineswegs bedeutungslosen — Problemen erhitzte, so hatte sie doch bleibende Erfolge. Das kann jeder erkennen, der die Verhandlungsatmosphäre von heute mit der früherer Jahre vergleicht, angefangen vom Ton, der in den Verhandlungen angeschlagen wird, bis hin zum Zeugen-Stuhl und Zeugentisch, die heute wohl in jedem Gerichtssaal zur Selbstverständlichkeit geworden sind.
Den vierten Ansatz kann man den spezifisch sozialstaatlichen nennen; er ist der jüngste. Anknüpfend an die Diskrepanz zwischen rechtlicher Gleichheit und sozialer Ungleichheit, die für den altliberalen Rechtsstaat charakteristisch ist, wird der Ausgleich von Benachteiligungen gefordert, denen rechtlich und sprachlich wenig gewandte Bürger, insbesondere aus sozialen Unter-und Rand-schichten, ausgesetzt sind, wenn sie mit der Rechtspflege in Berührung kommen. Das Stichwort ist „soziale Chancengleichheit"; sie soll nicht nur dem Bürger von Besitz und Bildung, sondern auch dem , kleinen Mann'vor Gericht zuteil werden.
In diesen Ansatz sind viele der erörterten soziologischen Theoreme eingeflossen. Man läßt es aber nicht bei der Erkenntnis bewenden, daß in der Rechtspflege Ungleichheiten die rechtliche Gleichheit unterlaufen, sondern fordert, den Graben zwischen Anspruch und Wirklichkeit zuzuschütten. Für den Zivilprozeß bedeutet das die Forderung nach ausgleichenden, fördernden Maßnahmen des Gerichts in der Verhandlung selbst, also nach einem kompensatorischen, besser: kompensierenden Verhandlungsstil, der sich nicht scheut, dem in dem Verfahren Benachteiligten Hilfen zu geben, die seine Benachteiligung aufheben und damit die vom Recht vorausgesetzte Gleichheit der Waffen auch tatsächlich herstellen
Auch Einstellungen und Gedankengänge, die man als neoliberal charakterisieren kann, stehen hinter dieser Forderung, die ja letztlich nur will, daß das System des sozialen Rechts-staats seine eigenen Postulate ernst nimmt und nicht im Dienste bestimmter Interessen stehen soll. Im Anschluß an Dahrendorf kann man die Rolle des Bürgers in der Rechtspflege — also des Rechtsbürgers, wenn man so formulieren will — in zwei Dimensionen beschreiben, die beide als Chancen aufzufassen sind Die eine ist die objektive Chance, die durch Rechte gewährt wird, die andere ist die subjektive Chance, die in der realen Möglichkeit besteht, von den Rechten Gebrauch zu machen. Die Forderung nach kompensierenden Maßnahmen in der Gerichtsverhandlung entspringt also der Erkenntnis, daß die* Realität der rechtlichen Gleichheit erst gegeben ist, wenn jedermann nicht nur die objektive, sondern auch seine subjektive Chance hat, zu seinem Recht zu kommen.
Das Problem ist, ob die Rechtsprechung den dem grundgesetzlichen Sozialstaatsprinzip entsprechenden Bewußtseinsstand erreicht, der kompensierende Hilfen im Zivilprozeß nicht als Verstoß gegen das Gleichheitsprinzip brandmarkt, sondern gerade umgekehrt weiß, daß solche Hilfen nötig sind, um die Gleichheit der Rechte real zu machen. Es ist jener Bewußtseinsstand, den bereits der große amerikanische Richter Oliver Wendell Holmes 1915-besaß, als er ein Gesetz, das die Vertragsfreiheit beschränkte, mit der Erwägung rechtfertigte, das Gesetz sei notwendig, um die Gleichheit der Position überhaupt erst herzustellen, in der die Vertragsfreiheit beginnt Auch die vom Prozeßrecht vorausgesetzte Gleichheit ist nicht immer da; sie muß erst geschaffen werden, damit die Prozeßordnung Sinn gemäß funktionieren heutigen kann.
Fragen wir, inwieweit diese Diskussionsansätze die moderne Gerichtsverhandlung bestimmen, so empfiehlt es sich, die gegenwärtige Lage als Transformationsperiode zu bezeichnen. So abgegriffen auch eine Charakterisierung wie diese klingen mag, im Zivilprozeß hat sie ihre Berechtigung. Wir befinden uns in einer Entwicklung, die noch nicht abgeschlossen, aber deren Tendenz klar erkennbar ist. Der Verhandlungstyp des laissez faire, laissez aller, wie er zum altliberalen Prozeß gehörte, ist im Zuge der Entwicklung zum sozialen Zivilprozeß in den Hintergrund getreten; dies gilt nicht nur für den amtsgerichtlichen, sondern auch für den Anwaltsprozeß. Aber auch das Gegenstück zu diesem Verhandlungstyp, der autoritäre Verhandlungstyp, paßt nicht in den modernen Zivilprozeß. Was sich heute vollzieht, ist das Vordringen eines Verhandlungstyps, der dem Leitbild des sozialen Rechtsstaats entspricht und den man wohl am treffendsten als offenen und kooperativen Verhandlungstvp bezeichnen kann.
Es wurde wiederholt darauf hingewiesen, daß der Kooperationsbegriff unbeschadet der Tatsache, daß der Zivilprozeß der Streitentscheidung, also der Erledigung von Konflikten dient, am besten den Gesichtspunkt kennzeichnet, unter den man normativ das Handeln der Verfahrensbeteiligten im Zivilprozeß stellen kann. Erst recht gilt das hier, wo es um die Typisierung der Interaktionen in der Gerichtsverhandlung unter besonderer Berücksichtigung des sozialen Verhaltens des Gerichtsvorsitzenden geht.
Solche Typenbildung bedarf der Erläuterung, um Mißverständnisse auszuschließen, denn es handelt sich nicht um Real-, sondern um Idealtypen. Unter Idealtypus versteht man im Anschluß an Max Weber nicht den Durchschnittstypus, sondern das, was für ein Verhalten charakteristisch erscheint. Der Ideal-typ in diesem Sinne wird gewonnen durch einseitige Steigerung eines oder einiger Gesichtspunkte und durch Zusammenschluß einer Fülle von zerstreut oder verschwommen vorhandenen Einzelerscheinungen zu einem in sich einheitlichen Gedankenbild. In seiner begrifflichen Reinheit ist dieses Gedankenbild nirgends vorfindbar. In den realen Erscheinungen finden vielmehr Vermischungen statt. Wenn es indes darauf ankommt, einen Gegenstand der Betrachtung einzugrenzen oder ein Problem zu formulieren, haben Idealtypen ihren Wert, gerade indem sie nicht herausheben, was verbindet, sondern was individualisiert. Was unter dem Verhandiungstyp des laissez faire, laissez aller zu verstehen ist, bedarf kaum der Erläuterung. Das Gericht stellt keine Fragen, die über die Formalien und die Ordnung des Verfahrensablaufs herausgehen, es diskutiert mit den Parteien nicht und regt sie erst recht nicht zu notwendigem Vorbringen an; es vermeidet vielmehr strikt, mehr zu verlautbaren, als unbedingt nötig ist, um das Verfahren durchzuführen. Daß es in der Verfahrenswirklichkeit heute kein Gericht gibt, das streng nach diesem Verhandlungsbild verfährt, steht auf einem anderen Blatt. Selbst im Anwaltsprozeß würde es den Erwartungen der Beteiligten nicht mehr gerecht werden, ja man müßte ihm vorhalten, daß es positivem Recht, nämlich seinen im Gesetz ausdrücklich normierten Aufklärungs-, Förderungs-, Frage-und Hinweispflichten zuwiderhandelte. Der Typ des laissez faire, laissez aller gehört jedoch als Denkgebilde hierher, um den einen der Pole unserer Erörterung zu bezeichnen und deren Spannweite zu verdeutlichen.
Der ideale Gegenpol des laissez-faire-Typs ist der autoritäre oder geschlossene Verhandlungstyp; in ihm wird der Herrschaftscharakter des Gerichtsverfahrens manifest. Richter üben Herrschaft aus, indem sie Ausführungen anderer Verfahrensbeteiligter verhindern, deren Verhalten kritisieren oder durch Suggestivfragen oder geschlossene Fragen den Informationsertrag der Verhandlung so begrenzen, wie sie es für richtig halten Suggestivfragen sind einmal solche, bei denen der Fragende für eine bestimmte Antwort eine positive oder negative Sanktion durchblicken läßt, zum anderen aber auch Fragen, die Voraussetzungen, oder Fragen, die im Grunde noch nicht geklärt sind, stillschweigend als geklärt unterstellen. Als geschlossen bezeichnet man Fragen, die nur ja oder nein als Antwort zulassen oder den Befragten zwingen, sich zwischen zwei Alternativen zu entscheiden. Das Abfragen und die Neigung, selbst viel zu reden, aber die anderen Verfahrensbeteiligten wenig zu Worte kommen zu lassen, also die Partizipationschancen gering zu halten, sind kennzeichnend für den autoritären Verhandlungstyp. Der Richter dominiert; er setzt sich betont durch. Das wird in gewissem Umfang durch die Verfahrensstruktur nahegelegt. In unserem Zivilprozeß sind weitaus die meisten Interaktionen auf den Richter bezogen; er steht in ihrem Zentrum, redet und handelt auch am meisten. Wer aktiv ist, ist aber auch mächtig. Betrachtet man die Akteure der Verhandlung als Gruppe, so ist der Gerichtsvorsitzende der formelle wie der informelle Gruppenführer. Begnügt er sich mit dem, was Funktion und Rolle ihm vorschreiben, so kann von autoritärer Verhandlungsführung keine Rede sein. Anders verhält es sich jedoch, wenn er seine Aktivität so entfaltet, daß die anderen Verfahrensbeteiligten, vor allem die Anwälte und die Parteien, keine oder nur wenig Gelegenheit zum Reden haben, kurz: wenn er durch sein Verhalten deutlich macht, daß er das Verfahren beherrschen will. Dann nämlich geht er über das hinaus, was seine Rolle von ihm verlangt — er verwirklicht den autoritären Verhandlungstyp. Zugespitzt könnte man vom monologisierenden Richter sprechen, für den die Verhandlung eine Bühne ist, um sich in Szene zu setzen.
Als weitere Merkmale des autoritären Gerichtsvorsitzenden gelten seine Distanziertheit, die bis zur Unnahbarkeit gesteigert werden kann, seine Rigidität und auch seine starke Vorentschiedenheit, die er im Kollegialgericht oft mit dem Berichterstatter teilt, der — wie er selbst — die Akten kennt und die Sache votiert hat, während der dritte Beisitzer die Akten meist nicht gelesen hat. Die Bewertungen, die im Zivilprozeß gegenüber Parteien oder Zeugen vorgenommen werden, sind nicht so degradierend wie im Strafverfahren, doch sind herabsetzende Äußerungen möglich, die den autoritären Verhandlungstyp ebenfalls kennzeichnen.
Zwischen dem altliberalen und dem geschlossenen, autoritären Verhandlungstyp ist der offene Verhandlungstyp anzusiedeln, der dem Leitbild des sozialen Rechtsstaats zugewandt ist. Kennzeichnend für ihn ist nicht der Monolog, sondern der Dialog. Die Herrschaftsmittel treten zurück. Der Richter ist an der Kooperation mit den Verfahrensbeteiligten interessiert. Er bietet den Verfahrensbeteiligten Teilnahmechancen und versucht, die Informationen, die er braucht, weniger durch Abfragen als vielmehr durch die Mitarbeit der Anwälte, Parteien, Zeugen und Sachverständigen zu gewinnen. Die Parteien und die Zeugen werden ermutigt, sich ausführlich zu äußern; die Anwälte erhalten Gelegenheit, neue Gesichtspunkte einzubringen, Hypothesen zu erläutern und sich mit Sachverhalten oder Rechtsfragen auseinanderzusetzen.
Weitere Merkmale sind Sachlichkeit, also geringe Emotionalität, geringe Distanziertheit, Abwesenheit von Prädispositionen, also von Vorentschiedenheit. Die Beisitzer beobachten nicht nur das Geschehen, sondern greifen selbst ein. Der Vorsitzende ist nicht starr, sondern flexibel, wertet die Verfahrensbeteiligten nicht ab, sondern gibt ihnen Gelegenheit, ihre Informationen und Einschätzungen in den Prozeß einzubringen, ja, regt ihre Aktivität an; er ist nicht geschlossen und darauf bedacht, das Bild, das er sich aus den Akten vom Prozeß gemacht hat, unversehrt durch die Verhandlung zu bringen, sondern offen für Alternativen, für neue Problemstellungen und Problemlösungen. Während beim autoritären Verhandlungsstil geschlossene Fragen (mit ,, ja-nein" -Antworten) vorherrschen und Suggestivfragen vorkommen, wird der kooperative Verhandlungsstil durch eine offene Fragweise und einen Gesprächsstil bestimmt, der Hypothesen, die sich das Gericht gebildet hat, nicht verheimlicht, sondern offenbart. Es wird damit auf Dialog, Kooperation und Resonanz, wenn möglich Konsens gezielt.
Auf das Mischungsverhältnis, in dem diese idealtypischen Interaktionsmuster in der Wirklichkeit der Gerichtsverhandlung in Erscheinung treten, ist bereits hingewiesen worden. Ein offener, auf Dialog und Kooperation bedachter Verhandlungsstil gehört heute zum Bild des „guten" Richters. Je stärker sich das gesellschaftliche Bewußtsein in Richtung auf grundsätzliche Offenheit wandelt, um so mehr wird sich diese Tendenz verstärken. Ein übriges tut die richterliche Fortbildung auf der Deutschen Richterakademie und auf den Fortbildungstagungen der Länder.
III. Inhalt und Grenzen kompensierender Verhandlungsführung
Um den Inhalt der kompensierenden, also auf sozialen Ausgleich bedachten Verhandlungsführung im Zivilprozeß zu charakterisieren, kann man an die Erörterungen anknüpfen, die nach der Einführung des § 139 ZPO durch die Novelle 1924 stattfanden. Kisch war es, der im Rahmen dieser Diskussion 1928/29 die soziale Aufgabe des Richters in der mündlichen Verhandlung in einem Satz umriß, der heute unverändert seine Gültigkeit behalten oder, wenn man an das Sozialstaatsprinzip des Grundgesetzes denkt, in neuer, stärkerer Legitimation wiedererlangt hat. Der Richter, so schrieb Kisch, „muß die ihm von der Prozeßordnung gewährten Machtbefugnisse, namentlich die mit dem richterlichen Fragerecht verbundenen Möglichkeiten, in dem Sinne ausüben, daß er durch angemessene Belehrung, Unterstützung, Anleitung der sozial schwachen Partei ein Gegengewicht gegen etwaige soziale Übermacht des Gegners schafft"
Diesem Diktum aus den zwanziger Jahren ist nur wenig hinzuzufügen.
Vom Sozialstaatsprinzip des Grundgesetzes her kann man sagen, daß die kompensierende Verhandlungsführung des Richters um so notwendiger ist, je hilfsbedürftiger eine Partei ist. Art und Umfang der Verhandlungsführung sind also der realen Situation anzupassen. In jedem Verfahren, also auch im Anwaltsprozeß, kommen kompensierende Maßnahmen in Betracht Mit dem Grad der Unterstützungsbedürftigkeit nimmt die richterliche Kompensationspflicht an Intensität* zu. Verfahren, in denen kein Anwaltszwang betseht, wie z. B. das amtsgerichtliche Verfahren, sind daher die eigentliche Domäne der Kompensation.
Das Machtgefälle in der Gerichtsverhandlung ist evident, wenn eine Partei durch einen Anwalt vertreten wird, die andere aber nicht. Aber auch dann, wenn keine der Parteien einen Anwalt hat, können Ungleichheiten und Ungleichgewichte bestehen, die den Richter zwingen, sich die Frage zu stellen, ob er helfend und belehrend eingreifen soll.
Im allgemeinen läßt sich sagen, daß die Handlungs-und Sprachkompetenz einer Partei weitgehend von der Sozialisation, die sie erfahren hat, und besonders von ihrem Bildungsniveau abhängt und auch im Prozeß sich proportional zu ihrem Bildungsgrad entfaltet. Welche Bildung jemand erwirbt, hing mindestens in der Vergangenheit wiederum davon ab, welcher Schicht er entstammt oder zugehört. Man sollte sich aber auch hier vor Verzerrungen, hüten, wie sie sich insbesondere dann leicht einstellen, wenn man Hypothesen, Forschungsansätze und Ergebnisse aus der amerikanischen Feldforschung ungeprüft übernimmt. Ralf Dahrendorfs Diktum, daß im Gerichtsverfahren die „eine Hälfte der Gesellschaft über die ihr unbekannte andere Hälfte zu urteilen befugt ist" trifft für den Strafprozeß zu, nicht aber für den Zivilprozeß. Während im Strafverfahren ganz überwiegend Täter aus den unteren Schichten der Bevölkerung vor Gericht stehen, ist das Erscheinungsbild des Zivilprozesses anders.
Eine Übertreibung würde es auch darstellen, wenn man davon sprechen wollte, daß in der mündlichen Verhandlung des normalen Zivilprozesses in der Bundesrepublik ein Zusammenprall der Kulturen stattfindet. Thesen dieser Art verfolgen den oft legitimen Zweck, in einer reizüberfluteten Öffentlichkeit Aufmerksamkeit für Probleme zu erwecken, die eine etablierte Gesellschaft ungern zur Kenntnis nimmt. Wenn dieser Zweck erreicht ist, sollte man aber nicht bei den Überzeichnungen verharren, sondern sie zurücknehmen, um die Tatsachen sprechen zu lassen. Wir haben in Deutschland nicht jene ethnischen Probleme, mit denen sich z. B. die amerikanische Gesellschaft beschäftigen muß. Das Minoritätenproblem reduziert sich bei uns auf das der Gastarbeiter, die allerdings in besonderem Maße der Fürsorge im Gerichtsverfahren bedürftig sind. Es kann also keine Rede davon sein, daß sich in Deutschland die Sprache der oberen Mittelschicht so stark von der der Unterschicht unterscheidet, wie das etwa in England der Fall ist. Mehr und mehr hat sich auch bei der Unterschicht der Gebrauch einer Umgangssprache durchgesetzt, die „hochdeutsch" ist und gerade auch Elemente aus jenem „Amtsdeutsch" in sich aufnimmt, das in der bürokratisierten Verwaltung und in den Gerichten gesprochen wird.
Trotzdem bleibt die sprachliche Verständigung eines der großen Probleme des modernen Zivilprozesses. Man kann miteinander hochdeutsch sprechen und sich doch nicht verstehen. Das hängt vor allem damit zusammen, daß der Jurist vor Gericht vielfach eine Verhandlungssprache pflegt, die von juristischen Fachausdrücken durchsetzt ist, die der rechtsunkundige Bürger nicht versteht.
Noch schlimmer ist vielfach das, was den rechtsuchenden Bürgern in den Formularen zugemutet wird, in denen die Gerichte sie in den Stand setzen wollen, sich vernünftig zu entscheiden und dieser Entscheidung gemäß zu handeln. Rasehorn ist beizupflichten, wenn er meint, daß hier mindestens die Unterschicht überfordert wird, weil die Formulare — abgesehen von der bürokratischen, das Verständnis erschwerenden Diktion — viele dem Bürger unbekannte Begriffe enthalten, die den Gesamtsinn verdunklen. überhaupt ist die Feststellung berechtigt, daß die Tücken des schriftlichen Verkehrs zwischen dem Gericht und den Rechtsuchenden noch weit größer sind als die Verständigungsschwierigkeiten in der Verhandlung. Menne hebt unter den Verbalisierungsschwierigkeiten, die dem Bürger bei der Abfassung von Schreiben an Gerichte zu schaffen machen, die Unsicherheit bei den Versuchen hervor, Ausdrücke der juristischen Sprache zu verwenden
So hilflos ist der Angehörige der Mittel-schicht im Verkehr mit dem Gericht natürlich nicht. Er findet nicht nur eher den Weg zum Anwalt, sondern ist auch im Ausdruck gewandter. Freilich bleibt die Verständigung auch mit ihm oft genug ein Problem.
Wenn der Richter darauf bedacht sein soll, die Sprechsituation der Parteien wie ihre (fehlenden) Artikulationsfähigkeiten zu berücksichtigen und Nachteile auszugleichen, ist für ihn von Interesse, was Soziologie und Soziolinguistik über das Auftreten und die Ursachen von Sprachbarrieren ermittelt haben. Dabei ist zunächst relevant, daß die Juri-stensprache, wie sie auf der Universität und unter Richtern gebraucht wird, keine Theorieoder Wissenschaftssprache ist, die sich durch strenge Formalisierung kennzeichnet, sondern eine fachliche Umgangssprache Der Jurist muß zur Erfassung der außerrechtlichen Wirklichkeiten, die das Recht beeinflussen soll, an allgemeinsprachliche Ausdrücke anknüpfen. Da sich aber die Sicht, die an die natürlichen und sozialen Gegebenheiten anknüpft, und die rechtliche Sicht der Phänomene voneinander unterscheiden, ist nicht daran vorbeizukommen, daß die Sprache der Juristen bei der Arbeit Begriffe braucht, die eine spezielle, genau definierte und auf das juristisch Relevante begrenzte Bedeutung ha-ben müssen, die von der Gemeinsprache abweicht.
Die ältere Rechtssprache war gerade in Deutschland volkstümlich; sie hielt auch nach dem Verschwinden der Rechtssymbole, die frühen Rechten eigentümlich sind, noch lange an einer vorwiegend bildlichen Ausdrucksweise fest. Daß sie dann im Lauf der Zeit einem technischen, vorwiegend abstrakten „Juristendeutsch" weichen mußte, vor allem eine Folge der des war Rezeption römischen Rechts im Mittelalter. Die einheimischen Rechtsquellen wurden allmählich vergessen, die Laienrichter durch gelehrte Doctores, also einen Stand am römischen Recht ausgebildeter Berufsjuristen, verdrängt. Die lateinische Sprache der Rechtsgelehrten dominierte nicht nur auf den Universitäten, sondern auch in den Kanzleien der Fürstenhöfe. Was die Rechtssprache dabei an Abstraktion zunahm, büßte sie an Lebendigkeit ein. Als die germanistische Schule der Jurisprudenz im 19. Jahrhundert eine Rückbesinnung auf das germanische Recht forderte, war es zu spät, um noch viel ändern zu können. Das zeigte sich auch bei der Schaffung der Reichsjustizgesetze und damit auch der Zivilprozeßordnung. Keines dieser Gesetze redet eine Sprache, die das Volk gewohnt ist oder auch nur versteht. Der erste Entwurf zum BGB wurde deshalb auch mit Verve kritisiert als dürr, farblos und jeder Volkstümlichkeit bar, als ein Werk, dessen abstrakte und unpopuläre Ausdrucksweise kaum Überboten werden könne Der zweite Entwurf, der dann entstand, war in diesem Punkte nicht viel besser
Unsere heutige Gesetzessprache überredet nicht; sie will affektfrei, gefühllos sein. Im Gegensatz zu den Gesetzeswerken noch der Aufklärungszeit, legt sie auch keinen Wert darauf, zu belehren und zu überzeugen und auf diese Weise den Bürger unmittelbar anzusprechen, etwa bei ihnen um Verständnis oder Gehorsam zu werben Sie ist ein Befehl, der auf Begründung verzichtet und sich auch bewußt seiner Allgemeinverständlichkeit entkleidet, ein Imperativ, der Fragen nach Zweck und Sinn nicht zuläßt, sondern unbedingten Gehorsam verlangt
Daß dieser Gesetzesstil den Lebensprinzipien der Demokratie widerspricht, ist offensichtlich. Adressat des Gesetzes ist der wissenschaftlich ausgebildete Richter, nicht — wie noch beim preußischen Allgemeinen Landrecht — das Volk Diese Ausgangslage darf bei der Betrachtung der kommunikativen Situation im Zivilprozeß nicht aus den Augen verloren werden. Wer heute Richter -oder An walt ist, muß mit Gesetzen arbeiten, die eine abstrakte, der konkreten Anschaulichkeit entrückte Sprache sprechen.
Eine Strategie, die auf Vermeidung und Ausgleich der Benachteiligungen auch auf der Ebene des Sprachhandelns zielt, muß also die Probleme, die sich sowohl vom Gesetzestext als auch von der Sprech-und Schreibfähigkeit her und vom Textverständnis her ergeben, in Rechnung stellen. Die Verhaltensleistungen, die vom Richter verlangt werden, betreffen Fähigkeiten im Bereich des Sprechens wie der Gesprächsführung, aber auch beim Abfassen schriftlicher Mitteilungen und Anordnungen, wobei es jeweils auf Verständlichkeit für die speziellen Adressaten ankommt.
Jeder Ansatz der Verbesserung der Verständlichkeit muß sich daher, wenn er Erfolg ha-ben soll, an die empirisch zu ermittelnden Aufnahmefähigkeiten des Adressaten halten und sich fragen, ob die Bemühungen auch das reale Sprachvermögen der Rechtsuchenden getroffen haben. Was schriftliche Äußerungen des Gerichts angeht, so läßt sich natürlich eine Kontrolle darüber in der mündlichen Verhandlung vornehmen. Oft ist es freilich dann zu spät, um noch wirksame Maßnahmen zur Vervollständigung der Information zu treffen zu können.
Das wird hier nicht hervorgehoben, um Resignation in bezug auf die Verwirklichung des Kompensationsgebots zu verbreiten, sondern um die Schwierigkeiten und Restriktionen deutlich zu machen, vor denen der Richter in der forensischen Kommunikationssituation steht, wenn er seinen sozialstaatlichen Auftrag erfüllen will. Neben der Distanz, die die Apparathaftigkeit der Rechtspflege (Külz hat von kafkaesken Zügen der Gerichtsverhandlung gesprochen ohnehin bewirkt, kommt also als erschwerendes Moment die Verständigungsschwierigkeit zwischen dem Gericht und den Rechtsuchenden hinzu. Dennoch wird vom Richter nicht zuviel verlangt, wenn man erwartet, daß er auch diese Klippe überwindet und sich so ausdrückt, daß die Rechtsuchenden ihn verstehen. Der Richter und der Anwalt befinden sich nicht in der Rolle des Wissenschaftlers, der einen Code für Fachgenossen benutzen darf. Sie sind in der Bürgernähe ihrer Rollen eher dem Politiker oder Journalisten verwandt, der sich auch gemeinverständlich ausdrücken muß, um in dem, was er tut, Verstanden zu werden, so schwer ihm dies auch mitunter fällt
Ohnehin ist ein, Hinweis angebracht, /laß die beschriebenen Verständigungsschwierigkeiten natürlich nicht nur im Verkehr zwischen dem Gericht und den Bürgern auftreten, sondern überall dort anzutreffen sind, wo ein publikumsbezogenes Handeln stattfindet, also auch bei der Verwaltung. Auch dort ist eine Diskussion im Gange, die auf eine Verbesserung der Verständlichkeit von Verwaltungsäußerungen abzielt und sich fragt, was sozialwissenschaftliche Untersuchungen zur Klärung und Lösung des Problems beitragen können Die Justiz ist deshalb gut beraten, wenn sie diese wissenschaftliche Diskussion aufmerksam verfolgt, um das für ihre eigenen Probleme verwerten zu können, was sich dort an Fragestellungen und Einsichten für die Verbesserung der kommunikativen Situation vor Gericht ergibt.
Freilich sollte man die Kompensation nicht allein in der forensischen Situation ansiedeln und das Heil ausschließlich von Richtern und Anwälten erwarten, die schon durch ihre Arbeitslast oft überfordert sind. Auch der Staat kann manches tun, um mehr Chancengleichheit im Zivilprozeß herzustellen. Gezielte staatliche Maßnahmen können dabei sogar wirksamer sein als die punktuellen Hilfen, die der Richter in seinem sozialen Verhalten während des Prozesses geben kann. Das gilt sowohl für die Erleichterung des Zugangs zum Gericht durch einen Ausbau der Prozeßkostenhilfe über den derzeit als Ziel gesetzten Stand hinaus als auch für die Förderung und Weiterentwicklung von außergerichtlichen Beratungseinrichtungen. Nicht zuletzt aber sollte durch die weitere Intensivierung des Rechtsunterrichts im Rahmen der politischen Bildung die Handlungskompetenz des Bürgers in rechtlichen Angelegenheiten erhöht werden. Denn Handeln, in welcher Form es auch immer vor sich geht, setzt ja — wenn es im Prozeß zielgerichtet erfolgen soll — Wissen voraus.