Einleitung
Die Soziologie als Wissenschaft von der menschlichen Gesellschaft ist für das Recht unter zwei verschiedenen Gesichtspunkten bedeutsam. Indem sie die soziale Realität erforscht, kann sie auch den Juristen eine wissenschaftlich geprüfte Kenntnis von denjenigen Tatbeständen verschaffen, auf die das Recht einwirkt und von deren Kenntnis deshalb eine angemessene und erfolgversprechende rechtliche Regelung abhängt. Dieser gewöhnlich als Rechtstatsachenforschung bezeichnete Zweig der Soziologie umfaßt alle Gegenstände, die rechtsrelevant werden können, und überschneidet sich deshalb mit den geläufigen Einteilungen nach sozialen Bereichen, d. h. in Familien-, Industrie-, Betriebs-, Kriminal-, politische Soziologie usw.
Das Recht kann aber auch selbst Gegenstand sozialwissenschaftlicher Forschung sein. Das Interesse des Soziologen richtet sich dann auf die einzelnen Rechtsinstitute oder spezielle gesetzliche Vorschriften, Verwaltungsakte, rechtswissenschaftliche Lehren, auf Urteile und nicht zuletzt auf die im Rechtswesen tätigen Personen und Berufsgruppen. Wir haben es in diesem Fall mit der Rechtssoziologie im engeren Sinn zu tun, die Recht und Gesellschaft als zwei gedanklich voneinander unterscheidbare Systeme versteht und die Wirkungen der Gesellschaft auf das Recht bzw. um
I. Empirische Soziologie
Jeder Jurist braucht die Kenntnis der Tatsachen, auf die er das Recht anwenden will, um angemessen entscheiden zu können. Dieser Satz ist so selbstverständlich, daß er keiner näheren Begründung bedarf. Er gilt für die Gesetzgebung nicht minder als für die Rechts-anwendung in der Verwaltungsoder Gerichtspraxis. Die am Prozeß beteiligten Richter, Staatsanwälte und Rechtsanwälte verschaffen sich die notwendige Tatsachenkenntnis gewöhnlich mit Hilfe der herkömmlichen Aufklärungs-und Beweismittel des Prozeßrechts, d. h. indem sie die Parteien anhören gekehrt die Wirkungen des Rechts auf die Gesellschaft untersucht.
Sowohl Rechtstatsachenforschung wie Rechts-soziologie im engeren Sinne zeigen eine empirische und eine theoretische Seite. Beiden gemeinsam ist auch das aller Sozialwissenschaft immanente kritische Element, das sich leicht erklärt, wenn man bedenkt, daß die Menschen infolge ihrer beschränkten Wahrnehmungskraft zu unvollständigen, einseitigen, mit Vorurteilen oder Ideologien behafteten Ansichten über die Gesellschaft neigen , und deshalb durch wissenschaftliche Wahr-I heitserkenntnis genötigt werden, ihre Meinungen zu überprüfen und gegebenenfalls aufzugeben.
Es liegt auf der Hand, daß eine so geartete Soziologie auch im Rechtsstreit dazu beitragen kann, Wahrheit und Gerechtigkeit zu finden und daher einen legitimen Platz im Gerichtssaal beansprucht. Im folgenden geht es f um eine kritische Bestandsaufnahme und abwägende Prüfung, wie der erhobene Anspruch unter den gegenwärtigen Bedingungen richterlicher Rechtsanwendung in der Bundesrepublik in die Tat umgesetzt werden kann; dabei bediene ich mich der Unterscheidung zwischen empirischer, theoretischer und kritischer Soziologie. und deren Aussagen vergleichen, Zeugen vernehmen, Urkunden verlesen, den Tatort besichtigen usw. Zur Würdigung ihrer so gewonnenen Wahrnehmungen stützen sie sich auf die allgemeine Lebens-und ihre spezielle Berufserfahrung, die ihnen ein zwar nicht wissenschaftlich geläutertes, aber doch kritisch gefiltertes Bild des Geschehens vermitteln. Wo die Lebens-und Berufserfahrung nicht ausreichen, ziehen sie Sachverständige heran. Die Frage nach dem Nutzen der empiä rischen Soziologie für die richterliche Wahrheitserkenntnis ist folglich dahin zu präzisie4 ren, was sie über jene traditionellen Erkenntnis- und Beweismittel hinaus zu leisten vermag.
Verwendung sozialwissenschaftlicher Beobachtungsmethoden Als erstes ist ein methodisches Element anzuführen: Die empirischen Sozialwissenschaften arbeiten ihr eigenes Beobachtungsinstru-mentarium mit größter Sorgfalt aus und kontrollieren es ständig. Sie besitzen daher eine Kenntnis von seiner Aussagekraft und seinen Fehlerquellen, die weit über die den Juristen geläufigen Mitteln der Kontrolle von Tatsachenerhebungen hinausgeht. Oft genug klagen selbst erfahrene Richter darüber, wie leicht es im Prozeß bei aller Sorgfalt und al-lem Streben nach Objektivität zur verzerrten Aufnahme von Tatbeständen kommt; viele Berufungsverfahren sind ein Beleg für diese Behauptung. Hier könnte eine Schulung der Richter in den sozialwissenschaftlichen Beobachtungsmethoden, z. B. in der Interview-Technik sowie in den Mitteln zur Kontrolle subjektiver Wahrnehmungsmängel, die Qualität der Urteile erheblich verbessern Ähnliches gilt für die Verwertung von bereits vorhandenen sozialwissenschaftlichen Daten, namentlich Statistiken und anderen Zahlenwerken. Es ist eine alte Klage, daß Juristen Wirtschaftsprozessen nicht gewachsen seien, weil sie sich mit Bilanzen und dem kaufmännischen Rechnungswesen nicht genügend auskennen, obwohl die Universitäten längst Kurse dafür anbieten. Daß sozialwissenschaftliche Statistiken, z. B. Lebenskostenindices, in einen Prozeß eingeführt und zur Grundlage des Urteils gemacht werden, dürfte noch immer selten sein, obwohl sie — z. B. bei der Bemessung von Unterhaltsrenten — als geeignetes Erkenntnismittel dienen können. Um sie verwerten zu können, muß den Richtern aber nicht nur der Zugang zu ihnen verschafft, sondern auch die Fähigkeit vermittelt werden, sie zu lesen und richtig zu würdigen. Schließlich ist die Verbesserung der richterlichen Tatsachenerkenntnis ein wichtiges rechtspolitisches Postulat. Die dafür geeigneten sozialwissenschaftlichen Techniken könnten an den Universitäten, in den Referendararbeitsgemeinschaften und in Fortbildungskursen für Richter mit verhältnismäßig geringem Aufwand gelehrt werden
Der Erkenntniswert sozialwissenschaftlicher Forschungsergebnisse für den Prozeß Welchen zusätzlichen Erkenntniswert ermöglichen sozialwissenschaftliche Forschungsergebnisse für den Prozeß, d. h. unter welchen Voraussetzungen können sie für den Urteilsspruch relevant werden? Diese Frage läßt sich beantworten, wenn wir uns vergegenwärtigen, daß sich das sozialwissenschaftliche Interesse regelmäßig auf allgemeine, bei einer Vielzahl von Sachverhalten festzustellende Zusammenhänge bezieht, für die es soziale Gesetzmäßigkeiten oder doch typische Strukturen aufzudecken sucht. Auch wo die Soziologie die individuelle Beobachtung und das Einzelinterview als Erkenntnismittel einsetzt, dient es ihr nur als Baustein zu dem angestrebten Mosaik aus einer großen Anzahl gleichartiger Erhebungen. Der Einzelfall in seiner Besonderheit interessiert dagegen nicht. Aus diesen Gründen ist die soziologische Empirie in erster Linie ein unerläßlicher Helfer der Legislative, die gleichfalls auf generelle Regelungen abzielt, während sie in dem für die Lösung individueller Konflikte bestimmten Gerichtsverfahren nicht ohne weiteres etwas zu suchen hat. Für die Mehrzahl der Prozesse, namentlich in der ersten Instanz, genügen in der Tat die herkömmlichen Beweismittel. Doch lassen sich Fälle angeben, bei denen unter verschiedenen Gesichtspunkten die Klärung des individuellen Sachverhalts nicht ausreicht. Ohne Anspruch auf Vollständigkeit nenne ich drei Gruppen von derartigen Fällen:
a) Verkehrssitten und Handelsbräuche Es gibt Rechtsbegriffe, die den Richter darauf verweisen, einen Streit nicht nach abstrakten Rechtsnormen oder nach seinem eigenen Urteil zu entscheiden, sondern nach den in der Bevölkerung herrschenden Ansichten und Gepflogenheiten. Das wichtigste und auch bekannteste Beispiel bildet die gesetzliche Verweisung auf Verkehrssitten und Handelsbräuche. Einen anderen Fall enthält § 2 des Gesetzes über die Regelung der Miethöhe der dem Vermieter unter bestimmten Umständen einen Anspruch auf Erhöhung des Mietzinses gewährt, wenn der bisher geleistete Betrag die ortsübliche Vergleichsmiete nicht erreicht. Ähnlich kann der Eigentümer nach § 906 Abs. 2 BGB Immissionen nicht verbieten, die infolge der ortsüblichen Benutzung eines Nachbargrundstücks entstehen und nicht durch Maßnahmen verhindert werden können, die dessen Benutzern zumutbar sind. Als weiteres Beispiel nenne ich § 3 des neuen Gesetzes zur Regelung des Rechts der Allgemeinen Geschäftsbedingungen, wonach sog.
überraschende Klauseln nicht Vertragsbestandteil werden, denn welche Klauseln ungewöhnlich und überraschend sind, läßt sich nur durch Ermittlung des im betreffenden Geschäftsverkehr üblichen feststellen. Schließlich beziehen sich, wie seit langem anerkannt ist, die im Recht des unlauteren Wettbewerbs und im gewerblichen Rechtsschutz verwendeten Begriffe der Verwechslungsgefahr, der Vdrkehrsgeltung, der irreführenden Werbung usw. auf die in den angesprochenen Bevölkerungsteilen hervorgerufenen Vorstellungen, die mit den Mitteln der demoskopischen Erhebung erforscht werden können Andere Rechtsbegriffe, wie z. B. die Begriffe von Treu und Glauben, der guten Sitten, der verkehrs-üblichen Sorgfalt oder der Unzucht, enthalten Komponenten, die auf die in der Bevölkerung verbreiteten Ansichten verweisen, ohne sich darin zu erschöpfen
Kommt es in einem Rechtsstreit darauf an, ein derartiges „außerrechtliches" Entscheidungskriterium anzuwenden, so ist es dem Gericht nicht gestattet, dem Urteil seine eigene Ansicht zugrunde zu legen, vielmehr hat es die Meinung „der Leute" zu erforschen. Bei Handelsbräuchen hat sich die Übung herausgebildet, die Industrie-und Handelskammern zu befragen, die sich ihrerseits bei den ihnen angeschlossenen Unternehmen erkundigen. In Wettbewerbsprozessen wird oft ein demoskopisches Institut damit beauftragt, eine geeignete Umfrage durchzuführen. In anderen Fällen behelfen sich die Gerichte damit, Auskünfte von Behörden oder anderen Stellen einzuholen, von denen sie vermuten, daß sie einen Überblick über die Situation haben, doch ohne die Richtigkeit der Antwort nachprüfen können. Oft genug begnügen sie sich indessen auch mit der unkontrollierbaren Feststellung, selbst genügend Kenntnis von den maßgeblichen Daten zu besitzen.
Es liegt auf der Hand, daß dieser Zustand nicht befriedigt. Eine Verbesserung ist nur von vermehrtem Einsatz demoskopischer Expertisen im Prozeß zu erwarten. Doch wäre es falsch zu verschweigen, daß es nicht damit getan ist, eine solche Forderung aufzustellen, denn die dabei auftretenden Fragen sind noch lange nicht hinreichend geklärt. Erwähnt werden soll nur das vielerörterte Problem, ob ein Richter an die festgestellte soziale Norm gebunden ist, auch wenn sie sich ihm als Unsitte oder Handelsmißbrauch darstellt. Das kann nicht rechtens sein. Bleibt es aber dabei, daß der Richter in bestimmten Fällen nicht nur über den Euzelfall, sondern über die im Volk verbreiteten Verhaltensregeln zu Gericht sitzt, obwohl das Gesetz ihn an diese verweist, so ist eine sehr viel differenziertere Lehre von den gesetzlichen Generalklauseln nötig, als ich sie hier ausbreiten kann
b) Musterprozesse Als zweites Beispiel, bei dem es sich als notwendig herausstellen kann, empirische rechtssoziologische Forschung in ein Gerichtsverfahren einzuführen, nenne ich die so-genannten Musterprozesse. Wegen der Häufigkeit gleicher oder ähnlicher Konfliktslagen in der industriellen Massengesellschaft erweisen sich immer mehr Rechtsstreitigkeiten als Ausdruck eines typischen, vielfältig wiederkehrenden Interessenkonflikts. In solchen Fällen gewinnt auch die richterliche Entscheidung eine weit über den Einzelfall hinausreichende Bedeutung und kann de facto in den Rang einer allgemeinen Regel hineinwachsen, nach der sich auch viele nicht am Prozeß beteiligte Personen zu richten haben, wollen sie ein weiteres Verfahren vermeiden. Auf der anderen Seite reicht das in einem Fall zutage tretende Anschauungsmaterial oft nicht aus, dem Gericht ein hinreichendes Bild von den typischen Zusammenhängen zu vermitteln, auf welche es mit seinem Urteil einwirken wird. Die Judikatur hilft sich in solcher Lage üblicherweise damit, mittels verbaler Einschränkungen und Vorbehalte der Verallgemeinerung ihres Spruchs vorzubeugen, oder sie tastet sich nach und nach, in einer Entscheidungskette, die viele Jahre in Anspruch nehmen kann, an den Kern der Probleme heran ein wenig sachgemäßes oder — oft befriedigendes Verfahren Hier könnte eine brei-tere Tatsachenaufklärung mit den Mitteln der empirischen Sozialforschung Abhilfe schaffen. Es gibt wichtige Beispiele dafür, daß in der Judikatur des Bundesverfassungsgerichts, das wegen seiner Sonderstellung allerdings freier ist als die übrigen oberen Bundesgerichte, soziologische Expertisen angefordert werden Ich erwähne das berühmte Apotheken-Urteil aus dem Jahr 1958 in dem das Gericht nicht nur seine revolutionäre Exegese des Art. 12 GG entwickelt, sondern sich auch mit den Äußerungen von Sachverständigen beschäftigt, die es über die voraussichtlichen wirtschaftlichen, sozialen und politischen Folgen einer Beseitigung der Konzessionspflicht für Apotheken befragt hatte; ferner aus jüngerer Zeit das Lebach-Urteil in dem es seine Entscheidung wesentlich auf die Äußerung von Sachverständigen zur Wirkung von Fernsehsendungen auf die Bevölkerung stützte Wenn in der Rechtsprechung der anderen Obergerichte demgegenüber noch wenig von sozialwissenschaftlichen Erkenntnissen Gebrauch gemacht wird, so liegt dies auch an der Unzulässigkeit des Sachverständigenbeweises im Revisionsverfahren nach geltendem Prozeßrecht. Doch scheint sich die Einsicht durchzusetzen, daß hier eine Änderung wünschenswert wäre Nicht gehindert sind die Gerichte, sich auf unabhängig vom konkreten Rechtsstreit erarbeitete, allgemein zugängliche soziologische Forschungsergebnisse zu stützen, deren Kenntnis ihnen deshalb in geeigneten Fällen besser vermittelt werden sollte, als es gegenwärtig geschieht.
c) Folgenberücksichtigung Ein dritter Bereich, in dem sozialwissenschaftliche Untersuchungen die richterliche Tatsachenkenntnis verbessern könnten, ist unter dem Stichwort „Folgenberücksichtigung“ einzuführen. Ob bzw. in welchem Ausmaß die Gerichte verpflichtet oder doch befugt sind, die vorhersehbaren Folgen ihres Urteils für die Parteien, für andere vom Prozeß betroffene Personen oder für die Allgemeinheit mit in Erwägung zu ziehen, ist Gegenstand eines aktuellen Theorienstreites in der Rechtssoziologie, auf den ich im folgenden noch zurückkommen werde. Begnügt man sich, vor aller theoretischen Reflexion, mit der z. B. durch die beiden genannten Urteile des Bundesverfassungsgerichts belegten Erfahrung, daß die Gerichte gar nicht umhin können, sich über die vermutlichen Wirkungen ihres Spruches Gedanken zu machen, so drängt sich die Frage auf, mit welchem Mittel es gelingen kann, hierbei den beschränkten Erfahrungshorizont einzelner Richter zu durchstoßen. Wiederum verweist die Antwort auf die empirischen Sozialwissenschaften. Denn in dem Maße, in dem es gelingt, aufgrund der Beobachtung gegenwärtiger und vergangener Tatsachen soziale Gesetzmäßigkeiten und Entwicklungstrends, aufzudecken, ist es erlaubt, sie in die Zukunft zu extrapolieren und den künftigen Verlauf des Geschehens vorherzusagen. Selbst wenn man zugibt, daß sozialwissenschaftliche Prognosen angesichts der Komplexität des sozialen Geschehens kaum je völlige Gewißheit darüber schaffen können, würde ihre Verwendung im Prozeß doch die Entscheidungsgrundlagen in vielen Fällen wesentlich verbessern.
Grenzen der Verwertbarkeit Ging es mir bisher darum, anhand von Beispielen darzulegen, welch wichtige Rolle den empirischen Sozialwissenschaften im Gerichtsprozeß zukommt, so sind nun freilich auch einige Bemerkungen über ihre Grenzen anzufügen, die das Gesagte für die Praxis stark relativieren. Soziologische Untersuchungen dauern lange und kosten viel Geld. Beides wirkt in der Mehrzahl der Fälle prohibi-tiv, denn im allgemeinen sind die Beteiligten, die nach geltendem Prozeßrecht die Kosten zu tragen haben, nicht bereit oder nicht fähig, diese auf sich zu nehmen. Der Streitgegenstand lohnt den Aufwand nicht. So ist es kein Zufall, daß demoskopische Erhebungen in der Zivilgerichtsbarkeit bisher fast ausschließlich in Wettbewerbssachen verwendet wurden, in denen um hohe Werte und demgemäß mit ho-hem Einsatz gekämpft wird. In der ersten Instanz werden sozialwissenschaftliche Gutachten auch deswegen keine große Bedeutung erlangen können, weil dort die Routine überwiegt. Um so dringlicher wird angesichts dieser Lage aber die Frage, ob es nicht notwendig sei, durch eine Änderung des Prozeßrechts wenigstens für die Obergerichte die Möglichkeit zu eröffnen, soziologische Expertisen einzuholen und die dafür erforderlichen Kosten dem Staat anzulasten, wenn es wegen der Wichtigkeit oder der allgemeinen Bedeutung des anstehenden Urteils gerechtfertigt ist. Manches deutet darauf hin, daß das Pro-7 blem eines Tages den Gesetzgeber beschäftigen wird, doch scheint gegenwärtig die Zeit dafür noch nicht reif zu sein. Einstweilen bleibt nichts anderes übrig, als wenigstens die gegebenen Anwendungsmöglichkeiten zu verbessern. Vor allem kommt es darauf an, die Information der Richter über die bereits vorhandenen soziologischen Forschungsergebnisse zu verstärken und ihnen in den Gerichtsbibliotheken den Zugang dazu zu verschaffen. Auch dies ist nicht wenig. Auf bestimmten Gebieten, z. B. in der Familien-oder Kriminalsoziologie, steht bereits umfangreiches, z. T. auch für die Bedürfnisse der Rechtsanwendung aufbereitetes Material zur Verfügung Zugleich gilt es, die Fähigkeit der Richter zu steigern, die bestehenden Informationsquellen zu nutzen und ihre Bereitschaft dazu besser zu fördern. So wäre es, um nur ein Beispiel zu nennen, wünschenswert, an der Richterakademie in Trier geeignete Fortbildungskurse nicht nur im neuen Familienrecht, sondern auch in der Familiensoziologie, nicht nur im Arbeitsrecht, sondern auch in der Betriebs-und Industriesoziologie anzubieten.
II. Soziologische Theorie
Vorbemerkung Sozialwissenschaftliche Theorien können sich auf Gerichtsverfahren nur sehr viel indirekter auswirken als die empirischen Forschungsergebnisse. Ihre Relevanz beruht auf dem Umstand, daß alle menschliche Erkenntnis, die Rechtserkenntnis eingeschlossen, sich von Theorien leiten läßt. Juristen wenden gewöhnlich rechtswissenschaftliche Theorien an, die sie während ihres Studiums oder später gelernt haben, und es ist die Aufgabe der wissenschaftlichen Arbeit am Recht, den vorhandenen Theorienschatz beständig zu überprüfen und im Lichte einer sich wandelnden sozialen Realität weiterzubilden. Neue Theorien verändern den Blick und können, wenn sich die Richter ihnen anschließen, auch die Judikatur ändern. Nicht selten haben rechts-wissenschaftliche Theorien selbst eine soziologische Komponente, wie z. B. viele Lehren vom Wesen der juristischen Person oder des subjektiven Rechts. Umgekehrt können soziologische Theorien einen unmittelbaren Bezug zum Recht aufweisen, wie alle normativen Gesellschaftslehren. Sozialwissenschaftliche Theorien, die das Recht nicht schon im Ansatz umfassen, befruchten das Rechtsdenken mittelbar, weil Soziologie und Jurisprudenz sich auf denselben Gegenstand, die menschliche Gesellschaft, richten und daher nicht unabhängig voneinander bleiben können. Sie genießen den Vorzug, von der rechtswissenschaftlichen Tradition frei zu sein, und eröffnen den Juristen deshalb u. U. eine ihnen völlig neue, außerhalb des bisherigen Gesichtskreises liegende Perspektive. Auf der anderen Seite sind sie, weil sie die Rechtsfragen nicht ohne weiteres reflektieren, für den Juristen nicht immer brauchbar und bedürfen jedenfalls der Übersetzung und Kontrolle.
Es liegt auf der Hand, daß die mit diesen Sätzen nur angedeutete Interdependenz von rechts-und sozialwissenschaftlicher Forschung sehr viel differenzierter ausgearbeitet werden müßte, um Einwänden standzuhalten. Diese Aufgabe ist hier nicht zu leisten. Statt dessen gehe ich — ebenso skizzenhaft — auf zwei aktuelle theoretische Streitfragen ein, die das Gesagte verdeutlichen sollen.
Folgenberücksichtigung Zunächst komme ich zurück auf das bereits genannte Stichwort „Folgenberücksichtigung" im Prozeß. In der herkömmlichen positivistischen Lehre stellt sich ein Rechtsstreit, wenn die Tatsachen geklärt sind, als ein Bündel von Rechtsfragen dar, die allein im Hinblick auf das Gesetz, d. h. mit den Mitteln der Text-interpretation zu entscheiden sind, ohne daß es dem Richter gestattet wäre, die vermutlichen Auswirkungen des Urteils auf die Parteien und auf Dritte in seine Erwägungen einzubeziehen. Dem entspricht die Formulierung von Gesetzesvorschriften in Gestalt eines Konditionalprogramms, d. h. in der Form, daß das Gesetz für die von ihm fixierten Tatbestandsmerkmale bestimmte Rechtsfolgen vorsieht, die dem Richter keinen Entscheidungsspielraum lassen. Z. B.: „Der Mörder wird mit lebenslanger Freiheitsstrafe bestraft. Mörder ist, wer aus Mordlust, zur Befriedigung des Geschlechtstriebs, aus Habgier oder sonst aus niedrigen Beweggründen heimtückisch oder grausam oder mit gemeingefährlichen Mitteln oder um eine andere Straftat zu ermöglichen oder zu verdecken, einen Menschen tötet" (§ 211 StGB). Oder: „Wer vorsätzlich oder fährlässig das Leben, den Körper, die Gesundheit, die Freiheit, das Ei-B gentum oder ein sonstiges Recht eines anderen widerrechtlich verletzt, ist dem anderen zum Ersätze des daraus entstehenden Schadens verpflichtet" (§ 823 Abs. 1 BGB).
Auch in jüngster Zeit verficht der Soziologe Niklas Luhmann die These, Rechtsvorschriften seien als derartige Konditionalprogramme zu begreifen, welche dem Richter den Blick in die Zukunft grundsätzlich verwehren Er begründet seinen Standpunkt, stark vereinfacht wiedergegeben, mit den Erfordernissen der Rechtssicherheit, ferner mit dem Argument, die Richter seien überfordert, wenn man von ihnen die Berücksichtigung zukünftiger Entwicklungen verlange. Allein, diese Lehre läßt sich heute, jedenfalls in ihrer Absolutheit, nicht aufrechterhalten Soziologisch betrachtet, stellt sich ein Gerichtsurteil nicht als Entscheidung abstrakter Rechtsfragen dar, sondern als Lösung eines sozialen Konflikts oder doch wenigstens als ein Versuch dazu, ihn zu lösen. Eine solche Aufgabe kann in den meisten Fällen nur gelingen, wenn man sie als Auftrag begreift, die Beziehungen zwischen den Parteien in ihrem sozialen Kontext zu ordnen, und zwar so, daß sie ihr Verhalten auf Dauer darauf einrichten können, daß sich ihnen ein Weg in die Zukunft eröffnet. Das Strafverfahren soll zur Wiedereingliederung des Täters in die Gesellschaft führen. Ein Richter, der die Augen vor den Wirkungen seines Urteils verschließt und sich der Frage entzieht, ob sein Spruch geeignet ist, die Beziehungen zwischen den Beteiligten auf Dauer angemessen zu regeln, wird sich daher den Vorwurf gefallen lassen müssen, sein Amt letztlich zu verfehlen. Er könnte davon nur entlastet werden, wenn man behaupten könnte, der Gesetzgeber habe bereits alle möglichen Fälle vorhergesehen und im Gesetz selbst zutreffend entschieden. Eine solche Ansicht erweist sich indessen immer deutlicher als Illusion.
Selbst als Konditionalprogramme formulierte Gesetzesvorschriften wie z. B. die genannten §§ 211 StGB und 823 Abs. 1 BGB kommen, wie sich bei näherem Zusehen erweist, ohne offene Elemente nicht aus, welche dem Richter Spielraum für die eigene Beurteilung des Streitfalls lassen. In § 211 StGB tritt die Offenheit am deutlichsten bei dem Tatbestands-merkmal „oder sonst aus niedrigen Beweggründen" zutage, in § 823 Abs. 1 BGB in den unbestimmten Begriffen „rechtswidrig" und „sonstiges Recht". In beiden Fällen hat der Richter die vom Gesetzgeber mit den genannten Formulierungen beabsichtigten Zwecke zu ermitteln und das Urteil so zu fällen, daß diese am besten erfüllt werden können. In der Sprache der Theorie: Die Vorschriften enthalten durchaus nicht reine Konditionalprogramme, sondern auch Elemente von Zweckprogrammen, welche dem Richter gewisse Ziele und Wertvorstellungen vorgeben, deren Realisierung ihm aber angesichts einer nur unvollständig programmierbaren Vielfalt der Wirklichkeit überlassen ist. Regelmäßig erscheinen konditionale und finale Elemente in einer Vorschrift gemischt, wobei bald die eine, bald die andere Komponente überwiegt. Wo das Gesetz Generalklauseln verwendet, schlägt das Pendel zugunsten des Zweckprogramms aus, so, wenn ein Familiengericht die Regelung treffen soll, welche „unter Berücksichtigung der gesamten Umstände dem Wohl des Kindes am besten entspricht" oder wenn die Polizei „die nach pflichtmäßigem Ermessen notwendigen Maßnahmen" zu treffen hat, „um von der Allgemeinheit oder dem einzelnen Gefahren abzuwehren, durch die die öffentliche Sicherheit oder Ordnung bedroht wird" (§ 1 Hess. SOG).
Es ist hier nicht der Ort, den mit der Alternative: Konditional-oder Zweckprogramm angesprochenen Theorienstreit, der weit ins Grundsätzliche reicht, vollständig aufzurollen. Meines Erachtens ist bereits die Frage, als striktes Entweder-Oder verstanden, falsch gestellt. Reine Konditionalprogramme sind zu starr, der Vielfalt und Dynamik des Lebens gerecht zu werden, und eignen sich daher in der Regel für Rechtssätze nicht. Reine Zweck-programme, die lediglich allgemeine Ziele des Gesetzgebers nennen, lassen der Richterschaft aber zu viel Freiheit und genügen deshalb den notwendigen Anforderungen an Rechts-gleichheit und Rechtssicherheit nicht, widersprechen auch der Gewaltenteilung und der Gesetzesbindung der Richter. Die rechtspolitische Aufgabe lautet vielmehr, zwischen beiden Extremen die richtige Mischung zu finden. Werturteilsproblematik Als zweites Beispiel für die Relevanz soziologischer Theorie für die Rechtspraxis nenne ich den sog. Werturteilsstreit, der die Sozialwissenschaften seit Max Weber beschäftigt und sich nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs infolge der radikalen Zweifel, ob wertfreie Erkenntnis überhaupt möglich sei, außerordentlich verschärft hat. Es kann nicht Aufgabe der Jurisprudenz, vollends nicht der praktizierenden Juristen sein, die Argumentationswege in all ihren Windungen zu verfolgen, welche die streitenden sozialwissenschaftlichen Schulen beschreiten. Der Theorienstreit als solcher gehört daher, entgegen mancher anders lautenden Meinung, auch nicht in den rechtswissenschaftlichen Universitätsunterricht Er nötigt die Juristen aber zu der kritischen Frage nach den ethischen und politischen Prämissen der Gesetze, welche sie handhaben, und ihrer eigenen Denkmethoden, denn eine rationale Judikatur ist nur möglich, wenn diese Determinanten des richterlichen Entscheidungsprozesses nicht unartikuliert bleiben.
Das Recht als die Ordnung einer bestimmten Gesellschaft kann nicht wertfrei sein, sondern spiegelt die in der Gesellschaft herrschenden Wertvorstellungen und politischen Strukturen wider, in der Bundesrepublik z. B. das Menschenbild des Grundgesetzes und die Ziele, welche die Mehrheit des Bundestags verfolgte, der ein bestimmtes Gesetz erließ. Eine Rechtswissenschaft, welche das Recht als zeitund voraussetzungslose ratio scripta verstand oder bei der Auslegung jedenfalls von den ethischen und politischen Hintergründen eines Gesetzes abstrahieren zu können glaubte, hat unter dem Eindruck der sozialwissenschaftlichen Kritik daher heute ausgedient Ebenso würde derjenige Richter einer Illusion verfallen, der glaubt, sein Amt verpflichte ihn zu nicht mehr als zu einer Von aller Ethik und Politik freien Rechtstechnik, er sei lediglich „pouvoir en quelque faon nulle"
III. Kritische Soziologie
Vorbemerkung Auf einer dritten Ebene kann soziologische Denkweise und Forschung rechtserheblich werden, wenn sie sich dem Recht selbst zuwenden, dessen soziale Bedingtheit kritisch analysieren, die soziologische Eigenart der das Recht handhabenden Personen und Berufsgruppen herausarbeiten oder die Kommunikations- bzw. Interaktionsprozesse im Gerichtsverfahren analysieren. Es versteht sich, daß dieser Aspekt sich mit den bisherigen, namentlich mit den Ausführungen zur soziologischen Theorien überschneidet. Ich hebe ihn dennoch gesondert hervor, um die spezifische Stoßrichtung rechts-und justizkritischer Soziologie herausarbeiten zu können, die sich, wenn sie ihr Ziel trifft, in einer Veränderung des Selbstverständnisses der Juristen und des Stils der Rechtspflege auswirken kann. Was gemeint ist, wird wiederum am besten deutlich, wenn ich es an Beispielen verdeutliche: Berufssoziologie der Juristen Die Rechtssoziologie hat schon in ihrer Entstehungsphase der berutssoziologischen Position der Juristen, namentlich der Richter, in der Gesamtgesellschaft ihr Forschungsinteresse zugewandt. Sie hat deren soziale und räumliche Herkunft sowie deren beruflichen Werdegang untersucht und ist zu dem Ergebnis gelangt, daß Richter überwiegend aus den Mittelschichten, häufig aus Beamtenfamilien stammen und auch während ihrer beruflichen Karriere diesen Schichten verhaftet bleiben. Sowohl die gesellschaftliche Oberschicht wie vor allem die Unterschichten sind nur spärlich vertreten. Seit etwa 50 Jahren hat sich an diesem Bild nicht viel geändert Ein Be-fund wie dieser nötigt sofort zu kritischen Fragen: Wirkt sich die Herkunft der Richter aus den Mittelschichten auf bestimmte Gerichtsentscheidungen oder auf den Stil der Rechtspflege aus und wenn ja, auf welche Weise? Ist es berechtigt, den Vorwurf der Klassenjustiz zu erheben? Und: Welchen Einfluß hat die Schichtgebundenheit der Richterschaft auf das Ansehen der Justiz im Volk, auf die Bereitschaft, die Urteile als gerecht zu akzeptieren, und schließlich auf die politische Stellung der Dritten Gewalt im Staat? Es liegt auf der Hand, daß objektive Antworten auf solche kritischen Fragen wichtige Konsequenzen nach sich ziehen müssen.
Klassenjustiz?
Der Verdacht einer Klassenjustiz in der Bundesrepublik wurde mehrfach geäußert, zuerst schon von Dahrendorf in seinem 1965 erschienenen Buch „Gesellschaft und Demokratie in Deutschland" Man hat auch Beispiele genannt, die sich unter dieses ominöse Stichwort subsumieren lassen, etwa die Beobachtung, daß Angeklagte aus der Unterschicht bei gleichem Sachverhalt härter bestraft werden als solche aus der Mittel-oder Oberschicht mit der Begründung, daß sie besonders hohe „kriminelle Energie" und besonders geringe Einsicht in die Strafwürdigkeit ihres Tuns zeigten Doch handelt es sich um Einzelfälle, die eine allgemeine Praxis der Gerichte nicht belegen, überhaupt ist es bislang nicht gelungen, einen Ursachenzusammenhang zwischen Herkunft und Urteilsspruch der Richter zu beweisen, denn die Zahl der Faktoren, die im Prozeß auf den Richter einwirken, namentlich auch der Mechanismen, die eine unparteiische Rechtspflege gewährleisten sollen, ist so hoch, daß eine monokausale Erklärung bestimmter Beobachtungen kaum zulässig erscheint Indessen ist das Problem damit keineswegs erledigt. Auch ungeachtet der wissenschaftlichen Beweisbarkeit muß ein auch nur einigermaßen fundier21) ter Vorwurf der Klassenjustiz jeden Richter herausfordern, sich selbstkritisch Rechenschaft abzulegen, ob er, bewußt oder unbewußt, zwischen Angehörigen verschiedener sozialer Schichten differenziert und, wenn ja, zu einer Korrektur seiner Praxis drängen.
Nicht minder wichtig ist die politische Dimension des Sachverhalts. Ein Richterstand, der sich aus einem bestimmten sozialen Umfeld rekrutiert und deshalb nicht das ganze Spektrum der Bevölkerung repräsentiert, muß sich in der Öffentlichkeit, zu Recht oder zu Unrecht, fast zwangsläufig dem Verdacht schichtspezifischer Rechtspflege ausgesetzt sehen. Das daraus fließende Mißtrauen — namentlich der unteren Schichten —-gegenüber der Justiz hat politisches Gewicht. Es hat schon in der Vergangenheit vielfach dazu geführt, den professionellen Juristen Laienrichter (z. B. Schöffen, Geschworene, Arbeitsrichter, Handelsrichter) beizugeben, die ihre Kenntnis des Milieus einbringen, aber auch als Träger öffentlicher Kontrolle über die Justiz fungieren sollen. Auch in Zukunft werden derartige Gegengewichte gegen die Schicht-gebundenheit des Richterstandes notwendig bleiben.
Die Effektivität des Rechts Zu den wichtigsten Themen der Rechtssoziologie in der Bundesrepublik gehört gegenwärtig die Frage nach der Elfektivität des Rechts Juristisch gilt eine Vorschrift, wenn sie in dem von der Verfassung vorgeschriebenen Verfahren erlassen wurde und inhaltlich mit höherrangigem Recht, namentlich dem Grundgesetz, übereinstimmt. Die Rechtsgültigkeit sagt aber noch nichts darüber aus, ob die Menschen die Norm auch befolgen. Dies ist eine soziologische Frage. Sie läßt sich nur im theoretischen Extremfall mit einem klaren Ja oder Nein beantworten; eine empirische Untersuchung würde nur eine mehr oder weniger hohe Effektivitätsquote feststellen können Staatlicher Legislative muß jedoch an einer hohen Effektivitätsquote gelegen sein, denn andernfalls blieben alle ihre Bemühungen mehr oder weniger vergeb22) lieh. Daher liegt viel daran, die Gründe für eine hohe Abweichung zu erforschen. Sie können ganz verschiedener Art sein: Läuft ein Gesetz handfesten Interessen der Betroffenen zuwider, so werden sich diese ihm, wo immer möglich, zu entziehen trachten. Seine Durchsetzbarkeit hängt dann vor allem von den Zwangsmitteln und von der Bereitschaft des Justizapparats ab, diese anzuwenden. Regelt eine Norm einen Sachverhalt unvollständig, sachwidrig oder gar widersprüchlich, so werden die Beteiligten mit Grund nach anderen Lösungen suchen. Widerspricht sie den in der Bevölkerung verwurzelten Rechtsansichten oder moralischen Standards, so wird diese aus Überzeugung Widerstand leisten, der schwer zu brechen ist. Die Richterschaft wird aufgrund einer hohen Diskrepanz zwischen rechtlicher und sozialer Geltung einer Norm vor die heikle Frage gestellt, ob sie unter allen Umständen verpflichtet ist, dem staatlichen Gebot Wirksamkeit zu verschaffen, auch z. B. um den Preis, daß ihr Urteil nicht verstanden oder als ungerecht empfunden wird. Sie kann der Frage nicht ausweichen, denn Art. 20 GG verpflichtet sie, nach Gesetz und Recht zu entscheiden, das heißt, sie ist nicht reines Vollzugsorgan des Gesetzgebers, sondern hat diesen zugleich zu kontrollieren. Eine niedrige Effektivitätsquote wirkt als Indiz, daß Gesetz und Recht auseinanderfallen können
Verhältnis von Recht und Herrschaft Schließlich nenne ich als letztes Beispiel das Verhältnis von Recht und Herrschaft. Man braucht nicht Marx anzuhängen, um zu sehen, daß das Recht politische und wirtschaftliche Macht nicht nur begrenzt und bindet, sondern auch befestigt und legitimiert. Jede Rechtsnorm enthält, indem sie divergierende Interessen der Betroffenen gegeneinander abgrenzt, eine Verteilung von Herrschaftschancen. Die in einer Gesellschaft geltende Rechtsordnung spiegelt die in ihr bestehenden Machtverhältnisse und stabilisiert sie als legale Herrschaft. Im konkreten Streitfall urteilt der Richter nicht nur über abstrakte Rechtsfragen, sondern gewährt der einen Partei die Rechtsmacht, sich mit ihrem Anspruch gegenüber der anderen durchzusetzen oder deren behaupteten Anspruch mit Hilfe staatlicher Gewalt abzuwehren. Indem die Rechtssoziologie die durch das Recht geformten und legitimierten Herrschaftsstrukturen in einer Gesellschaft aufdeckt, stellt sie sie zugleich, gewollt oder ungewollt, in Frage bzw. nötigt sie, sich zu rechtfertigen. Dies ist der Grund, weshalb totalitäre Staaten eine unabhängige Rechtssoziologie nicht ertragen können.
In der Bundesrepublik hat sich die Rechtssoziologie in den letzten Jahren vor allem mit dem Herrschaftscharakter des Gerichtsverfahrens beschäftigt Man hat festgestellt, daß die Kommunikation zwischen Richtern, im Strafprozeß auch zwischen Staatsanwälten und Parteien bzw. Angeklagten, ein ausgeprägtes, auf den Prozeßordnungen und auf der Urteilsgewalt des Richters beruhendes Gefälle aufweist, das die Beteiligten für das Verfahren der Herrschaft des Gerichts unterwirft. Dies kann dazu führen, daß die Parteien angesichts des Drucks, dem sie sich ausgesetzt sehen, außerstande sind, sich hinreichend verständlich zu machen, während auf der anderen Seite das Gericht sich nicht genug Mühe gibt, auf die Rechtssuchenden einzugehen. Die Ermittlung der Wahrheit im Prozeß und die Überzeugungskraft des Urteils sind gefährdet. Wenn auch die Idee eines herrschaftsfreien Dialogs vor Gericht, wie sie von manchen propagiert wird, utopisch, ja nicht einmal wünschenswert sein dürfte, so müssen Beobachtungen der geschilderten Art die Richter doch stets auf die Gefahren ihres Tuns hinweisen und sie drängen, darüber nachzusinnen, wie ihnen zu begegnen sei. Auch hierin erfüllt sich — in einem ganz besonderes wichtigen Punkt — die kritische Funktion der Rechtssoziologie.
IV. Zusammenfassung
Der vorstehende Überblick über eine schon große Zahl von Themen, in denen die Rechts-soziologie für Gerichtsprozesse Bedeutung erlangen kann, schöpft das Thema nicht aus. Nicht nur müßte jeder einzelne Punkt ausführlicher und differenzierter untersucht werden. Hinzu kommen müßten zahlreiche weitere Aspekte. Aus dem Bereich der empirischen Forschungen wäre z. B. auf die Untersuchungen zur Gerichtsstruktur, zu den Ursachen der langen Dauer von Prozessen oder zu den Mängeln des geltenden Armenrechts einzugehen. Weiter wären die Auswirkungen des bürokratischen Aufbaus der Justiz und der Stil der deutschen Rechtspflege zu analysieren. Auf Vollständigkeit konnte es deshalb an dieser Stelle nicht ankommen. Wenn es statt dessen gelungen ist, die eminente Bedeutung herauszuarbeiten, welche die Rechtssoziologie für das Gerichtswesen beansprucht und die noch viel zu wenig beachtet wird, erfüllt sich der Zweck dieser Ausführungen. Deren Bedeutung liegt prinzipiell, wenn auch heute vielfach noch nicht verfügbar, in der Erweiterung der Tatsachenkenntnisse als der für jedes Urteil maßgeblichen Entscheidungsgrundlage. Nicht minder wichtig ist aber der Einfluß rechtssoziologischer Denkweisen und Kritik, die dazu beitragen können, verknöcherte Strukturen der Rechtspflege aufzubrechen und ihr den Blick für die Rechtswirklichkeit offen-zuhalten, dessen sie bedarf, um menschliches Recht zu sprechen.