Die Auseinandersetzung um die von der CDU aufgeworfene Neue Soziale Frage erscheint außerordentlich lebhaft, aber auch verwirrend. Der Beitrag gibt einen gerafften Überblick über die Entwicklung der Neuen Sozialen Frage und soll die Einordnung aktueller Kontroversen erleichtern. Die Soziale Frage wurde im 19. Jahrhundert sehr allgemein als Arbeiterfrage interpretiert. Sie hat in der Gegenwart jedoch speziellere Konturen angenommen. Strukturprinzipien einer Sozialpolitik, die sich primär als Antwort auf die Arbeiterfrage verstand, reichen aber noch weit in die gegenwärtige Wirklichkeit unserer sozialen Institutionen hinein. Ein Überblick über kritische Stimmen zur sozialpolitischen Entwicklung in der Bundesrepublik Deutschland seit Kriegsende — von Mackenroth bis Geißler — zeigt, daß Schwächen unseres Systems der sozialen Sicherung relativ früh und in aller Deutlichkeit von verschiedenen Seiten aufgezeigt wurden. Einen neuen Höhepunkt erreichten diese Kritiken in den Dokumentationen H. Geißlers zur Kostenexplosion im Gesundheitswesen und zur Armutsproblematik. Erst die Mannheimer Erklärung kann allerdings als der erste groß angelegte Versuch einer gesellschaftspolitischen Neuorientierung angesehen werden. Sie problematisierte den Konflikt zwischen organisierten und unorganisierten Interessen sowie die Zukunft des Sozialstaates. Die Reaktionen zeigten, daß die Neue Soziale Frage nicht nur als Oppositionskonzept, sondern auch als gesellschaftspolitische Perspektive ernst genommen und analysiert wird. Die innerparteiliche Auseinandersetzung über die Neue Soziale Frage setzte bei der Diskussion über das Grundsatzprogramm ein. Hier schien zunächst ein Gegensatz zwischen Ordnungspolitikern und Verteilungs-(Sozial) Politikern aufzubrechen. Die Analyse einer sozialen Ordnungspolitik nach den Prinzipien der Sozialen Marktwirtschaft zeigt jedoch, daß es sich hier größtenteils um Mißverständnisse handelt. Sind diese erst ausgeräumt, kann die Neue Soziale Frage innerhalb der CDU mit einem breiten Konsens rechnen.
Einleitung
Die Diskussion um die von der CDU aufgeworfene Neue Soziale Frage erscheint außerordentlich lebhaft, aber auch verwirrend. Je nachdem, welchen Teil der Diskussion man gerade verfolgt, ergibt sich ein durchaus unterschiedliches Bild. Teile der Diskussion erwecken den Eindruck, als ginge es bei der Neuen Sozialen Frage ausschließlich um das Problem der Armut in entwickelten Industrie-gesellschaften. Dieser Diskussionsstrang hat sich weitgehend verselbständigt. In diesem Zusammenhang begegnen wir einer für die empirische Sozialforschung und für die praktische Sozialpolitik gleichermaßen wichtigen und interessanten Auseinandersetzung um die Festsetzung von Armutsgrenzen etc. Hier wird einiges von dem nachgeholt, was in anderen Ländern zur Armutsproblematik schon erarbeitet wurde. Aber ist damit schon die anspruchsvolle These von einer Neuen Sozialen Frage zu rechtfertigen?
Auf der anderen Seite finden wir Interpretationen, die auf die Armutsfrage explizit gar nicht eingehen und die Neue Soziale Frage im Zusammenhang mit Veränderungen der Wirtschafts-und Gesellschaftsstruktur (Stichworte: Expansion des Dienstleistungssektors und zunehmender Einfluß der Verbände) sehen und darin eine allgemeine Herausforderung an die Ordnungspolitik erblikken Im politischen Raum wird eine weitgefaßte Deutung der Neuen Sozialen Frage vor allem von Kurt Biedenkopf vertreten, wenn er z. B. feststellt, daß mit der Neuen Sozialen Frage „ein ordnungspolitisches, ein machtpolitisches Problem angesprochen worden ist"
In diesem Beitrag soll versucht werden, bei aller gebotenen Kürze doch einen möglichst umfassenden Überblick über die Ursprünge der Neuen Sozialen Frage und ihre Stellung in der gegenwärtigen politischen Auseinandersetzung zu geben Unser Ziel wäre erreicht, wenn es auf der Basis dieser Überlegungen leichter fallen sollte, die divergieren-den sachlichen und politischen Einschätzungen der Neuen Sozialen Frage sinnvoll einzuordnen und vor allem zu erkennen, wo fundamentale Gegensätze vorliegen, wo es sich um unterschiedliche Akzentuierungen handelt, und wo trotz sprachlicher Verschiedenheiten im Grunde ein Konsens besteht.
I. Die soziale Frage
Der Begriff der „Sozialen Frage" erscheint als Lehnübersetzung von „question sociale" in Deutschland erstmals 1840 Heute wird von einer Neuen Sozialen Frage gesprochen. Der inzwischen verstrichene Zeitraum von fast 140 Jahren legt die Überlegung nahe, welchen Wandel der Begriff inzwischen durchgemacht hat. Wenn man die Bedeutung von Begriffen primär darin sieht, daß sie Perspektiven erschließen (aber auch verschließenl), so ist es unwahrscheinlich, daß jemand, der im 19. Jahrhundert von der „sozialen Frage" sprach, damit denselben Bezugsrahmen verband, wie jemand, der sich heute dieser Wendung bedient. So verwundert es nicht, daß einige sachkundige Autoren den Begriff der sozialen Frage als zu wenig differenziert ablehnen. Dabei muß nicht unbedingt auf die geschichtliche Entwicklung verwiesen werden. Es genügt der Hinweis auf die Vielgestaltigkeit der sozialen Probleme in der jeweiligen Gegenwart. Das folgende Zitat kann als repräsentativ für diese Haltung angesehen werden: „Man sieht zahllose soziale Fragen, aber was soll , die soziale Frage'heißen? Als ob ein einziger Fragenkomplex alle anderen beherrschte, als ob die Gesellschaft von einem einzigen Leiden gequält würde." Die Neigung, einzelne „soziale Fragen" an die Stelle der „sozialen Frage" zu setzen, entspricht den Bedürfnissen von Wissenschaftlern und Politikern, Phänomene in leicht überschaubare, isolierbare Probleme aufzusplittern. Ein solcher Ansatz scheint zunächst allein geeignet, mit dem raschen Wandel in den Problemfeldern der Gesellschaft fertig zu werden, andererseits ist er mit beträchtlichen Nachteilen verbunden. Ein atemloser Interventionismus, der von Problem zu Problem eilt, ist nicht mehr in der Lage, die Frage nach dem Zusammenhang zwischen den Problemen zu stellen. Vielfach muß er sich damit begnügen, Symptome zu kurieren, denn die Ursache der Probleme — die vielleicht vielen gemeinsam ist — kommt ihm nicht ins Blickfeld. Nun braucht man den individuellen Charakter sozialer Probleme keineswegs zu leugnen und kann dennoch der Meinung sein, daß ein allgemeiner Begriff der sozialen Frage möglich und nützlich ist. Die soziale Frage läßt sich dann auf verschiedenen Abstraktionsniveaus behandeln: Auf dem niedrigsten erscheint sie als Summierung sozialer Probleme ohne inneren Zusammenhang. In einem schon beträchtlichen Akt der Abstraktion versucht man dann, die sozialen Probleme auf einer bestimmten Entwicklungsstufe der Gesellschaft zusammenzufassen. Schließlich kann man auch nach dem „ganz allgemeinsten Begriff" der sozialen Frage suchen, der alle Formen umfaßt.
Ganz allgemein läßt sich die soziale Frage umschreiben als „die Frage nach den Fehlentwicklungen und Fehlwirkungen der Sozialordnung einer Gesellschaft hinsichtlich der ihr gestellten Gemeinwohlaufgaben, nach deren Ursachen und den Mitteln zu deren Über-windung" überraschende Parallelen zu diesem allgemeinen Begriff der sozialen Frage zeigt eine Definition, die vor über hundert Jahren gegeben wurde. H. von Scheel definierte die soziale Frage als „den zum Bewußtsein gekommen Widerspruch der volkswirtschaftlichen Entwicklung mit dem als Ideal vorschwebenden und im politischen Leben sich verwirklichenden gesellschaftlichen Ent-wicklunqsprinzip der Freiheit und Gleichheit"
Wie Pankoke im einzelnen nachweist, waren die ersten Auseinandersetzungen um die soziale Frage von einer sehr allgemeinen Beunruhigung über die Auswirkungen des Strukturwandels der Gesellschaft getragen, einem Krisenbewußtsein, das teilweise der realen gesellschaftlichen Entwicklung sogar voraus-lief „Im Schlagwort von der . socialen Frage'waren die vielfältigen Probleme der Mobilisierungs-und Modernisierungskrise auf eine zusammenfassende Formel gebracht. Man begann, die unterschiedlichen gesellschaftlichen Krisenphänomene als Symptome einer allgemeinen Strukturkrise der gesellschaftlichen Bewegung wissenschaftlich zu reflektieren und sich für eine grundlegende Gesellschaftsreform politisch einzusetzen." Diese sehr allgemeine, aber auch vage Fassung der sozialen Frage gewann im Laufe des 19. Jahrhunderts zunehmend Konturen. Der Konflikt zwischen Arbeit und Kapital beherrschte das politische und das wissenschaftliche Interesse. Die soziale Frage wurde zur Arbeiterfrage. Die Konsequenzen für die Sozialpolitik und insbesondere für das System der sozialen Sicherheit wurden von Achinger prägnant festgehalten: „Die . Arbeiterfrage'als Frucht des Kapitalverhältnisses nahm alles Interesse in Anspruch, vom Arbeitsverhältnis allein aus wurde konstruiert." Wie sehr sich die wissenschaftliche Sozialpolitik als Antwort auf die Herausforderung durch die Arbeiterfrage verstand, kann an zwei durchaus repräsentativen Zitaten verdeutlicht werden Nach van der Borght bezweckt die Sozialpolitik „die Hebung der Klassen, die ihre Arbeitskraft im Dienste anderer in unselbständigen und abhängigen Berufsstellungen verwerten müssen" Nach dem zu Anfang dieses Jahrhunderts wohl populärsten Lehrbuch der Sozialpolitik von Zwiedineck-Südenhorst ist es die Aufgabe der Sozialpolitik, „Einrichtungen und Normen so zu schaffen, daß nach menschlicher Voraussicht die wirtschaftlichen Interessen jedes Arbeiters mit durchschnittlichen Bedürfnissen gesichert erscheinen"
Die Orientierung am Arbeitsverhältnis prägt die Institutionen der sozialen Sicherung bis zum heutigen Tage. Besonders deutlich drückt sie sich in der sozialen Selbstverwaltung aus. Sie ist in der Regel keine Selbstverwaltung der Versicherten, vielmehr setzen sich die Selbstverwaltungsorgane paritätisch aus Vertretern der Arbeitnehmer und Arbeitgeber zusammen Dieselben mächtigen Verbände, die in den Tarifverhandlungen die Nominallöhne bestimmen und als Interessengruppen auf die staatliche Sozialpolitik Einfluß nehmen, gestalten so auch die Umverteilungsprozesse innerhalb der sozialen Sicherung.
II. Die Entwicklung der Sozialpolitik in kritischer Perspektive
Eine ausführliche Darstellung der Entwicklung der Sozialpolitik in der Bundesrepublik Deutschland seit 1945 kann hier nicht gegeben werden Für die ersten Nachkriegsjahre gilt, daß die enge Verknüpfung von Sozialpolitik und Wirtschaftspolitik vielleicht nie mehr so deutlich geworden ist wie in jener Zeit. Ordnung im Wirtschaftlichen, konkret: die Ordnung der Märkte und des Geldwesens, bedeutete auch Ordnung im Sozialpolitischen. In der damaligen Situation erwies es sich als relativ unkompliziert, die Erreichung der sozialpolitischen Ziele zu messen und die Erfolge der Sozialpolitik politisch zu vertreten. Eine erfolgreiche Sozialpolitik war gleichzusetzen mit Linderung von Not auf breiter Basis. In der zweiten Regierungserklärung vom 20. Oktober 1953 wird der Erfolg sozialpolitischer Bemühungen dargestellt: „Es ist der ersten Bundesregierung gelungen, die jährlichen Aufwendungen für die soziale Sicherheit der Bevölkerung von 1949 bis 1953 nahezu zu verdoppeln. Das ist im hohen Maß ein Erfolg der Sozialen Marktwirtschaft und einer guten Finanzpolitik; das laufend steigende Sozialprodukt hat eine entsprechend höhere Beteiligung der Sozialleistungsempfänger gestattet." In diesen Sätzen kommt zum Ausdruck, daß — vielleicht zum letzten Mal — Quantität und Qualität in der Sozialpolitik gleichgesetzt werden konnten. Solange es darum ging, drückende Not zu beseitigen, bedeutete mehr Sozialpolitik auch bessere Sozialpolitik. Da die Armut fast alle Bevölkerungskreise erfaßt hatte, spielten Grundsatzfragen der Priorität bei den Hilfeleistungen nur eine untergeordnete Rolle. Eben diese Prioritätenfragen waren es, die in der Diskussion nach 1953 eine zunehmende Rolle spielten und bis heute nichts an Aktualität eingebüßt, sondern eher gewonnen haben. In der sozialpolitischen Diskussion von den frühen fünfziger Jahren bis heute wurde wiederholt der Versuch unternommen, die strukturellen Änderungen der Gesellschaft nachzuzeichnen, sozialpolitische Fehlentwicklungen aufzuzeigen und von hier aus die neuen sozialpolitischen Antworten zu entwerfen. Der Bogen spannt sich hier von den Forderungen Mackenroths nach einer Reform der Sozialpolitik durch einen deutschen Sozialplan bis zu den Dokumentationen Heiner Geißlers zur Kostenexplosion und zur neuen Armut. In der Retrospektive fügen sich die vielen Einzelbeobachtungen — von denen hier nur einige wenige wiedergegeben werden können — zu einem Bild des Unbehagens an der Entwicklung der Sozialpolitik. Zugleich erscheinen viele Einzelfeststellungen theoretisch ungesichert, isoliert und in ihrer Tragweite erst heute voll erkennbar. Die Eule der Minerva scheint wohl auch im Bereich der Sozialpolitik ihren Flug erst in der Dämmerung anzutreten. Einige Beispiele mögen verdeutlichen, daß es in der Vergangenheit weniger an Einsichten mangelte, sondern an ihrer Umsetzung in die politische Praxis. So forderte Mackenroth schon 1952: „An Stelle einer Klasse muß heute Objekt der Sozialpolitik die Familie werden, und zwar quer durch alle Klassen und Schichten, es gibt da überhaupt keine Unterschiede mehr." Mackenroth sieht im Familienlastenausgleich die „sozialpolitische Groß-aufgabe des zwanzigsten Jahrhunderts" seines Erachtens „der einzig sozial sinnvolle Lastenausgleich, denn sein Richtmaß ist nicht ein vergangener Verlust, sondern 18 eine gegenwärtige Leistung, deren Lasten ausgeglichen werden sollen: Die Lasten für das Ausbringen der jungen Generation, ohne die kein Volk und keine Kultur ihre Werte erhalten und tradieren können, müssen gerecht verteilt werden, so daß das Volk nicht durch eine falsche Verteilung dieser Lasten seinen Bestand gefährdet." Fast zwanzig Jahre später stellt Heiner Geißler schwerwiegende Defizite in der Familienpolitik fest, weist nach, daß Kinderreichtum in unserer heutigen Gesellschaft eine der häufigsten Ursachen von Armut ist und deckt die Konsequenzen des Geburtenrückgangs für die Bundesrepublik Deutschland auf Wie läßt sich nun erklären, daß in einer Zeitspanne, die über weite Strecken von wirtschaftlicher Expansion gekennzeichnet war, auf einem so wichtigen Gebiet der Gesellschaftspolitik so wenig Fortschritte erzielt wurden? Wenig fruchtbar erscheint es, die Ursachen in persönlichen Mängeln der verantwortlichen Politiker, etwa in einer Blindheit für die Nöte der Familien etc. zu sehen. Politiker und auch die Führer von Interessen-verbänden sind selten blind, aber häufig tragen sie Scheuklappen, die sie — zumindest in ihrer Rolle als Politiker oder Funktionär — daran hindern, Probleme als solche zu erkennen und ihnen nachzugehen. Auch zu dieser Problematik liegen seit einiger Zeit wichtige Beobachtungen vor, die das Gesamtbild zu ergänzen vermögen. Vor allem Achinger hat auf die Bedeutung der Institute für die Sozialpolitik hingewiesen und definiert sie als „Apparaturen des Vollzugs sozialer Geld-und Sachleistungen . .., die Dauer besitzen, von eigenem Geist erfüllt sind und ihrerseits nach kurzer Zeit beginnen, die soziale Intention der Gesamtheit zu beeinflussen, zu deklarieren und zu steuern." Diese Merkmale von Instituten (Institutionen) führen dazu, daß neue Probleme nur mit großen Schwierigkeiten innerhalb des gegebenen Systems erkannt und verarbeitet werden. Die Institute „verführen dazu, den Dauercharakter sozialer Erscheinungen und Bedürfnisse anzunehmen, der sich doch bei jeder genauen Überlegung als Fiktion erweisen muß" Die unterschiedliche Durchsetzungskraft von Interessen ist ein zentrales Thema der bereits 1967 von v. Ferber vorgelegten sozialpolitischen Studie Er verweist auf die Existenz-nöte, „die sich der politischen Formulierung und Durchsetzbarkeit im Modell des Interessenpluralismus entziehen“ Die „Leistungsempfänger haben auf die Gestaltung der Sozialpolitik nur insofern Einfluß gewonnen, als sie ihre politische und soziale Lage in eine Herrschafts-bzw. Machtposition umzumünzen verstehen"
In seinen Beobachtungen über die Ungleichheit der Interessenrepräsentanz wird v. Ferber von anderen Wissenschaftlern bestätigt Problematisch erscheint dagegen die Grund-position, von der aus v. Ferber seine Kritik entfaltet. Er spricht von der Sozialpolitik in der „Wohlstandsgesellschaft" und bringt damit zum Ausdruck, daß das Produktionsproblem wohl als gelöst zu betrachten ist. Entsprechend seiner Absage an den „Ökonomismus" in der Sozialpolitik spielt das Produktivitätsargument bei ihm keine Rolle. Diese Ausgangsbasis v. Ferbers wird man wohl kaum übernehmen können. Sein Grundanliegen — eine sozialwissenschaftliche Betrachtung der Sozialpolitik, die auf das Ganze blickt und sich nicht im Nachzeichnen der politischen Routine erschöpft — bleibt nach wie vor aktuell, auch wenn man seine politischen Wertungen nicht zu teilen vermag.
Führte v. Ferber die sozialpolitische Auseinandersetzung mit den Waffen der Ideologie-kritik und der politischen Soziologie, so gebührt H. Geißler das Verdienst, die Aufmerksamkeit wieder mehr auf die Zahlen und Fakten in der sozialpolitischen Diskussion gelenkt zu haben. In verschiedenen Dokumentationen wies er auf quantitativ beweisbare Mißstände und Fehlentwicklungen hin. Die in Wissenschaft und Politik geführte Diskussion hat freilich dazu geführt, daß die einzelnen Problembereiche ein Eigenleben entwickelten, zum Beispiel in eine wissenschaftlich zwar akribisch geführte, politisch aber isolierte Armutsdiskussion mündeten. Diese Entwicklung entspricht nicht den Intentionen Geißlers, der die von ihm aufgezeigten Probleme als zusammenhängend betrachtet und in ihnen die Neue Soziale Frage verkörpert sieht
Die erste Dokumentation Geißlers beschäftigte sich mit der Kostenexplosion im Gesundheitswesen Sie konstatierte ein rapides Ansteigen der Ausgaben für die gesetzliche Krankenversicherung, ging den wesentlichen Einflußfaktoren der Kostensteigerung nach (wobei die Krankenhauskosten den stärksten Anteil hatten, die übrigens heute noch die höchsten Steigerungsraten aufweisen) und lieferte eine Prognose unter der Voraussetzung, „daß nichts geschieht". Damit forderte er zum Handeln heraus. Ob allerdings die Tageserfolge des Interventionismus, die heute im Gefolge des Kostendämpfungsgesetzes zu beobachten sind, die langfristigen Probleme des Gesundheitsbereiches lösen, darf wohl bezweifelt werden.
Mit einer zweiten, 1975 vorgelegten Dokumentation löste Geißler eine Diskussion zur Armutsproblematik aus, die bis heute ungemindert anhält. Die von ihm genannten Zahlen mußten auf viele schockierend wirken: „In der Bundesrepublik gibt es wieder bittere private Armut. 5, 8 Millionen Menschen in 2, 2 Millionen Haushalten verfügen nur über ein Einkommen, das unter dem Sozialhilfeniveau liegt. Es handelt sich dabei nicht um . Gammler, Penner und Tippelbrüder', sondern um 1, 1 Millionen Rentnerhaushalte mit 2, 3 Millionen Personen und 600 000 Arbeiterfamilien mit 2, 2 Millionen Personen und 300 000 Angestellten-haushalte mit 1, 2 Millionen Personen."
Die Struktur der Armut ergibt ein teilweise erwartetes, teilweise auch ein überraschendes Bild. In Geißlers Studie machen die Rentner die größte Gruppe der Benachteiligten aus: „ 1, 1 Mio. Rentnerhaushalte — das sind 14, 5 °/o aller Rentnerhaushalte — mit 2, 3 Mio. Personen mußten sich im Jahre 1974 mit Einkommen begnügen, die noch unter den Bedarfssätzen der Sozialhilfe liegen."
Die zweite Problemgruppe wird von den Arbeitern gebildet, wobei allerdings eine nähere Aufschlüsselung dieser Gruppe zeigt, daß nicht der Status als Arbeiter, sondern primär andere Faktoren, vor allem die Zahl der zu versorgenden Kinder, die soziale Lage bestimmen: „Kein Bürger in der Bundesrepublik Deutschland ist heute deshalb arm, nur weil er Arbeiter ist, sondern er ist z. B. arm, wenn er Arbeiter ist und Kinder hat oder alt geworden ist oder unter die Leichtlohngruppen fällt." Die Zahlen, die Geißler für die gesamte Bundesrepublik ermittelte, decken sich mit den Beobachtungen einer Mikrostudie in Dortmund: „Neben den Rentnern, der klassischen Problemgruppe der Armutsforschung, sind es gerade die Haushalte mit vollberufstätigem Haushaltsvorstand, die die zweitgrößte Gruppe des Armenpotentials in Dortmund ausmachen."
Auf die detaillierte Auseinandersetzung um die Schätzung des Armutpotentials, die im Anschluß an die von Geißler vorgelegten Daten einsetzte und die manchem Beobachter als „statistisches Florettfechten" erscheinen, kann hier nicht eingegangen werden Wichtiger erscheint uns die Schlußfolgerung eines mit den Datenproblemen eng vertrauten Autors: „Der Verdienst Geißlers liegt . . . weniger darin, daß es ihm gelungen ist, die tatsächliche Anzahl der Armen — gemessen an den Vorschriften des BSHG — zu errechnen, sondern vielmehr darin, daß es ihm gelungen ist, diejenigen Menschen in den Blickpunkt der Sozialpolitik zu rücken, die der Hilfe am dringendsten bedürfen, nämlich der Menschen, deren Mittel so beschränkt sind, daß sie nicht einmal auf ihre Not aufmerksam machen und ihre gesetzlich verbrieften Rechte in Anspruch nehmen können." Die kritischen Stimmen zur sozialpolitischen Entwicklung haben sicherlich sehr unterschiedliche Akzente gesetzt. Dennoch wurden schon an einigen Stellen Verbindungslinien sichtbar. Warum sind die Kinderreichen arm? Unter anderem, weil die Sozialpolitik immer noch stark auf das Arbeitsverhältnis und nicht auf die Familienverhältnisse fixiert ist. Warum ist es so schwierig, die Richtung zü korrigieren, wenn sozialpolitische Autoren seit fünfundzwanzig Jahren entsprechende Hinweise geben? Weil die Kinderreichen, zum Unterschied zu anderen Gruppen der Gesellschaft, über kein Konflikt-und Störpotential verfügen, mit dem sie ihre Ansprüche durchsetzen könnten. Die Reihe der Verbindungen ließe sich fortsetzen. Besonders wichtig scheint uns, daß die kritischen Stimmen sich nicht einfach auf einer Links-Rechts-Dimension auftragen lassen. Summiert sich ihre Wirkung insgesamt zu einer neuen Perspektive, die sich mit der Formel von der Neuen Sozialen Frage zusammenfassen läßt, so hat diese Perspektive viele Väter, auch wenn einige aus parteipolitischen Gründen die Vaterschaft leugnen mögen. Die Artikulation des Unbehagens, vor allem im wissenschaftlichen Raum, ist eine Sache; die Umsetzung dieses Unbehagens in eine politische Programmatik ist eine andere. Erscheint die erste mehr als ein diffuser Prozeß, so ist es bei der zweiten zumindest in diesem Fall einfach. Die Mannheimer Erklärung der CDU kann als der erste, großangelegte Versuch einer gesellschaftspolitischen Neuorientierung angesehen werden.
III. Politisch-programmatische Aspekte der Neuen Sozialen Frage
1. Die Mannheimer Erklärung der CDU In Punkt 9 der Mannheimer Erklärung wird explizit die „Neue Soziale Frage" angesprochen, „die durch den veränderten Konflikt zwischen organisierten und nichtorganisierten Interessen und die unausgewogene Verteilung sozialer Lasten und Leistungen entstanden ist" In dem „Politische Aufgabe" betitelten Abschnitt wird im einzelnen auf die Neue Soziale Frage eingegangen; diese überlagere die alte soziale Frage in zunehmendem Maße: „Zu dem Konflikt zwischen Arbeit und Kapital sind Konflikte zwischen organisierten und nichtorganisierten Interessen, zwischen Minder-und Mehrheiten, zwischen Stadt und Land und zwischen den Machtausübenden und Machtunterworfenen innerhalb der organisierten gesellschaftlichen Gruppen getreten." Die neuen Probleme fordern eine Weiterentwicklung der Sozialpolitik, die nicht mit einer quantitativen Ausdehnung der Mittel gleichgesetzt werden kann: „Wichtiger ist vielmehr die Verbesserung der sozialen Wirksamkeit dieser Mittel und die Gewinnung ausreichender Bewegungsspielräume, um auch die Probleme der Neuen Sozialen Frage lösen zu können." Im letzten Unterabschnitt der Mannheimer Erklärung, der der „Verbesserung der Handlungsfähigkeit in Staat und Gesellschaft" gewidmet ist, wird der Gedanke der Sozialpflichtigkeit der Verbände zum Thema erhoben. Der sozialstaatli-ehe Grundsatz erfordere die Einordnung der gesellschaftlichen Gruppen und Verbände in das gesellschaftliche Ganze und das Gemeinwohl.
Die Bedeutung der Mannheimer Erklärung als ordnungspolitisches Bezugssystem wird vor allem von Kurt Biedenkopf hervorgehoben: „Das Ziel der Mannheimer Erklärung ist, mit Hilfe einiger entscheidender Elemente unserer Politik die Grundstruktur unserer politischen Gesamtstrategie zu verdeutlichen, aus der wir unsere freiheitlichen Antworten auf die Herausforderungen unserer Zeit herleiten." 2. Reaktionen auf die Mannheimer Erklärung Die Mannheimer Erklärung hat, auch und gerade was die Passagen zur Neuen Sozialen Frage betrifft, vielfältige Reaktionen bei der SPD und den Gewerkschaften hervorgerufen. Hier kann es nicht darum gehen, diese Reaktionen quantitativ vollständig zu dokumentieren. Die vielen, stärker aggressiv angelegten Formulierungen haben in der Regel einen geringen Informationswert, sie lassen aber wertvolle Schlüsse über die typischen Verfahrensweisen von Parteien und Organisationen angesichts neuer Problemstellungen und Alternativen zu. Gerade die Heftigkeit der Reaktion gibt dem Beobachter Aufschluß darüber, wo etablierte Positionen und Kompetenzen als gefährdet betrachtet werden Im folgenden soll vor allem auf zwei gewichtige, auch theoretisch bemerkenswerte Beiträge von H. -H. Hartwich und G. Himmelmann eingegangen werden.
Hartwich vergleicht die Vorstellungen von SPD und CDU zur Sozialpolitik. Sein Beitrag zeigt, daß auch innerhalb der kritischen Stimmen beträchtliche Differenzen in der Einschät-zung der Neuen Sozialen Frage zu bemerken sind. Hielten andere Beobachter sie für nicht existent bzw. für einen Teil der alten sozialen Frage so glaubt Hartwich daß die alte soziale Frage schon längst der Vergangenheit angehört. Andererseits seien viele Probleme, die in den Umkreis der Neuen Sozialen Frage gehören, von der derzeitigen Politik gelöst bzw. es werde an ihrer Lösung gearbeitet. „Dies aber bedeutet, daß die , Neue Soziale Frage'der CDU der faktischen Entwicklung nach nichts anderes ist als der Ausweis . weiterer'offener sozialer Fragen und Probleme in unserer Ge-Seilschaft. Dies ist durchaus wichtig und ein Grundanliegen jeder Opposition, nur neu ist es in der Tendenz nicht."
Für Hartwich gibt es „keinen echten Unterschied im Erkennen und Anerkennen sozialer Defizite und Schwachstellen zwischen den Parteien" Damit unterscheidet er sich von anderen Kritikern, die der CDU jegliche sozialpolitische Kompetenz absprechen. Fundamentale Unterschiede sieht Hartwich in der Perspektive, die die Lösung sozialer Fragen bestimmt. Die Neue Soziale Frage der CDU läßt für ihn „fürsorgerisch-obrigkeitliche" Züge erkennen. „Denn es ist eine logische Folge dieser Konzeption, daß es jemanden gibt, der nicht nur die noch sozial Schwachen ausfindig macht in der Gesellschaft, sondern der auch entsprechend rationalisiert, d. h. kostensparend die Mittel gezielt einsetzt und dabei selbstverständlich selektierend (etwa durch Begrenzung der Einkommenshöhen für die zusätzlichen sozialpolitischen Leistungen des Staates) die Lösung der sozialen Frage betreibt. Das kann aber nach Lage der Dinge nur der Staat sein. Die Organisationen werden bewußt (und vielleicht auch nicht ganz zu Unrecht) als unfähig hierzu bezeichnet. Sie müßten ja u. U. von ihren erkämpften Positionen und Besitzständen einiges aufgeben."
Diese Deutung der Neuen Sozialen Frage im Sinne eines Paternalismus scheint außerordentlich problematisch, vor allem wenn Hart-wich die paternalistisch-konservative Sozialpolitik mit einer Politik der Selbsthilfe, der Solidarität und des Pluralismus kontrastiert und die letztere einseitig der SPD zuweist. Dabei spielt der Grundsatz der Subsidiarität gerade im Rahmen der Neuen Sozialen Frage eine hervorragende Rolle. Wenn eine politische Partei sich für die sozial Schwachen einsetzt und dies zum Bestandteil ihrer politischen Konzeption macht, kann dies wohl schwerlich allein als Paternalismus gewertet werden. Es bleibt allerdings die Frage, ob Parteien, die im politischen Wettbewerb miteinander stehen, sich gleichzeitig zu Anwälten der benachteiligten Gruppen machen und im politischen Wettbewerb erfolgreich sein können Die CDU hat diese Frage für sich bejaht.
Für G. Himmelmann ist die Neue Soziale Frage zentrales Thema der Mannheimer Erklärung Im Zentrum seiner Betrachtung steht der Zusammenhang zwischen Neuer Sozialer Frage und neueren Ergebnissen der Sozialwissenschaft. Dabei mißt er der sogenannten Disparitätentheorie (Claus Offe u. a.) besonderes Gewicht bei. Ihre zentrale Aussage sieht Himmelmann darin, „daß zwar kapitalorientierte Interessen in der Gesellschaft dominierten, daß aber der alte, klassenmäßige Zwiespalt in den Lebenslagen überdeckt bzw. überlagert worden sei durch neue (Disparitäten'" Im letzten Aspekt sieht Himmelmann eine Parallel von Disparitätentheorie und der These von der Neuen Sozialen Frage.
Entsprechend seinem Ausgangspunkt wendet sich Himmelmann gegen Disparitätentheorie und Neue Soziale Frage zugleich. Insbesonde-'re weist Himmelmann darauf hin, daß die De-Privilegierung der unteren Arbeitnehmer im ökonomischen Bereich auch auf die anderen Lebensbereiche durchschlage. Dies gelte insbesondere auch für Sozialisationsfaktoren wie Schule und Betrieb. Eine Politik, die einseitig auf eine Begrenzung der Verbandsmacht abziele, benachteilige einseitig die Arbeitnehmer: „Das Interessenverbandsproblem ist primär ein Problem der Deprivilegierten, ob und wie sie über den Mechanismus der politischen Willensbildung ihre Gleichberechtigung durchsetzen können, da sie vom Mechanismus der ökonomischen Willensbildung und Entscheidung ausgeschlossen sind. Bläst man nun — unter der Parole der Neuen Sozialen Frage — gegen die Interessenorganisationen — insbesondere gegen die Gewerkschaften —, so nimmt man gerade den ökonomisch De-privilegierten ihre eigenständige Chance der Interessenrepräsentation gegenüber den Machtinhabern." Für Himmelmann scheint also die These von der Neuen Sozialen Frage einen antigewerkschaftlichen Affekt zu enthalten. Eine Kritik an Himmelmann wird zunächst bei der Frage anzusetzen haben, wie weit er die — zum Teil durchaus vorhandenen Parallelen — zwischen Disparitätentheorie und Neuer Sozialer Frage überstrapaziert, um seine (durchaus fundierte) Kritik an der ersteren mit leichter Hand auf die letztere übertragen zu können. Auch H. Geißler anerkennt einige Gemeinsamkeiten zwischen beiden Thesen, hält ihre Gleichsetzung jedoch für ein grobes Mißverständnis: „Der Graben zwischen den beiden Positionen öffnet sich (jedoch) dort, wo die . Neue Linke'diese Formen sozialer Unterprivilegierung zum integralen Bestandteil eines nach wie vor von Klassenherrschaft geprägten Spätkapitalismus erklärt. Dies wäre jedoch nur dann richtig, um nur ein Argument zu nennen, wenn die Neue Soziale Frage ausschließlich ein Phänomen der kapitalistischen Wettbewerbswirtschaft, dagegen in sozialistischen Ländern unbekannt wäre. Ein Blick auf die Lage unterprivilegierter Gruppen in den sozialistischen Ländern zeigt eine ganz andere Wirklichkeit. Es wäre daher völlig verfehlt, die neuen sozialen Konflikte zu integralen Bestandteilen der Wirtschafts-und Gesellschaftssysteme der westlichen Länder zu erklären."
Eine Kritik an den einzelnen Thesen von Hartwich und Himmelmann wird die insgesamt bemerkenswerte Tatsache nicht übersehen dürfen, daß von den Sozialdemokraten die Neue Soziale Frage nicht nur als „brillantes Oppositionskonzept" sondern auch als gesellschaftspolitische Perspektive ernst genommen wird. Die Versuche einer theoretischen Ortung lassen jedoch die Schwierigkeiten erkennen, wissenschaftliche Kritik mit parteipolitischem Engagement zu verbinden. Das führt z. B. bei Hartwich dazu, eine neue Konzeption mit Gewalt in ein altes Schema zu pressen. Bei Himmelmann führt das anerkennenswerte Ziel, eine Verbindung zwischen Neuer Sozialer Frage und neueren sozialwissenschaftlichen Entwicklungen herzustellen, zur Auswahl der relativ ungeeigneten Disparitätentheorie, die dem politischen Argument aber gute Dienste leistet. Dabei hätten sich wesentlich brauchbarere Theorien angeboten, z. B. die Entwicklungen im Bereich der ökonomischen Theorie der Politik, die das Verhältnis zwischen organisierten und nicht-organisierten Interessen zum Thema haben. Nur wären diese Ansätze für Himmelmanns politischen Zweck nicht so geeignet gewesen, zumal sich zeigen läßt, daß in ihrer Auswertung und Umsetzung die CDU einen deutlichen Vorsprung besitzt 3. Der Entwurf für ein Grundsatzprogramm der CDU Mit dem von der Grundsatzkommission vorgelegten Entwurf für ein Grundsatzprogramm hat die CDU einen weiteren Schritt in ihrer programmatischen Entwicklung getan Hier ist ein wichtiger Unterschied zur Situation der Mannheimer Erklärung festzuhalten: Die Mannheimer Erklärung erfolgte in der Zeit der Wahlvorbereitung, die Diskussion des Grundsatzprogramms erst in der Nachwahlzeit. Die Mannheimer Erklärung war innerparteilich kaum umstritten, gab aber zu vielfältigen zwischenparteilichen Auseinandersetzungen Anlaß. Innerparteilich hat sie ihre integrative Funktion voll erfüllt. Die Diskussion um das Grundsatzprogramm hat eher erkennen lassen, wo innerhalb der Union unterschiedliche Akzente gesetzt werden. Zwischenparteilich hat sie zu keiner Auseinandersetzung geführt, die mit den Auseinandersetzungen um die Mannheimer Erklärung vergleichbar wäre.
Verschiedene Beobachter haben — in der Regel mit kritischem Unterton — festgestellt, daß im Entwurf für ein Grundsatzprogramm zum Unterschied zur Mannheimer Erklärung die Neue Soziale Frage von dem Kapitel über Wirtschaftsordnung abgetrennt ist Sie steht in einem Kapitel „Entfaltung der Person", zusammen mit den Abschnitten über Familie und Bildung Auch die Wortwahl läßt auf unterschiedliche Akzente schließen. So wird im Grundsatzprogramm im Unterschied zur Mannheimer Erklärung von dem Problem der Armut und nicht nur von den sozial Schwachen gesprochen: „Trotz des ge-stiegenen Wohlstandes ist das Problem der Armut nicht gelöst. Im Gegenteil, die Zahl derer, die arm sind, nimmt zu. Millionen von Menschen, vor allem alte Menschen und manche Gruppen von Arbeitnehmern, liegen mit ihrem Einkommen unter den Sozialhilfesätzen."
Bemerkenswert erscheint auch, daß das Verhältnis von Staat und Verbänden nicht in dem Abschnitt über die Neue Soziale Frage diskutiert wird, sondern in dem Kapitel über den Staat. Dort werden in einem Unterabschnitt „Sozialstaat" auch sozialpolitische Probleme abgehandelt. 4. Reaktionen auf den Entwurf für ein Grundsatzprogramm Die Behandlung der Neuen Sozialen Frage im Rahmen des Entwurfs für ein Grundsatzprogramm hat vor allem eine intensive innerparteiliche Reaktion und Diskussion ausgelöst. Insbesondere Kurt Biedenkopf sah in den Formulierungen des Entwurfs die verteilungspolitische Komponente stark betont und den ordnungspolitischen Ansatz der Neuen Sozialen Frage völlig vernachlässigt. Nach Biedenkopf dient der Begriff der Neuen Sozialen Frage im Rahmen des Entwurfs für ein Grundsatzprogramm „im wesentlichen zur Bezeichnung eines umfassenden Programms zur Beseitigung privater Armut, zweifellos ein entscheidendes Anliegen klassischer Sozialpolitik, aber keine ordnungspolitische Fragestellung" Die Formulierungen des Programm-entwurfs scheinen Biedenkopf nachträglich die Bedenken Ludwig Erhards zu bestätigen, der schon im Zusammenhang mit der Mannheimer Erklärung die Befürchtung geäußert hatte, daß die Neue Soziale Frage lediglich zu neuen Forderungen und Belastungen des öffentlichen Haushalts führen könnte. Der Begriff Neue Soziale Frage sollte nach Biedenkopf zur Bezeichnung politischer Aufgaben nur dann verwendet werden, „wenn wir mit dem Begriff die neuen ordnungspolitischen Fragestellungen aufnehmen, die sich aus dem Konflikt organisierter und nicht-organisierter Interessen und den Strukturen unseres sozialen Systems für die Erhaltung und Sicherung der Freiheit des einzelnen ergeben. Wenn unter Neuer Sozialer Frage nur ein Ausbau des notwendigen und von niemandem in seiner Bedeutung bestrittenen Systems der allgemeinen sozialen Sicherung verstanden werden soll, sollte man auf den Begriff besser verzichten."
Gibt es also — und darauf deuten die Äußerungen Biedenkopfs hin — einen Gegensatz zwischen verteilungspolitischen Maßnahmen und der ordnungspolitischen Orientierung der Neuen Sozialen Frage? In seinem Beitrag vor dem Grundsatzforum hat H. Geißler die Frage aufgegriffen und beantwortet. Soziale Marktwirtschaft beschränkt sich nach ihm nicht auf eine Ordnung des Marktes, sondern umfaßt auch die Ordnung der sozialen Leistungen. „Ordnungspolitik und Verteilungspolitik sind in der Sicht der Sozialen Marktwirtschaft künstliche Gegensätze; denn auch die Verteilung der Ergebnisse des Marktes für diejenigen, die gar nicht am Produktionsprozeß beteiligt sind — immerhin 50% der Bevölkerung —, muß geordnet sein."
An dieser Stelle empfiehlt es sich, einer alten philosophischen Empfehlung zu folgen: Wo man einen Widerspruch oder Gegensatz antrifft, sollte man eine Unterscheidung treffen. Die Unterscheidung, die in diesem Fall nötig ist, bezieht sich auf die Art der Verteilungspolitik. Einerseits gibt es verteilungspolitische Eingriffe, die mit dem System der Sozialen Marktwirtschaft nicht vereinbar sind. Das bedeutet aber nicht, daß jede verteilungspolitische Aktivität grundsätzlich im Widerspruch zur Sozialen Marktwirtschaft steht. Sie ist allerdings mit denselben Maßstäben zu messen, die die Soziale Marktwirtschaft in anderen Bereichen fordert. Umgekehrt entspricht eine Marktwirtschaft ohne verteilungspolitische Eingriffe wahrscheinlich am ehesten einer isolierten Maximierung des Freiheitszieles. Es scheint aber undenkbar, daß eine Ordnung, die das Prädikat „Soziale Marktwirtschaft" verdient, ohne verteilungspolitische Eingriffe in die durch den Markt bewirkte Primärverteilung auskommen sollte. Nur durch Ausklammerung von Scheindifferenzen kann es gelingen, das verbleibende, grundsätzliche Problem in den Griff zu bekommen: die Frage einer sozialen Ordnungspolitik.
IV. Soziale Ordnungspolitik als Antwort auf die Neue Soziale Frage
In der Wirtschafts-und gesellschaftspolitischen Konzeption der Sozialen Marktwirtschaft verfügt die CDU über eine sichere ordnungspolitische Grundlage. Die Erfolge dieser Konzeption beim Wiederaufbau der Bundesrepublik werden heute kaum mehr bestritten. Im Gegenteil: Gerade die Erfolge der Sozialen Marktwirtschaft in jener Periode werden dazu benutzt, die Gültigkeit ihrer Prinzipien historisch zu fixieren und ihnen damit zugleich die Fähigkeit zur Lösung der Probleme unserer Zeit zu bestreiten. Diese Strategie kann sich politische Erfolgschancen dann ausrechnen, wenn die Vertreter der Sozialen Marktwirtschaft nicht wachsam, aufmerksam und aufgeschlossen sind: — Wachsam gegenüber dem Versuch, die Soziale Marktwirtschaft nur auf ein Prinzip der Ordnung von Märkten im industriellen Bereich zu reduzieren und ihr die Gestaltungskraft für die zunehmend bedeutsamer werdenden Bereiche der Sozial-und Dienstleistungen abzusprechen. — Aufmerksam gegenüber den sich abzeichnenden Strukturveränderungen in Wirtschaft und Gesellschaft. Die Expansion des Dienstleistungsbereich wurde z. B. von der Wirtschaftswissenschaft erst relativ spät analytisch bearbeitet, dasselbe gilt für den Nicht-Markt-Bereich generell (z. T. überlappen sich beide Sektoren, da Dienstleistungen zunehmend im Nicht-Markt-Bereich erbracht werden). In der Öffentlichkeit wurden die Probleme überwiegend erst erkannt, als sich ordnungspolitische Defizite als Kostenexplosionen bemerkbar machten. — Aufgeschlossen: Mehr oder weniger unbewußt sehen viele Vertreter der Sozialen Marktwirtschaft die Probleme der Gesellschaft aus der Perspektive der industriellen Produktion. Mancher empfindet den Dienstleistungsbereich als unproduktiv und befindet sich damit in einer seltsamen Allianz mit der marxistischen Auffassung. An der Diskussion, wie marktwirtschaftliche Prinzipien im industriellen Bereich durchgesetzt werden, beteiligen sich sehr viele (Kartellgesetzdebatte,
Konzentrationsdebatte). Diese intellektuellen Ressourcen fehlen dann, wenn es um eine phantasievolle Anwendung von Prinzipien der sozialen Marktwirtschaft in anderen Bereichen geht. Da bleibt oft nur das Schlagwort der Privatisierung übrig.
Die Gestaltungsprinzipien der Sozialen Marktwirtschaft sind unvermindert aktuell, Sie sind: — Sicherung der persönlichen Freiheit durch die Bereitstellung von Alternativen; — Verhinderung von Machtkonzentration durch Wettbewerb zwischen Entscheidungsträgern; — Sicherung des Gemeinwohls nicht durch Zwang, sondern durch den Wettbewerbsmechanismus, der individuelle Ziele und soziales Wohl zusammenführt; — Milderung des Zwangs, wo seine Einführung unvermeidlich ist (z. B. in Teilbereichen der sozialen Sicherung), durch Einführung von Wahlfreiheiten in Zwangssystemen; — ständige Überprüfung der Notwendigkeit von Zwang an der wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Entwicklung; — sozialer Ausgleich: „Wohlstand für alle'durch Freiheit und Wettbewerb. Gezielte Hilfen für die Gruppen, die sich selbst nicht helfen können.
Die Anwendung dieser Prinzipien auf den Bereich der sozialen Leistungen ist möglich und notwendig, auch und gerade, weil hier viel versäumt wurde. So finden wir im System der sozialen Sicherung schon wettbewerbliche Mechanismen, aber sie könnten verstärkt und besser geordnet werden. Es trifft auch nicht zu, daß in der sozialen Sicherung keine Freiheit besteht, mehr Freiheit ist aber, möglich. Sozialer Ausgleich wird vielfach betrieben, aber mit ungewissen Auswirkungen, mangelnder Transparenz und zweifelhafter Effektivität. Die verschiedenen von uns dargestellten Perspektiven zur Neuen Sozialen Frage lassen in unterschiedlichen Akzentuierungen erkennen, wo die mangelnde Anwendung der ordnungspolitischen Prinzipien der Sozialen Marktwirtschaft zu schwerwiegenden Folgen in unserer Gesellschaft geführt hat. Die Dokumentationen Geißlers waren, auch wenn dies anfangs nicht jedem bewußt war, Belege für ordB nungspolitische Fehlentwicklungen Indem er die Kostenexplosion nachzeichnete, verwies er implizit auf eine mangelnde Steuerung des Gesundheitswesens. Auch der Hinweis auf millionenfache Armut in der zweiten Dokumentation führt schon beim zweiten oder dritten Blick auf die ordnungspolitische Dimension hin. Eine erfolgreiche Sozialpolitik wird nicht darin bestehen können, immer mehr Arme immer besser zu versorgen, sondern sie wird die Ursachen der Armut beseitigen müssen. Diese sind aber struktureller Art und mit verteilungspolitischen Aktivitäten allein nicht zu beseitigen.
Sind nun die aufgetretenen Meinungsverschiedenheiten über die Natur der Neuen So-zialen Frage lediglich Mißverständnisse, die sich durch ein paar einfache Unterscheidungen (über die Arten von Verteilungspolitik, über den Unterschied zwischen Symptomen und Ursachen etc.) klären lassen? Unsere Untersuchung läßt uns zu diesem Urteil kommen. Trifft es zu, so wird die Neue Soziale Frage weiterhin im Mittelpunkt der programmatischen Entwicklung der CDU stehen und dort auf einen breiten Konsens rechnen können. Die Mißverständnisse wären dann allenfalls Anlaß zu einem wohlmeinenden Rat an die an der Diskussion Beteiligten. Die sozialpolitischen „Profis" sollten bei ihren Problemanalysen ordnungspolitisch ruhig etwas selbstbewußter auftreten und die ordnungspolitischen „Profis" im Sozialpolitischen noch stärker um jenen Kontakt zur Wirklichkeit bemüht sein, der sie im Wirtschaftlichen seit langem auszeichnet.
Manfred Groser, Dipl. -Volkswirt, geb. 1944; Studium der Wirtschaftswissenschaften, Sozialwissenschaften und Industrial Relations; seit Januar 1978 wissenschaftlicher Mitarbeiter bei der Planungsgruppe der CDU-Bundesgeschäftsstelle in Bonn. Veröffentlichungen u. a.: Sozialökonomische Theorien der Verbände, in: Warnfried Dettling (Hrsg.), Macht der Verbände — Ohnmacht der Demokratie?, München 1976; ökonomische Theorie des politischen Wettbewerbs (gemeinsam mit Ph. Herder-Doineich), Göttingen 1977; Grundlagen einer Sozialökonomik des Verbandes, erscheint Ende 1978.
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