Der eindimensional militärische Sicherheitsbegriff, der ausschließlich” mögliche Konflikte zwischen Ost und West implizierte, ist obsolet geworden. Wirtschaftliche, soziale und ökologische Aspekte sowie die Bedeutung innerer Sicherheit und Probleme der Versorgung mit ausländischen Rohstoffen sind in den letzten Jahren stärker in den Vordergrund getreten. Diese Entwicklung läßt sich auf folgende Veränderungen im nationalen und internationalen Bereich zurückführen:
— Die militärische Bedrohung verlor ihre Dringlichkeit und Plausibilität spätestens, als die Supermächte zu Beginn dieses Jahrzehnts begannen, den Kalten Krieg zu beenden, eine Politik der Entspannung einzuleiten und als antagonistische Partner miteinander zu kooperieren. — Anhaltende wirtschaftliche Krisen haben zu hohen Inflations-und Arbeitslosenraten geführt, die eine soziale Bedrohung konkreter erscheinen lassen als einen potentiellen Angriff der Sowjetunion; für einige Beobachter stellt die Verschlechterung der sozialen Situation eine Gefahr für eine illegitime Veränderung des Status quo in einigen westeuropäischen Ländern dar.
— Die O exportierenden Staaten der OPEC, die seit der Konferenz von Teheran (1971) die nationale Kontrolle über ihre Produktion stark erweitert und damit eine wesentliche Voraussetzung für ein Embargo geschaffen haben, sind zu wichtigen Akteuren in der internationalen Politik geworden.
Ich möchte an dieser Stelle meinen Marburger Universitätslehrern Wilfried von Bredow und Dieter Bänsch für großzügige Förderung und der Studienstiftung des Deutschen Volkes für ein USA-Stipendium danken. — Harald Müller, Hessische Stiftung Friedens-und Koniliktforschung, Frankfurt/M., Hiltrud Tempka, Athenaeum, Stade, und Theodor Winkler, The Graduate Institute of International Studies, Genf, danke ich für Kritik und Anregungen. Der Aufsatz wurde Mitte Oktober 1977 abgeschlossen.
Optionen, Konflikte, Perspektiven
I. Neue Aspekte von Sicherheit
— „Zur Neige gehende Olreserven und die Verschlechterung des biologischen Systems der Erde bedrohen jetzt die Sicherheit der Staaten überall." 1)
Diese Entwicklungen, die auf die Interdependenz der Staaten d. h. auf deren Verflochtenheit und gegenseitige Abhängigkeit hinweisen, führen zu der Frage, inwieweit Sicherheit noch beschränkt auf den nationalen Raum definiert und analysiert werden kann. In der politikwissenschaftlichen Diskussion ist sie bisher kontrovers beantwortet worden Ein weitgehender Konsens besteht jedoch darüber, daß Nationalstaaten nicht mehr als „kohärente Einheiten" gesehen werden können und daß in der Hierarchie außenpolitischer Ziele militärische Sicherheit nicht mehr klar dominiert Auf diesem Hintergrund ist es möglich, die Bedeutung des Staates sowie transnationaler Akteure für verschiedene Bereiche gesondert zu behandeln.
Die folgenden Ausführungen konzentrieren sich auf die Frage, welche Veränderung der energiepolitische Aspekt von Sicherheit in den letzten Jahren erfahren hat, welcher Stellenwert ihm im Hinblick auf andere Bereiche wie Wirtschaft, Politik und Ökologie zukommt und inwieweit der Begriff nationaler Sicherheit auch adäquat für den Energiebereich ist.
Erst seit dem Olboykott der arabischen Staaten ist deutlich geworden, daß Energie-und Sicherheitsfragen eng miteinander verbunden sind. Gefährdet erschienen — vor allem während des Embargos und unmittelbar danach — plötzlich diejenigen „nationalen Werte" wie „Freiheit von ausländischem Diktat", „nationale Unabhänigkeit" und die „Fähigkeit einer Nation, ihre inneren Werte vor äußerer Bedrohung zu schützen“ deren Verteidigung jahrzehntelang ausschließlich als militärisches Problem gesehen worden war. überlagert wurde dieses Verständnis von Sicherheit durch die von vielen erwarteten katastrophalen Folgen des Embargos für die Wirtschaft der westlichen Länder. Aus der Retrospektive wird jedoch deutlich, daß es während der sogenannten Ölkrise keine wirkliche Olknappheit gab Die befürchteten ökonomischen Auswirkungen des Boykotts — wie der Kapitalabfluß aus dem Westen — traten nur teilweise ein; sie bedeuteten lediglich eine Verschlechterung einer ohnehin durch Inflation und Arbeitslosigkeit gekennzeichneten Lage in den westlichen Ländern
Als die westlichen Industriestaaten nach dem Embargo begannen, die Produktion von Energie in ihrem Land voranzutreiben, wurde ihre Energiepolitik selbst Gegenstand intensiv und teilweise leidenschaftlich geführter Auseinandersetzungen. Das trifft beispielsweise für die Olpolitik Norwegens und Großbritanniens, vor allem jedoch für die Kernenergieprogramme der Bundesrepublik zu. Die Diskussionen um* das Ausmaß der Energieproduktion, insbesondere im Bereich der Kernkraft, zeigen neue Aspekte und Zusammenhänge der Sicherheit in Westeuropa auf:
Wirtschaftlicher und sozialer Aspekt: Er bezieht sich u. a. auf die Frage, inwieweit die Energieproduktion im eigenen Land zur Verbesserung der Beschäftigungssituation und der allgemeinen wirtschaftlichen Lage beiträgt und — branchenspezifisch gesehen — welche arbeitspolitischen und sozialen Schwierigkeiten durch die Einführung neuer Technologien und den Aufbau neuer Industriezweige entstehen.
Politischer Aspekt: Er bezieht Konflikte mit ein, die innerhalb der Staaten entstehen können (z. B. aufgrund des Diebstahls von Plutonium), aber auch zwischen den westlichen Ländern auftreten können (z. B. aufgrund unterschiedlicher Auffassungen in der EG über die Olpolitik Norwegens und Englands; durch konträre Ansichten über den Export nuklearer Technologien; durch die Auswirkungen, die bei einem Reaktorunfall oder durch atomare Mülldeponien für benachbarte Länder entstehen).
Militärischer Aspekt: Sowohl infolge der relativ hohen Energieabhängigkeit westeuropäischer Länder von den OPEC-Staaten als auch infolge der Förderung von 01 in den nordischen Gewässern Europas sind militärische Konflikte theoretisch möglich, m. E. jedoch wenig wahrscheinlich. Hingegen besteht ein enger Zusammenhang zwischen Kernenergietechnologien und der Gefahr der Weiterverbreitung nuklearer Waffen; darüber hinaus stellen Kernreaktoren ein bisher kaum beachtetes Sicherheitsrisiko im Falle eines militärischen Angriffs dar. ökologischer Aspekt: Er beinhaltet die Sicherung des menschlichen Lebens und der Umwelt gegen Gefahren, die insbesondere mit der Nuklearenergie verbunden sind.
Gesellschaftspolitischer Aspekt: Er schließt nicht nur die Frage nach der Zunahme von Energie, sondern auch Probleme des allgemeinen Wirtschaftswachstums mit ein und impliziert damit eine Infragestellung und Neuformulierung gesellschaftlicher Werte, die es zu sichern gilt.
Aus dieser Auflistung von Problembereichen und potentiellen Gefahren ergibt sich als These für diese Arbeit: Die Sicherheit westeuropäischer Staaten ist im Vergleich zur Importabhängigkeit von öl aus den arabischen Staaten stärker bedroht, wenn die Erdölförde-B rung in Norwegen und Großbritannien drastisch erhöht und der Ausbau der Kernkraft zum gegenwärtigen Zeitpunkt überhaupt begonnen würde.
Der energiepolitische Aspekt von Sicherheit ist so vielschichtig, daß er sich oft von anderen „issue areas" nicht sauber trennen läßt. -Es wird zuweilen auch schwierig sein, eine Gewichtung unter den verschiedenen Bereichen vorzunehmen, wie Keohane und Nye dies tun, wenn sie mit dem Hinweis auf die zunehmende Bedeutung wirtschaftlicher Sanktionen die abnehmende Wirksamkeit militärischer Operationen betonen dies trifft, wie das Olembargo und der Vietnam-Krieg deutlich zeigen, für die letzten Jahre sicherlich zu.
Offen muß jedoch bleiben, ob sich diese Entwicklung fortsetzt, denn mit der Verbreitung von Kernwaffen dürfte sich auch die Gefahr eines Einsatzes von Kernwaffen mit begrenzter Kapazität erhöhen. Nicht ausgeschlossen ist auch, daß die Anzahl konventionell geführter Kriege als eine Art Stellvertreterkrieg unter den zukünftigen Nuklearstaaten ansteigt. Ist es im energiepolitischen Bereich noch möglich, von nationaler Sicherheit zu sprechen?
Sicherlich nur noch sehr begrenzt. Zunächst ist es erforderlich, zwischen der Bedeutung, die der Staat im Hinblick auf die Formulierung der Energiepolitik in den verschiedenen Bereichen hat, und dem Ausmaß der vielfältigen negativen Auswirkungen, die mit der Energie-produktion verbunden sind, zu trennen. Es ist sehr wahrscheinlich, daß zumindest der nukleare Sektor — nicht zuletzt wegen des hohen Politisierungsgrades und des großen Prestiges, das mit dem Besitz von Spitzentechnologien verbunden ist — weiterhin national orientiert sein und in einigen Ländern unter weitgehender staatlicher Kontrolle bleiben wird hieran dürfte auch weder der zunehmende Einfluß der entsprechenden Industrien noch die Bildung internationaler Konsortien im wesentlichen etwas ändern.
Inwieweit die Durchführung einer national orientierten Energiepolitik und die oft schwer zu kontrollierenden Auswirkungen auseinanderklaffen werden, ist vor allem von der Art der Energiequellen und dem Ausmaß, in dem die Energieproduktion vorangetrieben werden soll, abhängig. Daher wird man eine vorsichtige Olpolitik, wie sie bisher für Norwegen und Großbritannien kennzeichnend war, positiv beurteilen können. Wie noch zu zeigen sein wird, ist eine solche Einschätzung im Hinblick auf die Kernkraft zweifelhaft. In unterschiedlichem Ausmaß gilt für beide Energieträger wie auch für Kohle: Sowenig wie durch ölförderung verschmutztes Wasser im Hoheitsbereich des Produzenten bleibt, die Atmosphäre nur über dem Territorium des Staates, der Kohlekraftwerke betreibt, mit CO 2 angereichert wird, sowenig macht eine radioaktive Wolke halt vor der Grenze zu den Nachbar-ländern. Diese Probleme, die die Interdependenz von Staaten deutlich machen, verlangen sicherlich Lösungsstrategien, die nur im internationalen Rahmen effektiv sein können. Es erscheint jedoch Vorsicht geboten, die Wirksamkeit derartiger Maßnahmen zu überschätzen. Auch sie werden vielfach nur begrenzt sein und von dem Maß an Unterstützung abhängen, das die einzelnen Nationen bereit sind zu investieren. Es wird daher erforderlich sein, die Energie-produktion vorrangig im nationalen Rahmen entsprechend zu steuern, solange sie der Kompetenz der jeweiligen Regierungen untersteht. Auf diesem Hintergrund versucht der vorliegende Aufsatz, die aufgezeigten Aspekte des energiepolitischen Sicherheitsbegriffs ansatzweise zu behandeln. Im Anschluß an die Diskussion von Problemen, die sich aus der Abhängigkeit von arabischem 01 für Westeuropa ergeben können, sollen die Schwierigkeiten dargestellt werden, die mit der Ölproduktion in Norwegen und Großbritannien verbunden sind. Der Schwerpunkt liegt auf der Darstellung von Gefahren, die vor allem der Bau von Wiederaufbereitungsanlagen und Schnellen Brütern für die Sicherheit Westeuropas impli-ziert. Die Konsequenzen dieser Ausführungen werden abschließend in Form von Thesen zu einem nuklearen Baustopp in der Bundesrepublik zusammengefaßt.
II. Westeuropäische Energieversorgung und Abhängigkeit von Olimporten
Statistiken über den zukünftigen Energiebedarf Westeuropas und die Bedeutung der einzelnen Energieträger bieten ein verwirrendes Bild, da der Energieverbrauch durch eine Vielzahl von Variablen bestimmt wird, deren Veränderungen in einer mittelfristigen Prognose kaum berücksichtigt werden können. Unter Bezugnahme auf die letzten EG-Schätzungen soll hier davon ausgegangen werden, daß die Staaten der Europäischen Gemeinschaft im Jahre 1985 etwa 1 600 Mio t Oleinheiten benötigen werden, von denen sie ca. 50 Prozent mit Importen aus den OPEC-Ländern dekken müssen
Bis zum Ende dieses Jahrhunderts wird O 1 die wichtigste Energiequelle bleiben. Ein steigender Energiebedarf würde zusätzliche Abkommen für Erdgas hauptsächlich aus der UdSSR, dem Iran (über die Sowjetunion) und Algerien erforderlich machen Kernkraft wird das Problem der Energieabhänigkeit allein deswegen nicht lösen, weil Westeuropa kaum über Uranvorkommen verfügt und zumindest im nächsten Jahrzehnt von der Lieferung angereicherten Urans, des Brennstoffes für Kernkraftwerke, hauptsächlich aus der Sowjetunion und den USA abhängig sein wird e von der EG im März prognostizierte nukleare Kapazität von 95 Gigawatt für 1985 wird die Abhängigkeit von arabischem O 1 nur geringfügig vermindern.
Eine Politik des „weg vom Ol" ist daher mittelfristig nicht nur unrealistisch, sondern auch höchst fragwürdig, sofern sie Kernenergie zur Hauptalternative erklärt. Zu fragen bleibt also, ob sich das Olembargo der arabischen Staaten von 1973/74, das den Hauptan-
laß zum Ausbau von Nuklearenergie darstellte, wiederholen könnte und welche Alternativen es gibt, die langfristig zur Neige gehenden fossilen Energiequellen der traditionellen Lieferstaaten zu ersetzen.
Bezieht man sich auf den Verlauf des Olboykotts von 1973/74 und die Erwartungen, die die arabischen Exporteure in den Erfolg des Embargos gesetzt hatten, erscheint die Möglichkeit eines zweiten Lieferstopps gering. Obwohl es Staaten der Dritten Welt zum ersten Mal in der modernen Geschichte gelungen ist, ihre Handelskapazität durch eine derartige Maßnahme sprunghaft zu steigern, haben sie ihre politischen Ziele nur teilweise erreicht. Die „Olwaffe“ hat zwar zu einer Änderung der Politik der USA und der westeuropäischen Staaten gegenüber Israel und den Ol produzierenden Ländern beigetragen; dennoch bezeichnete selbst der saudi-arabische Olmini-ster Jamani das Embargo gegen die USA und die Niederlande als nicht effektiv
Wie der Boykott und die unterschiedlichen Auffassungen über die Olpreiserhöhun-gen im Dezember 1976 zeigen, bestehen beträchtliche Spannungen und divergierende Interessen zwischen den OPEC-Mitgliedern, die auf die unterschiedlichen Olvorräte, wirtschaftlichen Strukturen sowie die verschiedenartigen kulturellen und religiösen Traditionen zurückzuführen sind. Begrenzte Olvorräte besitzt u. a.der Iran; Saudi-Arabien verfügt hingegen über Reserven, die bis ins nächste Jahrhundert hineinreichen Während dichter bevölkerte Staaten mit niedrigen 12 Einkommensverhältnissen, hohen Militärausgaben und ehrgeizigen sozialen und wirtschaftlichen Programmen auf höhere Olprei-se drängen, haben Länder wie Saudi-Arabien, Kuwait und die Vereinigten Arabischen Emirate Schwierigkeiten, ihre Oleinkommen zu absorbieren sie verhalten sich daher bei Preiserhöhungen zurückhaltender.
Das Spektrum politischer Systeme umfaßt revolutionäre Militärregime, parlamentarische Demokratien und autokratisch-diktatorische Regime; auf diese Unterschiede sind einige Konflikte unter den Olexporteuren zurückzuführen, die jedoch beigelegt werden konnten Die Beziehungen der einzelnen OPEC-Staaten zu den Supermächten sind ebenfalls unterschiedlich: Während Saudi-Arabien zum Westen hin orientiert ist, verfolgt der Iran eine Politik des Gleichgewichts, der Irak dagegen steht der Sowjetunion politisch und wirtschaftlich nahe. Ein wesentlicher Faktor für den Zusammenhalt der Golfstaaten inner-(halb der OPEC ist — mit Ausnahme des Iran — die feindliche Haltung gegenüber Israel.
Angesichts dieser Tatbestände ist ein erneutes Embargo durch eine Verschärfung des israelisch-arabischen Konfliktes und infolge von Auseinandersetzungen innerhalb der Golfstaaten möglich. Im ersten Falle wäre aufgrund der Erfahrungen von 1973/74 jedoch damit zu rechnen, daß einige Länder, die auf Olexporte angewiesen sind (vor allem der Iran), am Embargo nicht teilnehmen und weiterhin eine gewisse Menge O 1 liefern. Obwohl die Zahlenwerte des zurückliegenden Boykotts nicht einfach extrapoliert werden können, sei daran erinnert, daß es während des Embargos keine wirkliche Olknappheit gab, da sich der Ölverbrauch auf den erhöhten Preis einstellte
Was ein Embargo infolge möglicher Auseinandersetzungen unter den öl produzierenden Ländern anbelangt, könnten scharfe Konflikte zwischen dem Iran und Saudi-Arabien, die beide Ambitionen auf eine Vormachtstellung am Persischen Golf haben, einen vorübergehenden Exportstopp bewirken. Beide Staaten sind aufgrund der vor allem von den USA gelieferten Waffen in der Lage, sich gegenseitig an der Ausfuhr von öl zu hindern. Da ein Lieferstopp den Iran wirtschaftlich schwer treffen würde, wird er sicherlich bestrebt sein, Konflikte mit derartigen Konsequenzen von vornherein begrenzt zu halten.
Die Frage, wie die westlichen Industriestaaten, insbesondere die USA, im Falle eines solchen Konfliktes oder eines erneuten Embargos reagieren würden, läßt sich nur spekulativ beantworten. Denkbar, aber nicht wahrscheinlich, wären wirtschaftliche Sanktionen und eine militärische Intervention der USA. ökonomische Maßnahmen waren schon während des Ölboykotts von 1973/74 erwogen worden; amerikanische Entscheidungsträger hielten sie jedoch nicht für wirksam genug. Es sprechen gewichtige Gründe dagegen, daß die USA eine Invasion, die während des zurückliegenden Embargos von Präsident Ford und seinen Ministern Kissinger und Schlesinger angedroht wurde, tatsächlich auch durchführen: Zwar wäre es den USA ein Leichtes, die Ölfelder am Persischen Golf zu besetzen; es würde jedoch erhebliche Schwierigkeiten bereiten, die Ölförderung langfristig aufrechtzuerhalten. Auch die Gegendrohung der Saudis, ihre Ölfelder im Falle einer amerikanischen Besetzung in die Luft zu sprengen, dürfte abschreckend wirken. Vor allem aber wird die schwer kalkulierbare Reaktion der UdSSR, die sich ebenfalls zu einer Intervention entschließen könnte, die Schwelle für eine militärische Invasion der USA beträchtlich erhöhen — während des Boykotts von 1973/74 schienen die USA dies in ihre Überlegungen mit einbezogen zu haben. Auch die Furcht amerikanischer Politiker, die USA nach dem langwierigen Vietnam-Krieg erneut in einem weit entfernten Gebiet in einen militärischen Konflikt zu verwickeln, könnte sich hemmend auf eine solche Entscheidung auswirken Neben diesen politischen Engpässen könnte es zu Schwierigkeiten in der Ölversorgung kommen, wenn, wie Dankwart A. Rüstow betont hat der westliche Energieverbrauch ungefähr das Ausmaß annimmt, das die Liefermöglichkeiten oder die Lieferbereitschaft der OPEC-Staaten übersteigt. Ausgehend von den neuesten OECD-Prognosen über den Energiekonsum des Westens und eigenen Berechnungen zu den Exportkapazitäten der OPEC-Länder, kommt der amerikanische Politikwissenschaftler zu der Schlußfolgerung, daß spätestens 1985 mit neuen Versorgungsschwierigkeiten zu rechnen sei, wenn es dem Westen bis dahin nicht gelingt, eigene Ressourcen verstärkt zu nutzen und effektive Energiesparmaßnahmen durchzusetzen. Rüstow unterstreicht die Schlüsselstellung der Saudis im Hinblick auf die Preispolitik und die Förderkapazität. Die Optionen Saudi-Arabiens, entweder die Produktion bei konstantem Preis zu erhöhen oder aber bei steigendem Preis begrenzt zu halten, würden dem Land einen Einkommenszuwachs erbringen, der nicht in seinem Interesse liegt. Rüstow hält es für wahrscheinlich, daß sich Saudi-Arabien für die letzte Möglichkeit entscheidet; eine Energieknappheit im nächsten Jahrzehnt, die mit Ölpreiserhöhungen um 25— 50 Prozent verbunden ist, hätte seiner Auffassung nach vermutlich schlimmere Auswirkungen in den Ländern des Westens als das Embargo von 1973/74.
Zu diesen Überlegungen ist folgendes kritisch anzumerken: In der Tat kommt Saudi-Arabien, dessen nachgewiesene Olreserven sich auf ca. 18 Mrd. t belaufen die entscheidende Stellung zu. Theoretisch ist es möglich, daß es über einen Zeitraum von 18 Jahren rund 1 Mrd. t O 1 pro Jahr, das heißt knapp den doppelten Umfang der Produktionskapazität von 1976, liefert. Olminister Jamani hat den Vereinigten Staaten 1972 ein entsprechendes Angebot gemacht Er verlangte jedoch als Gegenleistung Sonderbedingungen für Investments in den USA und eine grundlegende Änderung der amerikanischen Israel-Politik. Sicherlich würde ein erhöhtes Öleinkommen wegen der begrenzten Absorptionsfähigkeit der saudi-arabischen Wirtschaft entsprechende Investments nicht nur in den Vereinigten Staaten, sondern auch in Westeuropa notwendig machen. Damit würde aber eine oft geäußerte Befürchtung größtenteils obsolet: Ein Kapitalabfluß aus Europa dürfte auch während eines (angenommenen) Engpasses im nächsten Jahrzehnt nicht das Hauptproblem sein.
Ob eine Erhöhung des Ölpreises innerhalb der von Rüstow angenommenen Bandbreite größere Schwierigkeiten mit sich bringt als die Vervierfachung des Ölpreises von 1973/74, bleibt abzuwarten. Dies wird zum einen von der allgemeinen wirtschaftlichen Situation abhängen; zum gegenwärtigen Zeitpunkt ist es sicherlich verfrüht, davon auszugehen, daß sich die westlichen Staaten im nächsten Jahrzehnt in einer rezessiven Phase wie 1973/74 befinden werden, in der sich die mutmaßlichen Preiserhöhungen ähnlich negativ auswirken. Zum anderen gibt es Gründe für die Annahme, daß zumindest Großbritannien, das während des Ölembargos neben Italien am empfindlichsten getroffen wurde, 1985 und danach wirtschaftlich etwas stabiler sein wird.
Bei allen Mutmaßungen über künftige Ölpreiserhöhungen sollte man berücksichtigen, daß Saudi-Arabien auf Verlauf und Ausmaß des Preisanstiegs einen wesentlichen Einfluß haben wird. Dabei kann man davon ausgehen: Der bedeutendste Erdölproduzent ist sich sehr wohl bewußt, daß eine wirtschaftliche Krise in den Vereinigten Staaten und Westeuropa erhebliche politische und wirtschaftliche Auswirkungen auf das eigene Land haben würde:
„Wir sind äußerst beunruhigt über die wirtschaftliche Lage des Westens, beunruhigt über die Möglichkeit einer neuen Rezession, beunruhigt über die Situation in Großbritannien, Italien, sogar in Frankreich und einigen anderen Nationen. (. . .) Wenn die wirtschaftliche Erholung nicht stattfindet, wird es für Saudi-Arabien nicht nur eine politische Bedeutung haben. Es würde Saudi-Arabien ökonomisch treffen. Und schließlich gibt es einen dritten Faktor: Wir arbeiten mit Ihnen zusammen und versuchen dabei unser Bestes. Der Westen kann sich darauf verlassen, daß er hier einen Freund hat, der viel für ihn tun kann." Eine Ölpreiserhöhung auf ein Niveau, das die Exploration anderer Energiequellen profitabel macht, hätte nach Auffassung von Ölminister Jamani katastrophale Folgen Nicht nur für Saudi-Arabien, sondern auch für die anderen autoritären Regime gilt, daß ein geschwächter Westen den verstärkten Einfluß der Sowjetunion herausfordert, der nicht in ihrem Interesse liegen kann. Außerdem würden — und auch hierauf spielte Jamani an — die finanziellen Beteiligungen arabischer Staaten im Westen gefährdet Rüstows Artikel, der auf Präsident Carter nicht ohne Einfluß geblieben ist, muß im Zusammenhang mit seiner Energiepolitik gesehen werden, deren Ziel es ist, Energiesparmaßnahmen über eine Erhöhung der Benzinsteuer durchzusetzen. Ähnlich wie Rüstow hält auch ein CIA-Bericht eine Energielücke im nächsten Jahrzehnt für möglich. Es ist sicher kein Zufall, daß er genau an dem Tag (18. April) vom Weißen Haus veröffentlicht wurde, als Carter in einer Fernsehansprache ebenfalls eine Energiekrise beschwor und seine energiepolitischen Ziele darlegte
Kritik an Carters eindringlicher Warnung haben am stärksten jene Kreise geübt, denen man es am wenigsten zugetraut hätte: die Ölkonzerne, die seit dem arabischen Ölembargo die Beschwörung einer baldigen Energielücke zu ihrem Hauptslogan gemacht hatten. Ein Beispiel für die Wendung um 180 Grad ist die von der „Mobil Oil" gestartete Anzeigenkampagne, die sich mit der provozierenden Über-schrift an die Öffentlichkeit wendet: „Wir möchten diejenigen herausfordern, die sagen, daß wir mit einer langfristigen Energieknappheit leben müssen." „Mobil Oil" erklärt dann: „Es klingt verrückt, daß eine Olgesellschäft sagt, daß es keine Energieknappheit gibt. Aber es gibt keine ..." Während der Vizepräsident des Amerikanischen Erdölinstituts darauf hinwies, daß es eine „grundsätzliche Fehlwahrnehmung" darüber gäbe, wann die fossilen Energieträger erschöpft sein würden, erklärte der Präsident der Amerikanischen* Vereinigung von Erdölgeologen, daß das öl aus dem Nahen Osten, so wichtig es auch sei, nur ein Prozent der weltweiten Energiereserven an Kohle, Teersanden, Ölschelfen und unentdeckten Erdgasvorkommen ausmache. Deren Erforschung, so ein „analyst“ eines großen Investmentunternehmens, sei eine „Sache des Preises". „Ich sehe wirklich nicht, daß die Energiequellen weltweit versiegen."
Im Juli 1977 beschlossen Spitzenmanager anderer Ölgesellschaften auf einer privaten Zusammenkunft, sich dem Slogan von „Mobil Oil" anzuschließen und künftig keine Energiekrise mehr zu propagieren. Die Gründe für die abrupte Wendung hat Energieminister Schlesinger klar durchschaut: „Ein Jahrzehnt lang haben die Großen (Ölkonzerne, B. W. K.) erklärt: , Uns geht das öl aus'. Dann sagen die Gesellschaften, die natürliche, unausweichliche Folge ist, die Preise für uns hochzutreiben, damit wir höhere Preise und Profite bekommen, wie das in einer Zeit nationalen Notstandes so ist. Die Regierung antwortet: , Bei den bestehenden Olfeidern ist das nicht notwendig.'Dann erklären einige der Gesellschaften auf einmal: „Wir haben überhaupt keine Energiekrise.'"
Die unterschiedlichen Zielsetzungen sind deutlich: Während die Regierung Carter Energiesparmaßnahmen vor allem aus Gründen des Umweltschutzes durchsetzen möchte und deswegen über Gebühr die Gefahr einer Energiekrise betont, besteht die Strategie der Ölkonzerne darin, eine solche Politik zu verhindern. Aus ihrer Sicht ist nicht das Ausmaß der Reserven, sondern die Erschließung neuer Vorkommen das entscheidende Problem; um sie profitabel zu machen, setzen die Gesellschaften alles daran, mit Hilfe möglichst großer öffentlicher Investitionen die Entwicklung entsprechender Technologien finanziert zu bekommen.
Für die westeuropäische Energiesituation ergeben sich hieraus folgende Schlußfolgerungen: Zum einen wird die Ölabhängigkeit der meisten Länder ein verstärktes Management der Interdependenz, d. h. eine Bereitschaft zu Kooperation und politischen Kompromissen mit den arabischen Öllieferanten erforderlich machen.
Zum anderen dürfte es den westeuropäischen Staaten bei entsprechenden Anstrengungen möglich sein, durch eine koordinierte Ölpolitik und eine Erhöhung der Ölvorräte einen erneuten Lieferstopp für die Dauer von 90 Ta-gen so zu überstehen, daß es nicht zu Versorgungsschwierigkeiten kommt. Wenn man auch die Bedeutung von Vorräten nicht überschätzen darf, so stellen sie doch einen nicht unwichtigen psychologischen Faktor dar, der insbesondere während eines Embargos die Verhandlungspositionen der westlichen Länder verbessern würde. In den einzelnen Staaten wird öl jedoch in sehr unterschiedlichem Ausmaß gelagert; zumindest 1975 hatten einige Länder das von der Internationalen Energie-Agentur festgesetzte Soll, bis 1980 für den Fall eines Lieferstopps einen Ölvorrat für 90 Tage zu besitzen, nicht erfüllt. Dies legt die Vermutung nahe, daß jene Staaten die Gefahr eines erneuten Ölembargos offensichtlich nicht als ernst ansehen
Zum dritten müssen bedeutende Anstrengungen unternommen werden, um die Ölabhängigkeit langfristig und nicht mittelfristig, wie etwa Rüstow annahm, zu reduzieren. Entscheidend hierbei ist jedoch die Gewichtung der Maßnahmen: Die Nutzung neuer fossiler Energieträger hat schwere Belastungen der Umwelt zur Folge und impliziert, wie die Diskussion um die Erdölproduktion Norwegens und Großbritanniens in der Nordsee zeigt, eine Vielzahl wirtschaftlicher, sozialer und . politischer Probleme. Um so dringlicher sind daher kurzfristig drastische Energiesparmaßnahmen und langfristig intensive Anstrengungen zur Entwicklung alternativer Technologien.
III. Sicherheitsaspekte der Ölproduktion in der Nordsee
1. Reserven und Produktionskapazitäten
Die ölund norwegischen der Gasfelder im und britischen Bereich der Nordsee werden folgendermaßen geschätzt: Norwegens nachgewiesene Ölvorkommen belau-fen sich auf 880 Mio. t. Der Bericht des britischen Energieministeriums vom April diesen Jahres schätzt die Ressourcen in dem Gebiet, für das bereits Bohrkonzessionen vergeben wurden, auf 3 200 Mio. t (nachgewiesen: 1 380 Mio. t; wahrscheinlich: 920 Mio. t; möglich: 900 Mio. t). Die Gesamtheit der Vorkommen (die noch nicht erschlossenen Gebiete mit berücksichtigt) könnte sich maximal auf 4 500 Mio. t belaufen. Damit würden die gemeinsamen Reserven beider Länder knapp zwei Drittel der nachgewiesenen Vorkommen des Iran ausmachen. Die Gasreserven im norwegischen Bereich werden mit 800 Mrd. m 3 angegeben, während sich die britischen auf etwas mehr als 1, 4 Billionen belaufen die m 3 sollen Werte für den niederländischen Sektor liegen in der Größenordnung von 2 Billionen m 3
Die norwegische Ölproduktion soll 1980 58 Mio. t, 1985 68 Mio. t und 1990 44 Mio. t betragen über die jährliche Gasförderung liegen keine genauen Angaben vor Die Regierung hat jedoch wiederholt betont, daß die Gesamtförderung von öl und Gas 90 Mio. t pro Jahr nicht übersteigen soll Norwegen exportiert öl seit 1975; zu diesem Zeitpunkt stieg seine Förderungskapazität um 500 Prozent auf 9, 3 Mio. t — 2 Mio. t mehr als es für den Eigenbedarf benötigt — sprunghaft an Die jährliche Produktion von öl und Gas beträgt damit ungefähr das Zehnfache des norwegischen Energieverbrauchs.
Großbritannien hat seine Ölförderung für die erste Hälfte der achtziger Jahre vage mit 100— 150 Mio. t angegeben ab 1980 wird es nicht mehr auf Ölimporte angewiesen sein Die nachgewiesenen Gasreserven von etwas mehr als 800 Mrd. m 3 decken nahe-zu völlig den britischen Gasbedarf Die Niederlande, die in Zukunft mehr Ol importieren müssen, werden ihren Gasexport wahrscheinlich nur noch im nächsten Jahr steigern können; nach 1978 wird er zurückge-hen und-nach 1985 voraussichtlich stark ab-fallen Der Anteil der Bundesrepublik an den Olund Gasvorkommen in der Nordsee fällt kaum ins Gewicht
Im allgemeinen gehen die offiziellen Statistiken nicht über 1985 hinaus — Zahlenangaben für die späten achtziger Jahre und das neunte Jahrzehnt sind noch vager und müssen mit größter Vorsicht betrachtet werden. Schätzungen für die neunziger Jahre sind von Odell und Rosing und von einer Projektgruppe des MIT vorgenommen worden. Beide Berechnungen, die auf verschiedenen Annahmen und Methoden basieren, kommen zu unterschiedlichen Ergebnissen. Odell und Rosing zufolge wird die Ölproduktion im Jahre 1990 mit einem Output von 738 Mio. t kulminieren und danach bis zum Jahre 2 028 konstant abnehmen Die Autoren vertreten die Auffassung, daß das Nordseeöl ca. 75 Prozent des gesamten westeuropäischen Olbedarfs für die Zeit von 1982 bis 1996 decken könnte Der MIT-Studie zufolge, die im Gegensatz zur zuerst genannten Autorengruppe das Ausmaß der Förderung von verschiedenen ölpreisen abhängig macht, erreicht die Produktion 1983 ihren Höhepunkt mit etwas mehr als 330 Mio. t und fällt danach recht langsam ab; diese Schätzungen basieren auf der Entdeckung neuer Vorkommen nur bis einschließlich 1978 Abzuwarten bleibt allerdings, wie groß die Vorkommen in den Gewässern nördlich des 62. Breitengrades, in denen noch nicht gebohrt worden ist, sein werden. Aufgrund der strikten Ölpolitik der beiden Regierungen in Norwegen und Großbritannien sind jedoch nicht die Reserven, sondern die Quantitäten entscheidend, die beide Länder zu fördern bereit sind. Bei einem Energieverbrauch der EG-Länder an öl von 800 Mio. t. (1985) würden beide Staaten ca. 25 Prozent decken, wenn man für Norwegen von rund Mio. t und für Großbritannien von ungefähr 150 Mio. t pro Jahr ausgeht. 2. Konfliktpotentiale der Diförderung und die Energiesicherheit Westeuropas Der Internationale Gerichtshof hat in seinem Urteil vom 20. Februar 1969 50) die Aufteilung des Festlandsockels — also jenes relativ fla-chen küstennahen Gebietes der Nordsee bis zum Steilabfall zu ozeanischen Tiefen — endgültig kodifiziert und damit die rechtlichen Voraussetzungen für die Erforschung und Ausnutzung der Ressourcen im nationalen Rahmen geschaffen. Die Ölpolitik der beiden Hauptförderländer ist auch durch den nationalstaatlichen Primat gekennzeichnet. In beiden Ländern hat die Ölproduktion zu einer starken staatlichen Kontrolle geführt, um die mit der gesteigerten Ölförderung verbundenen Konfliktpotentiale und Probleme im wirt-schatflichen, sozialen und militärpolitischen Bereich möglichst gering zu halten und um dem Staat einen substantiellen Teil des Einkommens zu sichern. Beide Regierungen bestimmen die jährliche Produktionskapazität und die Kriterien der Auftragsvergabe, die die Teilnahme der staatlichen Ölgesellschaften an allen Bohraktivitäten vorsehen; ein striktes Besteuerungssystem gewährleistet, daß ein bedeutender Teil der ölgewinne dem Staat zukommt Der norwegische Staat besitzt die große Olge-Seilschaft „Statoil" zu 100 Prozent, ist mit 51 Prozent an der Norsk Hydro beteiligt und hat seinen Einfluß durch einen Anteil von 95 Prozent an der Norsk Broendselolje und Norske OK auch auf dem Marketing-Bereich ausgedehnt Die Norweger, oft die „blauäugigen Araber" genannt sind bekannt wegen ihrer hohen Besteuerung. Sie setzt sich im einzelnen aus den Olförderzinsen („royal-ties") von 8— 16 Prozent und einer Einkommensteuer, die neben dem normalen Satz von 50, 8 Prozent eine Sondersteuer von 25 Prozent vorsieht, zusammen; wird die Produktion von 12, 5 Mio. t pro Jahr überschritten, müssen die fördernden Gesellschaften Extraabgaben („production bonus") entrichten
Auch die britische Regierung übt durch ein Besteuerungssystem Kontrolle aus; es ist allerdings flexibler als das norwegische, weil das britische Kabinett wegen der wirtschaftlichen Lage des Landes Anreize für die Olge-Seilschaften schaffen will, um die ökonomisch wichtige Olproduktion genügend anzuregen. Die Einkommensteuer beträgt 45 Prozent, die Förderzinsen belaufen sich auf 12, 5 Prozent des Bruttoeinkommens und die Konzernsteuern („Corporation tax") auf 52 Prozent Auch die Präferenzpolitik in der Vergabe von Bohrlizenzen an Firmen, die eine Beteiligung der staatlichen „British National Oil Corporation" (BNOC) von 51 Prozent akzeptieren, hat Kontrollfunktion. Bis zum 28. Februar 1977 konnte mit 25 Olkonzernen ein Übereinkommen über eine solche Regelung erzielt werden Darüber hinaus räumt die britische Regierung der BNOC und der ebenfalls staatlichen „British Gas" bestimmte Vorrechte bei der Vergabe von Aufträgen ein
Diese Kontrollmaßnahmen haben in beiden Ländern zu starken Auseinandersetzungen mit den Olgesellschaften geführt. Die Konzerne beklagen die ihrer Auffassung nach „künstlich" festgesetzte Förderkapazität und die hohe Besteuerung sie weisen auf die vergleichsweise hohen Investments hin und verlangen eine klare und langfristigte Regierungspolitik die ihnen möglichst hohe Profite sichert. Für beide Regierungen dagegen ist die Kontrolle eine wesentliche Voraussetzung für einen gemäßigten Ausbau der Olproduktion. So muß das norwegische Kabinett den Befürchtungen des dortigen Industrieverbandes Rechnung tragen, der davon ausging, daß traditionelle Industriezweige durch eine erhöhte Olförderung zwischen 20 Prozent und 45 Prozent ihrer Arbeiter (ca. 35 000) im Zeitraum von 1973 bis 1980 verlieren könnten Insbesondere die Fischereiindustrie, die den Bohrungen im Festlandsockel am nächsten angesiedelt ist, hat sich besorgt darüber geäußert, daß sie jüngere Arbeiter wegen attraktiverer Löhne in der Ölindustrie verlieren könnte Befürchtet wird ebenso ein verstärkter Ansturm auf die großen Küstenstädte, der zu einem größeren Gegensatz zwischen Stadt und Land führen würde Das norwegische Kabinett hat sich zum Ärger der Olkonzerne bisher — u. a. wegen ökologischer Bedenken — geweigert, Bohrungen nördlich des 62. Breitengrades durchzuführen. Die für Anfang 1978 geplanten Bohraktivitäten sind wegen eines blow-outs, der im April dieses Jahres zu einem Verlust von 22 000 t O 1 und zu einer erheblichen Verschmutzung des Meeres führte verschoben worden; sie sollen erst aufgenommen werden, wenn die Risiken „akzeptabel" erscheinen
In Großbritannien gibt es ähnliche Befürchtungen. Die Olproduktion vor der schottischen Küste hat zu einem Sturm auf die urbanen Zentren geführt und in einigen Fällen zu einer Verdreifachung der Bevölkerung beigetragen Zwar hat die Olproduktion seit 1970 etwa 50 000 bis 55 000 Arbeitsplätze geschaffen befürchtet wird jedoch, daß Beschäftigungsprobleme entstehen, wenn die Bohr-und Förderplattformindustrie nach 1978 stark zurückgeht Bedenken gegen eine allzu schnelle Ausdehnung der Bohraktivitäten sind auch aus Gründen des Umweltschutzes von der Bevölkerung in Schottland und auf den Shetland-Inseln geäußert worden sie sind von der Forderung nach der Erhaltung des traditionellen Lebensstils, die vor allem von nationalistischen Gruppen vehement erhoben wird, oft nicht zu trennen.
Die Olfrage dürfte die ohnehin schon zwischen der Regierung in London und Schottland bestehenden Konflikte erheblich verstärken. Die starke „Scottish National Party" (SNP) kritisiert, daß die Gewinne über ganz England verteilt werden und Schottland nur einen entsprechenden Anteil von etwa 10 Prozent erwarten kann, solange die britische Regierung das öl unter Kontrolle hat; die SNP betont ferner, daß es London nur um die Ausgleichung der negativen Zahlungsbilanz gehe. „Nur wenn Schottland Kontrolle über sein öl gewinnt, kann sichergestellt werden, daß das öl zum Wohle Schottlands gebraucht werden kann, und nur eine unabhängige schottische Regierung kann diese Kontrolle bekommen." Obwohl die britische Regierung bereits einige wichtige Konzessionen gemacht hat, hat sie im Hinblick auf die Verteilung der Öleinkommen Schottland bisher keine Sonderbehandlung eingeräumt. Allerdings wird sie zu einem Kompromiß bereit sein müssen, da die SNP sonst ihre Androhung einer unabhängigen Selbstregierung verwirklichen könnte
Ein solcher Schritt hätte für die gesamte britische Wirtschaft schwere Folgen, denn London rechnet mit einer Verbesserung seiner Zahlungsbilanz (Defizit 1975: 3, 86 Mrd. Dollar) durch Ölexporte. Die Studie von Wood Makkenzie & Co. schätzt den Gewinn für 1975 auf 1, 085 Mrd. Dollar und für 1980 auf mehr als 9 Mrd. Dollar 1985 könnte er zwischen 15 und 30 Mrd. Dollar betragen Auch wenn das Nordseeöl keine hinreichende Bedingung für den vollständigen Abbau des Zahlungsbilanzdefizits ist wird es doch hierfür eine notwendige Voraussetzung sein. Stärker als die norwegische Regierung wird das britische Kabinett an einem Ausbau der Produktionskapazität interessiert sein. Es bleibt abzuwarten, wie es eine erhöhte Förderung mit den aufgezeigten Problemen sozialer Sicherheit und des Umweltschutzes in Einklang bringen wird.
3. Militärische und politische Aspekte der Ölförderung
Wenn die norwegische Regierung nördlich des 62. Breitengrades, vor allem aber im Festlandsockel von Svalbard und in der Barents-see, zu bohren beginnt, könnte es zu Konflikten mit der Sowjetunion und zu Meinungsverschiedenheiten innerhalb des westlichen Militärbündnisses kommen.
Der Verwaltungsbezirk Svalbard umfaßt die Inseln zwischen 74 und 81 Grad nördlicher Breite sowie 10 und 35 Grad östlicher Länge: Spitzbergen, Nordaustlandet, Edgeöy, Hinlopenstredet, Barentsöy und neben einer Vielzahl kleinerer Inseln die Bärenund Hoffnungsinsel Spannungen können deswegen entstehen, weil der Status des Festlandsokkels von Svalbard Anlaß zu unterschiedlichen Interpretationen gibt: Der Svalbard-Vertrag von 1920 gesteht Norwegen die volle und absolute Souveränität über die Inselgruppe zu, räumt gleichzeitig aber den übrigen 40 Signatarstaaten das Recht ein, die Ressourcen in den Gewässern, Häfen und Fjorden der einzelnen Inseln auszubeuten. Die Genfer Festlandsockel-Konvention von 1958 bestimmt hingegen, daß der Küstenstaat souveräne Rechte über den gesamten kontinentalen Schelf zur Erforschung und Ausbeutung der Vorkommen besitzt
Norwegen besteht mit Berufung auf die Gen-fer Konvention auf seine alleinigen Hoheitsrechte über den Festlandsockel Die benachbarte Sowjetunion befindet sich in folgendem Dilemma: Eine extensive Auslegung des Svalbard-Vertrages würde ihr als einem der Signatoren Zugang zu neuem Territorium gewähren; allerdings müßte die UdSSR dann auch die Bohraktivitäten der anderen Signatarstaaten in einem Gebiet tolerieren, das für sie von großer strategischer Bedeutung ist, weil das Gebiet zwischen Spitzbergen und dem norwegischen Festland ihr einziger Zugang zum Nordatlantik ist. Da für den Festlandsockel sehr günstige Steuerbedingungen gelten dürfte dieses Gebiet attraktiv für Oloperationen sein. Diese fürchtet die Sowjetunion, da die westlichen Staaten in den flachen Gewässern militärische Vorrichtungen anbringen könnten, um sowjetisches Territorium, vor al-lem den nahe gelegenen Hafen Murmansk, in dem u. a. die nordische Flotte stationiert ist zu kontrollieren Von sowjetischer Seite wird daher der demilitarisierte Status Svalbards betont und auf die Deklaration über den Ostseefestlandsockel von 1968 verwiesen, die die Nutzung des Schelfgebietes ausdrücklich auf die Anliegerstaaten beschränkt und ausschließlich zu „friedlichen Zwecken" erlaubt
Unterschiedliche Ansichten bestehen zwischen Norwegen und der UdSSR gegenwärtig über die Aufteilung der Barentssee in der wie im Festlandsockel von Svalbard O 1 vermutet wird. Verhandlungen, die im November 1974 erstmals aufgenommen wurden, haben bisher zu keinem Ergebnis geführt, da sich beide Länder nicht über den Grenzverlauf einigen konnten. Während Norwegen das sog. Mittellinienprinzip verficht, wonach sich die Trennungslinie gleichweit von den Svalbard-Inseln und der Grenze beider Länder befinden soll, plädiert die UdSSR für die sog. Sektorenlinie, die weiter westlich verlaufen würde; das zur Verhandlung stehende Gebiet beträgt etwa 155 000 km 2. Konflikte innerhalb des Bündnisses könnten zum einen aus Norwegens spezifischen Interessen gegenüber der Sowjetunion erwachsen und zum anderen aus militärischen Forderungen der NATO an das skandinavische Mitgliedsland. Norwegen hat bisher Ölbohrungen nördlich des 62. Breitengrades nicht nur aus ökologischen Erwägungen, sondern auch aus politischen Gründen hinausgezögert, um Spannungen mit der Sowjetunion zu vermeiden. Oslo wird weiterhin an einem friedlichen Nebeneinander mit der Sowjetunion interessiert sein und dürfte deshalb die Bohrtätigkeit mehrerer westlicher Staaten nicht gutheißen. Obwohl es bereits Meinungsverschiedenheiten mit Großbritannien und den USA um die Verfügungsgewalt über das Schelfgebiet zwischen seinem Festland und Svalbard gab hat Norwegen wiederholt betont, daß die Kontrolle der Ölbohrungen in diesem Gebiet ein wesentliches Ziel seiner Außenpolitik sei
NATO-Forderungen nach erhöhter Truppen-präsenz in den nordischen Gewässern und der Errichtung von Militärstützpunkten der Bündnispartner in Norwegen selbst könnten zu Spannungen führen, wenn Oslo diese Maßnahmen nicht für geeignet hält. Die Sicherung potentieller Ölvorkommen bietet eine gute Rechtfertigung hierfür. Norwegen jedoch ist sich bewußt, daß seine (und Dänemarks) uni-lateralen Rüstungsbeschränkungen im Hinblick auf nukleare Waffen und ausländische Truppen wesentliche Elemente einer wirksamen Sicherheitspolitik sind Bisher hat es die Regierung abgelehnt, von diesem Grundsatz abzugehen — trotz entsprechender Forderungen im eigenen Land; das Kabinett vertritt dabei die Auffassung, daß derartige Maßnahmen den entgegengesetzten Effekt haben und die Sowjets provozieren würden inwieweit eine Erhöhung des norwegischen Rüstungsetats parallel zum Wirtschaftswachstum, wie sie von der NATO mit „beträchtlichem Druck" auf Oslo gefordert wird 92), schließlich zu ähnlichen Konsequenzen führt, bleibt abzuwarten.
Welche Formen und Ausmaße mögliche Konflikte annehmen werden, ist nicht vorhersehbar. Es erscheint jedoch entgegen manchen pessimistischen Prognosen realistischer, von Konfliktmustern auszugehen, die bestehende Konstellationen zwischen Ost und West sowie innerhalb der Allianz nicht maßgeblich oder gar grundlegend ändern. Das gilt auch für potentielle wirtschaftliche und energiepolitische Auswirkungen der norwegischen und britischen Olförderung innerhalb Westeuropas. Die Ölförderung wird die Zusammenarbeit zwischen den beiden Ölproduzenten sicherlich verstärken und sich auch, wie zumindest der skandinavische Exporteur angekündigt hat, auf die Niederlande und die Bundesrepublik ausweiten Abzuwarten bleibt jedoch, wie stark sich innerhalb der EG das Nord-Südgefälle verändert, nachdem sich Großbritanniens Olförderung auf die Wirtschaft ausgewirkt haben wird
Da alles darauf hindeutet, daß der national-staatliche Primat Norwegens und Großbritanniens auch weiterhin dominant sein wird, ist nicht mit Integrationseffekten der „westeuropäischen" Olförderung zu rechnen. Beide Staaten werden sich weder die Grundlinien ihrer Ölpolitik vorschreiben lassen noch mit einer grundsätzlichen Vorzugsbehandlung der EG-Staaten einverstanden erklären. Auch die Bedingungen und das Ausmaß der Verteilung werden sie weiterhin bestimmen. Beim gegenwärtigen desolaten Zustand der „gemeinsamen" Energiepolitik innerhalb der EG bedeutet dies allerdings nur ein weiteres Hindernis für eine europäische Koordinierung im Energiebereich.
Wäre eine „europäische Lösung" der Olförderung in der Nordsee die bessere Alternative gewesen? Im Hinblick auf die Versorgungssicherheit wäre sie gewiß vorteilhafter. Es ist zwar nicht auszuschließen, daß Norwegen und Großbritannien ihre Förderkapazität während eines möglichen, aber nicht wahrscheinlichen Embargos der arabischen Staaten vorübergehend erhöhen. Aussichtslos dürfte es dann jedoch sein, beide Länder mit wirtschaftlichen Sanktionen und militärischen Mitteln zu erhöhter Produktion zu zwingen. Eine europäische Olpolitik wäre unter anderem Aspekt sicherlich die problematischere Lösung, da die Gefahr größer ist, daß man mit den Vorkommen — bei Vernachlässigung der ökologischen Bedingungen wie wirtschaftlicher und sozialer Faktoren — Raubbau betreibt.
IV. Sicherheitsprobleme der nuklearen Option
Die Faktoren von Sicherheit, die im vorigen Kapitel behandelt wurden, sind in einigen westeuropäischen Ländern in z. T. noch stärkerem Ausmaß Gegenstand von Auseinandersetzungen um die Rolle der Kernkraft geworden. In diesem Kapitel, das die wesentlichen kontroversen Punkte der Nuklearenergie umreißt, liegt der Schwerpunkt auf dem Problem der Verbreitung von Kernwaffen, das in der bundesdeutschen Diskussion — auch in der Argumentation der Anti-Atomgruppen — bisher zu wenig beachtet worden ist.
1. Reaktorsicherheit und Probleme atomarer Mülldeponie Die Wahrscheinlichkeit von Reaktorunfällen und ihre Auswirkungen auf Mensch und Um-welt werden unter Experten und innerhalb engagierter Gruppen der Bevölkerung unterschiedlich eingeschätzt. So nimmt beispielsweise der sogenannte „Rasmussen-Bericht" die bisher aufwendigste Untersuchung zur Reaktorsicherheit und Hauptbezugsquelle der Befürworter von Kernkraft, an, daß der Kern eines Leichtwasserreaktors (LWR) innerhalb von 20 000 Betriebsjahren nur einmal schmelzen wird. Diese Relation sagt allerdings nichts über den Zeitpunkt aus, zu dem sich ein folgenschwerer Unfall ereignen kann. Kritiker des „Rasmussen-Berichts" haben die Wahrscheinlichkeit dieser Schätzung, die einen durch den Bruch des Reaktorkühlsystems verursachten Unfall als nahezu unmöglich hinstellt, um das Hundertfache pro Reaktorbetriebsjahr erhöht. „Bei einem gemäßigten Wachstum der Kernkraftkapazität würde man bis zum Jahre 2000 ein kumulatives Gesamt von grob 5000 Reaktorbetriebsjahren (...) zusätzlich zu den Betriebsjahren, die sich bis Ende 1975 angesammelt hatten, erwarten. Wenn man diese erwartete Anzahl von Reaktorjahren mit der (...) Fehlerrate multipli-ziert, gelangt man aufgrund dieser groben Schätzung zu einer Skala von 0, 05 bis 25 ernsten Unfällen bis zum Jahre 2000, die durch das Niederschmelzen des Reaktorkerns hervorgerufen werden."
Spezifiziertere Schätzungen würden dieses Spektrum „noch weiter vergrößern" Yellins Kritik, auf die sich auch die Ford-Studie zu beziehen scheint, richtet sich vor allem gegen die Methodik des „Rasmussen-Berichts": Er berücksichtige nur die seinerzeit vorhandenen 68 US-Reaktoren in den USA und lasse wichtige Faktoren wie Bevölkerungsdichte und Windverhältnisse im Bereich des Reaktorstandorts sowie latente und langanhaltende gesundheitliche Folgen der radioaktiven Strahlung außer acht. Yellin schätzt beispielsweise die Wahrscheinlichkeit eines Un-falls in einem Reaktor, der in der Nähe von New York liegt, hundertmal höher ein als der „Rasmussen-Bericht". Bei normaler Windstärke könnte ein Reaktorunfall ungefähr 25 000 Todesfälle infolge latenter Krebskrankheit und zusätzlich 4 000 Soforttote bewirken; außerdem müßten umgehend fast 800 000 Personen und weiterhin nahezu 2 Mio. Menschen innerhalb von 90 Tagen umgesiedelt werden; das radioaktiv verseuchte Gebiet wird grob auf bis zu 10 000 Quadratmeilen geschätzt; den Gesamtschaden gibt Yellin mit 17 Milliarden Dollar an Für einen Reaktorunfall in einem westeuropäischen Staat wie der Bundesrepublik käme als negativer Faktor hinzu, daß sie in keiner Weise mit den Vereinigten Staaten zu vergleichen ist, die aufgrund ihres riesigen Raumes potentiell über weitaus günstigere Auswahlmöglichkeiten des Reaktor-Standortes verfügen. Vor allem langfristig gesehen ist Kernkraft zu risikoreich, wenn man einmal für das Jahr 2025 bei einem sehr geringen Wirtschaftswachstum ungefähr 400 Kernkraftwerke von je 1200 MW für die Bundesrepublik Deutschland annimmt, wie Pestel und seine Mitarbeiter dies tun.
Wohl nicht zuletzt wegen dieser düsteren Aussichten werden in den USA, aber auch in West-europa Projekte durchgeführt, die mögliche Vorund Nachteile unterirdischer Standorte für Kernkraftwerke untersuchen. Eine Arbeitsgruppe des Instituts für Nukleare Sicherheitsforschung hat die Untersuchung dieses Problems — zum Teil im Auftrag des Innenministeriums — für die Bundesrepublik übernommen. Insgesamt liegen bisher zwei Konzeptionen vor: In Schweden, Norwegen und der Schweiz wurden kleine Kernreaktoren in selbsttragenden Felskavernen errichtet; die bislang größte unterirdische Anlage mit nur 277 MW befindet sich an der belgisch-französischen Grenze. Die andere Möglichkeit, auf die sich die bundesdeutsche Arbeitsgruppe konzentriert, besteht darin, die Reaktoren in den Boden einzubetten und die Baugrube anschließend zu überschütten. Die Forscher neh-men an, daß die Anlagen somit besser gegen äußere Einwirkungen geschützt werden könnten und radioaktive Stoffe zurückgehalten würden. Ein „erstes Grundkonzept" sieht vor, das Reaktorgebäude vollständig abzusenken und zu überschütten. Diese Bauweise soll nach Auffassung der Arbeitsgruppe „vor allem bei extremen äußeren Einwirkungen (Waffen)" Vorteile gegenüber der sogenannten Hügelbauweise bieten, die aufgrund einer geringeren Absenkung eine große Überschüttung notwendig macht.
Wie die Forscher selbst betonen, läßt der „augenblickliche Stand der Arbeiten (. . .) nur eine vorläufige Beurteilung des vorgestellten Konzeptes zu, in einigen Punkten können nur Tendenzen angeführt werden"; dies gilt, soweit ersichtlich, auch für den internationalen Forschungsstand. Sicher dürfte dagegen sein, daß mit unterirdischen Kernkraftwerken zusätzliche Kosten verbunden sind. Berechnungen von Goldstone, die allerdings wenig fundiert sind, gehen von ca. 20 Prozent Mehrkosten im Vergleich zu bislang gebauten Anlagen aus. Völlig ungeklärt ist bisher, ob — und wenn ja, in welchem Ausmaß — unterirdische Reaktoren die Auswirkungen möglicher Unfälle vermindern. Illusorisch erscheint insbesondere die immer wieder betonte bessere Schutzmöglichkeit der abgesenkten Kernkraftwerke im Falle eines militärischen Konfliktes: Auch wenn man einem angreifenden Feind ein rationales Verhalten unterstellen würde, das darauf abzielt, das besetzte Territorium nicht zu zerstören, sondern wirtschaftlich und/oder strategisch zu nutzen, ist die Wahrscheinlichkeit groß, daß es unbeabsichtigt zu starken Beschädigungen eines oder mehrerer Reaktoren kommt
Zusätzliche Risiken sind beim Ausbau von Kernkraft mit der Wiederaufbereitung und den Schnellen Brütern verbunden. In den Wiederaufbereitungsanlagen wird das noch nicht genutzte Uran aus den Brennstäben gewonnen, um es weiter zu verwenden. Hierbei werden die radioaktiven Stoffe Krypton 85, Kohlenstoff 14, Tritium und Jod frei. Diese Stoffe versucht man durch verschiedene Verfahren zurückzuhalten. Die Methoden sind jedoch noch nicht ausgereift und sehr kostenintensiv. So muß Krypton 85 wahrscheinlich auch aus finanziellen Gründen zu einem großen Prozentsatz durch Schornsteine an die Umwelt abgegeben werden. Während man wahrscheinlich ca. 25 Prozent des Tritiums nach außen entweichen läßt, können die anderen Gase zu einem hohen Prozentsatz, aber auch nicht vollständig, zurückgehalten werden Betriebsstörungen und Unfälle können katastrophale Auswirkungen haben. Der Amerikaner Gofman hat für den Fall, daß 1 Prozent des radioaktiven Materials aus einer Wiederaufbereitungsanlage in die Umwelt gelangt, für die Bundesrepublik folgende Berechnungen angestellt: Er geht dabei davon aus, daß in einer Anlage fünf Jahre lang radioaktiver Abfall von 3 850 Megatonnen lagert (das ist der Output von 35 Kernkraftwerken, die jährlich 22 Megatonnen radioaktiven fall-out produzieren). Die Radioaktivität entspricht der von 192 000 Hiroshima-Bomben. Gofman nimmt an, daß 1 Prozent der radioaktiven* Substanzen bei Nordwind von 31 km/h durch die Bundesrepublik getragen wird. Die radioaktive Wolke wird sich ständig ausdehnen und nach 24 Stunden bereits einen Radius von 165 km haben. Bei Regen würde die gesamte Fläche unter der Wolke — mehr als 85 000 km 2 — verseucht. Die Folge davon wäre, daß die Bewohner dieses Gebiets einer Strahlung ausgesetzt sein würden, die um mehr als das Fünffache höher ist als der sog. Toleranzwert von 0, 03 R, der als höchste zugelassene Dosis aus der Anwendung der Kern-kraft pro Jahr für die deutsche Bevölkerung gilt. Gofmans Fazit: „Es ist ganz eindeutig, daß eine solche Strahlenbelastung untragbar ist und man das Gebiet evakuieren muß."
Für den Fall, daß es binnen 48 Stunden nicht regnet und die Wolke mit 24 km/h weitergetragen wird, würde ihr Radius ca. 235 km und die radioaktive Fläche unter ihr knapp 373 000 km 2 betragen; dies hätte zur Folge, daß die landwirtschaftlichen Erzeugnisse jahrelang nicht verwertbar wären. Selbst wenn nur 0, 01 Prozent, also ein Zehntausendstel, des radioaktiven Materials frei würde und es nach 24 Stunden regnete, dürften die landwirtschaftlichen Produkte in einem Gebiet von mehr als 85 000 km 2 einige Jahre lang ungenießbar sein
Sicherlich lassen sich auch im Hinblick auf die Wahrscheinlichkeit eines derartigen Un-falls in einer Wiederaufbereitungsanlage keine genauen Angaben machen. Die bisherigen Erfahrungen mit dieser Technologie geben jedoch allen Anlaß, auch in Zukunft pessimistisch in bezug auf die Bewältigung der technischen Probleme zu sein: Bis jetzt ist nur die französische Anlage am Cap La Hague in Betrieb, die — theoretisch — abgebrannte Elemente von 8001 pro Jahr verarbeiten kann. Schwere Bedenken sind gegen die Funktionsfähigkeit und die Sicherheitsgarantien der Anlage erhoben worden. Robert Jungk hat auf einen bisher vertraulichen Bericht einer Untersuchungskommission hingewiesen, wonach die „Verseuchung der bis an den Rand gefüllten Ablagerungsbecken schon bedrohlich zu werden beginne". Die Untersucher hätten 47 zum Teil tiefgreifende Maßnahmen verlangt, um die „skandalösen Zustände" in den Werkshallen und Laboratorien in Ordnung zu bringen 4. Ein Spitzenfunktionär der französischen Gewerkschaft CFDT meinte lapidar: „Es wird behauptet, daß La Hague funktioniert. Aber das ist eine Lüge." Die britische Anlage in Windscale wurde nach einem Unfall im Mai 1973 geschlossen, als bei einer unerwarteten chemischen Reaktion radioaktive Stoffe frei wurden und 35 Arbeiter verseuchten; bisher hat sie den Betrieb nicht wieder aufgenommen. Auch die kleine Anlage in Belgien ist fortwährend wegen technischer Schwierigkeiten geschlossen Befürworter der Wiederaufbereitung haben hervorgehoben, daß sie eine langfristige Deponie des abgebrannten Materials besser löse, weil sie die Anzahl transuranischer Elemente im Müll reduziere. Dagegen wenden die Autoren der Ford-Studie ein, daß dieser Effekt nicht sehr groß sei. Durch das Wiedereinführen von Plutonium in Reaktoren entstehe eine höhere Konzentration der hoch radioaktiven Elemente Americium und Curium im Müll als in den gewöhnlichen abgebrannten Stäben; die hiermit verbundenen Risiken seien denen des Plutoniums sehr ähnlich Wiederaufbereitung stellt ein wesentliches Zwischenstück zur nächsten Generation von Reaktoren, den Schnellen Brütern, dar, die mit Plutonium betrieben werden. Wiederaufbereitung zu befürworten, heißt auch zum Brüter-Programm ja zu sagen und umgekehrt — mit der Folge, daß der entscheidende Schritt hin auf eine Plutoniumwirtschaft getan ist. Wie mit den Leichtwasserreaktoren ist auch mit den Brütern eine Vielzahl von Gefahren vep bunden. Die Sicherheitsrisiken der Brüter sind noch weitaus weniger erforscht als die der Leichtwasserreaktoren (LWRen); substantiellere Aussagen lassen sich wahrscheinlich erst im nächsten Jahrzehnt machen. Gegenwärtig kann man für den Brüter folgende Vorund Nachteile gegenüber den Leichtwasserreaktoren nennen: Vorteilhaft dürfte sein, daß das Natrium-Kühlsystem des Brüters unter geringerem Druck steht als der Kühlkreislauf in den LWRen Natrium ist weniger zersetzend als das Kühlmittel Wasser in den LWRen und vermag Hitze in großem Ausmaß zu absorbieren; es würde gewährleisten, daß selbst wenn Pumpen ausfielen, ein großer Teil der Hitze aufgefangen würde. Ungefähr eine Stunde Zeit bliebe, bevor das Notkühlsystem eingeschaltet werden müßte. Allerdings kann Natrium nur in bestimmten Mengen verwendet werden, da es feuergefährlich ist.
Während jedoch die Kettenreaktion im LWR aufhört, nachdem das Kühlsystem ausgefallen und der Reaktorkern niedergeschmolzen ist, ist die Gefahr beim Schnellen Brüter sehr groß, daß sich nach dem Niederschmelzen des Kerns neue kritische Massen bilden und sich die Kettenreaktion damit fortsetzt.
Das Inventar der spaltbaren Stoffe ist im Schnellen Brüter ähnlich wie in Leichtwasserreaktoren; um die Folgen eines Unfalls überhaupt einschätzen zu können, muß man jedoch berücksichtigen, daß der Kern des Schnellen Brutreaktors einige Tonnen Plutonium enthält, Leichtwasserreaktoren dagegen nur einige hundert kg; außerdem befinden sich weitaus größere Mengen von Americium und Curium im Schnellen Brüter. Die Möglichkeit, daß der Brennstoff verdunstet und damit ein Teil des radioaktiven Inventars in die Umwelt entweicht, wird mit katastrophalen Auswirkungen verbunden sein. Wenn etwa 10 Prozent der radioaktiven Stoffe frei werden, sind die Unfallfolgen bis um das Zweifache schlimmer sein als bei LWRen Die Hauptfolgen werden Lungenkrebs und die Verseuchung des Bodens sein. Plutonium ist eine der giftigsten Substanzen, die der Mensch kennt; schon ein millionstel Gramm hat mit großer Wahrscheinlichkeit Lungenkrebs bei Tieren erzeugt Auch wenn bis-her Menschen durch das Einatmen von Plutonium wahrscheinlich nicht zu Schaden gekommen sind — das geplante Ausmaß einer Plutoniumwirtschaft würde die Gefahrenherde immens vermehren.
Alle Reaktortypen haben auch bei normalem Betrieb negative Auswirkungen auf Mensch und Umwelt. Diese Implikationen müssen, zusammen mit den Folgen möglicher Unfälle, allerdings im Vergleich zur Umweltbelastung durch Kohle gesehen werden, mit der kurzund mittelfristig der Energiebedarf zu einem großen Teil gedeckt werden muß.
Sowohl Kohleals auch Kernkraftwerke tragen zur Erwärmung der Atmosphäre bei. Wie die Ford-Studie betont, ist der Heizeffekt durch das CO 2, das bei der Verbrennung von Kohle an die Umwelt abgegeben wird, noch größer als die durch Kernreaktoren erzeugte Abwärme. Man nimmt an, daß das bisher freigesetzte Kohlendioxyd die Durchschnittstemperatur um 0, 3° C erhöht hat. „Gegenwärtig beläuft sich die CO 2-Menge in der Atmosphäre auf ungefähr 2, 4 Billionen t. Von der Gesamtmenge des CO 2, die jährlich durch Verbrennung freigesetzt wird, bleibt etwa ein Drittel, entsprechend 5 Milliarden t, in der Atmosphäre, und die restlichen zwei Drittel absorbieren die Meere und die Landmasse. Auch wenn der Verbrauch fossiler Energieträger nicht zunehmen würde, käme somit jedes Jahr eine Menge hinzu, die 0, 2 0/0 des gesamten atmosphärischen CO 2 ausmacht oder in jedem Jahrzehnt 2 0/0 beträgt. Wenn sich der Verbrauch fossiler Energieträger alle 15 Jahre verdoppeln sollte, würde die CO 2-Konzentration in der Atmosphäre bis zum Jahre 2000 um ungefähr 30 % über den Wert vor der industriellen Revolution gestiegen sein. Ein solcher Anstieg würde eine atmosphärische Temperaturerhöhung von 1° C und wahrscheinlich eine größere Klimabelastung zur Folge haben."
Auch andere Schadstoffe wie Kohlenmonoxyd, Stickoxyd und Staubpartikel, die Kernreaktoren nicht abgeben, aber in Kohlekraftwerken freigesetzt werden, beeinflussen das Klima. Ob dies positive oder negative Folgen hat, ist auf lange Sicht nicht vorherzusagen; es wird davon abhängen, ob sie die natürlichen Klimaveränderungen verstärken oder ihnen entgegenwirken. Die Auswirkungen einer zu star-ken Erwärmung könnten in einigen Teilen der Erde katastrophal sein; beispielsweise kann sie zum Schmelzen der polaren Eiskappen und — über einen langen Zeitraum hinweg -— zum Ansteigen des Meeresspiegels führen.
Im lokalen Bereich sind die negativen Folgen von Kernreaktoren größer, weil sie etwa 20 % mehr Wärme erzeugen als vergleichbare Kohlekraftwerke. Da Reaktoren ihre gesamte Abwärme in das Gewässer abgeben, das als Kühlmittel dient, Kohlekraftwerke hinge-gen nur einen Teil der Wärme freisetzen, kara ein Reaktor die Gewässer um mehr als die Hälfte stärker aufheizen. Dies bedeutet eine entsprechend größere Gefahr für die Aufrechterhaltung des ökologischen Gleichgewichts. Sowohl mit dem Abbau von Uran als auch von Kohle ist die Zerstörung des Bodens und der Landschaft verbunden. Ihr Ausmaß ist gegenwärtig beim Kohleabbau größer; die zunehmende Verknappung reichhaltiger Erzvorkommen wird diesen Nachteil verringern, da für die gleiche Menge Uran mehr Abraum beseitigt werden muß. Verseuchung und Vergiftung des Bodens und der Flora und Fauna durch radioaktive Substanzen bzw. säurehaltige Abwässer sind eine Folge des Abbaus von Uranerzen respektive von Kohle. Bei der Verbrennung von Kohle wird auch Schwefeldioxyd an die Umwelt abgegeben. Durch Oxydation in der Atmosphäre bildet es Schwefelsäure, die den Regen ansäuert und somit negative Auswirkungen auf die Pflanzenwelt sowie auf den Boden haben kann.
Untersuchungen zufolge, auf die sich die Ford-Studie bezieht, wird die durchschnittliche Risikorate für ein Kohlekraftwerk von 1 000 MW auf zwei Tote pro Jahr geschätzt; berücksichtigt man die Folgen der Abgase, so ist das Risiko beträchtlich höher. Ein Bericht der amerikanischen National Academy of Science nimmt sehr vage eine Skala von 2 bis 100 Toten pro Jahr für einen 1 000-MW-Kraftwerk an, das Kohle mit dreiprozentigem Schwefelgehalt verbrennt. Diese Werte lassen sich jedoch drastisch einschränken, wenn entsprechende Umweltschutzgesetze nur die Verbrennung von Kohle mit niedrigem Sulphuranteil erlauben und die entsprechende Technologie verbessert wird. Durch Filter lassen sich die Schwefelemissionen um das Zehnfache reduzieren, so daß es kaum zu Todesfällen kommen dürfte U — Auch wenn Kohle keine ideale Energiequelle ist, besitzt sie gegenüber der Kernkraft wichtige Vorteile: Zum einen hat man bereits langjährige Erfahrungen im Umgang mit diesem Rohstoff, zum anderen sind mit ihm nicht die Probleme der Sicherheitsvorkehrungen, die Gefahr der Verbreitung von Kernwaffen und ungelöste Fragen der Mülldeponie verbunden, die Nuklearenergie vorerst nicht akzeptabel erscheinen lassen.
Gegen die Lagerung atomaren Mülls sind Einwände erhoben worden aufgrund bisheriger Erfahrungen mit der temporären Aufbewah-rung; hinzu kommt, daß der gegenwärtige Forschungsstand im Hinblick auf die endgültige Deponie unbefriedigend ist. In der Tat geben die Ergebnisse in den USA wenig Anlaß, auf eine befriedigende vorübergehende Lagerung zu hoffen: Zwischen 1958 und 1974 wurden in Richland (Bundesstaat Washington), wo sich et-wa 75 Prozent des Gesamtmülls (ca. 307 Mio. 1) befinden, mehr als 1, 6 Mio. 1 radioaktiven Abfalls entdeckt 1, die aus Behältern gesikkert waren, „von denen man einmal annahm, daß sie 500 Jahre halten würden" Eine Leckage im Jahre 1973 mit einem Verlust von rd. 436 000 1 wurde erst nach 48 Tagen bemerkt Bei der Auswahl von Standorten für Lagerstätten in der Bundesrepublik kommt erschwerend hinzu, daß es, ähnlich wie bei der Auswahl von Standorten für Reaktoren, kaum ein Gelände geben dürfte, das „ideal" ist
Untersuchungen und Forschungen hinsichtlich der endgültigen Lagerung von atomarem Müll befinden sich erst am Anfang. Von den erwogenen Optionen, den radioaktiven Ab-fall in den Weltraum zu schießen, ihn auf dem Meeresboden zu deponieren, in geologisch sicheren Gebieten des Meeres zu vergraben oder in stabilen Gesteins-und Salzschichten zu lagern, hat man die ersten beiden aufgegeben, während die letzten beiden gegenwärtig favorisiert werden. Einige Experten schließen es nicht aus, daß radioaktive Stoffe, die über einen Zeitraum von 250 000 Jahren eine Gefahr für Mensch und Natur darstellen, in diesen geologischen Formationen, die über Millionen von Jahren sta-bil gewesen sind, aufbewahrt werden können. Aber auch hier bleibt das Risiko, daß diese Substanzen in unterirdische Wasseradern gelangen. Dabei beruhen die „grundsätzlichen Ungewißheiten" wahrscheinlich eher auf möglichen Änderungen des Meeresspiegels und auf einem Wechsel des Klimas als auf Änderungen innerhalb stabiler Erdschichten Die Autoren des „Flowers-Reports" rechnen mit einem Zeitraum von 10 bis 20 Jahren zur Klärung dieser Fragen
Von großer Wichtigkeit wird hierbei die Kontrollfunktion einer kritischen Öffentlichkeit sein, um vorschnelle Lösungsversuche sowohl im nationalen als auch im internationalen Rahmen zu verhindern. So wird man beispielsweise jetzt schon den Vorschlag von Ministerpräsident Albrecht, atomaren Müll auf Spitzbergen oder Grönland zu deponieren als unpraktikable Verlegenheitslösung bezeichnen können. Spitzbergen ist auch ohne radioaktiven Abfall bereits ein potentieller Konfliktherd. Im Hinblick auf Grönland und die Antarktis, deren Eisschichten auf ungefähr 1 Mio. Jahre geschätzt werden, war von Mitarbeitern des amerikanischen Battelle Laboratoriums vorgeschlagen worden, verglaste Kanister auf der Eisoberfläche abzusetzen. Die Hitze der Behälter würde das Eis unter ihnen schmelzen, über ihnen würde es wieder zufrieren. Nach einer Verzögerungszeit, die für einen Zerfall der radioaktiven Stoffe bis zu einem bestimmten Grad ausreichend wäre, würden die Kanister den Grund erreichen Andere Wissenschaftler vertreten jedoch die Auffassung, daß sich unter den Eisschichten der Antarktis Seen befinden, die untereinander und mit den Ozeanen verbunden seien. Sowohl der „Flowers-Report", der sich auf diese beiden Untersuchungen bezieht 6, als auch die Ford-Studie halten diese Option für nicht tragbar.
Bevor nicht überzeugend dargelegt worden ist, daß atomarer Müll über Zeiträume, die menschliche Erfahrungen und Vorstellungskräfte weit übersteigen, sicher gelagert werden kann, sollte Nuklearenergie deshalb nur als ultima ratio in kleinstmöglichem Ausmaß erzeugt werden.
2. Sicherheitsprobleme bei der Weiterverbreitung nuklearer Waffen Der enge Zusammenhang zwischen dem Anwachsen der Kernkraft und der Gefahr von nuklearem Terrorismus sowie der Proliferation nuklearer Waffen hat vor allem in den USA zur Kritik an einem verfrühten Bau von Wiederaufbereitungsanlagen und einer vorzeitigen Kommerzialisierung des Schnellen Brüters geführt. Geht man davon aus, daß die gegenwärtigen Pläne für die Errichtung von Kernkraftwerken durchgeführt werden, werden um 1980 in etwa 30 Ländern ungefähr 300 000 Megawatt Elektrizität jährlich durch Nuklearenergie erzeugt; hiermit wäre eine Plutoniumproduktion von 75 000 kg pro Jahr verbunden Prognosen für das Jahr 2 000 veranschlagen die sechzehnfache Menge gegenüber 1980. Kernenergie und Plutonium könnten sich bis dahin auf 40 bis 50 Länder verteilt haben Allein aus den insgesamt 300 000 kg Plutonium, die sich bis 1980 angesammelt haben werden, lassen sich weit über 30 000 Bomben mit niedriger Sprengkraft herstellen. 1. Nuklearer Terrorismus Die hochgiftige Substanz Plutonium kann entweder direkt von Terroristengruppen oder über Angestellte einer Aufbereitungsanlage entwendet werden. Experten lassen keinen Zweifel daran, daß eine Gruppe mit angemessener technischer Vorbildung in der Lage ist, eine Bombe herzustellen, zu der man ungefähr 7 kg Plutonium benötigt. Eine entschlossene Vereinigung wird sich nur schwer von der relativ hohen Explosionsund Vergiftungsgefahr während der Produktion eines Sprengsatzes abschrecken lassen.
Die Explosionskraft einer selbstverfertigten Bombe wird ungefähr nur ein Zehntel einer vergleichbaren militärischen Waffe ausmachen.
Sie könnte sich trotzdem auf einige hundert t TNT (Trimtuolmaß für herkömmlichen Sprengstoff) belaufen und damit höher sein als die größten im Zweiten Weltkrieg abgeworfenen konventionellen Bomben, die „nur" eine Sprengkraft von mehreren t TNT besaßen. für Auswirkungen ist Entscheidend die selbstverständlich der Ort der Zündung. Schätzungsweise kann die Explosion einer Bombe mit einer Sprengkraft von 10 t TNT im Innenhof eines großen Bürogebäudes 1 000 Tote zur Folge haben, während eine vergleichbare Explosion in einem entsprechend besetzten Fußballstadion 100 000 Zuschauer zu töten vermag
Bei solchen Aktionen — wie auch bei Sabotage in einem Reaktor, die zu einem Niederschmelzen des Reaktorkerns und damit zum Freiwerden radioaktiver Stoffe führen könnte — stellt sich die folgende Frage: Kann politisch motivierten Gruppen daran gelegen sein, Bomben mit derartigen Wirkungen als Mittel zur Erreichung ihrer Ziele einzusetzen? Greenwood hat darauf hingewiesen, daß das Töten für diese Vereinigungen kein Selbstzweck, sondern „gewöhnlich begrenzt, kontrolliert und kalkuliert" sei, um ihren spezifischen Zielen zu dienen. National orientierte politische Gruppen suchten zudem internationales Ansehen als Mittel, um vielfältige Unterstützung zu bekommen, die durch Massentöten genauso aufs Spiel gesetzt würde wie Hilfe aus der Bevölkerung Es scheint jedoch höchst fraglich, politisch motivierten Gruppen und kriminellen Vereinigungen (zwischen denen sich nicht immer eine klare Trennungslinie ziehen läßt) ein derart rational-pragmatisches Verhalten zu unterstellen. Niemand kann ausschließen, daß gewaltanwendende Gruppen zumindest einmal eine Bombe zünden, die ihnen ein hohes Maß an Glaubwürdigkeit für entschlossenes Handeln verleiht und die sie in die Lage versetzt, beliebige Forderungen zu stellen, auch wenn für eine spätere Zeit ganz von der Anwendung eines solchen Druckmittels abgesehen wird.
Die technische Lösung dieses Problems, die sich in der Forderung nach strengeren Sicherheitsvorkehrungen (safeguards) ausdrückt, wird nicht nur unmöglich sein, sie wird außerdem erhebliche negative Implikationen im politischen Bereich haben; Auch ein noch so strenges safeguard-System — und darüber sind sich alle Experten einig — vermag gezielt arbeitende Gruppen nicht an einem Diebstahl von Plutonium oder hoch angereichertem Uran zu hindern. Langfristig schließen verschärfte Sicherheitsvorkehrungen auch eine Gefährdung oder sogar den Verlust wesentlicher ziviler Freihei -ten ein. Fortwährende Überprüfungen und Überwachungen würden sich nicht nur auf Angestellte in Wiederaufbereitungsund Anreicherungsanlagen beschränken. Sie können sich auch auf Gruppen innerhalb der Bevölkerung ausweiten, denen man mißtraut, weil man sie für potentielle Saboteure oder Diebe von Plutonium hält, oder weil man bei ihnen Kontakte zu Vereinigungen vermutet, die für terroristisch gehalten werden. Außerdem wird es nicht schwer sein, einzelne Gruppen nach dem Verlust von Plutonium zu kriminalisieren und verantwortlich zu machen, die aus ganz anderen Gründen politisch unliebsam sind. Verletzungen des Briefgeheimnisses, Abhörmaßnahmen und breitangelegte Suchaktionen nach verloren gegangenem nuklearem Material werden „höchst wahrscheinlich und in der Tat unvermeidbar" sein Eine durch die Inbetriebnahme von Brütern wachsende Plutoniumwirtschaft dürfte derartige Aktivitäten noch steigern.
2. Nukleare Proliferation
Bei der Analyse des Zusammenhangs von Sicherheit und Energie sind hier folgende Aspekte von Bedeutung: das Interesse von Staaten an der Beschaffung nuklearer Waffen und Waffensysteme, die Rolle der Kernkrafttechnologie für diesen Prozeß, die Auswirkungen einer Vielzahl nuklearer Staaten auf die globale Sicherheit sowie Maßnahmen und Möglichkeiten zur Verhinderung der Proliferation. Die Vielfalt dieser Aspekte zeigt die Komplexität des Proliferationsproblems, das methodisch und theoretisch bisher in keiner Weise befriedigend behandelt worden ist. a) Motive für die Beschaffung von Kernwaffen Für die Analyse dieses Problems ist bisher nur ein grobes Raster erarbeitet worden, ohne daß jedoch innergesellschaftliche Determinanten, Entscheidungsstrukturen und -prozesse in den betreffenden Staaten mit berücksichtigt worden sind. Hervorgehoben werden: die Annahme von äußerer und innerer Bedrohung, die Behauptung oder Erweiterung regionaler Einflußnahme und das Interesse an Aufwertung und stärkerer Mitbestimmung im internationalen Rahmen
Das Streben nach militärischer Sicherheit dürfte das Hauptmotiv sein, das Schwellenstaaten zur nuklearen Aufrüstung veranlaßt. So könnte die Furcht vor einer gewaltsamen Änderung der territorialen Grenzen Israel, Südafrika, Süd-Korea, Taiwan und Pakistan zur Beschaffung von Atomwaffen bewegen. Ein Nachlassen der Sicherheitsverpflichtungen der Supermächte, vor allem der USA im Falle Israels, Süd-Koreas, Taiwans, Japans und der Bundesrepublik könnte ebenso ein auslösendes Moment für die nukleare Aufrüstung sein wie der Ausbruch einer Krise in einem Nachbarland, deren Auswirkungen der noch nicht nukleare Staat für sich als Bedrohung empfindet. Nahezu alle Schwellenstaaten befinden sich in konfliktträchtigen Zonen, in denen einige Länder um regionale Vorherrschaft rivalisieren (z. B. Argentinien und Brasilien) oder aber bestrebt sind, ihre regionalen Einflüsse zu vergrößern (Indien und Iran). Für diese Staaten können Kernwaffen als wichtiges Drohinstrument betrachtet werden, ohne das sich ihre außenpolitischen Ziele nicht oder viel schwerer verwirklichen lassen. Es ist möglich, daß andere Staaten in diesen Gebieten auf derartige Ambitionen mit einem nuklearen Abschreckungspotential reagieren, ohne daß sie damit regionale Ansprüche verbinden. Unter diesen Umständen ist eine Kettenreaktion nicht unwahrscheinlich: Einmal angenommen, Pakistan beschließt, nuklear aufzurüsten, weil es sich von bedroht Indien fühlt, ist die Gefahr groß, daß auch der Iran und Indonesien ähnliche Schritte unternehmen, was wiederum Japan zur Beschaffung von Kernwaffen veranlassen könnte.
In vielen autoritär geführten atomaren Schwellenstaaten, die in der Regel zugleich politisch und/oder wirtschaftlich instabil sind, wird die Aufrechterhaltung der Herrschaftsordnung ein nicht unwichtiger Grund für den Aufbau eines Kernwaffenpotentials sein, das als Demonstrationsmittel von Macht eingesetzt werden kann (z. B. in Südafrika, Süd-Korea, in Taiwan und im Iran). In einer zugespitzten Situation könnte es dabei zu einem „nuklearen coup d'etat" kommen, bei dem der attackierte Führer eines Regimes versucht, atomare Waffen als Erpressungsinstrument gegen seine politischen Gegner einzusetzen
Wohl alle potentiellen Kernwaffenstaaten der Dritten Welt betrachten den Besitz nuklearer Waffen als ein entscheidendes Symbol für politisches Prestige, das man nicht nur im regionalen Bereich, sondern auch im globalen Nord-Süd-Verhältnis für die Durchsetzung bestimmter Ziele einsetzen kann. Um politische und militärische Unabhängigkeit zu demonstrieren und Unterlegenheit innerhalb der internationalen Hierarchie zu überspielen, könnten viele der Schwellenstaaten bestrebt sein, ein Kernwaffenpotential aufzubauen. Hinzu kommt, daß sie ein starkes Interesse daran haben, in internationalen Organisationen einen größeren Einfluß zu gewinnen und zu versuchen, den als Diskriminierung empfundenen Statusunterschied zwischen den Atommächten und den „nuklearen Habenichtsen" aufzuheben. b) Die Rolle der Kernenergietechnologie bei der Beschaffung von Nuklearwaffen Abgesehen von der Möglichkeit, daß ein Staat Atomwaffen importiert oder illegal in seinen Besitz bringt, gibt es grundsätzlich zwei Wege für Länder, nukleares Material für die Herstellung von Kernwaffen anzusammeln: entweder direkt im Rahmen eines militärischen Waffenprogramms oder mit Hilfe eines „zivilen“ Kernkraftpotentials. Voraussetzung für beide Optionen ist die Gewinnung von U 233 oder Plutonium aus einem Reaktor oder einer Wiederaufbereitungsanlage sowie Verfahren, die das spaltbare Isotop 235 von seinem natürlichen Wert von 0, 7 Prozent im Uranerz auf ungefähr 90 Prozent erhöhen.
Eine bescheidene Produktion waffenfähigen Materials ist mit diesen Technologien für vie-le Länder finanziell und technisch realisierbar.
Auch wirtschaftlich schwache Staaten könnten mit Hilfe eines Graphit moderierten, luftgekühlten Reaktors im Laufe von vier Jahren (von Projektbeginn an) jährlich 10 kg Plutonium gewinnen, wobei sich die Kosten auf insgesamt 13 bis 26 Mio. Dollar belaufen würden; die Informationen für das Reaktordesign und das notwendige Material sind in der Fachliteratur zugänglich. Dieser Reaktortyp wird mit Natururan betrieben, das auf dem Markt nicht leicht zu erhalten ist. Die Aufbereitung des Uranerzes ist jedoch für Länder, die Uranvorkommen besitzen, „kein schwieriges Unternehmen", da die „notwendigen Rezepte“ hierfür ebenfalls leicht zugänglich sind Dieser Reaktortyp erleichtert die Gewinnung von Plutonium, weil sich Anreicherungsverfahren erübrigen.
Für weiter entwickelte Staaten ist der Bau von Reaktoren, die Plutonium direkt in größerem Ausmaß produzieren, technisch möglich und finanziell etwa um das Zehnfache günstiger als kommerzielle Leichtwasserreaktoren vergleichbarer Größe; auch Aufbereitungsanlagen, deren Design für die direkte Herstellung von Plutonium einfacher ist, sind um ein Vielfaches billiger als im Rahmen eines Kernenergieprogramms. Die Produktion hochangereicherten Urans setzt sowohl ein hohes technisches Know-how als auch immense finanzielle Ressourcen voraus. Anlagen, die nach dem Diffusionsverfahren arbeiten, können aus technischen Gründen wahrscheinlich nur in einem großen Umfang betrieben werden; für viele Länder dürfte es hingegen möglich sein, mit ungefähr einem Dutzend Zentrifugen, deren Anfertigung keine „ungewöhnlichen Fähigkeiten verlangt, solange es nicht auf Nutzleistung und kommerziellen Wettbewerb ankommt“ U 235 für den Gebrauch von Waffen anzureichern. Eine Reihe nuklearer Schwellenstaaten dürfte in der Lage sein, Uran nach dem Laserverfahren anzureichern, obwohl dies mit technischen Schwierigkeiten verbunden sein wird.
Der zweite Weg, in den Besitz von Nuklearwaffen zu kommen, kann über ein Kernkraftprogramm erfolgen, indem Plutonium heimlich oder öffentlich abgezweigt wird. Hier gibt es folgende Möglichkeiten: Entweder man entfernt waffenfähiges Material aus einem Reaktor oder man verwendet einen Teil des „zivilen" Nuklearenergieprogramms zur Gewinnung von Plutonium. Die erste Möglichkeit hat den Vorteil, daß das entfernte Material nicht aufbereitet werden muß, da dies nur notwendig ist, wenn man Plutonium aus den abgebrannten Uranstäben gewinnen will. Allerdings müßten die Leichtwasserreaktoren vorübergehend geschlossen werden, wenn das Plutonium herausgenommen wird.
Obwohl ein militärisches Programm aus Kostengründen wahrscheinlich am meisten gewählt wird, ist nicht auszuschließen, daß ein großer Teil der nuklearen Schwellenstaaten den Weg über Kernkrafttechnologie bevorzugt Eine heimliche Abzweigung von nuklearem Material ist dabei für ein Land vorteilhafter und günstiger, das kein Signatar des Nichtverbreitungsvertrages (NV-Vertrag) ist und seine Anlage weder bilateralen noch internationalen safeguards unterstellt hat (wie z. B. Israel und Südafrika). Die safeguards haben die Aufgabe, die verwendeten nuklearen Materialien vor und nach dem Gebrauch in der Art eines Buchhaltungssystems mengenmäßig zu erfassen. Außerdem werden Überwachungsgeräte wie Kameras und Fernsehapparate eingerichtet, um zu überprüfen, ob Material für militärische Zwecke gestohlen worden ist. Alle diese technischen Mittel kön-* nen den Diebstahl der waffenfähigen Substanzen nicht verhindern, sondern nur aufdecken, nachdem diese entwendet worden sind. Aber selbst wenn die Überwachungsmethoden erfolgreich wären, könnten noch immer 0, 5 Prozent des kontrollierten Materials nicht erfaßt werden, weil es während des Brennstoffkreislaufs mehrfach Veränderungen erfährt. Wenn man davon ausgeht, daß bis zu Beginn des nächsten Jahrzehnts 75 000 kg Plutonium produziert werden, dann reicht ein halbes Prozent dieser Menge aus, um jede Woche eine Bombe herzustellen. — Auch das Inspektorensystem der Internationalen Atomenergie-Organisation (IAEA) ist nicht nur deswegen völlig unwirksam, weil es zu wenig ausgebaut ist, sondern auch, weil das Empfängerland beispielsweise selbst bestimmen kann, welche Einrichtungen kontrolliert werden sollen Die bestehenden Sicherheitsvorkehrungen sind allenfalls dafür geeignet, die politischen und technischen Kosten für ein Land mit nuklearen Absichten zu erhöhen
Für die heimliche „zivile" Option spricht auch, daß sich Aufbereitungsanlagen für friedliche Zwecke nur dann rechtfertigen lassen, wenn ein Land über ein Kernkraftprogramm verfügt. Die Aufbereitungstechnologie eignet sich zudem sehr dafür, sich die nukleare Option offenzuhalten, um dem Druck der Weltöffentlichkeit, der zu negativen Konsequenzen in den Beziehungen zu anderen Ländern führen könnte, so lange wie möglich auszuweichen; die Zündung eines Sprengsatzes für militärische Zwecke kann ein Land als „friedlich" deklarieren, da sie sich von einer Detonation im Rahmen eines Kernenergiepro-gramms technisch nicht unterscheiden läßt. Aufgrund seiner Ambivalenz kann man mit dem geschlossenen Brennstoffkreislauf Diplomatie betreiben, indem man seine schwächeren Nachbarn im Unklaren über die eigenen Absichten läßt oder die Staaten, die um die Proliferation besorgt sind, zu Konzessionen auf verschiedenen Gebieten veranlaßt. So hat Israel beispielsweise versucht, die allgemeine Ungewißheit über seine nukleare Kapazität in die Nahostverhandlungen mit einzubringen.
Eine öffentliche militärische Nutzung eines Teils der Kernenergie in nuklearen Schwellen-staaten schließt demgegenüber ein, daß diese entweder von vornherein keine Vereinbarungen über safeguards getroffen haben, sich bestehenden Kontrollverpflichtungen widersetzen oder im Rahmen der Frist von drei Monaten, die der Nichtverbreitungsvertrag vorsieht, aus dem Vertragswerk ausscheiden. Fraglich ist, ob Länder wegen zu erwartender Sanktionen diesen Weg wählen, wenn Sicherheitsvorkehrungen ohnehin nicht sehr wirksam sind und der NV-Vertrag Schlupflöcher für den Mißbrauch der Kernenergie bietet. Allerdings wird der Entschluß eines Landes, auf diese Weise atomar aufzurüsten, von seinen spezifischen Beziehungen gegenüber den Lieferstaaten und von der Stärke der allgemeinen Anti-Proliferationsnorm abhängen.
Hat ein Land eine Zeitlang Plutonium angesammelt, läßt sich die Zeitspanne zwischen dem gefaßten Entschluß, Kernwaffen zu produzieren, und der Fertigstellung eines Bomben-arsenals („lead-time") drastisch verringern — unter Umständen bis auf einige Tage. Entscheidend hierfür wird auch sein, wie weit es dem Staat möglich ist, auf qualifiziertes technisches Personal und Know-how, das im Zusammenhang mit der Kernenergie gewonnen wurde, zurüdezugreifen. Die Reduktion der „lead-time" kann für innen-und außenpolitische Krisensituationen von Bedeutung sein, wenn es darum geht, atomare Waffen als Erpressungs-und Drohinstrument möglichst schnell einzusetzen.
Der Besitz einiger Bomben wird nur einen begrenzten Abschreckungswert haben, solange ein Land nicht über Trägerflugzeuge verfügt. Fachleute gehen davon aus, daß die erste Bombengeneration, die die gegenwärtigen nuklearen Schwellenstaaten herzustellen vermögen, in vielen Fällen verhältnismäßig ineffizient und bei einem geschätzten Gewicht von ca. 3 000 kg für nahezu alle Trägerflugzeuge (mit Ausnahme der „Canberra") zu schwer sind. Moderne Flugzeuge wie der F-104 Starfighter, die Ilyuschin 28, der F-4 Phantom und die Mirage V, die eine Tragkapazität von ca. 2 000 kg bis ungefähr 7 000 kg besitzen, sind nur in der Lage, Waffen bis zu einer Stückstärke von ca. 1 000 kg zu transportieren Alle nuklearen Schwellenstaaten stünden da-mit vor der Aufgabe, das Gewicht der von ihnen hergestellten Bomben entsprechend zu senken. Dies würde eine Verzögerung, aber keine Verhinderung von regionaler Aufrüstung bedeuten; sie wird nicht nur von der technischen Infrastruktur in den einzelnen Ländern, sondern ebenso von der Bereitschaft der Exportländer abhängen, den potentiellen Nuklearstaaten sensitive Technologien mit unzureichenden Sicherheitsvorkehrungen zu liefern. c) Mögliche regionale und globale Auswirkungen einer nuklearen Welt Die sicherheitspolitischen Implikationen der Proliferation, die kaum gesondert für Westeuropa aufgezeigt werden können, hängen einerseits davon ab, ob wir es in Zukunft mit vier oder fünf weiteren Nuklearstaaten zu tun haben, oder aber mit dreißig oder vierzig; andererseits wird es von Wichtigkeit sein, wie viele dieser Länder eine Zweitschlagskapazität entwickeln, ihre Nachbarn erfolgreich angreifen können oder , nur‘ einige Bomben besitzen. Angesichts einer Vielzahl nuklearer Staaten wird das Tempo, mit dem die Verbreitung von Kernwaffen voranschreitet, von marginaler Bedeutung sein, da sich die Alternative Kettenreaktion oder gemäßigte, lineare Entwicklung kaum stellt. Aber auch bei einer nur geringen Anzahl von Nuklearmächten erhebt sich die Frage, ob sich das internationale System auf sie einstellen kann, ohne daß es zu gefährlichen Instabilitäten kommt. Bei einer Vielzahl von Kernwaffenstaaten, deren Entwicklung aus gegenwärtiger Perspektive sehr wahrscheinlich ist, könnten sich nukleare Konflikte allein durch Fehlkommunikationen sowie menschliches und technisches Versagen beträchtlich erhöhen. Es ist möglich, daß im regionalen Rahmen permanente Rüstungswettläufe stattfinden, die mehr und mehr die Merkmale des Ost-West-Wettrüstens aufweisen (wie z. B. die Betonung von Feindbildern als Rechtfertigung eines sich verfestigenden und komplexer werdenden Rüstungsapparates; Absorption eines großen Teils des Haushalts, der für soziale Ausgaben nicht mehr frei ist; größerer Einfluß von Militärs, Wissenschaftlern und Bürokraten im Rüstungsbereich). Die damit steigenden Schwierigkeiten für Abrüstung und Entspannung könnten auch Folgen über den regionalen Be-reich hinaus haben: Den Supermächten wäre ein weiterer Anlaß gegeben, ihre eigene Unfähigkeit zur effektiven Abrüstung ideologisch mit dem Hinweis auf ihre diffiziler gewordene Rolle als Weltpolizisten und Vermittler zu rechtfertigen. Langfristig ist es nicht undenkbar, daß sich die USA und die UdSSR durch eine der gegenwärtigen nuklearen Schwellenmächte bedroht fühlen und wenn nicht atomare, so doch konventionelle Aufrüstung für notwendig halten (z. B. die Sowjetunion wegen nuklearer Ambitionen des Iran).
Falls der nukleare Status eines Landes in Zukunft verstärkt mit erhöhtem Prestige und Einfluß verbunden ist, könnte dies u. U. westeuropäische Staaten, die sich aufgrund ihrer wirtschaftlichen Kapazität und ihrer politischen Bedeutung Ländern der Dritten Welt überlegen fühlen, mit dazu bewegen, den Erwerb von Kernwaffen zu erwägen. Abzuwarten bleibt, inwieweit begrenzte nukleare Konflikte Auswirkungen auf strategische Überlegungen im Westen, auf dl i Beschaffung und den Einsatz von Nuklearwa. fen mit ebenso begrenzter Wirkung haben werden, die die atomare Schwelle deutlich herabsetzen und damit das nukleare Tabu entscheidend gefährden. Es ist allerdings sehr wahrscheinlich, daß Mitteleuropa mit 100 bis 200 Kernkraftwerken bis zum Jahre 1985 schon bei einem schwachen konventionellen Angriff in ein Chaos verwandelt werden kann 6. Abzuwarten bleibt auch, in welchem Ausmaß nukleare Proliferation und regionales Wettrüsten eine Vermittlertätigkeit der USA und UdSSR noch möglich machen und ob sie zu verstärkten Zugeständnissen der Großmächte oder europäischen Staaten führen (die sich z. B. in der Lieferung konventioneller Waffen konkretisieren können). Nicht auszuschließen ist auch, daß die Weiterverbreitung Auswirkungen auf die Struktur der Bündnisse haben wird und nukleare Konflikte zusätzliche Konfrontationen zwischen den Supermächten zur Folge haben, von denen sich auch Europa nicht fernzuhalten vermag. Eine Gefahr, die sich jetzt schon, vor allem in der Argumentation amerikanischer Untersuchungen, abzeichnet, besteht darin, daß nukleare Proliferation als Abweichung von der Norm — nämlich dem Wettrüsten zwischen den Supermächten — gesehen wird, ohne daß die irrationalen Zerstörungskapazitäten in Ost und West selbst prinzipiell in Zweifel gezogen und grundsätzlicher Kritik unterzogen werden. d) Strategien zur Verhinderung nuklearer Proliferation Die Weiterverbreitung nuklearer Waffen verlangt als Grenzproblem von Sicherheits-und Energiepolitik eine Gegenstrategie, die sowohl politische Maßnahmen als auch Restriktionen im Hinblick auf Kernkraft und den Export nuklearer Energietechnologie umfaßt. Politische Initiativen als Antwort auf die genannten Motive für die Beschaffung von Atomwaffen müssen primär auf das Ziel gerichtet sein, Spannungen auf diplomatischem Wege zu beheben oder zu mildern, um das Bedürfnis konfligierender Parteien nach Kernwaffen erst gar nicht aufkommen zu lassen oder möglichst gering zu halten. So wird beispielsweise der Erfolg der amerikanischen Vermittlertätigkeit im Nahen Osten von großer Bedeutung für das zukünftige Verhalten der nuklearen Schwellenstaaten in dieser Region sein. Von Wichtigkeit sind weiterhin Sicherheitsgarantien der Großmächte für Staaten in ihren Interessensphären; konventionelle Waffenlieferungen, die einige Autoren als Sicherungsmittel nicht ausschließen oder sogar betonen erscheinen hingegen als ein fragwürdiges Instrument, da sie das gewaltsame Austragen von Konflikten potentiell von der nuklearen auf die konventionelle Ebene verlagern. Um den Erwerb von Kernwaffen, der primär aus Prestigegründen erfolgen könnte, zu verhindern, ist es notwendig, daß die gegenwärtigen Nuklearmächte jetzt schon durch effektive Abrüstungsmaßnahmen demonstrieren, daß sie Atomwaffen keinen hohen Wert beimessen. Auch wenn zwischen dem Rüstungswettlauf in Ost und West und der Weiterverbreitung von Kernwaffen kein direkter Zusammenhang besteht, werden konkrete Erfolge in den SALT-Verhandlungen die psychologische Ausgangsbasis für eine wirksame Nonproliferationsstrategie verbessern und den nuklearen Schwellenstaaten eine oft vorgebrachte Legitimierung ihrer Ambitionen nehmen 8. In die-sen Zusammenhang gehört mit der Ratifizierung eines umfassenden Teststoppabkommen?
auch der Verzicht auf friedliche Kernsprengungen sowie grundsätzlich der Versuch, die Diskriminierungen, die der Nichtverbreitungsvertrag zwischen Kernwaffenstaaten und Ländern mit nur konventioneller Rüstung z. B. in bezug auf die Anwendung von Sicherheitsvorkehrungen enthält, aufzuheben
Im Rahmen der Nukleartechnologiepolitik sind internationale Lösungsmöglichkeiten sowie Maßnahmen vorgeschlagen worden, die der Gefahr der Weiterverbreitung von Kernwaffen durch vewschiedene Exportmodi wirksam begegnen sollen:
Multinationale Lösungsversuche a) Kartell der Lieferstaaten Dieser Vorschlag, der vor allem von US-Senator Ribicoff und Paul Leventhai sowie von Steven Baker unterbreitet wurde, sieht vor, daß die Exporteure nuklearer Technologie Übereinkommen, zumindest die sensitiven Elemente eines Brennstoffkreislaufs nicht auszuführen. Ribicoff und Leventhai, die den „Kern" des Proliferationsproblems in der Konkurrenzsituation der Lieferstaaten sehen, plädieren für ein „politisches System, das sicherstellt, daß kein Lieferant kommerzielle Nachteile erhält, wenn er potentiellen Reaktorkäufern Brennstoff anstatt Brennstoffanlagen anbietet" Ihr „market-sharing" -An-satz würde für die USA bedeuten, daß sie ihren Anteil am Weltreaktormarkt auf eine „gleichwertige Basis" mit den Konkurrenten reduzieren, um somit einen Anreiz für eine Teilnahme der Europäer an der Verwirklichung dieses Konzepts zu schaffen; auf der anderen Seite hätten die USA als Lieferant von angereichertem Uran einen „starken Einfluß", „um unsere beiden Alliierten (Frank-reich und die Bundesrepublik, B. W. K.) mit uns zur Gestaltung einer vernünftigen, koordinierten und wirksamen Weltpolitik für nukleare Exportkontrolle, die für alle annehmbar ist, zu bewegen"
Der Ribicoff-Leventhal-Vorschlag dürfte die Bereitschaft der USA zu wirtschaftlichen und politischen Konzessionen in einem mit so hohem Prestige verbundenen Sektor zu optimistisch bewerten und Widerstände der Europäer zu gering einschätzen, die in einer solchen Initiative den Versuch sehen würden, die Entwicklung nuklearer Technologien außerhalb amerikanischer Kontrolle zu verhindern oder zumindest zu verzögern.
Vor allem aber wird ein Plan, der Druckmittel so sehr betont, die Bemühungen in Europa zur eigenen Produktion hochangereicherten Urans intensivieren und u. U. verstärkte Kooperation mit der UdSSR auf diesem Gebiet vorübergehend zur Folge haben. Weiterhin könnte ein Kartell von den Rezipienten in der Dritten Welt sehr leicht als Symptom imperialistischer Politik angesehen werden und ebenfalls zu größerer Produktion von Kernkraft in den einzelnen Ländern führen. Kritisch zu bemerken ist auch, daß dieser Vorschlag weder das Problem Reaktorsicherheit noch die Notwendigkeit alternativer Energiequellen berücksichtigt.
b) Multinationale Brennstoifzentren Der Vorschlag, Zentren einzurichten, die im regionalen oder internationalen Rahmen sowohl die Möglichkeit zur Urananreicherung und Wiederaufbereitung als auch zur temporären und endgültigen Mülldeponie bieten, ist von den Vereinigten Staaten ab 1971 gemacht worden — allerdings nicht sehr ernsthaft und weniger als Mittel einer effektiven Nonproliferationspolitik denn als Instrument zur Sicherung des amerikanischen Technologievorsprungs. Für die Einrichtung solcher Zentren, an denen sich staatliche und private Firmen sowie internationale Organisationen beteiligen können, ist deshalb plädiert worden, weil — es nur „geringen Zweifel“ darüber geben kann, daß multinationale Zentren das Risiko der Abzweigung von Plutonium reduzieren würden, da sich die Teilnehmer gegenseitig bewachen — multinationale Zentren Nuklearenergie für viele Staaten erst wirtschaftlich tragbar machen und — sie einen Verzicht der teilnehmenden Staaten auf nationale Anlagen erleichtern würden.
Dem stehen zahlreiche schwerwiegende Bedenken gegenüber, die internationale Zentren wenig wahrscheinlich und attraktiv erscheinen lassen:
— Vor allem muß, wenn es sich um eine regionale Anlage handelt, ein geeigneter Ort gefunden werden, der sicherstellt, daß sie nicht vom Gastland enteignet werden kann.
— Regionale Zentren sind nur dann sinnvoll, wenn die beteiligten Länder auch die Voraussetzung zur Kooperation mitbringen; gerade dies aber ist sowohl in Südamerika als auch im Nahen Osten und in Südostasien zwischen den rivalisierenden und miteinander verfeindeten Staaten in absehbarer Zeit kaum möglich. — Nachteilig könnte sich die Frage der Partizipation für ein Zustandekommen derartiger Zentren wie für eine effektive Anti-Proliferationspolitik auswirken, wenn sich die Schwellenmächte nicht mit den Teilnahmebedingungen einverstanden erklären. Außerdem könnten sie als Teilnehmer technologisches Wissen in ihrem Land für militärische Zwek-ke anwenden, das sie ohne die Beteiligung an einer multinationalen Anlage nicht oder erst viel später bekommen würden.
— Multinationale Zentren bieten keine Gewähr dafür, daß die teilnehmenden Staaten nicht gleichzeitig Wiederaufbereitungsanlagen im nationalen Rahmen installieren.
— Die Erfahrungen mit der Europäischen Atomgemeinschaft (EURATOM) hinsichtlich der Frage, ob Sicherheitsvorkehrungen der IAEA in gleicher Weise für EURATOM wie für einzelne Staaten gelten sollen lassen* ähnliche Schwierigkeiten für multinationale Einrichtungen erwarten.
Nationale Exportregulierung und -kontrolle a) Uneingeschränkter Export Die Lieferländer führen nicht nur Reaktoren, sondern auch Wiederaufbereitungsund Anreicherungsanlagen aus. Diesen Ausfuhrmodus hat u. a. die Bundesregierung im Zusammenhang mit dem deutsch-brasilianischen Handelsabkommen unter Hinweis auf die Kontrolle, die der Exporteur durch Vertragsbestimmungen auf den Empfänger ausüben kann, gerechtfertigt. Vertreter des uneingeschränkten Exports betonen weiterhin, daß der Rezipient bei einem anderen Lieferstaat wahrscheinlich weniger strenge Auflagen bekommen hätte oder daß er auf Restriktionen ganz verzichten könnte, wenn er sich selbst bemüht, nukleare Technologie bis hin zu Wiederaufbereitungsanlagen im eigenen Land zu entwickeln
b) Begrenzter Export Dieser Modus, bisher entschieden von den USA vertreten, lehnt die Ausfuhr sensitiver Technologien strikt ab. Alle Exportgüter werden unter safeguards gestellt; kein Konsens besteht jedoch darüber, ob die Empfängerstaaten Unterzeichner des Nichtverbreitungsvertrages sein müssen und ob zusätzlich zu der gelieferten Technologie alle Einrichtungen der nuklearen Energieproduktion internationalen Sicherheitsvorkehrungen zu unterstellen sind.
c) Exportstopp Befürworter dieser Option, die teilweise grundsätzlich für ein Ausfuhrverbot plädieren, teilweise für einen vorübergehenden und in Ausnahmefällen legitimen Exportstopp eintreten betonen den engen Zusammenhang zwischen der Expansion von Kernkraft und der Proliferation nuklearer Waffen und weisen darüber hinaus auf die ungelösten Fragen von Reaktorsicherheit und atomarer Mülldeponie hin.
Auch wenn man keinen dieser drei Wege als vollständig befriedigend bezeichnen kann, so läßt sich doch eine deutliche Rangskala aufstellen und begründen. Gegen Exportmodus a)
ist einzuwenden, daß er sensitive Technologien umfaßt, die auf absehbare Zeit unwirtschaftlich sowie technisch unausgereift und wegen der wenig gesicherten Kenntnisse über die globalen Uranvorkommen verfrüht sind.
Der Optimismus hinsichtlich der Einflußnahme des Lieferstaates ist unbegründet, da das Empfängerland spätestens nach Errichtung der Anlagen gegen Sanktionen des Lieferanten immun sein dürfte. Außerdem kann auch der Rezipient Druckmittel gegenüber dem Exporteur anwenden, wenn er z. B. (wie Brasilien)
über Uranvorkommen verfügt. Auf die begrenzte Effektivität von safeguards, vor al-lem unter der Perspektive einer permanent anwachsenden Kernkrafttechnologie und Plutoniumwirtschaft, ist bereits mehrere Male hingewiesen worden. Nahezu unmöglich dürfte es sein, Auswahlkriterien für potentielle Rezipienten zu finden, wenn man, wie z. B.
Greenwood, bei grundsätzlicher Bereitschaft zum Export von Wiederaufbereitungsanlagen folgende Länder ausschließen möchte: Staaten, die sich verdächtig machen, Unterstützung in einem Waffenprogramm bekommen zu wollen und Zweifel aufkommen lassen, ob sie die Zusage, kein Plutonium für militärische Zwecke abzuzweigen, einhalten werden, bzw. Staaten, deren System so labil ist, daß die Nachfolgeregierung vorher getroffene Abkommen mit großer Wahrscheinlichkeit brechen wird
Eine verhältnismäßig größere Chance, Proliferation zu verhindern oder zumindest einzudämmen, scheint Exportmodus b) zu bieten.
Voraussetzung ist jedoch, daß der Exporteur die Lieferung von Brennstoff langfristig garantiert 7, die abgebrannten Uranstäbe übernimmt und auf das Empfängerland Einfluß dann auszuüben vermag (z. B. durch Androhung eines Exportstopps von angereicher-tem Uran), wenn es Absichten äußert, Kernenergie für militärische Zwecke zu verwenden.
Derartige Sanktionen können bis auf absehbare Zeit unter den westlichen Exporteuren jedoch nur die USA als Hauptproduzent von angereichertem Uran wirksam ausüben. Was die Rücknahme des abgebrannten Urans anbelangt, haben sowohl die Vereinigten Staaten als auch die Bundesrepublik negativ reagiert:
Präsident Carter, der in seiner Erklärung vom 7. April 1977 betont hatte, daß seine Regierung nach einer „Vielzahl von internationalen und amerikanischen Maßnahmen (sucht), um den Zugang zur (. . .) atomaren Mülldeponie für Länder zu sichern, die gemeinsame Nonproliferationsziele teilen", erklärte auf dem Londoner Gipfel im Mai, daß die USA nicht bereit seien, ausländischen radioaktiven Abfall zu lagern
Die Voraussetzung für die Wirksamkeit von Option c), der rigidesten der drei Exportmodi, ist nicht nur eine Einigung der Lieferstaaten auf einen gemeinsamen Ausfuhrstopp, sondern auch auf eine drastische Drosselung ihres Nuklearprogramms, einschließlich des Verzichts auf die Kommerzialisierung des Schnellen Brüters und von Wiederaufbereitungsanlagen; nur so würden sie den Entwicklungsländern keinen Grund für Opposition und verstärkte Eigenproduktion liefern. Die Bedingungen hierfür sind: Verstärkter Ausbau alternativer Energieträger zur Kernkraft und Änderung der export-und entwicklungspolitischen Leitsätze in dem Sinne, daß die Industriestaaten das Schwergewicht auf die Förderung von nicht-nuklearen Energiequellen in den Ländern der Dritten Welt legen sollten.
Die zuletzt genannten Maßnahmen erscheinen schon allein deswegen erforderlich, weil einige offizielle Prognosen die Bedeutung der Kern-kraft in vielen unterentwickelten Staaten überschätzen. Zu berücksichtigen ist hingegen, daß die nicht arbeitsintensiven Energietechnologien Investitionen verlangen, die die meisten Länder der Dritten Welt nicht aufbringen können. Auch ein beschränktes Kernkraftprogramm wird daher in sehr vielen Fällen die wirtschaftlichen Probleme der Rezipienten verschärfen und ihre Abhängigkeit gegenüber den Exporteuren der Ersten Welt verstärken. Darüber hinaus setzt die sinnvolle Inbetriebnahme eines einzigen Reaktors bereits ein Stromverteilungsnetz von 20 000 MW voraus. Die meisten Staaten, die als potentieller Reaktormarkt gelten, erfüllen diese Voraussetzungen nicht;
der „Barber-Report" schätzt, daß bis 1980 nur fünf, bis 1990 13 und bis zum Jahre 2000 20 unterentwickelte Länder möglicherweise in der Lage sind, Strom durch Kernkraftwerke von mehr als 600 MW zu erzeugen. Die Exporteure werden allerdings aus ökonomischen Gründen keine Reaktoren liefern, die eine geringere Kapazität als 600 MW besitzen; nur diese Größenordnung ist für die meisten unterentwickelten Länder jedoch attraktiv.
Grundsätzlich kann man sagen, daß nur eine Nuklearindustrie geringen Umfangs, die nicht unter Exportzwang steht, gewährleistet, daß für alternative Energietechnologien genügend Anreize und Spielräume geschaffen werden und in den Entwicklungsländern der Energiebedarf nicht künstlich stimuliert wird Nur Exporteure mit geringer Produktionskapazität werden gegen die Gefahr gefeit sein, unter verschärften Konkurrenzbedingungen Konzessionen im Hinblick auf safeguards zu machen und die Sicherheitsvorschriften für Reaktoren herabzusetzen
Unter diesen Umständen sollte der Export nicht-sensitiver Technologien an Länder mit nicht-nuklearen Ambitionen (soweit dies erkennbar ist) nur dann erfolgen, wenn der Empfänger über keine Energiequellen verfügt oder wenn Alternativen vorhanden sind, die nicht im vergleichbaren Zeitraum und nur mit einem erheblichen finanziellen Mehraufwand genutzt werden können. In Verbindung mit den erwähnten politischen Maßnahmen könnte eine solche Anti-Proliferationsstrategie, die zusätzlich auch den ungelösten Fragen der Reaktorsicherheit und der Mülldeponie am ehesten gerecht wird, die erfolgversprechendste Option sein 1.
V. Plädoyer für ein nukleares Moratorium der Bundesrepublik Fünf Thesen
Die vorangegangenen Ausführungen, die zu zeigen versuchten, daß — die Problembereiche Reaktorsicherheit und Atommülldeponie nicht zufriedenstellend bzw. noch gar nicht gelöst worden sind, — mit der Möglichkeit, hochtoxisches Plutonium zu stehlen, zusätzliche Gefahren für die Gesellschaft und ihre demokratischen Grundrechte verbunden sind, — und daß das Atom nicht in eine zivile und militärische Komponente gespalten werden kann, legen die Schlußfolgerungen nahe, — den weiteren Ausbau der Kernenergie für die nächsten Jahre zu stoppen, — die Entwicklung von Wiederaufbereitungsanlagen und Schnellen Brütern im kommerziellen Rahmen auf unbestimmte Zeit zu verschieben und — den Export bei grundsätzlichem Verzicht auf die Ausfuhr sensitiver Technologien drastisch einzuschränken.
1. Die zukünftige Energieversorgung der Bundesrepublik kann trotz eines nuklearen Baustopps gesichert werden, ohne daß es zu einer sog. Energielücke kommt Geht man von der Prognose der Bundesregierung aus, so ist bei einem allgemeinen Wirtschaftswachstum von jährlich 4, 0 Prozent bis 1985 eine Zunahme des Primärenergieverbrauchs von 4, 6 Prozent pro Jahr im gleichen Zeitraum zu erwarten (absoluter Zuwachs: von 347, 7 Mio. t Steinkohleeinheiten [SKE] auf 496 Mio. t SKE); die Schätzungen für die Zeitspanne 1985 bis 1990 belaufen sich auf ein allgemeines Wachstum von durchschnittlich 3, 5 Prozent und eine Zunahme des Energie-verbrauchs auf 2, 1 Prozent pro Jahr. Der Anteil der Kernkraft von 13 Prozent am gesamten Primärenergieverbrauch (entsprechend 62 Mio. t SKE) wird für 1985 eine Kapazität von 30 000 MW erforderlich machen; für 1990 ist eine Kernkraftkapazität von 47 000 MW (etwa 50 Kernkraftwerke) vorgesehen
Diese Schätzungen, die von einem derart hohen Wachstum ausgehen, lassen keinen Spielraum für eine Reduzierung der Kernenergie. Das unabhängige Wissenschaftlerteam unter Leitung von Eduard Pestel hat hingegen folgende Berechnungen erstellt: Aufgrund eines geringeren Wirtschaftswachstums, das durch eine stärkere Zunahme weniger energieintensiver Bereiche bedingt wird, gehen die Wissenschaftler von einem weitaus geringeren Energiebedarf aus und halten im Jahre 1985 eine Kernkraftkapazität von nur 21 000 MW für erforderlich. „Von da an würde bei Fortsetzung des Verbrauchstrends ein erheblicher Ausbau von Kohlekraftwerken stattfinden müssen, um die weiter steigende Grundlast an Strom übernehmen zu können, und zwar derart, daß im Jahre 2000 jährlich fünfzig bis sechzig Mio. Tonnen SKE über die gegenwärtige Förderung von etwa 90 Mio. Tonnen Steinkohle hinaus in Kohlekraftwerken eingesetzt werden müßte(n), um den Energiebedarf zu decken."
Ein Verzicht auf den weiteren Ausbau der Kernkraftwerke über 20 000 MW hinaus würde ohne hohe Kohleimporte bis zur Jahrtausendwende nur möglich sein, „sofern die Tendenz des wachsenden Einsatzes von elektrischem Strom für die Erzeugung von Niedrigwärme, insbesondere in den privaten Haushalten, beendet wird. Dieses dürfte bei immer rationellerem Verbrauch aller Energieformen auch ohne Erhöhung des Verbrauchs fossiler Brennstoffe wie Erdöl und Erdgas zu schaffen sein. ” Für die Zeit nach dem Jahre 2000 müßte den Wissenschaftlern zufolge der Energiebedarf der Bundesrepublik Deutschland durch Kohleimporte von weit über 300 Mio. t jährlich gedeckt werden.
Wenn es also möglich ist, den Energiebedarf der Bundesrepublik bis zum Jahre 2000 größ-tenteils durch verstärkte Kohleproduktion (das „Kleinere Übel") zu decken, warum sollte es dann unüberwindbare Schwierigkeiten bereiten, die Kernkraftkapazität von 20 000 MW teilweise oder ganz durch ein Äquivalent von maximal 40 Mio. t Steinkohle zu ersetzen und/oder durch gezielte Maßnahmen einzusparen? Einheimische Steinkohle ist ausreichend vorhanden; ihr Abbau ist primär eine Frage rechtzeitiger Investitionen und wirtschaftlicher Attraktivität, die durch politische Maßnahmen gefördert werden kann und muß. Unter dieser Voraussetzung werden sich viel zitierte Parolen wie „ 1985 gehen bei uns viele Lichter aus" und „Strom auf Bezugsschein" nicht bewahrheiten.
2. Die Energiesicherheit der Bundesrepublik ist weder aufgrund der globalen Energiesituation noch aufgrund der Importabhängigkeit von ausländischen Lieferanten während eines nuklearen Moratoriums zusätzlich gefährdet
Daß die Olproduktion in den traditionellen Lieferstaaten Ende dieses Jahrhunderts erschöpft sein wird, heißt nicht, daß nicht andere Vorkommen erschlossen und Verfahren entwickelt werden können, um O 1 aus Sanden und Schelfen zu gewinnen. Wie die in Kap. II dargestellte Strategie amerikanischer Olkonzerne demonstriert, ist die Suche nach neuen Reserven abhängig von der Profitabilität der Erforschungen, die durch Investments, starken Bedarf oder eine restriktive Energiepolitik stimuliert und durch die Entwicklung entsprechender Technologien ermöglicht werden können.
Wie für die meisten europäischen Staaten gilt auch für die Bundesrepublik: Die Abhängigkeit von ausländischen Olimporten ist ohnehin nicht zu reduzieren; neben verstärkten Kohleimporten ist auch eine erhöhte Einfuhrquote an Erdgas von den wichtigsten Erdölexporteuren zu erwarten
Langfristig werden als mögliche Lieferstaaten von Energie aus Ol-und Teersanden sowie aus Olschelfen vornehmlich die USA und Kanada in Frage kommen. Ob diese Länder eine Kartellpolitik betreiben werden, die der der OPEC ähnlich ist, oder neben der Deckung ihres Eigenbedarfs in großem Umfang zum Export bereit sind, bleibt abzuwarten. Hier von vornherein vom schlimmsten Fall auszugehen, wäre zu pessimistisch und unangemessen. So ist z. B. nicht auszuschließen, daß innenpolitische Widerstände gegen eine extensive Ausfuhr (z. B. aus Gründen des Umweltschutzes) dem Wunsch nach einer Verbesserung der Zahlungsbilanz oder außenpolitischen Zielsetzungen untergeordnet werden.
Kernkraft wird das Problem der Abhängigkeit auf lange Sicht auch nicht lösen. Uranvorkommen, deren Ausmaß in einigen Ländern noch nicht hinreichend erforscht ist, konzentrieren sich vor allem auf die USA, die UdSSR, Australien, Südafrika und Argentinien, die in den nächsten Jahren auch die größte Produktionskapazität besitzen werden. Obwohl die nukleare Option die Importbasis von Energie erweitert, ist auch in diesem Bereich eine Kartellpolitik nicht auszuschließen. Ob es zu Lieferstopps und zum Bruch von Verträgen kommt, bleibt abzuwarten; die australische Labor-Partei hat bereits angekündigt, daß sie bei einer künftigen Regierungsübernahme den Exportbeschluß rückgängig machen würde Auch vom Import angereicherten Urans wird die Bundesrepublik mittelfristig abhängig bleiben; geplant ist, daß die Hauptlieferanten USA und UdSSR 1981 33, 4 Prozent bzw. 29, 6 Prozent exportieren, während sich der Anteil der europäischen Konsortien Eurodif und Urenco auf 7, 4 Prozent bzw. 29, 6 Prozent belaufen soll Eine Erweiterung dieser Bezugsbasis ist auf absehbare Zeit kaum möglich
Die Bundesrepublik sollte ein Moratorium dazu nutzen, die Erforschung alternativer fossiler Energieträger sowie die Entwicklung umweltschonender Technologien anzuregen, die Importbasis von nicht-nuklearen Energieträgern durch bilaterale und internationale Abkommen zu erweitern und schließlich im internationalen Rahmen die Entwicklung alternativer Technologien für Solar-und Fusionsenergie voranzutreiben, um langfristig Energieimporte zu sichern und zu reduzieren.
3. Ein nukleares Moratorium schließt ein, daß Kernkraft allenfalls eine Lückenbüßerrolle einnimmt und der Schwerpunkt von Forschung und Entwicklung auf dem Ausbau alternativer Technologien liegt Um die Risiken der Nuklearenergie so gering wie möglich zu halten, sollte ein Minimalprogramm vor allem zu Forschungszwecken (z. B. Verbesserung des Reaktordesigns) weiter betrieben werden. Der Bau von Wiederaufbereitungsanlagen sollte auf unbestimmte Zeit verschoben und die Entwicklung des Schnellen Brüters in Kalkar sofort gestoppt werden; wenn überhaupt, sollte sich die Bundesrepublik hier eine forschungspolitische Option im kleinstmöglichen Rahmen offenhalten. Hierfür sprechen vor allem die mit einer Plutoniumwirtschaft verbundenen Gefahren und die horrenden Kosten der sensitiven Technologien Vor allem ist ihre Entwicklung mit der Absicht kommerzieller Nutzung auch aus Sicherheitsgründen verfrüht. Experten haben darauf hingewiesen, daß „zur Überprüfung der Berechnungen und zur Ausführung zusätzlicher Experimente (. . .) mehrjährige Untersuchungen erforderlich (seien), bevor der SNR in Kalkar weitergebaut werden könne" Eine weitere Gefahr ist, daß die Entwicklung von Wiederaufbereitungsanlagen und Brutreaktoren eine Eigendynamik entfaltet, die die Möglichkeit erschwert, das Nuklearprogramm drastisch einzuschränken, wenn dies aus akuten Anlässen notwendig erscheint. — Energieautonomie, die um diesen Preis erkauft wird, ist trügerisch. Auch wenn man die nukleare Option in größerem Ausmaß für wichtig hielte, wäre dies kein Grund für Wiederaufbereitung und Brüter, bevor keine gesicherten Ergebnisse über Uranvorkommen vorliegen. Sollten sich allein die Reserven der USA, dem wahrscheinlich auch in Zukunft wichtigsten Lieferanten, tatsächlich auf 3, 7 Mio. oder gar auf 6, 3 bis 7, 3 Mio. belaufen, würden Wiederaufbereitung und Schnelle Brüter, die die Ausnutzung von Uran um das 20-bis 30fache bzw. um das 60fache erhöhen, erst zu einem späteren Zeitpunkt als von der Bundesregierung geplant, notwendig sein.
Die Entwicklung dieser Technologien läßt keinen Spielraum für Alternativen. Die Entscheidung für ein Moratorium würde eine Umverteilung des Forschungshaushalts für den Energiebereich zur Folge haben, indem ein großer Prozentsatz des bisherigen Löwenanteils für Kernkraft auf die Entwicklung alternativer Energieträger wie Fusionsund Solarenergie übertragen werden könnte. — Erst aufgrund dieser Voraussetzungen werden, wie in Kapitel IV bereits ausgeführt, Situationen vermieden, die die Nuklearindustrie dazu zwingen, Kerntechnologie als Exportschlager zu verkaufen.
4. Es muß sofort damit begonnen werden, den Zusammenhang zwischen Energie-und Wirtschaftswachstum sowie Vollbeschäftigung durch unabhängige Wissenschaftler untersuchen zu lassen Die Frage, in welchem Ausmaß Energie für ein allgemeines Wirtschaftswachstum notwendig ist und zur Vollbeschäftigung bei-trägt, ist genauso ungeklärt wie der Umfang der Arbeitslosigkeit in der Nuklear-und Zuliefererindustrie aufgrund eines Moratoriums Angesichts der Gefahr steigender Arbeitslosigkeit müssen beschäftigungspolitische Probleme sehr ernst genommen werden. Sie sind abzuwägen gegen die aufgezeigten Gefahren, die mit einem verstärkten Ausbau von Kernkraft verbunden sind. Mittel-und langfristig ist es dabei sicherlich nicht angemessen, wirtschaftliche gegen technische und ökologische Sicherheit auszuspielen.
Es ist daher unbedingt erforderlich, daß beschäftigungspolitische Überlegungen mit berücksichtigen, inwieweit neue Arbeitsplätze durch die Erhöhung der Kohleproduktion, die Entwicklung alternativer Energieträger und ein differenziertes Energiesparprogramm geschaffen werden können. So hat allein Kohle Vorteile gegenüber der Nuklearenergie: Einem Gutachten des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung zufolge führen die Investitionen für ein Kern-oder Kohlekraftwerk während einer Bauzeit von vier Jahren zu einer Beschäftigung von jeweils knapp 10 000 Erwerbstätigen. Zusätzlich sind jedoch mit dem Betrieb eines 1, 4-Gigawatt-Stein-kohlekraftwerks jährlich 10 000 weitere Arbeitsplätze aufgrund der Gewinnung und Verarbeitung der Kohle verbunden; diese Anzahl ist bei der Produktion von Kernenergie wesentlich geringer, da Uranerz eingeführt werden muß.
Es wird sicherlich notwendig sein, daß der Staat vorübergehend in den Bereichen Maßnahmen ergreift, in denen sich durch einen nuklearen Baustopp beschäftigungspolitische Engpässe und wirtschaftliche Schwierigkeiten ergeben. Die finanziellen Belastungen, die hierdurch entstehen, sind tragbar, wenn man bedenkt, daß sie den Vorrang technischer und ökologischer Sicherheit gewährleisten. 5. Ein Moratorium ist eine wesentliche Voraussetzung für notwendige Grundsatzdiskussionen über das Ausmaß des Wirtschafts-und Energiewachstums; damit ist gleichzeitig die Frage nach der Rangskala gesellschaftlicher Werte gestellt Die Auseinandersetzungen um die Kernenergie sind zum Auslöser für eine weiterreichende Kritik geworden, die den Wert unkontrollierten Wachstums anzweifelt. Die Forderung nach „qualifiziertem Wachstum" ist nicht zu trennen von der Überzeugung, daß ein permanentes Wachstum für die Sicherheit von Mensch und Umwelt konterproduktiv ist und daß höherer Lebensstandard nicht mehr automatisch eine Verbesserung der Lebensbedingungen bedeutet.
Ein nukleares Moratorium stellt für die Regierung eine Gelegenheit dar, sowohl wirksame Energiesparmaßnahmen als auch eine effizientere Ausnutzung von Energie durchzusetzen. Hierzu ist zum einen eine Umverteilung des Forschungshaushalts erforderlich, der für die Entwicklung entsprechender Technologien mehr Mittel zur Verfügung stellen müßte zum anderen ist es die Aufgabe der Bundesregierung, es nicht bei einer bloßen Kundenberatung für den sparsameren Gebrauch von Energie zu belassen, sondern durch finanzielle Maßnahmen Anreize für die Verwendung energiesparender Vorrichtungen und Technologien zu schaffen Die Regierung sollte auch nicht davor zurückschrekken, durch eine restriktive Energiepolitik Bewußtsein und Konsumverhalten zu ändern __________ und selbst aktiv dazu beitragen, daß Einsparungsstrategien die Assoziation des „Zurück auf die Bärenfelle" endlich verlieren. Sollen Sparmaßnahmen zu einer Energiepolitik ausgebaut werden, so müssen bisher tabuisierte Diskussionen über Änderungen des Lebensstils (z. B. gemeinsame Autobenutzung, Abbau des Individualverkehrs) geführt werden. Die hiermit verbundenen Einschränkungen individueller Freiheit sollte man mit viel einschneidenderen und umfassenderen negativen Auswirkungen vergleichen, die sich aus der Über-belastung der Umwelt und den vielfältigen Risiken für die Gesellschaft durch den Bau von Kernkraftwerken und Wiederaufbereitungsanlagen ergeben.