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Schulstreß -Krankheit der Schule oder Krankheit der Gesellschaft? | APuZ 52/1977 | bpb.de

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APuZ 52/1977 Artikel 1 Rahmensteuerung der Bevölkerungsbewegung als gesellschaftspolitische Aufgabe Schulstreß -Krankheit der Schule oder Krankheit der Gesellschaft?

Schulstreß -Krankheit der Schule oder Krankheit der Gesellschaft?

Hartmut und Thilo Castner

/ 42 Minuten zu lesen

Zusammenfassung

Die Autoren gehen bei ihrer Untersuchung über den Schulstreß nicht nur von allgemeinen bildungspolitischen Problemen aus, sondern verdeutlichen nachhaltig, daß Streß eine biologisch-medizinische Erscheinung ist, der Schüler und Lehrer ausgesetzt sind und die auf lange Sicht schwerwiegende körperliche Schädigungen nach sich zieht. In Anlehnung an die Ergebnisse der Streßforschung erläutern sie ausführlich den Streßmechanismus und übertragen ihn konkret auf die Schulwirklichkeit. Das gegenwärtige Schulsystem weist eine Vielzahl von Stressoren auf, die zu nachhaltigen körperlichen und seelischen Belastungen führen; permanente Leistungsüberforderung, einseitige Unterrichtsmethoden, stundenlanges Stillsitzen, ständige Prüfungssituation. Schwer oder leicht gestörte Kinder sind das Ergebnis, ebenso verunsicherte Eltern und resignierende oder hilfslose Lehrer. Somit kommt es bei Leistungsdruck, Prüfungsangst, falscher Schülerbehandlung oder überzogenem Elternehrgeiz zu Hormon-reaktionen, die zu Dauerschäden führen, da der Streßmechanismus nicht umgangen werden kann. Weil Möglichkeiten der Entspannung in Form von musischer Betätigung oder spontanen Handlungen weitgehend fehlen, schlagen sich Streßschäden in der Schule zunehmend als Lernund Konzentrationsschäden oder als aggressive Handlungen nieder. Aber es wäre verfehlt, den Schulstreß nur durch innerschulische Maßnahmen (Erarbeitung schülergerechter Unterrichtsmethoden, Überprüfung der Stoffpläne, Veränderung der Leistungskontrollen, Einführung sozialintegrativer Aktivitäten) angehen zu wollen. Denn zusätzlich spiegeln sich in der Schule gesellschaftliche Probleme: Überbetonung des Leistungs- und Konkurrenzprinzips, zu Passivität verleitende Konsumgewohnheiten, nerven-schwächende Lärmreize. Darum plädieren die Autoren dafür, Maßnahmen gegen den Schulstreß zu verbinden mit einem Umdenken innerhalb der Kategorien Leistung, Produktion und Konsum.

Die Bildungsreform, Ende der sechziger Jahre mit großem Elan begonnen, stagniert oder wird gar grundsätzlich in Frage gestellt. Im Denken nicht nur der meisten Spitzenpolitiker, sondern auch der Durchschnittsbürger rangieren Kategorien wie Bildung, Ausbildung, Wohl der Kinder oder politisches Bewußtsein der Jugend mit Abstand hinter Wertvorstellungen wie Wirtschaftswachstum, Konsumniveau und Investitionsneigung der Unternehmer. So verständlich das Zurücktreten schulpolitischer Fragen in Zeiten der Rezession auch sein mag, entschuldbar ist die Vernachlässigung der Bildungspolitik nicht; nicht ohne Zufall werden gerade jetzt unter dem Schlagwort „Schulstreß" Entwicklungen im Schulund Erziehungsbereich deutlich, die seit geraumer Zeit zu erheblichen Sorgen Anlaß geben.

I. Streßphänomene im Schulbereich

Der Streßmechanismus I. II. III. IV. INHALT Streßphänomene im Schulbereich Schülerstreß Elternstreß Lehrerstreß i Ursachen des Stresses im Schulbereich Qualität und Quantität des Lernstoffes Lehrmethodik Prüfungen und Zensuren Konkurrenz Ursachen des Stresses im Gesellschaftsbereich Lärm Umweltzerstörung Leistungs-und Konsumzwänge Überlegungen zum Streßabbau Streßabbau in der Schule Streßabbau in der Gesellschaft

Der Streßmechanismus Bezeichnenderweise ist die Einschätzung der Streßerscheinungen derzeitig außerordentlich unterschiedlich und in ihrer Bedeutung umstritten: Während die Erzieher „alter Schule" eher dazu neigen, das Thema herunterzuspielen und gestreßte Schüler, Eltern und Lehrer als Erfindung „linker" Schulpolitiker abzutun, glauben die gegenwärtige Situation kritisch beurteilende Pädagogen ein stetiges Anwachsen von Schulverdrossenheit und -versagen registrieren zu müssen, bedingt vor allem durch Numerus clausus und Jugendarbeitslosigkeit. Frederic Vester hat kürzlich sehr genaue Erklärungen und Ergebnisse vorgestellt, die deutlich machen, was Streß eigentlich ist. Zum richtigen Verständnis des Gesamtzusammenhangs sind folgende Punkte wichtig:

— Streß ist ein biologischer Regulations-Mechanismus im Körper des Menschen, der seit Jahrtausenden genetisch vererbt ist und durch bestimmte Reize oder Signale quasi automatisch ausgelöst wird.

— Dieser Streß-Mechanismus war ursprünglich für den Menschen ein notwendiges und lebenserhaltendes Prinzip, um in einer bedrohlichen und gefährlichen Umwelt überleben zu können.

— Streß ist eine körperliche Reaktion, die in verschiedenen Organen des Menschen Nachwirkungen hinterläßt.

Am fiktiven Beispiel eines vorzeitlichen „Wilden" hat Vester veranschaulicht, wie Streß funktioniert Ein Jäger der Steinzeit liegt am Lagerfeuer und ruht sich aus-, plötz-lieh hört er hinter sich ein bedrohlich klingendes Geräusch. Ohne zu denken, dem Instinkt gehorchend, springt er auf, greift seinen Speer und läuft in den Busch; entweder um der Gefahr zu entfliehen oder sich ihr aggressiv zu stellen.

Im Körper dieses „Wilden" läuft dabei folgender Prozeß ab, der den eigentlichen Streß-Mechanismus ausmacht:

— der Wahrnehmungs-Impuls (Geräusch) führt zu Angst und Erregung:

— die Nebenniere produziert Adrenalin (Aggressionshormon) und Noradrenalin (Flucht-hormon) ;

— diese Hormone führen zü Bluthochdruck und stimulieren den Kreislauf;

— diese körperlichen Veränderungen ermöglichen die Mobilisierung von Zucker-und Fettreserven;

— der Organismus kommt in eine Art Hoch-leistungsbereitschaft; — die Hirnanhangdrüse unterstützt dies durch den Abruf von Hydrocortison in der Nebenniere;

— das Hydrocortison schaltet für begrenzte Zeit die Verdauungsund sexuellen Vorgänge aus;

— Muskeln und Gewebe erhalten mehr Sauerstoff; — durch erhöhten Kohlendioxydausstoß werden die Zellen mit roten Blutkörperchen überschwemmt; .

— der Mensch befindet sich auf dem Höhepunkt der körperlichen Leistungsfähigkeit.

Unser steinzeitlicher Jäger wird durch das Erreichen dieser körperlichen Leistungsfähigkeit in die Lage versetzt, durch Flucht oder Angriff das bedrohliche Geräusch instinktiv zu meistern. In mehreren Beispielen führt Vester aus, wie wichtig und lebenserhaltend dieser reibungslos funktionierende Streß-Mechanismus früher war und partiell noch heute ist, z. B. bei unvorhergesehenen Verkehrssituationen mit der oft folgenden blitzschnellen lebensrettenden Reaktion (Sprung vom Zebra-streifen auf den Bürgersteig), die nur über den Streß-Mechanismus leistbar ist.

Als fundamentale Erkenntnis muß dabei beachtet werden: Die hormonalen und biochemischen Reaktionen im menschlichen Körper bedürfen anschließend einer körperlich-motorischen Aktivität bzw. eines Ausgleichs, um die mobilisierten Energien biologisch sinnvoll, d. h. gesund, zu verarbeiten, wie das der „Wilde" durch sein Davoneilen in den Busch tut.

In unserer Zeit verschärfen sich die Streßreaktionen ünd -folgen, weil in unserer immer künstlicher werdenden Umwelt die früher das überleben voraussetzende körperliche Betätigung fehlt. Durch zwei strukturelle Veränderungen der letzten hundert Jahre ist in den Industriegesellschaften der ursprünglich lebenserhaltende positive Streß in sein Gegenteil verkehrt worden: in den Dauerstreß und die permanente Zunahme der Streßfaktoren (Stressoren).

Normalerweise gliedert sich die Streßreaktion in drei Phasen: die Vorphase (Warten auf das bedrohliche Signal bzw. Auslösung des Signals), die Alarm-oder Hauptphase (Bereitstellen der benötigten Energien zur Verarbeitung des Gefahrenherdes), die Erho-Jungsphase (Abreagieren durch körperliche Bewegung, Abklingen der Erregung und Ausruhen nach Beseitigung der Streßursache). Im Gegensatz zu früheren Gesellschaftsformen, in denen der Mensch auf Gefahren natürlich reagieren konnte und durch Flucht oder aggressive Jagd seinen Körper entstreßte und biologisch wieder ins Gleichgewicht brachte, erlebt der heutige Mensch täglich vielfältige und einander überlagernde Streßauslöser. Die Anhäufung von Stressoren aber verhindert die notwendigen Erholungsphasen, und die mangelnde körperliche Entspannung bewirkt im Organismus Überanstrengung bzw. biologischen Verschleiß und Verfall.

Unter der Vielzahl von streßauslösenden Reizen können wir zwei grundlegende Arten unterscheiden: äußere oder umweltbedingte (Verkehrslärm, Reizüberflutung, beengtes Wohnen, giftige Substanzen in der Luft oder in der Nahrung) und innere oder psychische (Konflikte in Ehe und Familie, Angst vor Vorgesetzten, Berufsehrgeiz, Rivalitätsgefühle). Generell lösen äußere wie innere Stressoren die gleichen körperlichen Reaktionen aus und bewirken in ihrer permanenten Anhäufung den schon genannten Dauerstreß, der gleichbedeutend ist mit einer biologischen Frustration, weil der gestreßte Körper der aufgestauten und aufgebauten Energien nicht in Bewegung oder Aktivitäten umsetzen kann.

Ein Schüler z. B., der mehrfach am Vormittag Angstsituationen (er kann die Lehrerfrage nicht beantworten), Bedrohungen (bei einer weiteren schlechten Note erreicht er das Klassenziel nicht) oder Erregungen (der Lehrer gibt zu erkennen, daß er von dem Schüler nichts hält) erlebt, muß dennoch passiv, körpergehemmt, still sitzend verharren, obwohl sein Körperinneres hormonal ganz andere Verhaltensweisen nahelegt, nämlich entweder das Klassenzimmer zu verlassen (Flucht-reaktion) oder sich seinerseits dem Lehrer gegenüber heftig zur Wehr zu setzen (Aggression). Für den an seinen Platz fixierten Schüler bedeutet die körperliche Fesselung eine biologische Qual, denn der Organismus muß sich entgegen seiner biologischen Funktion verhalten, indem die angestauten Energien nicht zur Entfaltung zugelassen sind, allenfalls in der Pause oder im Turnunterricht.

Vester belegt durch eine Fülle beklemmender Beispiele, welche körperlichen Folgen Dauerstreß sowie fehlendes körperliches Agieren nach sich ziehen: Die stimulierten Fettsäuren wandeln sich nach einer gewissen Zeit bei Nicht-Abrufung in Cholesterin um, das seinerseits Arteriosklerose begünstigt, oder der ständig erregte Hormonhaushalt bringt den Kreislauf und die Herzregion ins Ungleichgewicht (Zunahme von Infarkten und Gefäßerkrankungen), oder die dauernde Aufput-schung durch psychische Affekte und Konflikte führt zu erhöhter Säureproduktion des Magens (Magenerkrankungen und Verkrampfungen im Darm), oder die zu häufig ausgelöste Hydrocortison-Produktion führt zu einer sexuellen Reduktion bis hin zur Impotenz, oder die durch Streß überbeanspruchte Immunabwehr des Körpers leistet der Ausbreitung von Krebs Vorschub.

Damit stellt nach Vester der Dauerstreß mit seinen körperlichen Auswirkungen die Hauptursache vieler Zivilisationskrankheiten. Die Tatsache, daß im Jahr 1975 23 Millionen Arbeitnehmer in der Bundesrepublik 450 Millionen Betriebskrankentage in Anspruch nehmen mußten und daß im gleichen Jahr 360 Millionen Dosen Valium verordnet wurden, spricht eine deutliche Sprache, welche Folgen es hat, wenn biologisches System und gesellschaftliche Umwelt in ein Ungleichgewicht geraten

Schülerstreß Da die Verfasser selbst Lehrer sind, haben sie in ihren Gesprächen mit Schülern zu ermitteln versucht, inwieweit diese sich gestreßt fühlen. Bis auf eine Ausnahme gaben alle Jungen und Mädchen an, unter dem Schulstreß zu leiden. Unterschiede lagen lediglich im Ausmaß der Erschöpfung und Unlust, der Konzentrationsstörungen und körperlichen Beschwerden. Und so beschrieben die Jugendlichen ihre Streßsymptome:

„Ich stehe sehr, sehr oft unter Streß. Dieser entsteht fast immer durch schulische Probleme, denn durch das viele Lernen bekomme ich oft einen schweren Kopf. Meine Mutter sagt dann immer, ich sollte noch mehr lernen, und ich werde wahnsinnig."

„Streß ist bei mir schon lange nichts Neues mehr. Seit ich diese Schule besuche, habe ich oft Kopfschmerzen, kann vor Schulaufgaben nicht schlafen, habe lang nicht mehr die Freizeit, die ich früher einmal hatte. Auch von den Eltern wird man mehr unterdrückt zu lernen, und wenn man einmal wohin geht, wird einem die ganze Freude dadurch verdorben, weil man immer an die Schule denken muß."

„Bei mir äußert es sich so, daß ich öfters unter Kopfschmerzen leide, daß ich jeden Tag — trotz vielen Lernens — Angst habe, den Faden zu verlieren, daß ich mich zwingen muß, mich zu konzentrieren, was früher nicht der Fall war; daß ich labiler werde, d. h. ich bringe nicht mehr die innere Kraft auf, das zu tun, was ich mir vorgenommen habe. Außerdem stehe ich unter einem solchen Leistungsdruck, daß ich mich manchmal im Unterricht durch teilweise aggressives Verhalten davon zu befreien suche.“

. Oft komme ich mit Kopfschmerzen und Schwindelgefühlen nach Hause. Wenn ich dann noch mehrere Stunden hintereinander für Schulaufgaben lernen muß, hören die Kopfschmerzen gar nicht mehr auf.“

Es wäre falsch, diese Aussagen als repräsentativ zu bewerten, denn sie stammen aus nur einer Klasse einer Wirtschaftsschule Eine Gegenüberstellung der hier angeführten Schüleraussagen mit Untersuchungen der letzten Jahre ergibt allerdings, daß unsere Schüler in naiver und engagierter Weise das ausdrükken, was an anderer Stelle als Umfrageergebnis statistisch festgehalten wurde. Bei einer Befragung von 500 Hamburger Müttern durch das SAMPLE-Instistut im Jahre 1975 gaben diese an, welche Störungen sie bei ihren fünf-bis zwölfjährigen Kindern beobachtet hatten

Unkonzentriertheit, Abschlaffen 49 ’/o demonstrative Aggression 21 °/o Nervosität, Schlaflosigkeit 190/0 Lernstörungen 18°/o psychosomatische Störungen (Bettnässen, Stottern) 13*/o Diese Einschätzung schulpflichtiger Kinder durch ihre Mütter entspricht den Untersuchungsergebnissen von Hans-Christian Thalmann Er überprüfte sieben-bis elfjährige Schuljungen und registrierte eine fast ebenso große Anzahl schwergestörter, therapeutischer Behandlung bedürftiger Fälle wie gesunde Kinder. Seine Ergebnisse im einzelnen:

Anstaltsfälle 1, 3®/» schwer gestört (Problemkinder) 18, % mäßig gestört 29, 3% leicht gestört 28, 7•/« ohne Störungen 22, 0°/o Konkret sehen die psychischen Störungen so aus: Nägelkauen, Grimassenschneiden, moto-rische Unruhe, Seh-, Hör-und Sprechschwierigkeiten, körperliche Auffälligkeiten wie Gehstörungen oder Atembeschwerden.

Kinderarzt Lempp berichtete im „Spiegel", daß 1960 nur jedes zwölfte Kind wegen offensichtlicher Schulprobleme in seine Praxis kam, daß es 1969 bereits jedes fünfte und gegenwärtig schon jedes dritte Kind ist 7). Das Wochen-magazin erfuhr von Professor Gerd Biermann, dem Leiter des Instituts für Psychohygiene des Erft-Kreises, daß die Hälfte der Störungen bei Schulkindern, die in seinem Institut behandelt werden, in „irgendeiner Form" mit der Schule Zusammenhängen: „Wir sprechen direkt vom Schulbrechen, ja sogar vom Schulasthma. Zum Wochenende und in den Ferien sind die Kinder frei von diesen Symptomen."

Hans Conrad Zander schilderte im „STERN“ solche Fälle schulkranker Kinder, die ärztlich betreut weren: „Ein 8jähriger Junge krümmt sich vor Bauchkrämpfen. Der Arzt macht Nieren-, Darm-und Blutuntersuchungen. Er schickt den Jungen weg zum Röntgen. Er erforscht seinen Kreislauf. Tatsächlich ist da etwas nicht in Ordnung. Kreislauf-Medikamente aber nützen nichts. Dann endlich, die Tabletten scheinen gewirkt zu haben. Die Bauchkrämpfe haben aufgehört. Familie und Arzt feiern erleichtert das Weihnachtsfest. 14 Tage später ist alles schlimmer als zuvor. Ein Blick auf den Kalender: Schulbeginn."

Der behandelnde Arzt sagt dazu: „gut zwei Drittel der Kinder, die ich behandle, sind nicht im herkömmlichen Sinn organisch krank. Sie sind schulkrank . . . Um Kinder heilen zu können, brauche ich neben meiner Spezialausbildung als Kinderarzt eigentlich auch noch eine Spezialausbildung als Schul-Psychologe . . . Nach meiner Erfahrung sind es die durchschnittlichen, die normal begabten Kinder, die jetzt in der Schule so überfordert sind, daß sie krank werden."

Ob die Anzahl psychisch kranker oder gestörter Schulkinder tatsächlich auf zwei Drittel veranschlagt werden muß, gilt dabei als umstritten. Während eine pädagogische Zeitschrift diese Zahl aufgreift und davon spricht, daß zwei Drittel „aller Schulkinder" psychisch gefährdet sind schätzt Hubert Harbauer, Direktor der Klinik für Kinder-und Jugendpsychiatrie in Frankfurt, die Zahl der „psychisch auffälligen und gestörten“ Kinder auf 20— 25 Die Unterschiede erklären sich wohl so, daß einmal nur schwergestörte Kinder, die unbedingt therapeutische Behandlung brauchen, gemeint sind, aber im anderen Fall auch leichtere Störungen subsumiert werden. Einigen können sich die Experten offensichtlich in zwei Dingen: Schulversagen, Schulangst und schulisches Scheitern beschränken sich heute nicht mehr auf extrem „schwache" oder besonders sensible Kinder, sondern erfassen vor allem die durchschnittlich und normal begabten; die Schule verursacht mit ihrem derzeitigen Anspruch an die Schuljugend unmittelbar Angst und neurotische Störungen

Der alarmierende Streß, der von der Grundschule bis zur Universität reicht, drückt sich auch in den folgenden Zahlen aus, die Gerold Scholz Mitte 1976 zusammengestellt hat — 517 Kinder und Jugendliche haben binnen eines Jahres den Freitod gewählt, indem sie sich erhängten, erschossen oder vergifteten, und zwar aus Sthulangst oder wegen schlechter Zeugnisse.

— 11 Prozent der Jugendlichen zwischen 11 und 19 Jahren nehmen Drogen.

— Der Alkoholismus unter den Schülern greift um sich. Die Zahl der jugendlichen Alkoholiker in der Bundesrepublik wird auf 100 000 geschätzt (auf eine Befragung von Infratest, nach der 24 % der 13jährigen regelmäßig Bier und Wein trinken, von den 14jährigen schon 42 °/o, von den 16jährigen 50 ”/»). Nach einer Umfrage Jasinskys unter Hamburger Schülern ist jeder dritte Schüler und jede fünfte Schülerin von der 8. Klasse aufwärts mindestens einmal in zwei Monaten volltrunken

— Die Praxis vieler Eltern, ihren Kindern am Frühstückstisch Beruhigungstabletten zu geben, nimmt ständig zu. Zahllose Eltern glauben den Versprechungen der pharmazeutischen Industrie, daß nervöse Kinder durch Tranquilizer beruhigt und depressiv-apathische Schüler durch Aufputschmittel (Schnell-macher) aktiviert werden können.

— Auch Nikotin wird von Schülern in wachsendem Umfang konsumiert. 10jährige, die bis zu zehn Zigaretten und mehr am Tag rauchen, sind keine Seltenheit mehr.

— 20 Prozent der Studenten müssen während ihres Studiums psychotherapeutische Hilfe in Anspruch nehmen.

Es ist wohl nicht zu bestreiten, daß alle oben genannten Versuche, Streß abzubauen, die Inanspruchnahme des Therapeuten ausgenommen, falsch und wirkungslos sind. Nikotin, Drogen, Alkohol und Beruhigungsmittel schaffen allenfalls für kurze Zeit ein Gefühl der Entspannung, um danach verdrängten Ängsten und Streßerscheinungen um so gründlicher zum Durchbruch zu verhelfen. Dazu Frederic Vester: „Diese ganze Praxis verhindert letztlich, daß wir Stressoren aus unserer Umwelt abstellen, sie vermeiden oder auf natürliche Weise abbauen ... Wenn wir Streßreaktionen und Angstgefühle ausschalten, so schalten wir dadurch nur Warnzeichen aus, vermindern jedoch keinesfalls die Gefahr. So als wenn wir im Krieg als wirksames Mittel gegen einen Luftangriff das Abstellen der Alarmsirenen empfehlen würden.“

Elternstreß Von der Schule gestreßte Kinder wirken auf ihre Eltern zurück. Das genannte Beispiel einer Schülermutter die versucht, ihrer Tochter Streßerscheinungen auszureden und ihr Faulheit bescheinigt, obwohl sie sehr gut weiß, daß ihre Tochter unter großem Druck steht, ist für das Verhalten vieler Eltern nicht untypisch. In dem Wunsch, ihre Kinder zu einem möglichst anspruchsvollen Schulabschluß zu führen, setzen sie ihre Kinder unter permanenten Leistungsdruck und leiden selbst beträchtlich, wenn die erhofften Erfolge ausbleiben. In der schon erwähnten Untersuchung des SAMPLE-Instituts wollten sich nur 24 Prozent der Mütter mit dem Hauptschulabschluß ihrer Kinder begnügen, während 38 Prozent die mittlere Reife und 35 Prozent das Abitur bzw. die Hochschulbildung anstrebten Was geschieht, wenn Schüler mit schlechten Noten oder Zeugnissen nach Hause kommen, ist bekannt: Viele Erwachsene reagieren mit Schlägen, Vorwürfen, Schimpfen, Verboten, Ermahnungen oder Enttäuschungen — nur eine Minderheit verhält sich pädagogisch richtig und spendet Trost und Hilfe Dazu Ruth Martin: „Die Familie, die eigentlich das Refugium sein sollte, wo sich die Kinder von dem Leistungsstreß der Schule erholen und entspannen können, wo sie sich — auch ohne Leistung vorzuweisen — akzeptiert, verstanden und geborgen fühlen sollten, ist in vielen Fällen zu einem Kampfplatz geworden. Da wird um die Versetzung gekämpft, da wird um bessere Noten gerungen, da wird belohnt, erpreßt, bestraft, ausgehandelt. Das Damoklesschwert . Schule'schwebt als ständige Bedrohung über dem bundesdeutschen Familienfrieden. Der Störfaktor Schule beginnt immer mehr die häusliche Atmosphäre zu vergiften."

Anstatt ungerechtfertigte bzw. übertriebene Anforderungen abzuwehren, sind die Eltern überwiegend dazu bereit, die Leistungsforderungen des Schulsystems unreflektiert mitzutragen und sich ihrerseits „zum Wohl der Kinder“ zu engagieren, sei es als „Hilfslehrer", als Antreiber oder als Finanzier kostspieliger Nachhilfestunden. Aus den Eltern-sprechstunden der Schulen ist zu konstatieren, daß Eltern selten die schwachen Leistungen ihrer Kinder zu begründen suchen, sondern dem Lehrer versprechen, für Besserung zu sorgen, d. h. noch mehr zu üben, Hausaufgaben strenger zu überwachen, weniger Freizeit zu gestatten. Der von ehrgeizigen Müttern ausgeübte Druck läßt sich auch statistisch belegen: 52 0/0 der Kinder, die unter Schlafstörungen und Nervosität leiden, müssen mehr als achteinhalb Stunden am Tag arbeiten, ebenso 39 Prozent der Kinder mit Konzentrationsstörungen Das Fazit der Erhebung: „Insgesamt kann festgestellt werden, daß die Kinder zum Teil mit Leistungserwartungen konfrontiert werden, denen viele Erwachsene nicht gewachsen wären, und daß diese Anforderungen in vielen Fällen zu Störungen beitragen . . . Psychosomatisch gestörte Kinder gehen nach Ansicht der Mütter lieber zur Schule als nicht gestörte Kinder. Der Verdacht liegt nahe, daß es sich um ein Wunschdenken der Mütter handelt, die ihre Kinder in schulischen Dingen besonders stark fordern." So belasten ängstliche, die Leistungsnormen der Gesellschaft kritiklos übernehmende Eltern ihre gestreßten Kinder zusätzlich und geraten in einen Teufelskreis sich fortsetzender Frustrations-und Aggressionsverstärkung, denn je mehr sie in ihre Kinder drängen und ihnen zu helfen trachten, desto mehr versagen die Betroffenen, was wiederum zu weiteren nutzlosen Maßnahmen auf der Elternseite führt.

Lehrerstreß So sehr die Lehrer die geschilderten Streßerscheinungen unter Schülern und ihrer sich mit ihnen identifizierende Eltern unmittelbar verursachen, so sehr unterstehen sie gleichzeitig auch selber dem Streß. Der Lehrer steht heute im Normalfall vor Klassen — und das gilt für die Hauptschule in gleicher Weise wie für das Gymnasium —, in denen es oft kaum noch möglich ist, die Schüler für die im Stoffplan vorgesehenen Inhalte zu motivieren. Die Schüler unterlaufen den Unterricht entweder durch Passivität oder aber durch Disziplinlosigkeit. Erschöpft durch den lange geleisteten Widerstand, deprimiert durch die geringen Leistungserfolge und entmutigt durch die Aussichtslosigkeit ihres Tuns, geben viele Lehrer heute entweder auf und resignieren, d. h. sie beschränken sich auf rein pragmatische Stoffvermittlung und betrachten den Unterricht als Job ohne jedes persönliche Engagement, oder aber sie kehren zurück zu den Methoden äußerster Disziplinierung und versuchen, die Klasse mit den ihnen zur Verfügung stehenden Machtmitteln einzuschüchtern.

Der folgende Bericht eines verzweifelten Lehrers gibt Auskunft darüber, wie belastend das Lehrerdasein in vielen Fällen ist: „Ich verliere ... langsam den Mut, weil ich an dem Unterschied zwischen dem, was Schule ist und dem, was wir in unseren Reden aus ihr machen, langsam kaputt gehe ... Es gibt in der Woche vielleicht zwei Stunden, die wirklich einigermaßen gut vorbereitet sind und entsprechend ablaufen. Alles andere ist grauer Routine-Alltag, jedenfalls bei mir. Viele Stunden bereite ich mich überhaupt nicht vor, lasse dann die Kinder die Bücher rausnehmen und gehe stur nach dem Buch vor. Oder wir machen eine dieser folgenlosen Diskussionsstunden, in denen ziemlich konsequenzlos über ein spontan aufgetretenes Problem geredet wird ... Das geht dann so weit, daß die faulsten Schüler rebellieren und wieder , ordeutlichen'Unterricht haben wollen. . Ordentlich', damit meinen sie dann nicht einmal die wenigen, gut vorbereiteten Stunden, sondern den trüben, übergroßen Rest. Ich weiß auch nicht, woher das kommt. Ich habe den ganzen Tag das Gefühl, irrsinnig viel für die Schule zu machen. Aber wenn ich am Ende mal die Stunden zusammenrechne, kommt an effektiver Arbeitszeit doch nur ein Halbtagsjob heraus. Trotzdem gehen die meisten Wochenenden drauf für Korrekturen, Vorbereitung, Weiterbildung usw. ... Die Wirklichkeit in der Schule, die kennt jeder Lehrer. Da wird nach wie vor geschlagen, gepetzt, in ohnmächtiger Wut in die Schüler gekrallt, gedemütigt, ungerecht behandelt. Da werden Noten gemacht, wie es gerade paßt.. . Da wird mit einer Lässigkeit (und zum Teil mit einer nur mühsam versteckten Wut) eine Nichtversetzung beschlossen, daß man krank wird, wenn man sich vorstellt, daß es bei der eigenen Nichtversetzung vor 10 Jahren auch nicht anders verlaufen ist."

Doch dies ist nur die eine Seite. Hinzukommen die Belastungen, die der Lehrer durch die Rückwirkungen des „Radikalenerlasses“, drohender Nicht-Beschäftigung und wachsendem Druck der Kultusbehörden erlebt. Schon wird in einigen Klassen mitnotiert, was der Lehrer sagt; werden Schüler vom Schulleiter ausgefragt, was der Lehrer im Unterricht tut; beschneiden pedantische, ministerialbürokratische Erlasse den Freiheitsspielraum; müssen junge Kollegen befürchten, daß sie wegen Bagatellen (Besuch eines Spielfilms mit der Klasse, der dem Direktor nicht einwandfrei erscheint; positive Äußerungen über Gewerkschaften; Besprechung eines Gedichts, das ein „Linker" verfaßt hat) nicht in den Staatsdienst übernommen werden. So erweisen sich Duckmäusertum und Unterwürfigkeit nicht nur als Kennzeichen neurotisierter und auf einen optimalen Notendurchschnitt bedachter Schüler, sondern werden auch zum Normalverhalten zahlloser Lehrer, denen persönliches Fortkommen und eine gute Beurteilung wichtiger sind als eine freiheitliche Erziehung.

II. Ursachen des Stresses im Schulbereich

Die von uns befragten Schüler gaben sehr genau an, worin sie die Ursachen ihres • Gestreßtseins sehen. Sie nannten insbesondere vier Fakten: — eine zu große Stoffmenge, die außerdem zum überwiegenden Teil uninteressant ist;

— mangelhafte Unterrichtsmethoden, vor allem eine langweilige Gestaltung durch den Lehrer;

— zu häufige Prüfungen in Form von Schulaufgaben und Extemporalien, die sich in bestimmten Monaten häufen, während in anderen Monaten überhaupt keine Arbeit geschrieben wird;

— Repressalien durch die Eltern, die vielfach kein Verständnis für die schwierige Situation ihrer Kinder aufbringen.

Diese Faktoren benennen in etwa die gleichen Ursachen, die auch von kritischen Pädagogen seit langem gegen unser Schulsystem vorgebracht werden. Es erscheint notwendig, sich den einzelnen Stressoren näher zu widmen, um anschließend Überlegungen zum Thema Streßabbau zu wagen.

Qualität und Quantität des Lernstoffs Trotz vielfacher Beteuerungen seitens der Schulbehörden, die Stoffpläne rigoros zu entrümpeln, ist dies bisher nirgendwo geschehen. Im Gegenteil: Bedingt durch den ständigen Fortschritt von Wissenschaft und Technik und die weitreichenden Veränderungen in Wirtschaft und Gesellschaft wächst die Menge des notwendig wißbaren Stoffes permanent. Schätzungen gehen davon aus, daß sich etwa alle zehn Jahre der Umfang des menschlichen Wissens verdoppelt. Ein Hauptschüler lernt heute mehr an naturwissenschaftlichen Fakten als ein Gymnasiast vor 30 Jahren. Das gegenwärtige Schulsystem versteht sich überwiegend als Vermittler von Wissen, von ko-gnitiven Lerninhalten, und die Klassifizierung in gute und schlechte Schüler erfolgt ausschließlich nach dem Gesichtspunkt: wer weiß mehr. Emotionale Bildung wird nicht angestrebt, soziales Lernen bleibt unberücksichtigt. Diese Entwicklung ist auch durch die Hinwendung zu curricularen Lehrplänen bis jetzt nicht durchbrochen worden.

Und so sieht ein besorgter Vater, Professor am Studienseminar in Heilbronn, die Situation seiner 11jährigen Tochter an der Real-schule und seines 10jährigen Sohnes am Gymnasium „Zu Heilbronn am Neckar wird im Erdkunde-Unterricht der 5. Klasse der Hamburger Hafen gründlich besprochen. Meine Tochter hat für die nächste Zettelarbeit zu lernen, daß es dort Küstenmotorschiffe, Fahrgastschiffe, Stückgutfrachter, Containerschiffe, Massengutfrachter und Tanker gibt. Sie muß wissen, worin sich Tideund Dockhafen unterscheiden und wie die Wirkungsweise einer Schleuse darzustellen ist. Danach wird auf Einzelheiten des Deichbaus Wert gelegt, und als Vater gerate ich am Mittagstisch in Verlegenheit, als ich nach Außenberme, In-nenberme, Lahnung und Queller gefragt werde. Beim Thema Ruhrgebiet sind detaillierte Zeichnungen von Hochöfen und Winderhitzern gefragt, die Stahlgewinnung und auch die industrielle Verflechtung im Industriegebiet wird besprochen. Und da ein Hausaufsatz anzufertigen ist, wird Mithilfe von den Eltern erbeten. Kopfschüttelnd erinnern sich meine Frau und ich, daß der Hochofen früher erst in der 10. Klasse durchgenommen wurde... Im Biologie-Unterricht meines Sohnes ist von Kronblättern, Staubbeuteln, Staubfäden, von Griffel, Blütenboden, Nektar und Narbe die Rede. Gut, in Ordnung, das kann man sich merken. Wie aber steht es, wenn Fünftklässler bei der Behandlung der Kirsche das Entstehen der sogenannten . Steinschale'aufzeigen sollen? Entwickelt sich die . Steinschale'aus der . Samenanlage'? Oder aus der . inneren Schicht der Fruchtknotenwand'? Oder aus dem , Blütenstiel'? Oder aus dem . Fruchtknotenhaus'? Oder gar aus der . äußeren Schicht der Fruchtknotenwand'? Das Ergebnis dieses Zuordnens wird zensiert.“

Die einseitige Beanspruchung von Intellekt und Gedächtnis hat sich in den letzten Jahren erheblich verschärft, weil durch die Bildungsoffensive aller Parteien in unserem Lande heute wesentlich mehr Schüler gehobenen Schulabschlüssen entgegenstreben als früher. Gerade Kinder der aufstiegsbedürftigen „unteren Schichten", die nur über ein geringes Abstraktionsvermögen und über andere Sprachmuster verfügen als „Mittelschichtenkinder", erleben die weiterführenden Schulen mit ihrem hohen theoretischen Niveau als etwas Fremdes und Beängstigendes.

Die Überlastung vieler Schulkinder durch schulische Anforderungen ist mehrfach nachgewiesen worden. Hellbrügge errechnete bei 10-und 11jährigen Schülern für Unterricht, Schulweg und Hausaufgaben pro Woche durchschnittlich 47 Stunden. Das SAMPLE-Institut ermittelte bei Kindern zwischen fünf und zwölf Jahren noch bedeutend höhere Belastungen, die sich zusammensetzen aus Schulstunden, Hausaufgaben, Neigungskursen und Helfen im Haushalt bis 41/4 Std. täglich = 15 °/o; 41/2 bis 61/4 Std. täglich = 20 %; 61/2 bis 81/4 Std. täglich = 29 °/o; 81/2 bis 101/4 Std. täglich = 24 °/o; 101/2 Std. täglich und mehr = 12 °/o.

Welchen ständig wachsenden Anforderungen die Schulkinder gerade in den ersten Grund-schuljahren ausgesetzt sind, wissen alle betroffenen Eltern. Vielfach beginnt die Dressur auf Leistung und sachbezogenes Lernen aber schon vor der Schule, indem die Kinder komplizierte Lernspiele erhalten oder im Kindergarten Vorschulkurse belegen. Unbeschwertes Spielen, Entspannung, Freude am Leben werden auf diese Weise eingeengt. Zu Recht meint Hermann Rosemann deshalb: „Die meisten Kinder haben heute einen deutlichen Spielrückstand, d. h. die Zeit, da sie sich in entspannter Atmosphäre befinden, schrumpft zusehends zusammen. Das trockene, nervtötende Lernen dringt immer weiter in Bereiche ein, die dem Kind bisher Entspannung, Freude und Bewegungsfreiheit garantierten. Auf diese Weise verschlechtert sich die allgemeine Stimmungslage des Kindes. Es wird zunehmend depressiv, gereizt, aggressiv und unzufrieden."

Lehrmethodik Viele Schüler finden die Schule heute noch aus einem anderen Grund langweilig, uninteressant und anstrengend: Sie kommen mit der Art, wie der Unterricht gehandhabt wird, nicht zurecht. Die Mehrzahl der Stunden ver-läuft lehrerzentriert, d. h., der Lehrer erklärt und agiert, die Schüler sind passiv, sitzen auf ihren Stühlen und haben die Aufgabe, aufzupassen und rezeptiv zu verarbeiten, was sie hören oder sehen. Dynamische Unterrichts-verfahren wie Gruppenarbeit oder Rollenspiel bleiben seltene Ausnahmen und werden von der Mehrzahl der Schüler und Lehrer nicht beherrscht. Die Untersuchungsergebnisse von Reinhard und Annemarie Tausch aus den sechziger Jahren über die Dominanz der Lehrer-rolle gelten auch heute noch — im normalen Unterricht spricht der Lehrer 50-bis 100mal so viel wie der einzelne Schüler;

— auf 800 Fragen des Lehrers kommt nur eine Frage des einzelnen Schülers;

— jede Minute des Unterrichts trifft der Lehrer ein bis zwei Anordnungen an die Klasse oder einzelne Schüler, die strikt ausgeführt werden müssen.

Wenn die Untersuchungen Th. Hellbrügges die bereits über 15 Jahre zurückliegen, ergeben haben, daß bei schulpflichtigen Kindern ein Stillsitzen von mehr als zwei bis drei Stunden zu körperlichen Schäden, Nervo-sität, Leistungsabfall und Störungen des Denkens und Behaltens führt, so sind dies Streßfolgen, weil allein schon unterdrückte körperliche Motorik zu einer Überproduktion von Fettsäure führt, die später in Cholesterin verwandelt wird und die bereits beschriebenen biologischen Belastungen hervorruft Mit anderen Worten: Selbst dann, wenn Erzieher angstfrei und freundlich unterrichten, aber bei den Schülern spontanes Verhalten, verbunden mit körperlicher Aktivität, verhindern, wirken sie als Stressoren.

Der traditionelle lehrerzentrierte Unterrichtst stil ist es jedoch nicht allein, der zu Streßerscheinungen führt. Frederic Vester hat in seinem Buch „Denken, Lernen, Vergessen" darauf hingewiesen, wie sehr ein großer Teil der Menschen auch von den abstrakt vermittelten, oft nur mit Worten erklärten Unterrichts-inhalten gestreßt wird. Denn nur wenige Schüler, bedingt durch die Sozialisationsbedingungen der ersten Lebensjahre, können verbal-abstrakt lernen. Die meisten Kinder sind eher auf einen anderen Lerntyp festgelegt

— den optisch-visuell Lernenden, der Beobachtungen und Experimente braucht, um etwas zu verstehen;

— den haptisch Lernenden, der sich Zusammenhänge durch Anfassen und Fühlen, also durch eigene Handlungen, erarbeiten muß;

— den im Gespräch Lernenden, der die Kommunikation mit anderen benötigt, um verstehen zu können.

Vester konnte in einem Experiment mit mehreren Schulgruppen verschiedener Klassen belegen, daß Schüler, die nicht auf das verbal-abstrakte Lernen programmiert sind, theoretische Fragen und Aufgaben als Stressor erleben. Wie in Angstsituationen werden dann in der Nebenniere Adrenalin und Noradrenalin ausgestoßen und die Gehirnfunktionen blockiert. Der Schüler kann sich an nichts mehr erinnern, ist nicht in der Lage, eine Antwort zu geben, was bei dem Lehrer das Gefühl auslöst, dieser Schüler sei dumm Da aber viele Lehrer überwiegend den abstrakt-theoretischen Lerntyp verkörpern und in den anderen Lernstilen nicht ausgebildet sind, stellen sie in ihrem Unterricht für die meisten Schüler ungewollt einen starken Streßfaktor dar. Hierin sieht Vester die eigentliche „Katastrophe der schulischen Praxis".

Machen wir uns nichts vor: Der Trend hin zur abstrakten Lernschule verstärkt sind. Bereits in der Grundschule lernen heute 9-und 10jährige im Rechenunterricht Potenzen kennen und müssen nicht nur das Zehner-, sondern auch das Zweier-, Dreieroder Vierersystem anwenden können, was sicherlich eine gut gemeinte Vorbereitung auf das Binärsystem der Computerpraxis darstellt, aber ebenso eine totale Überforderung des Abstraktionsvermögens des normalen Schülers. Seit etwa zehn Jahren — mit Beginn der Diskussion über curriculare Lehrpläne — vollzieht sich im Bildungssystem eine Art technologischer Revolution im Sinne der Zerlegung und Zerstückelung geistig-kognitiver Stoffinhalte in kleinste Einheiten und Dosierungen* Wer genau hinsieht, was z. B. durch die Normen-bücher und über den Versuch einer „Operationalisierung des Unterrichts" auf die Schule zukommt, der erkennt, daß parallel zur völligen Arbeitszerlegung der industriellen Fertigung auch im Bildungsbereich eine Parzellierung des Denkens Einzug hält, deren Folgen sich einerseits als Bürokratisierung des Schulbetriebs, andererseits als quasi betriebswirtschaftliche Optimierung und Effektivierung des Unterrichts niederschlagen. Nicht umsonst sind „Lernzielkontrolle“ und „Taxonomie“ zu zentralen Kategorien geworden — Begriffe und Methoden, die bis jetzt die überwiegende Mehrheit der Lehrer weder verstanden hat noch anzuwenden weiß.

Prüfungen und Zensuren Die gegenwärtige Schule basiert auf ständigen Leistungskontrollen. Während Angestellte oder Arbeiter nur einmal im Jahr einem Bewertungsverfahren unterworfen werden, und Lehrer gar nur alle drei Jahre, erleben Schüler Prüfungen und Noten fast täglich. Schulaufgaben, Kurzarbeiten und mündliches Abfragen bilden das Rückgrat der Disziplinierung und Leistungsüberwachung. Rosemann fand bei seinen Schülern heraus, daß nur 6 Prozent vor Prüfungen niemals Angst hatten, hingegen 90 Prozent oft oder manchmal und 4 Prozent immer

Der Zusammenhang zwischen Angst und Leistungskontrolle ist häufig überprüft worden und kann als gesichert gelten. Angst lähmt, blockiert die Denkabläufe im Gehirn, führt zu Versagen, zu Leistungsausfall. Rolf Schwarzer konnte in einer umfangreichen Untersuchung nachweisen, daß die durchschnittlichen Angstwerte bei Prüfungen um so höher liegen, je schlechter die-erwartete Note ist, d. h. Leistungsbewertungen drücken nicht nur den Wissensstand oder die Leistungsfähigkeit aus, sondern spiegeln auch das Angstpotential der Betreffenden wider. Der schneidet am besten ab, der mit seiner Angst am besten fertig wird.

Warum führt Angst zu Leistungsabfall und Denkblockierungen? Angst löst wie jede see-lische Erregung den beschriebenen Streßmechanismus aus, wobei hinsichtlich des Lernprozesses die Vorgänge im Gehirn besonders wichtig sind. Denn der Adrenalinausstoß im Körper bewirkt gleichzeitig, daß das Hormon Acetycholin, eine Transmitter-Flüssigkeit, die die Kombination der im Gehirn gespeicherten Daten ermöglicht, nicht produziert wird. So entsteht im Gehirn jene Leere, die wir alle schon in Augenblicken der Verwirrung und Erregung erlebt haben: ein Vergessen von Namen, die Unfähigkeit, klar zu denken, Begriffsstutzigkeit. Erst wenn die innere Angst gewichen ist, arbeitet das Gehirn wieder normal, indem die Schaltstellen des Gehirns, die Synapsen, mit dem biochemischen Transmitterstoff „beschossen" werden

Jeder Lehrer weiß aus Erfahrung: in dem Augenblick, da Prüfungen beginnen, erbleichen viele Schüler, werden unruhig, beginnen zu stottern, beteuern, sie hätten es kurz vorher noch gewußt. Eine Arbeit, von der die Schüler wissen, sie wird nicht bewertet, fällt besser aus als offizielle Tests. So stehen wir vor der paradoxen Situation, daß wir zur Stimulierung von Leistungen ein Mittel einsetzen, das die Leistungsfähigkeit im Normalfall erheblich beeinträchtigt. Außerdem läßt sich nicht leugnen: Häufigkeit und Schwierigkeitsgrad der Prüfungen und Tests sind in den letzten Jahren gestiegen. Schüler mit Mittlerer Reife oder Qualifiziertem Hauptschulabschluß berichten, daß sie in diesem Jahr bis zu 20 Einstellungsprüfungen ohne Erfolg absolviert haben. Der Zwang, sich beruflich zu qualifizieren und durch gute Noten und gehobene Schulabschlüsse die knapp gewordenen Lehrstellen oder Studienplätze zu ergattern, unterwirft gegenwärtig Hunderttausende von Jugendlichen Prüfungssituationen, wie sie zum Glück den meisten Erwachsenen unbekannt sind.

Konkurrenz In der Schule lernt und arbeitet jeder Schüler für sich. Die angestrebten Leistungen sind Leistungen des einzelnen, sehr selten der Gruppe oder der Klasse. Und einzeln werden die Schüler über das Gelernte auch wieder befragt, wobei man peinlich darauf achtet, daß niemand dem anderen hilft. Wo dies doch geschieht, ist von Unterschleif und Betrug die Rede — Verstöße, die streng bestraft werden. Auf diese Weise erfahren Konkurrenzdenken und Egoismus unter den Schülern eine ständige Verstärkung. Der , Einzelkämpfer', der für sich allein Lernende, findet bedeutend mehr Anerkennung als der sozialintegrativ Arbeitende, der sich mit anderen solidarisiert

Die Mehrzahl der Schüler hat diese Einstellung verinnerlicht und empfindet Uneigennützigkeit und soziales Lernen als Schwäche, als hinderlich für Erfolg und Karriere. Die folgende Äußerung eines Gymnasiasten, der sich gegen Experimente des Lehrers zur Wehr setzt, ist typisch für die augenblickliche Situation an vielen Schulen: „Wissen Sie, Sie sollten hier keine methodischen Kniffe anwenden, wir haben mit Gruppenarbeit und ähnlichem nur schlechte Erfahrungen gemacht, das hält insgesamt auf... Wissen Sie, unser Interesse ist es, Abiturverwertbares angeboten zu bekommen, wir können es uns nicht leisten, mit Experimenten unsere Zeit zu vergeuden."

In der heutigen Schuljugend gibt es nur noch selten wirkliche Klassengemeinschaften. Die sensiblen, wenig robusten Kinder geraten frühzeitig in die Maschinerie des individuellen Leistungsdrucks; die weniger sensiblen Schüler kommen eher zurecht und begreifen bald, daß Rücksichtnahme mehr Nachteile als Vorteile bringt. Numerus clausus sowie die Sorge um einen Arbeitsplatz haben die Konkurrenzsituation unseres Schulsystems noch erheblich verschärft. Der Kampf um Zehntel-punktein der Kollegstufe, Schadenfreude über die schlechtere Leistung eines Mitschülers, willfährige Anpassung, Duckmäusertum und Unterwürfigkeit gehören zu den alltäglichen Erscheinungen. Nach Ansicht vieler Lehrer braucht in den Klausuren der gymnasialen Oberstufe eigentlich keine Aufsichtsperson mehr dabei zu sein —• die Schüler sorgen selbst dafür, daß das Abschreiben unterbleibt

Aber nicht nur die Mitschüler in der eigenen Klasse konkurrieren um eine Lehrstelle oder einen Studienplatz, sondern auch die verschiedenen Schultypen stehen in schärfstem Wettbewerb: Abiturienten, die keinen Studienplatz erhalten, nehmen den Realschülern begehrte Arbeitsplätze in Banken oder in der Industrie weg; Realschüler, die keine kaufmännische Lehrstelle finden, stehen in Konkurrenz zu den Hauptschülern im gewerblichen Bereich; Hauptschüler ohne qualifizierten Abschluß oder Sonderschüler haben nur noch Chancen als Hilfsarbeiter, wend ihnen überhaupt noch etwas offeriert wird Was Wunder, wenn Schüler unter solchen Lebensbedingungen sich „statusmäßig" voneinander abgrenzen. Der erfolgreiche Schüler fühlt sich dem Versager gegenüber im Vorteil, der Gymnasiast dem Realschüler, der Hauptschüler dem Sonderschüler. Das gleiche wiederholt sich innerhalb der einzelnen Klasse

III. Ursachen des Stresses im gesellschaftlichen Bereich

Wir haben bislang hauptsächlich vom Schulstreß und den krankmachenden Faktoren in der Schule gesprochen. Wir können jedoch nicht die Augen davor verschließen, daß auch die außerschulische Umwelt Stressoren aufweist, die die Schuljugend zunehmend in Mit-leidenschaft ziehen. Wir beschränken uns im folgenden auf drei besonders markante Phänomene:

Lärm Unsere Fähigkeit, Geräusche differenziert wahrzunehmen und zu verarbeiten, ist biologisch verankert und diente einst der Lebens-sicherung in einer gefährlichen Umwelt

Heute hat die Wahrnehmung von Geräuschen, vor allem in der Großstadt, keine lebenserhaltende Funktion mehr, im Gegenteil: von einem gewissen Geräuschpegel (ca. 60 Dezibel) an wirkt Lärm gesundheitsschädigend und streßauslösend. Straßenlärm, Bau-lärm, Überschallflugzeuge usw., denen Schüler auf dem Weg zur und nach der Schule, in der Schule und daheim vielfach ausgesetzt sind, häufen sich zu Lärm-Reizen, die körper-lieh anstrengend und belastend wirken. „Im Gegensatz zum Alarm erfüllt Lärm keinen biologischen Zweck. Auch nicht den der Abhärtung — sondern er schadet nur: Erstens zerstört Dauerlärm die Alarmbereitschaft, statt uns dafür fit zu halten. Zweitens zerstört er als krankmachender Streß unsere Gesundheit, statt uns umweltstabil zu machen. Drittens setzt Lärm durch drastischen Abbau der Konzentrations-und Denkfähigkeit die allgemeine Leistung herab. Das Bedenkliche am Lärm ist, daß es wahrscheinlich keine echte Gewöhnung gibt. Kein Mensch kann sich dem Lärmstreß wirklich entziehen, auch wenn er äußerlich noch so ruhig erscheint und sich noch so unempfindlich wähnt, wie etwa ein knatternder Motorradfahrer. Sowohl unser Ohr als auch unser Nervensystem sind so gebaut, daß sie eine akustische Belastung nur innerhalb bestimmter physikalischer Grenzen ohne Schaden ertragen können. Der Konstruktionsplan unseres Organismus ist jedenfalls für eine sehr viel ruhigere Umwelt gebaut."

Unter diesen Aspekten kommt auch den auditiven Freizeit-Vergnügungen vieler Jugendlicher in Discotheken, Beatschuppen und den eigenen vier Wänden mit den entsprechenden Verstärkeranlagen eine —• vom Medizinischen her betrachtet — problematische Bedeutung zu, weil sie sich scheinbar vom Schulstreß entspannen, in Wirklichkeit aber nun in eine andere Form — den Lärmstreß — flüchten.

Umweltzerstörung In den vergangenen Jahren hat sich, nicht zuletzt auf Grund der Studien des Club of Rome, ein beachtliches Verständnis für die Gefahren eines einseitig auf Massenproduktion und Konsumsteigerung ausgerichteten Industriesystems in breiten Teilen der Öffentlichkeit durchgesetzt; kaum jemand, der seine Umwelt wahrnimmt, wird sich der Einsicht verschließen können, daß täglich natürlich gewachsene Lebensräume eingeengt und biologische Einheiten wie Flüsse, Wälder und Seen geschädigt und so der heranwachsenden Generation die Grundlagen für Erholung und Entspannung vermindert oder gar entzogen werden. Unsere Kinder werden in eine mit Giftstoffen aller Art durchzogene Welt hineingeboren, und ihr Organismus muß diese Giftstoffe aufnehmen und verarbeiten. Bezogen auf den Schulstreß verweisen diese allgemein bekannten Tatbestände beklemmend darauf, wie sehr unsere Schuljugend, selbst wenn die Schule ein paradiesischer Gesundbrunnen wäre, in dem es keinerlei Streß gäbe, aus einer erkrankten Umwelt kommen und deshalb selbst gute Unterrichtsangebote vielfach nur schwer verarbeiten können, weil ihr Körper im kleinen den gleichen Zerstörungen ausgesetzt ist wie unser ökologisches System im großen.

Leistungs-und Konsumzwänge Leistung und Wettbewerb sind Kennzeichen einer Wirtschaftsordnung, der dauerhaftes Wachstum und maximaler Lebensstandard als höchste Werte gelten. Die Mehrheit der Bevölkerung stellt die damit verbundenen Verhaltens-und Wertmuster nicht in Frage, am wenigsten in Zeiten wirtschaftlicher Rezession und Massenarbeitslosigkeit. Andererseits hat die Streßforschung nachweisen können, wie stark wir biologisch geschädigt werden, wenn Leistungsangst, Ehrgeiz, Karrieredenken, Berufsneid und Konkurrenzverhalten zu den alltäglichen Gepflogenheiten gehören; wie gereizt Eltern auf ihre Kinder bei beruflichen Belastungen reagieren. Daß augenblicklich am Leistungsbegriff, unserer „heiligen Kuh", nicht gerüttelt werden darf im Sinne der Fragen „Leistung wozu? Leistung warum? Leistung wofür?" läßt sich durch eine Vielzahl von Äußerungen belegen.

Die explosive Kehrseite der momentan herrschenden Leistungsideologie bei Schülern, Lehrern und Eltern liegt in jener janusköpfigen Verquickung, daß — ähnlich wie der arbeitende Erwachsene — auch Kinder und Jugendliche für erbrachte Leistungen entschädigt werden, und zwar durch Gratifikationen, Geschenke und Zuwendungen, die als Konsumdressur wirken. Wolfgang Schmidbauer spricht deshalb warnend vom „homo consu-mens": „Die Entschädigung der Kinder, Jugendlichen und Erwachsenen mit Gütern, die verbraucht, vernutzt und verschwendet werden, entspricht dabei gleichzeitig der Logik der wirtschaftlichen Produktion." Das Fatale an der permanenten Erzeugung von Überfluß liegt nicht nur in der ökonomischen Vergeudung, sondern auch in der Entstehung von entsprechenden Verhaltensmaßstäben bei Kindern und Jugendlichen. Wer von klein auf erlebt, daß fast alle Dinge kauf-bar sind, verzichtet auf eigene Aktivitäten. Die Folge ist die Abhängigkeit von stellvertretenden Ersatzbefriedigungen. Inmitten einer technisierten Umwelt verlieren immer mehr Kinder reale Erfahrungsmöglichkeiten, z B. das Betasten, Beriechen, Erfühlen von Tieren, Pflanzen, Gestein, Witterungen, Formen, Farben, Tönen und unzähligen Materialien. Eine logische Konsequenz der oben erwähnten Verführung und Dressur zum Konsum bildet die ständige Zunahme des jugendlichen Alkohol-, Zigaretten-und Tablettenverzehrs. Doch hier hilft kein moralisierendes Wehklagen über die Zeitläufte, jugendliche Unsitten oder gar über eine „politische Liberalisierung“. Darf hemmungslos für gesundheitsschädigende Waren geworben werden und können Erwachsene exzessiven Konsum vorpraktizieren, so widerspräche es allen Erkenntnissen der Sozialisierungsforschung, wenn Kinder dieses Verhalten nicht bewußt oder unbewußt wiederholten.

Für unseren Zusammenhang sind zwei Folgerungen wichtig:

— Alle Verhaltensweisen, die psychisch oder körperlich lähmend und hemmend wirken wie beengtes Wohnen, langes Stillsitzen, Fernsehen, Autofahren sind langfristig immer streßverschärfend und machen den Organismus krank, weil er die angestauten Substanzen nicht abbauen kann.

— Gesellschaftliche Umwelterfahrungen, die auf die Unterdrückung von Aktivitäten und Eigeninitiative angelegt sind („Rasen betreten verboten" — „Ballspielen verboten“ — „Baden verboten") wirken auf die Schule zurück. Selbst wenn die Schule mehr spontanes, kreatives Lernen beabsichtigte, könnte sie das mit den Schülern nur schwer realisieren, weil die schon anders geprägt das Schulhaus betreten.

Zusammenfassend läßt sich sagen: Die gesellschaftlichen Konsum-und Leistungszwänge reichen in die Schule hinein und prägen alle dort Tätigen. Wer darum die Schule zum alleinigen Verursacher von Schulstreßphäno-menen macht, ist blind gegenüber der Einbindung der Schule in die gesamtgesellschaftlichen Entwicklungen.

IV. Überlegungen zum Streßabbau

Was läßt sich gegen die beschriebenen Streßerscheinungen unternehmen? Welche Ansatzpunkte zur Bekämpfung des Streß bieten sich an? Entsprechend der vorangegangenen Unterscheidung in Streßfaktoren innerhalb und außerhalb der Schule stellen wir zunächst Anti-Streß-Maßnahmen im Schulbereich vor, um uns dann den Umweltbedingungen zuzuwenden.

Streßabbau in der Schule Vorweg sei betont: Es handelt sich hier nur um bescheidene Annäherungsversuche. Bei ehrlichem Wollen der Erzieher kann zwar mitunter auch schon durch relativ einfache Maßnahmen für Schüler, Eltern und Lehrer Erleichterung geschaffen werden. Anderer-seits werden alle Veränderungen, die sich auf den Schulbereich beschränken, nur bedingt greifen, solange die gesellschaftliche Umwelt nicht ebenfalls Veränderungen erfährt.

Lerninhalte Zur Behebung des Schulstresses hat das Bayerische Staatsministerium an einigen Schultypen eine Kürzung der Stundenpläne um je eine Wochenstunde in einigen Hauptfächern und Nebenfächern vorgenommen bei gleichzeitiger Erhöhung der Stundenzahl in musischen Fächern (Musik, Sport). Es bedarf keiner prophetischen Gabe, um vorauszusagen, daß eine solche Maßnahme für die Schüler mit Sicherheit keine Entlastung bringen wird, da in den zeitlich reduzierten Hauptfächern keine Leistungskürzungen vorgesehen sind und die entspannende Wirkung der musischen Fächer dahinsteht. Unserer Meinung nach können nicht formale oder organisatorische Eingriffe in den Stundenplan helfen, sondern allein inhaltliche Reformen, die den Unterricht und das Klima in der Schule in ihrem Wesen verändern. Solche Maßnahmen könnten z. B.sein:

— Für alle Schularten und Fächer werden didaktische Kommissionen gebildet, die aus Vertretern der Elternbeiräte, der Lehrerverbände und Schülergruppen bestehen und die versuchen, die bestehenden Stoffpläne drastisch einzuschränken. Wissensinhalte ohne Bildungswert und ohne berufliche Relevanz müssen verschwinden. Denn noch immer lernen Schüler nicht, wie sie sich selbständig einen Sachbereich erarbeiten, sondern werden mit oft sinnlosen Fakten vollgestopft, die sie nervlich belasten und verdummen.

Hausaufgaben sind, vor allem in der Unterstufe, in jedem Fach auf ein Minimum zu reduzieren, gemäß der nicht beachteten Einsicht Herbarts, Hausaufgaben sollten „nicht das größte, sondern gerade umgekehrt das kleinste mögliche Zeitmaß ausfüllen" Untersuchüngen haben gezeigt: Hausarbeiten sind in der Regel wenig effektiv, ihre Erledigung bringt kaum Lernfortschritte Nach dem Schulunterricht aber braucht der Schüler die Möglichkeit des Ausgleichs, der körperlichen Betätigung. Die Beschäftigung mit zum Teil mechanischen Paukund Wiederholungsaufgaben daheim bringt nichts, aber verhindert den Streßabbau.

— Der herkömmliche Fächerkanon benötigt die Auflockerung durch praktische Kurse wie Kochen, Werken, Filmen, Besichtigen, Malen, Theaterspielen u. ä., damit alle Sinne und Körperorgane angesprochen werden — und nicht nur der Intellekt.

Vor allem die Organisation praxisnaher Fächer kostet Geld. Die Aufwendungen dafür sind jedoch erheblich niedriger als die späteren Kosten zur Integration und Resozialisierung gescheiterter und gestreßter Jugendlicher.

Lehrmethoden An den Unterrichtsmethoden hat sich in den vergangenen 30 Jahren sehr wenig geändert. Der Lehrer steht nach wie vor im Mittelpunkt des Geschehens und organisiert den Unterrichtsablauf. Lediglich der Einsatz neuer Medien — Film, Videorecorder, Tageslichtprojektor u. ä. ergänzen die traditionellen Medien Tafel und Buch — ist hinzugekommen, allerdings sehr unterschiedlich und mancher-orts nur sporadisch. Doch neue Medien führen keineswegs zur Auflösung des lehrer-zentrierten Unterrichts oder zur Ablösung rezeptiven Lernens.

Gruppenunterricht ist in jedem Fach und ohne große organisatorische Vorbereitung möglich. Was der Lehrer vorträgt, was er mit eigenen Worten oder über Medien vermittelt, können Schüler selbst erarbeiten, indem der Lehrer ihnen Arbeitsmaterial (in Form von Texten, Statistiken, Filmen, Tonbändern, Zeitungsnotizen usw.) zur Verfügung stellt, das sie dann in kleinen Gruppen besprechen. Die Vorteile eines Lernens in Gruppen liegen auf der Hand:

— viele Schüler können, wie Vester gezeigt hat, überhaupt erst im Gespräch lernen; — die Kommunikation von Schülern untereinander ist elastischer und effektiver, weil Schüler aufeinander besser eingehen und sich besser verstehen können, als es dem Lehrer im Frontalunterricht möglich ist;

— da der Schüler aktiv sein kann, ermüdet er weit weniger als beim Lehrervortrag und hat reale Erfolgserlebnisse;

— Gruppenarbeit stärkt das Selbstwertgefühl, verringert Abhängigkeit und Ohnmacht, solidarisiert und fördert die Entwicklung sozial-integrativen Verhaltens;

— entsprechend der Lernmotivation vermindern sich Unterrichtsstörungen und disziplin-loses Verhalten, was dem Lehrer autoritäres Auftreten und restriktive Maßnahmen abnimmt. Wenn heute, wie Tausch bemerkt, nur höchstens 5 Prozent der Unterrichtsstunden in Form von Gruppenarbeit abgehalten werden so läßt dies ahnen, wie weitgehend sich die Schulwirklichkeit ändern könnte, wenn Gruppenarbeit die Norm würde.

Die Erarbeitung von Stoffinhalten in Klein-gruppen bedarf aber der Ergänzung durch Erfahrungen, die die ganze Klasse mit sich als Gruppe macht. Auch hier liegen Experimente und Ergebnisse vor. Erwähnt sei nur die „Themenzentrierte Interaktion" (TZI) von Ruth Cohn, eine Methode, mit der es dem Lehrer gelingt, Rivalitätsgefühle in der Klasse zu überwinden und zu echter Kooperation zu kommen, indem er das Unterrichtsthema mit den Gefühlen der Schüler verbindet und sich selbst als Lernender versteht, der stets auch von der Klasse Informationen entgegennimmt und sich vor den Schülern mit seinen Gefühlen zeigt Diese Methode erzeugt ein Klima, das nicht mehr von individuellem Ehrgeiz und Prüfungsangst beherrscht wird, sondern von gegenseitigem Verstehen und gemeinsamer Freude an erfolgreicher, produktiver Tätigkeit, ein Klima, in dem Lehrer und Schüler sich nicht mehr als Gegner, sondern als gleichwertige Partner erleben. Die Schulung der Lehrer in der TZI-Methode oder ähnlichen Verfahren bewirkt auch, daß Lehrer untereinander Konkurrenzverhalten abbauen und Fähigkeiten zu kooperativer Arbeit entwickeln. Zur Zeit sind Lehrerkonferenzen im allgemeinen ein beredtes Beispiel dafür, in welchem Umfang Lehrer gestaute Aggressionen gegen Schüler, Kollegen, Eltern oder Vorgesetzte mit sich herumtragen und oft außerstande sind, pädagogische und sozialintegrative Verhaltensweisen zu zeigen. Lehrer hingegen, die sich in gruppendynamischen Seminaren schulen lassen, zeigen schon nach kurzer Zeit wichtige Verhaltensänderungen, indem sie ihr eigenes Auftreten objektiver sehen und anderen gegenüber toleranter und verständnisvoller auftreten. Aber auch ohne gruppendynamischen Ansatz können Lehrerfortbildungsveranstaltungen, auf denen sich Pädagogen in Ruhe ihren Problemen widmen, deutliche Anti-Streß-Erscheinungen bewirken

Prüfungsverfahren Immer wieder wird behauptet, keine Gesellschaft könne auf Leistungen verzichten. Diese These ist so lange undifferenziert, wie nicht zwischen selbst-und fremdbestimmter Leistung unterschieden wird. Die für die Schule wichtige Frage lautet: Erbringen Individuen vorwiegend nur dann Leistungen, wenn sie ständig überprüft und benotet werden?

Die neurotisierenden Folgen permanenter Leistungsüberwachung, vor allem im Grundschulalter, sind unübersehbar. An der Notwendigkeit, hier etwas zu ändern, bestehen kaum Meinungsverschiedenheiten. Eine erhebliche Entschärfung des gegenwärtigen Notensystems wäre sicherlich die Abschaffung der Notenfeingliederung in sechs Stufen. Zum Weiterrücken in die nächst höhere Klasse, zum Nachweis, daß man eine bestimmte Fertigkeit beherrscht, genügte es, wenn die Bewertung „bestanden" oder „nicht bestanden" erfolgte, so wie es bei Fahrprüfungen für den Führerschein selbstverständlich ist. Die Einstufung „bestanden" — „nicht bestanden“ oder „Anforderung erfüllt“ — „nicht erfüllt“ verhindert, daß sich Schüler auf Notenstufen fixieren und gegenseitig eingruppieren. Sie erleichtert den Blick für die Erlernung und Einübung wichtiger Fähigkeiten und erübrigt den Kampf um Rangplätze. Die Einstufung in „bestanden" — „nicht bestanden" würde es auch dem Lehrer sehr erleichtern, sich darauf zu besinnen, was zum Lösen einer Aufgabe tatsächlich gehört. Die meisten Fehlerskalen für die Noten 1 bis 6 sind willkürlich und deshalb pädagogisch kaum vertretbar. Karl-heinz Ingenkamp konnte eindeutig nachweisen, wie gering Verläßlichkeit und Voraussagewert von Schulnoten einzustufen sind, insbesondere im Fach Deutsch. Wenn der gleiche Aufsatz einmal mit „Sehr gut“, ein andermal mit „Nicht ausreichend" zensiert wird, sind Schüler offensichtlich der Willkür des korrigierenden Lehrers ausgeliefert

Die meisten Noten stellen ferner das Ergebnis einer punktuellen Überprüfung dar. Der Schüler hat für eine bestimmte Stunde gelernt, und den Lehrer interessiert, was er im Augenblick der Prüfung kann. Was der Schüler noch nach einer Woche weiß, spielt hingegen selten eine Rolle. Auf diese Weise werden die Lerntypen mit rascher Memorierfähigkeit und schnellem Vergessen bevorzugt, hingegen Schüler mit langsamer Auffassungsgabe und möglicherweise gut funktionierendem Langzeitgedächtnis benachteiligt. Zu fragen bleibt, ob nicht anstelle punktueller Überprüfung die kontinuierliche Beobachtung treten kann, indem der Lehrer über Monate hinweg die einzelnen Schüler beobachtet und ihre Fortschritte registriert. Damit in Zusammen-hang steht die dominierende Rolle schriftlicher Prüfungen. Selbst in den Fremdsprachen geht der Lehrer fast nur danach, was der Schüler schreiben kann, weil schriftliche Arbeiten als punktuell erbrachte Leistungen einfacher bewertbar sind. Das eigentliche Ziel des Fremdsprachenunterrichts, nämlich das Verstehen und selbständige Sprechen, bleibt unterbewertet oder entfällt, mit dem Resultat, daß die verteilten Noten ein recht verzerrtes Bild von dem Sprachvermögen des Schülers vermitteln.

Bei der Einführung von Gruppenarbeit erhebt sich die Frage, ob nicht kollektive Bewertungen zweckmäßig sind. Denn arbeiten Schüler vorwiegend in Kleingruppen und lernen, gemeinsame Lösungen vorzulegen, so ist es nur logisch, die Gruppe für ihre Leistung zu bewerten. Gruppennoten werden Prüfungen als Streßfaktor abbauen, da sich die Kommunikation der Gruppenmitglieder untereinander sowie ihre kooperative Arbeit als stärker erweisen dürfte als Angst vor Versagen. Die Ablehnung von Gruppennoten in der Schulpraxis mit dem Argument, der faule und leistungsschwache Schüler profitiere auf diese Weise zu Lasten des fleißigen und leistungsstarken, läßt erkennen, wie wenig für zahlreiche Pädagogen Prüfungsangst ein Problem darstellt. Leider hat auch die verschärfte Beurteilung der Lehrer durch ein siebenstufiges Beurteilungssystem mit vom Ministerium vorgegebenem Verteilungsschlüssel kaum dazu beigetragen, daß Lehrer ihre Entrüstung über die eigene Beurteilung in mehr Verständnis für die prekäre Prüfungssituation der Schüler umsetzen konnten.

Daß die von uns genannten Maßnahmen zum Streßabbau in der Schule keine utopischen Forderungen sind, beweist die Praxis der rund 30 Waldorf-Schulen in der Bundesrepublik. Die von Rudolf Steiner zu Beginn des 20. Jahrhunderts entwickelte anthroposophische Pädagogik arbeitet ohne Leistungsprinzip, verzichtet auf das traditionelle Zensurensystem, kennt keine Sitzenbleiber, lehnt autoritäre Lehrer ab und bietet den Schülern eine Vielzahl praktischer und musischer Fächer Es ist schon einigermaßen erstaunlich, daß bisher weder Bildungspolitiker noch Erziehungstheoretiker von der Arbeitsweise der Waldorf-Schulen offiziell Kenntnis genommen haben.

Streßabbau in der Gesellschaft Lärm Um den täglichen millionenfachen Individualverkehr zu reduzieren, benötigen wir, zumindest in den Großstädten, die Weiterentwicklung umweltfreundlicher Massenverkehrsmit-tel. Außerdem brauchen wir neben einer Ausdehnung von Lärmschutzzonen eine systematische Erforschung besonders gravierender Lärmverursacher. Bei der Planung von Schulen müssen vorhandene Lärmquellen Berücksichtigung finden und bis zu einem biologisch erträglichen Maß eliminiert werden.

Durch Beobachtungen der Pädagogischen Psychologie wissen wir: Kinder schreien um so lauter, je weniger sie das Gefühl haben, verstanden und gehört zu werden. Deshalb bedarf es einer präzisen Analyse über die Schädigungen der lärmproduzierenden Beat-, Rock-und Pop-Musikbranche. Ein Umdenken oder besser „Umhören“ von möglichst lauter, aggressiver Musik zu Formen differenzierterer und leiserer Musik wäre zum einen Aufgabe eines veränderten Produktionsangebots der elektronischen Musikindustrie, zum andern aber auch ein Problem sich wandelnder Wertvorstellungen, bewirkt durch Musikunterricht und öffentliche Meinungsbildung.

Umweit Die Diskussionen über die lebensbedrohenden Risiken einer unkontrollierten Nutzung von Kernenergie sowie anderer Formen des umweltvernichtenden Industriewachstums müssen vermehrt und systematisch in die Lehrpläne der Biologie-, Chemie-, Physik-und Sozialkundestunden aufgenommen werden. Das Unverständnis und die Ignoranz manches naturwissenschaftlichen Unterrichts über die Erde als bio-chemischen und bio-physischen Gesamtorganismus mit seinen wechselseitigen Regelkreissystemen mutet nicht nur besorgniserregend, sondern geradezu anachronistisch an. Die politisch Verantwortlichen müssen stärker als bisher konsequente Verbote gesundheitsschädlicher Lebensmittelstoffe aussprechen sowie die Werbung für giftige Substanzen rigoros unterbinden. Ein schultypübergreifendes Fach . Gesundheitslehre'', das schon in der Grundschule beginnen sollte, könnte im Gegensatz zum bisherigen Biologie-unterricht gleichfalls die Aufgabe erfüllen, die nadiwachsenden Generationen systematisch auf die zentralen Probleme unseres ökoloB gischen Ungleichgewichts vorzubereiten, um wenigstens bei ihr die Bereitschaft und die Fähigkeit zu wecken, Maßnahmen zum biologischen und sozialen überleben zu schaffen.

Leistung und Konsum Die oben angedeuteten, teilweise schwerwiegenden Eingriffe in die sozio-ökonomischen Strukturen und Mechanismen unserer Gesellschaft werden nur durch Mehrheitsentscheidungen der Bevölkerung zu realisieren sein. Deshalb gelingen strukturelle Änderungen ohne Unsicherheitsund Angstgefühle in einer parlamentarischen Demokratie nur bei gleichzeitigen Bewußtseinsund Wertvorstellungskorrekturen. Die bereits begonnene Diskussion z. B. über die (materielle) Bewertung von beruflichen Tätigkeiten muß fortgesetzt werden. Es geht nicht an, daß sich bestimmte Berufsgruppen dagegen wehren, die Stagnation des Bruttosozialprodukts solidarisch mitzutragen. Auch das Überangebot von Akademikern verweist auf die notwendig einsetzende Problematisierung von Berufen, die eindimensional nur auf Entlohnungskriterien aufbauen. Andere Entlohnungsformen, wie z. B. die Sozialfähigkeit oder der Freiheitsgrad eines Berufes, werden Eingang in die Analyse von Berufsfeldern finden müssen, um soziale Ungleichheiten und Versteinerungen nicht krisenartig zu verstärken.

Gebunden an die Begrenzung beruflicher Höchsteinkommen müßte zugleich eine Meinungsbildung über die Korrektur des Leistungsprinzips treten, derart, daß wir wieder den emotionalen und sozialen Fähigkeiten des Menschen den ihnen innewohnenden Wert verleihen. Fragen wie „Was ist wichtig für mich und andere Menschen?, Wozu sollen und wollen wir eigentlich leben?" sollten zu den zentralen Themen privater wie öffentlicher Lebensplanung gehören. Der Streßforscher Hans Selye fordert nachdrücklich die Setzung von Lebenszwecken, von Zielen kurzfristiger und mittelfristiger Art, weil die Realisierung von Zielen im Subjekt Erfolgserlebnisse auslöst, die aktivierend und belebend wirken Vor allem verweist er auf die wichtige Funktion sozialer und affektiver Kontakte mit Freunden, Bekannten, Nachbarn usw., weil die Bindungen dieser Art die Menschen von dem fixierten Druck auf Wohlstand und Karrierismus entlasten. Ferner warnt Selye vor dem selbst auferlegten Zwang zur Perfektion, zu Hochleistung und persönlicher Überforderung. Er verwendet Leitbegriffe wie „Glück-lich-Sein“ und „Liebe" als Markierungspunkte, die von einem fetischisierten Konsum-und Wohlstandsdenken wegführen sollen.

So wichtig und notwendig Selyes Vorschläge auch erscheinen, so werden sie sich doch nicht durch Wunschdenken verwirklichen lassen. Familie, Schule und Massenmedien müßten sie dadurch begleiten und unterstützen, indem bewußt gegen manipulativen Konsum und private wie öffentliche Verschwendung erzogen wird. In der Schule ließe sich z. B. eine Konsumerziehung verankern, die folgende Lernziele enthalten könnte : — Rationalität beim Einkäufen;

— Sparsamkeit im Verbrauch;

— Vermeidung von Verschwendung;

— Sublimierung materieller Konsumbedürfnisse; — Überwindung einer unreflektierten Erwerbsmentalität. , Diese keineswegs vollständigen Hinweise sollen nur veranschaulichen: Es gibt durchaus Möglichkeiten zur Einschränkung materieller Bedürfnisse, die in ihrer Konsequenz streßabbauend und biologisch entlastend wirken, wenn die Menschen sich wieder als aktive, spontane, empfindungsfähige Wesen erleben und begreifen.

V. Ergebnis

Ziel unserer Untersuchung war, die Frage zu beantworten, ob Schule oder Gesellschaft ursächlich für den Schulstreß verantwortlich zu machen sind. In Umkehrung der These von Hermann Rosemanns verdienstvoller Materialsammlung, die den Schulstreß »die Krankheit, die Schule heißt" nennt, sehen wir den Schulstreß zwar auch als Krankheit in der Schule, jedoch als Krankheit, die ursächlich aus der Gesellschaft stammt, weil die Gesellschaft ihre Schwierigkeiten und Probleme offen oder latent an die Schule weitergibt. Die Schule antwortet weitgehend nur reaktiv auf die gesellschaftlichen Prozesse. Darum dürfen schulische Streß-Faktoren nicht losgelöst von den gesellschaftlichen Abläufen betrachtet werden.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Frederic Vester, Phänomen Streß — Wo liegt sein Ursprung, warum ist er entartet, warum ist er lebenswichtig?, Stuttgart 1976, S. 19 ff.

  2. Frederic Vester, ebd., S. 163. Vgl. ferner vom gleichen Autor: Das Überlebensprogramm, Frankfurt 1975, S. 9 ff.

  3. Diese Schülerin hatte geschrieben: „Ich fühle mich nur vor Schulaufgaben gestreßt. Ich bin ziemlich faul und lerne fast nie, nur vor Schulaufgaben muß ich mich halt dann mehr reinhängen." Wenig später meldete sich die Mutter mit folgender Feststellung zu Wort: „Zwei Tage vor Ihrer Frage klagte meine Tochter über den Streß. Ich war selbst gerade mit Arbeit reichlich eingedeckt und gab ihr deshalb verärgert zur Antwort, daß sie wohl kaum unter dem Streß zu leiden hätte, wenn sie nur regelmäßig im Unterricht mitarbeiten würde ... Sie muß das akzeptiert haben, denn bei Ihrer Umfrage gab sie dann meine Äußerung als ihre eigene Meinung zum besten. Die Sache stellt sich aber doch wohl etwas anders dar: bei einer oder auch zwei Schulaufgaben in der Woche muß soviel Stoff repetiert oder auch erlernt werden, daß die Fächer ins Hintertreffen geraten, die gerade keine Schulaufgabe oder Extemporale schreiben. Die Folge ist dann eben die Anhäufung eines größeren Lernstoffes für jedes Fach... Selbst wenn sich meine Tochter hier frei und frank als Jaul'bezichtigt, muß ich doch sagen, viel freie Zeit hat sie eigentlich nicht, und nicht selten hat sie Kopfschmerzen und Schwindelanfäl-le, die teilweise ganz sicher dem Schulstreß zuzuschreiben sind.“

  4. Den Lehrern ist jede Befragung von Schülern ohne vorher eingeholte Genehmigung des Ministeriums untersagt. Aus diesem Grunde konnten wir Beobachtungen und Erfahrungen nicht mit Zahlenmaterial belegen.

  5. Abgedruckt in: Bild der Wissenschaft, April 1976, Heft 4, S. 112.

  6. Verhaltensstörungen bei Kindern im Grundschulalter, Stuttgart 1971.

  7. Der Spiegel v. 31. 5. 1976, Nr. 23, S. 44.

  8. Ebd. S. 44.

  9. Der Stern, Nr. 24/1976, S. 99.

  10. In: betrifft: erziehung, 1976/6, S. 22.

  11. Nach: Der psychisch Kranke. Ergebnisse eines wissenschaftlichen Kolloquiums im Münchner Klinikum rechts der Isar, Sonderdruck Nr. 255 der Süddeutschen Zeitung V. 6. 11. 1975.

  12. Vgl. Bild der Wissenschaft, Heft 4/1976, S. 96 ff. Ferner: Peter Schulz-Hageleit, Angst in der Schule, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, B 51/1976, S. 15— 23.

  13. Die Phrase von der „Humanisierung der Schule“, in: betrifft: erziehung, 1976/6, S. 22 ff.

  14. Hermann Rosemann, Kinder im Schulstreß, Bissendorf 1976, S. 169 ff.

  15. F. Vester, Phänomen Streß, a. a. O., S. 141.

  16. Vgl. Fußnote 3.

  17. Nach: Bild der Wissenschaft, Heft 4/1976, S. 113.

  18. Nach Hermann Rosemann, a. a. O., S. 93 ff.

  19. Ruth Martin, Mütter wollt ihr ewig pauken? Unser Schulsystem familienfeindlich?, in: Die Zeit v. 29. 8. 1975.

  20. Nach: Bild der Wissenschaft, a. a. O., S. 113.

  21. Ebenda, S. 113.

  22. Aus: betrifft: erziehung, Heft 11/1976, S. 21 f.

  23. Zitiert nach: Stern, Nr. 24/1976, S. 103.

  24. Nach: Bild der Wissenschaft, a. a. O., S. 113.

  25. Hermann Rosemann, a. a. O., S. 34.

  26. Reinhard und Anne-Marie Tausch, Erziehungspsychologie, Göttingen 19683, S. 102 ff.

  27. In: Gesundheit und Leistungsfähigkeit im Kinder- und Jugendalter, Stuttgart 1960, Kap. IV.

  28. Vgl. oben Abschnitt I (Der Streßmechanismus).

  29. Frederic Vester, Denken, Lernen, Vergessen, Stuttgart 1975, S. 122.

  30. Vester, ebd., S. 170 f.

  31. Klaus Jürgen Bruder hat schon vor Jahren in seinem viel zu wenig beachteten Aufsatz: „Taylorisierung des Unterrichts“ auf diese Tendenz hingewiesen, in: Kursbuch 24, Berlin 1971, S. 113— 130.

  32. Hermann Rosemann, a. a. O., S. 88.

  33. Schulangst und Lernerfolg, Düsseldorf 1975.

  34. Näheres bei F. Vester, Denken, Lernen, Vergessen, S. 96 ff.

  35. Nach Hans Sonn, Lehrer, Tutor, Prüfer, Kontrolleur ... In: betrifft: erziehung, 1976/10, S. 50.

  36. Vgl. H. Rosemann, a. a. O., S. 52 f.

  37. So schätzt z. B. das Bayer. Wirtschaftsministerium die Zahl der arbeitslosen Hauptschulabgänger in Bayern für die kommenden Jahre auf 80 000, nach: Nürnberger Nachrichten v. 18. 2. 1977.

  38. Vgl. die Untersuchungen dazu bei H. Rose-mann, a. a. O., S. 64.

  39. F. Vester, a. a. O„ S. 167.

  40. Ebd„ S. 169.

  41. Wolfgang Lempert, Leistungsprinzip und Emanzipation, Frankfurt 1971, S. 335 ff.

  42. Wolfgang Schmidbauer, Homo consumens — Der Kult des Überflusses, Stuttgart 1972.

  43. Man vergleiche,, was Wolfgang Menge über die raffinierte Warenauslage der Kauf-und Supermärkte zwecks Anlockung der kindlichen Kauflust sagt, in: Der verkaufte Käufer, Frankfurt 1973, S. 81 ff.

  44. Vgl. Heinrich Bast u. a., Gewalt gegen Kinder, Reinbek 1975, S. 13— 99.

  45. Zitiert nach: Dieter Boßmann, Bestandsaufnahme Hausaufgaben, in: betrifft: erziehung, 1976/Heft 10, S. 24.

  46. Bernhard Wittmann, Vom Sinn und Unsinn der Hausaufgabe, Neuwied/Berlin 19702.

  47. R. u. A. -M. Tausch, a. a. O., S. 181.

  48. Ruth C. Cohn, Von der Psychoanalyse zur themenzentrierten Interaktion, Stuttgart 1975; vgl. insbes. Kap. 13: Zur Humanisierung der Schulen. Vom Rivalitätsprinzip zum Kooperationsmodell, S. 152 ff.

  49. Vgl. Beispiele bei Jörg Schlee, Lernen im Kollegium, in: betrifft: erziehung, 1977/1, S. 44.

  50. Vgl. Karlheinz Ingenkamp, Möglichkeiten und Grenzen des Lehrerurteils und der Schultests, in: H. Roth (Hrsg.), Begabung und Lernen, Stuttgart 1970*, S. 407— 431; Sind Zensuren aus verschiedenen Klassen vergleichbar?, in: betrifft: erziehung, 1969/3, S. 11 ff.

  51. Vgl. W. Abendroth, Rudolf Steiner und die heutige Welt, München 1069.

  52. Streß — Bewältigung und Lebensgewinn, München 1974.

  53. Ausführlicher dazu: Thilo Castner, Konsum und Erziehung, in: Die Deutsche Berufs-und Fach-schule, 1976/Heft 11, S. 846 ff.

Weitere Inhalte

Hartmut Castner, geb. 1945 in Saaz; Studium der Germanistik, Geschichte, Soziologie und Pädagogik in Göttingen und Erlangen; Oberstudienrat am Melanchthon-Gymnasium Nürnberg; Fachbetreuer für Geschichte/Sozial-künde; Dozent an der Volkshochschule und am Jugendzentrum Nürnberg. Thilo Castner, Dr. rer. pol., geb. 1935 in Breslau; Studium der Wirtschafts- und Sozialwissenschaften in Nürnberg und Köln; Studiendirektor der Städt. Wirtschaftsschule Nürnberg; Fachbetreuer für Englisch; Dozent an der Volkshochschule und am Jugendzentrum Nürnberg. Gemeinsame Veröffentlichungen: Sexualrevolution und Schule, Neuwied 1970; Emanzipation im Unterricht, Bad Homburg 1972; Die Volksrepublik China — ein sozialistisches Modell, Düsseldorf 1975; Familie und Jugend in der Industriegesellschaft, Leverkusen 1976; Werbung in Wirtschaft und Politik, Leverkusen 1976.