I. Das Problem und seine Teilaspekte
Die politsche Steuerung komplexer Industrie-gesellschaften sieht sich zunehmend vor eine zusätzliche Aufgabe gestellt: die Rahmensteuerung der quantitativen Bevölkerungsentwicklung. Die in der Bundesrepublik Deutschland sehr viel mehr als in anderen europäischen Staaten lange Zeit tabuisierte bevölkerungspolitische Thematik ist offensichtlich im Begriff, die Schallmauer in der öffentlichen Diskussion zu durchbrechen. Grundlegende Fragen, die den künftigen Bevölkerungsprozeß betreffen, drängen nach einer verantwortlichen Klärung und fordern dazu auch die bevölkerungswissenschaftliche Forschung zu vermehrten Anstrengungen heraus.
Besondere Beachtung verdient der Hinweis in der Regierungserklärung vom Dezember 1976, unser Volk werde in den kommenden Jahren noch mehr Solidarität zwischen den Generationen üben müssen, „um die neuen Aufgaben lösen zu können, die sich unter anderem aus der weiteren Bevölkerungsentwicklung ergeben" Dabei wird auf absehbare erhebliche Schwankungen im Bevölkerungsaufbau hingewiesen: Während Mitte der achtziger Jahre über 5 Mio. mehr Menschen im erwerbsfähigen Alter stehen werden als heute und demgemäß mehr Ausbildungs-und Arbeitsplätze benötigt werden, wird die Zahl der unter 25jährigen bis 1990 voraussichtlich um beinahe 5 Mio. abnehmen. Aus derartigen Verschiebungen im gesamten Generationsgefüge ergeben sich zwangsläufig deutlich veränderte Anforderungen an die Einrichtungen der sozialen Infrastruktur.
Die Ergebnisse von Bevölkerungsvorausberechnungen bis über die Jahrhundertwende hinweg werden nicht nur von Planungsgremien in den verschiedenen gesellschaftlichen Ordnungsbereichen, sondern inzwischen auch in der breiten Öffentlichkeit besonders aufmerksam zur Kenntnis genommen, seitdem etwa für die deutsche Bevölkerung im Bundesgebiet ein Rückgang von gegenwärtig 58 Mio. auf 52 Mio. bis zum Jahr 2 000 ausgewiesen wird. Hält sich der Rückgang bis dahin wegen des gegebenen Altersaufbaus unserer Bevölkerung noch in Grenzen, so ist nach der Jahrhundertwende mit jährlichen Abnahmen in der Größenordnung von 400 000 und mehr zu rechnen; das entspricht etwa der Einwohnerzahl von zwei bis drei Großstädten pro Jahr.
Nun muß dazu allerdings sogleich einschränkend angemerkt werden, daß dies keine Prognosen i. S. von „Vorhersagen" über die vermutlich eintretende Entwicklung sind, sondern Ergebnisse von Modellrechnungen 2), denen ganz bestimmte, aus der Gegenwart abgeleitete Annahmen zugrunde liegen. Nur unter diesen Prämissen gelten die Berechnungsergebnisse. Die Vergangenheit hat immer wieder eindrucksvolle Beispiele dafür erbracht, wie neue, nicht einkalkulierte Entwicklungen starke Modifizierungen derartiger Modell-
Dem Beitrag liegt im wesentlichen ein Vortrag zugrunde, den der Verlasset im vergangenen Dezember auf Binladung des neu errichteten österreichischen Instituts für Demographie in Wien in Verbindung mit seiner Lehrtätigkeit an der Ruhr-Universität Bochum gehalten hat. Zur Ergänzung dieses persönlichen Diskussionsbeitrags wird auf die angegebenen weiterführenden Arbeiten — auch des Veri. — verwiesen. rechnungen erzwungen haben. Skeptiker könnten gar versucht sein zu sagen, das einzige, was aus diesen amtlichen Bevölkerungsvorausschätzungen mit Sicherheit entnommen werden könne, bestehe in der Erkenntnis, daß die tatsächliche Entwicklung so wie angegeben jedenfalls nicht verlaufen werde.
Dennoch bilden diese Vorausberechnungen eine unentbehrliche Grundlage für weiterführende Überlegungen zu einer politisch-gestaltenden Beeinflussung der sich abzeichnenden Entwicklungsmöglichkeiten. Um so wichtiger erscheint es dann, die derartigen Vorausschätzungen zugrunde liegenden Annahmen immer wieder auf ihre Realitätsnähe zu überprüfen. Dies macht angesichts der engen Verflochtenheit der einzelehelichen Entscheidungen über die jeweilige Kinderzahl mit zahlreichen Einflußfaktoren auf der Mikroebene der Familie und einem ganzen Kranz von Bedingungsfaktoren auf der Makroebene von Wirtschaft, Gesellschaft und Kultur einen interdisziplinären Ansatz erforderlich, der für die moderne Bevölkerungswissenschaft charakteristisch ist. Diese sucht über die praktische Messung von Bevölkerungsvorgängen hinaus gerade deren soziale und politische Ursachen zu erklären.
Bevölkerungsbewegung auch ein politisches Problem Auch das, was man die „natürliche" Bevölkerungsbewegung nennt (zum Unterschied von den Wanderungsbewegungen, deren Steuerung prinzipiell ebenfalls Gegenstand einer Bevölkerungspolitik ist), ist keine „Naturkonstante", die unbeeinflußbar wäre, sie ist (begrenzt) gestaltbar und damit veränderbar. Denn die einzelehelichen Entscheidungen im generativen Bereich hängen maßgeblich auch von den gesellschaftlichen Lebensumständen ab, die ihrerseits in erheblichem Umfang der politisch-gestaltenden Beeinflussung zugänglich sind. Gerade für eine Bevölkerungspolitik in einem freiheitlich-demokratischen Gemeinwesen liegen hier die entscheidenden Ansatzpunkte: Nicht um Praktiken, die die individuelle Entscheidungsfreiheit außer Kraft setzen, kann es gehen, sondern nur darum, auf den äußeren Handlungsrahmen der einzelnen Familien mit dem Ziel einzuwirken, daß das generative Verhalten der einzelnen bei grundsätzlich freier Entscheidung im Ergebnis zu einer gesamtgesellschaftlich als vertretbar und vernünftig angesehenen quantitativen Bevölkerungsentwicklung führt.
Bei allen Abwandlungen im einzelnen kommen drei Grundrichtungen der Entwicklung in Betracht: ein Bevölkerungswachstum, ein Bevölkerungsrückgang oder ein über den Zeitablauf hinweg etwa gleichbleibender Bevölkerungsbestand. (Bei letzterem Entwicklungsverlauf muß selbstverständlich in der Realität immer wieder mit gewissen Abweichungen von den demographischen Bedingungen des reinen Modells einer „stationären Bevölkerung" gerechnet werden.)
Wie die bisherigen Diskussionen in der Bundesrepublik, aber auch auf europäischer Ebene zeigen, ist der Prozeß der Zielfindung noch in vollem Gange; er ist in der politischen Diskussion noch weit weniger abgeschlossen als in der wissenschaftlichen, wo zwar gleichfalls unterschiedliche Zielpräferenzen anzutreffen sind, indessen eine wachsende Zahl von Autoren in jüngerer Zeit eine Annäherung an ein Quasi-Nullwachstum (i. S.der Orientierung an den Bedingungen einer in etwa stationären Bevölkerung) befürwortet. Aber selbst bei einer klaren (und auch auf ihre Verwirklichung hin empirisch überprüfbaren) Zielsetzung stellt sich sogleich die Frage nach dem zielkoniormen Mitteleinsatz: Es geht darum, was in den verschiedenen politischen Handlungsfeldern zu tun — oder zu unterlassen ist. Es gilt also auch der Frage nachzugehen, inwieweit auf die Bevölkerungsentwicklung tatsächlich nicht auch dann eingewirkt wird, wenn die Politik in punkto Struktur und Entwicklung der Bevölkerung auf bewußte Maßnahmen verzichtet und scheinbar „abstinent“ ist. Beim Bemühen um ein explizites Ziel-Mit-tel-Konzept ist weiter zu fragen, was überhaupt wirksam getan werden kann. Die Meinungen gehen hier noch sehr auseinander; es überwiegen eher skeptische Positionen, jedenfalls sofern es um gezieltes und mehr oder minder isoliertes Einwirken auf das generative Verhalten auf der Mikroebene der Familie geht. Es muß aber auch gefragt werden, was in einer freiheitlich-demokratischen Grundordnung überhaupt getan werden darf. Die geschichtliche Erfahrung liefert gerade in unserem Lande höchst bedenkliche Beispiele, die eine unbefangene Diskussion über die Probleme der Bevölkerungsentwicklung lange Zeit sehr erschwert haben.
Mit dem Problem des möglichen und vertretbaren Mitteleinsatzes eng verbunden ist die Frage, wer die angemessen erscheinenden Maßnahmen ergreifen soll, wer also nicht nur zielbewußt, sondern auch in Kenntnis und Würdigung der Wirkungsweise bestimmter Maßnahmen handeln soll. Hier wird von vornherein an eine mehrgliedrige Trägerschaft zu denken sein. So sehr Fragen der Bevölkerungsentwicklung und ihrer Rahmen-steuerung auf gesamtstaatliche Verantwortlichkeiten zurückverweisen, so wenig wird bei zahlreichen Maßnahmen — etwa für eine familien-und kinderfreundliche Umweltgestaltung und eine betont familien-und kind-bezogene soziale Infrastrukturpolitik — auf Aktivitäten auf kommunaler Ebene verzichtet werden können. Andererseits müßte es in einem politisch mehr und mehr zusammenwachsenden Europa höchst fragwürdig erscheinen, wollte man Fragen der Bevölkerungsentwicklung und -politik nur in nationalstaatlichen Kategorien angehen. Eine solche Sicht reicht weniger denn je aus, auch wenn Beratungen auf europäischer Ebene noch jüngst gezeigt haben, daß »die Kompliziertheit der Zusammenhänge zwischen demographischen und wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Variablen und die sich bei den bevölkerungspolitischen Zielsetzungen ergebenden Unterschiede es noch nicht erlauben, eine gemeinsame Bevölkerungspolitik für ganz Europa festzulegen”
Eine weitere Frage ist, wer von bevölkerungspolitischem Handeln betroiten sein soll bzw. — was keineswegs notwendig identisch sein muß — wer im Ergebnis davon wirklich betroffen sein wird. Was hier dringlich erscheint, ist eine überzeugende Differenzierung der Maßnahmen nach unterschiedlichen Adressatengruppen.
So läßt sich die Grundfrage nach einer Bevölkerüngspolitik auflösen in eine Reihe von Teilaspekten, die sich wie folgt zusammenfassen lassen: Wer soll was mit welchem Ziel und mit Wirkung auf welche Betroflenen tun? Bei der schlaglichtartigen Verdeutlichung der einzelnen Probleme wurde bereits einsichtig, wie dringlich auch der Beitrag von sozial-und insbesondere bevölkerungswissenschaftlicher Seite ist, wenn das bevölkerungspolitische Handeln in die allgemeine Gesellschaftspolitik wirksam integriert und auch insoweit dem Anspruch auf mehr Rationalität politischen Handelns genügt werden soll
Das Legitimationsproblem Nun könnte freilich eingewandt werden, es sei hier unzulässigerweise von der Prämisse ausgegangen worden, daß das „Ob" einer politisch-gestaltenden Beeinflussung der quantitativen Bevölkerungsentwicklung gar nicht in Frage stehe.
In der Tat liegt den folgenden Überlegungen die Vorentscheidung zu Grunde, daß eine Rahmensteuerung des quantitativen Bevölkerungsprozesses — und zwar nicht nur der grenzüberschreitenden Wanderungsbewegungen, sondern auch der natürlichen Bevölkerungsbewegung — eine Aufgabe bildet, die in den hochindustrialisierten, in Teilbereichen vielleicht schon „postindustriellen” europäischen Gesellschaften auf Dauer gestellt ist. Dieser Auffassung liegt folgende Basisannahme zugrunde: Es gibt keinerlei Gewähr für einen automatischen Ausgleich von Geburten-und Sterberate. Im Gegenteil: Ein vorübergehend durchaus mögliches „Gleichgewicht“ muß als ausgesprochen labil gelten. Damit verbindet sich die Einsicht, daß zahlreiche politische Maßnahmen — meist sogar unbewußt und unreflektiert — bevölkerungsrelevant sind. Wenn aber durch staatliches Handeln — so oder so — auf den Bevölkerungsprozeß eingewirkt wird, dann sollte dies auch bewußt, planvoll und zielgerichtet geschehen. In dieser Sichtweise erscheint es sogar höchst bedenklich, die aus den unterschiedlichsten Gründen zustande kommende Beeinflussung des Bevölkerungsprozesses einfach hinzunehmen, statt sie systematisch auf ihre Gesamt-auswirkung auf die Lebenssituation des einzelnen, auf die Strukturen der Gesellschaft und die Stellung des Menschen in ihr sorgfältig zu untersuchen und gegebenenfalls politisch auf sie zu reagieren.
II. Ziele und Leitbilder einer Rahmensteuerung
Zum weiteren Einstieg in die damit etwas aufgefächerte Thematik erscheint eine Bemerkung des amerikanischen Bevölkerungswissenschaftlers Charles F. Westoff besonders geeignet, mit der er seinen Beitrag über die USA in dem von B. Berelson (Population Council) herausgegebenen Sammelband über die Bevölkerungspolitik in entwickelten Ländern schließt: „Vielleicht entwickelt sich Bevölkerungspolitik in dem expliziten Sinne des Begrilfs nur dann, wenn es sich zeigt, daß das Verhalten der einzelnen und die Wohlfahrt der Gesellschaft beträchtlich auseinandergehen („when the behavior of individuals and the welfare of society are seen as markedly divergent")
Damit ist ein zentraler Aspekt der bevölkerungspolitischen Problematik präzis angesprochen. Fragt man nun speziell im Blick auf das generative Verhalten, worin eine solche Diskrepanz zum Ausdruck kommen kann, so lassen sich grundsätzlich zwei deutlich verschiedene demographische Situationen unterscheiden: (1) Einmal ein relativ hohes Fruchtbarkeitsniveau in den Familien mit der Folge eines starken Bevölkerungswachstums der betreffenden Gesellschaft, obwohl ein geringeres Wachstum der Bevölkerung für die Entwicklung des Landes und für die Wohlfahrt aller günstiger wäre. Dies entspricht den Gegebenheiten in zahlreichen Ländern der Dritten und Vierten Welt.
(2) Zum anderen exzeptionell niedrige Fruchtbarkeit, obgleich dadurch das Wohl der Gesellschaft und auf Dauer gesehen auch die Entwicklungsbedingungen des einzelnen negativ beeinflußt werden.
Für einige Länder in Mittel-und Westeuropa stellt sich inzwischen die Frage, inwieweit sie sich gegenwärtig auf ein solches zu niedriges Fruchtbarkeitsniveau hinbewegen. In der deutschen Bevölkerung z. B. liegt es z. Z. bereits um etwa 35 °/o niedriger als auf längere Sicht zur Bestandserhaltung der Bevölkerung erforderlich. In den jungen Ehen ist die zu erwartende durchschnittliche Kinderzahl auf 1, 4 gesunken.
Ch. F. Westoff trifft seine Feststellung offensichtlich im Hinblick auf die Vereinigten Staaten, wo eine in den letzten Jahren noch größer gewordene individuelle Freiheit der einzelnen Paare in der Kontrolle über ihre Fruchtbarkeit zu einem deutlichen Rückgang der Fruchtbarkeit geführt hat. Angesichts des noch immer anhaltenden Bevölkerungswachstums in den USA, das dort noch immer durch eine relativ starke Zuwanderung zusätzlich begünstigt wird, begrüßt er im Prinzip diesen Rückgang; er ist für ihn sogar Ausdruck dafür, daß das Verhalten der einzelnen (Paare) mit der Wohlfahrt der Gesellschaft in der gegebenen historischen Situation eher konvergiert. In einer Reihe von europäischen Ländern zeichnen sich indessen deutlich andere Entwicklungen ab, die das, was bei Westoff mehr eine Denk-möglichkeit ist, dort eher als Realität erscheinen lassen. Dies hat unterschiedliche Konsequenzen für die Grundeinstellung zu einer Rahmenplanung des Bevölkerungsprozesses.
Im Hinblick auf die eingangs bereits angesprochenen Zielalternativen wird eine möglichst klare Entscheidung zu treffen sein, und wenn sie in einem demokratischen Rückkopplungsprozeß zu den einzelnen Gesellschaftsmitgliedern und den gesellschaftlichen Gruppen getroffen ist, sollte sie auch deutlich vertreten werden. Schon die klare Heraus-stellung eines ausreichend konkretisierten quantitativ-bevölkerungspolitischen Zieles ist ein Stück „Bevölkerungspolitik''.
Stabiles Quasi-Nullwachstum als Ziel?
Zur bevölkerungspolitischen Zielbestimmung wird hier von der folgenden Grundthese ausgegangen: Für die westeuropäischen Industriegesellschaften erscheint weder ein unbegrenztes weiteres Wachstum noch ein radikaler Schrumpfungsprozeß vertretbar; durch Ausschluß dieser Negativziele und unter Berücksichtigung der durchweg negativen Folgen starker und abrupter Schwankungen in der Bevölkerungsentwicklung ergibt sich umgekehrt als zu favorisierendes Ziel für die absehbare Zukunft die größtmögliche Annäherung an ein stabiles (Quasi-) Nullwachstum (wie etwa H. Schubnell und H. Wander es nennen). Stetigkeit der Entwicklung muß dabei als ein wichtiges Prinzip gelten.
Dieses Ziel erscheint vernünftig im Hinblick — auf die bereits erreichte Bevölkerungsdichte, — auf menschenwürdige, der „Lebensqualität“ des einzelnen förderliche Bedingungen des Zusammenlebens sowie — auf die wünschenswerte menschliche Verhaltensfreiheit. In der gegenwärtigen bevölkerungswissenschaftlichen und -politischen Diskussion scheint die Zielvorstellung eines möglichst stabilen Quasi-Nullwachstums sich mehr und mehr durchzusetzen. An dieser Stelle sei freilich daran erinnert, daß eine solche Zielbestimmung sich wohl kaum wissenschaftlich als „richtig" beweisen läßt. Sie hängt offensichtlich von grundlegenden gesellschaftlichen Wertentscheidungen ab, d. h., es gehen notwendig vorwissenschaftliche Wertungen in sie ein. Eine solche Zielvorstellung, wie immer sie im einzelnen aussehen mag, ist indessen vom jeweiligen Menschen-und Gesellschaftsverständnis her begründbar. Gerade auch dadurch erweist sich eine auf diese spezifische Zielsetzung ausgerichtete Bevölkerungspolitik als integrativen Teil einer Gesellschaftspolitik
In diesem Zusammenhang erscheint die begriffliche Unterscheidung zwischen Zielen und Leitbildern, wie sie in der einschlägigen wissenschaftlichen Diskussion zur Sozialpolitik gemacht wurde, auch in der Bevölkerungspolitik als zweckmäßig. Unter Zielen der Bevölkerungspolitik wären bestimmte programmspezifische Entwicklungen, die sich auf Bevölkerungsstand und -entwicklung beziehen, zu verstehen. In der Bevölkerungspo-litik wirksame Leitbilder wären demgegenüber allgemeinere Vorstellungen, wie etwa über die wünschenswerte Gesellschaft, ihre Ordnung und die Stellung der Person in ihr. Ziele erweisen sich damit als sachbereichsspe-zifische Konkretisierungen von Leitbildern.
Gesellschaftliche Wertorientierungen In diesem Sinne bedarf auch die in der vorstehenden Grundthese vorgestellte Zielsetzung der Rückbindung an das bereichsübergreifende Leitbild, an die zentralen gesellschaftlichen Wertorientierungen. Dies kann hier nur angedeutet werden: Als solche — im wechselseitigen Zusammenhang stehende — Grundwerte des Rechts-und Sozialstaates gelten Freiheit, Solidarität und Gerechtigkeit. — Freiheit beinhaltet dabei das Recht auf persönliche Entfaltung (also auch in der persönlichen Entscheidung bei der individuellen Familienplanung) — freilich in den Grenzen, die durch die Forderung der Solidarität und der Gerechtigkeit gezogen werden —, das Recht auf Eigenverantwortung sowie das Freisein von entwürdigenden Abhängigkeiten. Dies gilt dann z. B. auch für die Position der Frau bei den innerehelichen Entscheidungen in generativer Hinsicht; nach dem „Weltbevölkerungsaktionsplan“ (WPPA) von 1974 sollte der Grundsatz der Gleichheit nicht zuletzt in der Familienplanung voll zur Geltung kommen wo beide Ehegatten für das Wohlergehen der übrigen Familienmitglieder Sorge tragen sollten (als auch wechselseitig füreinander). — Solidarität hebt ab auf die Verpflichtung des einzelnen zu wirtschaftlicher, sozialer, politischer und kultureller Kooperation und zu gemeinsamer Lastenverteilung; aus ihr erwachsen für jeden Pflichten gegenüber dem Mitmenschen und gegenüber der Gesellschaft (also grundsätzlich auch im Hinblick auf das eigene generative Verhalten). — Gerechtigkeit schließlich meint vor allem den durch den Staat zu gewährleistenden Ausgleich zwischen Freiheit und Gleichheit aller Bürger; sie verwirklicht die Freiheit des einzelnen dadurch, daß ihm gleiche Rechte und gleichwertige Lebenschancen in der Gesellschaft eröffnet werden (z. B.dem Kind aus einer größeren Herkunftsfamilie ebenso wie dem Kind aus der Ein-oder Zwei-Kinder-Familie).
Wo immer diese Verknüpfung der bevölkerungspolitischen Ziel-Mittel-Alternative mit der bereichsübergreifenden gesellschaftlichen Ordnungsvorstellung überzeugend hergestellt wird, stellen sich Bevölkerungsstand und -entwicklung nicht als ein Eigenwert dar; wohl aber erscheint die Bevölkerungsentwicklung als eine grundlegende Voraussetzung für die Realisierung ganz bestimmter Wertsetzungen, wie sie im gesellschaftspolitischen Leitbild ihren Niederschlag finden. Eben damit wird zugleich der instrumentelle Charakter einer nicht »um ihrer selbst willen“ betriebenen Bevölkerungspolitik sichtbar. Letztere erweist sich zugleich als Gesellschaftspolitik.
III. Bedingungsfaktoren des veränderten generativen Verhaltens
Das Dilemma ist offensichtlich: Es muß mit der Möglichkeit gerechnet werden, daß das generative Verhalten der vielen einzelnen Paare dem Wohl der Gesellschaft insgesamt zuwiderläuft; und doch wird man andererseits auch bei Vorliegen solcher Diskrepanzen das generative Verhalten der einzelnen aus ihrer Sicht nicht einfach als unvernünftig qualifizieren dürfen. Dies folgt aus einigen Überlegungen, wie derartige Diskrepanzen erklärt werden können. Dazu bietet es sich an, an die jüngste Diskussion über die Ursachen des starken Geburtenrückgangs anzuknüpfen. Hier interessieren nicht die Gründe, die in der demographischen Struktur selbst zu suchen sind (wie etwa Altersstruktur, Dichte der Besetzung der Heiratsjahrgänge, Veränderungen der Heiratshäufigkeit). Diese Faktoren können in ihrem Gewicht für die Geburtenentwicklung etwa in der Bundesrepublik seit der Mitte der sechziger Jahre auf weniger als ein Drittel veranschlagt werden. Was in diesem Zusammenhang von Belang ist, sind vielmehr die Beweggründe für die sehr viel schwächer gewordenen Kinderwünsche in den Ehen. Diese Gruppe der sogenannten nicht-demographischen Faktoren hat die bisherige rückläufige Geburtenentwicklung in der Bundesrepublik mit dem ausschlaggebenden Gewicht von etwa 70 0/o bestimmt.
Noch eine weitere Vorbemerkung ist nötig: Die Einsicht in die wirklichen Ursachen der starken Veränderungen des generativen Verhaltens in einer für die europäischen Industriegesellschaften durchweg neuartigen Phase ihrer demographischen Entwicklung ist bisher noch sehr begrenzt. Um die verschiedenen Faktoren in ihrem Einfluß auf die Fortpflanzung näher bestimmen zu können, müßten die Vorgänge im Makrobereich der Bevölkerung erklärt werden aus den Entscheidungen im Mikrobereich der Familien — unter Beachtung der wechselseitig wirkenden Faktoren des Mikro-und Makrobereichs. Bisher fehlt jedoch eine Theorie, die individualund gruppenpsychologisch fundiert eine solche Erklärung liefern könnte
Damit ist von vornherein eine wichtige Einschränkung in der z. Z. möglichen wissenschaftlichen Grundlegung bevölkerungspolitischen Handelns bezeichnet: Läßt sich doch Wirklichkeit nur in dem Maße gezielt gestalten, in dem sie zureichend erklärt werden kann.
Die bevölkerungswissenschaftliche Forschung der letzten Jahre hat aber anderseits doch zu einer Reihe von bedeutsamen (Teil-) Ein-sichten geführt 8a). So läßt sich ein Syndrom von Faktoren hervorheben, denen offensicht-* lieh eine vergleichsweise große Bedeutung und damit eine besondere „strategische" Relevanz in bevölkerungspolitischer Sicht zukommt (ohne daß sich freilich bisher deren jeweiliges Gewicht ausreichend hätte quantifizieren lassen). Dieses „Syndrom“ läßt sich stichwortartig wie folgt charakterisieren (wobei sich die einzelnen Linien vielfach überschneiden) :
Kinderwunsch und alternative Lebensentwürfe (1) Es sind offensichtlich Wandlungen in den wert-und sinnbesetzten Lebensentwürfen des einzelnen eingetreten, wobei „KinderHaben" (insbesondere eine größere Kinderzahl) in einem breiter gewordenen Ansatz konkurrierender Sinngehalte des Lebens und alternativer Lebensentwürfe relativ an Bedeutung einbüßt. Damit im unmittelbaren Zusammenhang steht ein verändertes Selbstverständnis und Rollenbild der Frau, mit mehr oder minder korrespondierenden Wandlungen in der Einstellung des Ehemannes zur Rolle der Frau. Die Aufgabe als Mutter wird nur als eine unter mehreren Aufgaben der Frau verstanden. Mutteraufgaben geraten für sie mehr und mehr in Konkurrenz mit einem Angebot an ebenfalls Selbstbestätigung bietenden weiteren Möglichkeiten neben „Kinder-Haben" — Möglichkeiten, die heute eine zugängliche Realität darstellen und Berufswünsche außerhalb der Familie sogar erst auslösen können. (Dabei gilt es zu sehen daß die Entscheidungen über die tatsächliche Kinderzahl in der Familie weithin stärker von der Frau als vom Mann getragen werden.) Das Angebot an Alternativen, die „Kinder-Haben" nicht notwendig ausschließen müssen, aber doch in seiner lebenssinnstiftenden Bedeutung tendenziell relativieren, kann dabei freilich erst deshalb eine so tiefgreifende Konkurrenzsituation begründen, weil gleichzeitig die Fraglosigkeit des „Kinder-Habens" für verheiratete Paare schwindet — wie auch deutlich der Anstieg der Quote der nicht aus medizinischen Gründen zeitlebens kinderlos bleibenden Ehen in den letzten Jahren zeigt. Damit wird „Kinder-Haben“ stärker einer subjektiven Beliebigkeit unterworfen. (2) An dieser Stelle wäre weiter zu fragen, inwieweit mit dem drastischen Fruchtbarkeitsrückgang der letzten Jahre nicht ein tiefer reichender geistiger Prozeß verbunden ist, der sich etwa wie folgt andeuten ließe: Generatives Verhalten rückt — wie anderes menschliches Verhalten auch — tendenziell aus umgreifenderen, überindividuellen, „objektiven“ Sinnbezügen mit Forderungscharakter gegenüber dem einzelnen heraus. In den älteren gesellschaftlichen Kontexten war generatives Verhalten nicht ausschließlich dem subjektiven Ermessensspielraum des Individuums anheimgegeben. Es gab etwa einen durch religiöse Rückbindungen oder durch eine nationale Grundgestimmtheit charakterisierten Bezugsrahmen, aus dem heraus eine fruchtbarkeitsbejahende Grundeinstellung er-wuchs. Ein Beispiel aus der Gegenwart ist der israelische Kibbuz, wo trotz starker Einbindung der verheirateten Frau in den Erwerbsprozeß gleichzeitig die Entscheidung zum Kind weithin selbstverständlich ist, allerdings durch ein betont kollektives Erziehungssystem auch erleichtert wird. Es besteht möglicherweise ein Zusammenhang zwischen dem generativen Verhalten und der Antwort auf die Grundfrage, ob der Gesellschaft ein überindividueller Sinn zukommt, der zugleich Maßstab für die Sinnerfüllung, des einzelnen ist. Bei einer postulierten Einbeziehung des einzelnen in eine soziale Sinnerfüllung werden sich auch für das generative Verhalten deutlich andere Konsequenzen ergeben als bei solchen gesellschaftstheoretischen Grund-positionen, die einen überindividuellen Sinn von Gesellschaft bestreiten. Im ersteren Falle wird es übrigens auch kaum zu einer Diskrepanz zwischen individuellen Interessen der einzelnen Paare und dem Wohl der Gesamtheit kommen können. Kinderwunsch und gesellschaftliche Position des Kindes (3) Unser Jahrhundert ist gerne als das „Jahrhundert des Kindes" bezeichnet worden. Darin fand sicherlich das wachsende Bewußtsein vom Eigenwert der frühen Abschnitte des menschlichen Lebens seinen Niederschlag. Ist der Optimismus, der in dieser Bezeichnung zum Ausdruck kommt, wirklich noch berechtigt? Wenn der Eindruck zutrifft, daß die an Produktion und Konsum orientierten Industriegesellschaften in den Sog der „Revolution der steigenden Erwartungen" geraten sind dann ist eher der Schluß erlaubt, daß die Position des Kindes schwächer geworden ist. Denn diese Gesellschaften scheinen immer weniger bereit, den Erwartungen der Minorität „Kinder" zu Lasten der Erfüllung eigener Erwartungen Rechnung zu tragen. Um so verständlicher wird dann andererseits der Ruf nach dem „kindergerechten Gemeinwesen", nach der „kinderfreundlichen Umwelt", nach den „kindergerechten Wohnbedingungen". Die Rechte und Chancen des Kindes sind tagtäglich in einer Gesellschaft bedroht, die lautstark wie kaum eine zuvor die Rechte des Kindes proklamiert — bis hin zu supranationalen Erklärungen. Wird vielleicht gerade deshalb so viel davon gesprochen, weil die Sache selbst immer weniger zu den Selbstverständlichkeiten des Lebens ge-hört?
Die „Revolution der steigenden Erwartungen" läßt das Leben in Ehe und Familie nicht unberührt. „Kinder-Haben“ tritt unversehens in Konkurrenz mit einer Vielfalt anderer Erwartungen des einzelnen. Damit geht ein Wandel in der Einstellung zur Weitergabe des Lebens einher, wie er in der heute allseits anerkannten „Familienplanung aus verantworteter Elternschaft" nur besonders augenfällig wird. Die Auffassung, Kinder mehr oder minder schicksalhaft zu empfangen, ist abgelöst von der willentlichen Bestimmung von Zahl und zeitlichem Abstand der Geburt der Kinder.
Ohne an dieser Stelle auf die deutlichen Veränderungen der Position des Kindes in der Familie wie in der Gesellschaft einzugehen, wie sie mit dem vielfach beschriebenen Wandel der sozialen und ökonomischen Strukturen und mit den Funktionswandlungen der Familie einhergegangen sind, sei doch aus demographischer Sicht festgehalten, daß diese Veränderungen in ihrer Tragweite auch für eine ausgeglichene Bevölkerungsentwicklung und -Struktur kaum hoch genug veranschlagt werden können. Der ökonomische Rollenverlust des Kindes ist dabei nur ein Aspekt. R. Kurzrock bemerkt zu Recht: „In der Familie" der Gegenwart ist das . ungewollte'Kind, nicht weniger als das . geplante', Ausdruck einer unvergleichlich neuen Daseinsorientierung. ’ 9a)
Kinderwunsch und Familiensituation (4) Ein eng benachbarter Aspekt ist der — durch eine größere Kinderzahl durchkreuzte — Wunsch nach mehr Entwicklungsspielraum für die einzelnen Ehepartner (Tendenz der Individualisierung). Neben finanziellen Belastungen durch Kinder erweist sich hier besonders die Beanspruchung des Zeitbudgets der Mutter als hinderlicher Faktor. Auch die gestiegenen Ansprüche an die Lebensführung spielen eine Rolle. Sie können bei vielen Kindern und verlängerten Ausbildungszeiten nur schwer befriedigt werden. Mehrere Kinder in einer Familie belasten die „vagabundierende Kaufkraft", die für die Erfüllung persönlicher. Wünsche oberhalb des menschlichen Grund-bedarfs zur Verfügung steht, und saugen sie in den unteren und mittleren Einkommen u. U. sogar völlig auf. Die beachtlichen Anhebungen der Realeinkommen dürfen nicht darüber hinwegtäuschen, daß im Zuge dieser Entwicklung auch die Normvorstellungen über den sozial-kulturellen Mindestbedarf sich verändern und die Familien mit mehreren Kindern fast immer in der Nachhut der Wohlstandskolonne marschieren.
Im übrigen hat die Einkommensproblematik längst eine neue Dimension erhalten: den Wegfall des zweiten Erwerbseinkommens, sobald ein Elternteil, in der Regel die Mutter, zwecks Betreuung von kleineren Kindern aus der Erwerbstätigkeit ausscheidet, sei es nur vorübergehend oder sei es auf Dauer (z. B. wegen des schon vorgerückten Alters der Mutter oder wegen fehlender Möglichkeiten, den Anschluß an einen Wiedereintritt in den Beruf zu halten).
Zusätzliches Gewicht erhält der Aspekt „Kind als Kostenfaktor" in dem Maße, in dem, wie oben ausgeführt, „Kinder-Haben" von einer „fraglosen Selbstverständlichkeit" zu einer möglichen Sinnerfüllung des Lebens wird. In der Diskussion über diesen Punkt wird darauf hingewiesen, daß Ehepaare mehr als „früher" Kinder unter Kosten-Nutzen-Erwägungen betrachten und dabei relativ rasch zum Ergebnis gelangen, daß bei zwei oder doch bei drei Kindern die materiellen und immateriellen Belastungen schwerer wiegen als die Bereicherung durch Kinder. Besondere Beachtung verdient in diesem Zusammenhang die pointierte Feststellung der Bundesregierung in ihrer Antwort auf eine Kleine Anfrage im Deutschen Bundestag zur langfristigen Bevölkerungsentwicklung Es heißt dort zusammenfassend: „In weiten Kreisen unserer Bevölkerung dürfte sich die Vorstellung festgesetzt haben, daß nur eine recht kleine Kinderzahl mit den derzeitigen Leitbildern von persönlicher Freiheit, Selbstverwirklichung und Lebensstandard vereinbar ist."
(5) Die veränderte Reaktion auf die Beanspruchung der Frau durch Kinder ist ein weiteres Moment, daß das generative Verhalten beeinflußt. Zur präziseren Erfassung des Problems erscheint es zweckmäßig, wie im Bereich der Arbeitswissenschaft eine Unterscheidung zwischen Beanspruchung und Belastung zu treffen. Beanspruchung hebt ab auf objektive Kriterien, die sich im Prozeß der Betreuung und Erziehung der Kinder benennen und, wenn auch mit bestimmten Schwierigkeiten, gegeneinander abgrenzen und gewichten lassen. Belastung bezieht sich demgegenüber auf das subjektive Empfinden des einzelnen in einer Beanspruchungssituation, der er sich ausgesetzt sieht.
Der einzelne kann sehr „beansprucht“ sein, aber dennoch wenig „belastet", wie er umgekehrt je nach seiner Belastungsempfindlichkeit trotz relativ geringer Beanspruchung sich besonders „belastet" fühlen kann.
Diese Zusammenhänge erscheinen wichtig für die Frage des Wunsches der Frau nach einem (weiteren) Kind. Schon im ersten Familienbericht der Bundesregierung von 1968 wird dieser Aspekt angesprochen: Gestützt auf die Erhebung „Ehe und Elternschaft 1964“ konnte für die verschiedenen Bevölkerungsgruppen ein enger Zusammenhang zwischen der „Belastungsempfindlichkeit“ und der Einstellung zur Familiengröße festgestellt werden. Der Anteil der Befragten, die seinerzeit die Führung eines Haushalts mit drei kleinen Kindern für eine „nicht so schwere Arbeit" hielten, entsprach größenordnungsmäßig der Gruppe, die eine Familie mit drei und mehr Kindern bejahten. Interessant erscheint in diesem Zusammenhang, daß Unterschiede zwischen einzelnen Bevölkerungsgruppen nicht nur bei einer Aufgliederung nach der Wohnortgröße (mit steigender Wohnortgröße wurde die Aufgabe, einen Haushalt mit drei kleinen Kindern allein zu führen, immer häufiger als eine „sehr schwere Arbeit" bezeichnet — Einfluß der Urbanisierung!) und nach der Berufsgruppe des Ehemannes auftreten, sondern auch bei einer Aufschlüsselung nach dem Alter der Ehepaare. So neigten jüngere Ehepaare oder Eltern unter 35 Jahren signifikant häufiger zu der Auffassung, ein Haushalt mit drei kleinen Kindern sei eine „sehr schwere Arbeit“ bzw. eine „kaum zu leistende Belastung", als Eltern über 35 Jahre. Gerade dieser altersspezifische Aspekt gibt Anlaß zu der Frage, inwieweit sich hier nicht ein tendenzieller Anstieg in der allgemeinen Belastungsempfindlichkeit in den nachrückenden Altersjahrgängen andeutet. (6) Für unsere Frage nach den Ursachen für die Veränderung des generativen Verhaltens ist von zentraler Bedeutung der mit dem Stichwort „Emanzipation der Frau" bezeichnete Komplex. Es läßt sich kaum leugnen, daß zumindest. in den ersten Lebensjahren des Kindes dessen eigene Bedürfnisse und Ansprüche einerseits und an sich berechtigte Emanzipationsansprüche der verheirateten Frau andererseits deutlich auseinander gehen können. In ihrem Sachverständigenbericht zum Thema „Familie und Sozialisation" (im Rahmen des 1975 veröffentlichten Zweiten Familienberichts) greift die Kommission u. a.den Konflikt zwischen den Betreuungsbedürfnissen des kleinen Kindes und etwaigen Emanzipationsbestrebungen der Mutter auf und stellt hierzu fest: „Da das Kind der schwächste Teil der Familie ist, bedarf es des besonderen Schutzes auch gegenüber den Emanzipationsforderungen der Eltern dann, wenn diese sich nur auf Kosten der Rechte des Kindes einlösen lassen."
Es muß freilich nicht nur einen Schutz des kleinen Kindes gegen Emanzipationsforderungen der Eltern geben, sondern auch einen Schutz der heranwachsenden jungen Frau ge-gen eine fehlgeleitete Emanzipationsvorstellung — fehlgeleitet auch deshalb, weil sie den Mann schlicht ausklammert. Hier wird man fragen müssen, ob — in durchaus verständlicher Reaktion auf vorausgegangene, sehr verfestigte Frauen-und Eheleitbilder — in der jüngeren Vergangenheit das Pendel nicht zum Teil in eine falsche Richtung ausgeschlagen ist.
H. Pross gibt in ihrer Untersuchung über nichterwerbstätige Ehefrauen einige bedeutsame Hinweise auf den Mangel an Vorbereitung auf die Pflege-und Erziehungsaufgaben, der zugleich Defizite des deutschen Bildungsund Ausbildungssystems enthülle. „Offenbar hat die richtige Einsicht, daß Jungen und Mädchen die gleiche Grundausbildung erhalten müssen, um für weitere Ausbildungen in gleicher Weise ausgerüstet zu sein, zu einer undifferenzierten Entrümpelung der Lehrpläne geführt: zur ersatzlosen Streichung von familienbezogenen Angeboten statt zu deren Neudefinition als Pflichtstudium für Mädchen und Jungen. Diese Art der Entrümpelung verrät ein fragwürdiges Verständnis von Emanzipation: einseitige Anpassung der Mädchenbildung an die Jungenbildung, und nicht eine Gleichstellung durch Anleitung der Jungen für zukünftige Familienfunktionen.“ (7) Beachtung verdient ferner — auch empirische Befunde deuten darauf hin — der Einfluß einer skeptischeren Beurteilung der Zukunftsperspektiven sowohl für die Ehepartner selbst als auch für ihre Kinder. Hier mag sich auch die Diskussion über das weltweite Bevölkerungsproblem auf das generative Verhalten in den westeuropäischen Industriegesellschaften mit auswirken. In diesem Zusammenhang wird man auch auf die verbreitete Scheu, ja sogar Angst vor langfristigen Bindungen hinweisen müssen, wie sie gerade das „Kinder-Haben" verlangt. Wird hier nicht eine Parallele erkennbar zu der geringer gewordenen Bereitschaft, sich für eine lebenslange Bindung in der Ehe zu entscheiden? Hier werden Veränderungen bis in Tiefen-schichten der menschlichen Person hinein sichtbar, die sich wohl nicht allein mit mangelnden Bindungserlebnissen in der eigenen Kindheit erklären lassen.
Kinderwunsch und Familienplanung (8) Inzwischen sind zahlreiche Hilfsmittel für eine Anpassung der tatsächlichen Kinderzahl an die individuell gewünschte und unter den gegebenen Bedingungen angestrebte Kinderzahl entwickelt worden. Auch eine heute deutlich veränderte Entscheidungssituation im Bereich des generativen Verhaltens ist hier zu erwähnen, die im Zusammenhang mit einer stärkeren Trennung von Zeugungssexualität und soziokultureller Sexualität (Wickler) gesehen werden kann. Das Neuartige dieser Situation ließe sich auf die etwas überspitzte Formel bringen: Während es in der Vergangenheit einer bewußten Entscheidung bedurfte, wenn ein (weiteres) Kind nicht geboren werden sollte, ist heute die bewußte Entscheidung für ein Kind eine Voraussetzung seiner Geburt. (9) Für die Bundesrepublik kann auf aufschlußreise Längsschnittuntersuchungen verwiesen werden, die über die Bedeutung von innerehelichen Strukturen und Partnerbeziehungen Aufschluß geben Danach kann unter den Faktoren, die das generative Verhalten beeinflussen, die Auswirkung von unabhängigen Größen wie Einkommen, Bildungsgrad, Konfessionszugehörigkeit u. ä. immer weniger eindeutig bestimmt werden, während eine Reihe von subjektiven Momenten (individuelle Reaktion auf gesellschaftliche Rahmenbedingungen) offenbar erheblich an Gewicht gewonnen haben. Objektiv erfaßbare soziokulturelle Faktoren erhalten erst in Verbindung mit solchen psycho-sozialen Verhaltensweisen Bedeutung für das generative Verhalten. Auf veränderte Bedingungen der sozialen Umwelt der Familien antworten die einzelnen Ehepaare mit ihren Kinderwünschen viel empfindlicher, zugleich individueller und nachhaltiger als in früheren Generationen. So kann etwa in Reaktion auf verän-derte soziale Umstände auf eine ursprünglich — etwa zu Beginn der Ehe — gewünschte Kinderzahl verzichtet werden (wie dies in Longitudinaluntersuchungen für die Bundesrepublik nachgewiesen und mit dem Ausdruck des „Ein-Kind-Schocks" belegt worden ist Es kommt zu einer vorschnellen Anpassung der Ehepaare an veränderte Lebensbedingungen — vorschnell im folgenden Sinne: Statt daß von den elementaren Kinderwünschen der Ehepaare und der tatsächlichen Lebenssituation größerer Familien ein gesellschaftlich wirksamer „Druck" zur familiengerechteren Gestaltung der Umweltbedingungen ausgeht, werden vielmehr umgekehrt familien-und kinderunfreundliche Lebensbedingungen weitgehend dadurch „verdeckt”, daß die einzelnen Ehepaare sich — latent durchaus vorhandene — Kinderwünsche versagen und sich an höchst unbefriedigende, auf familiale Lebensbedürfnisse zu wenig abgestimmte Bedingungen des Gesellschaftsund Wirtschaftssystems anpassen und diese dadurch im Grunde tendenziell noch „verfestigen".
\ (10) Insgesamt steht hinter dem Geburtenrückgang offenkundig ein bemerkenswerter geistiger Prozeß mit Wandlungen im gesamten System der sozialen Normen, ja in der Einstellung zum menschlichen Leben überhaupt. Als Merkmale dieser tiefgreifenden Veränderungen wären auch zu nennen: ein ausgeprägtes Streben nach Sicherheit — auch nach sozialer Sicherheit — möglichst für das ganze Leben; eine verbreitete Abneigung gegenüber persönlichem Risiko, die zusammen mit dem ausgeprägten Sicherheitsstreben zu spezifischen Erwartungshaltungen gegenüber dem Sozialstaat führt. Hinzu tritt ein gewisses Verlassenheitsgefühl, das in dem Maße zugenommen hat, wie ein in den herkömmlichen Ordnungsbezügen verankertes Geborgenheitsgefühl dahingeschwunden ist und auch trotz aller technischen und zivilisatorischen Fortschritte nicht wirklich erneuert werden konnte. Dieser veränderte geistige Habitus steht der Entscheidung für Kinder in mancher Hinsicht entgegen, bedeutet er doch die Übernahme vielfältiger Risiken, nicht voll kalkulierbarer Unwägbarkeiten und Belastungen, angefangen von der nicht ganz selbstverständlichen körperlichen, seelischen und geistigen Unversehrtheit des neugeborenen Kindes über Probleme der Beeinträchtigung des sozialen Status bis hin zu den in den pluralistischen Gesellschaften keineswegs leichter gewordenen Erziehungsaufgaben in der Familie, mit deren Bewältigung zusätzliche Verunsicherungstendenzen verbunden sind. Nicht ganz ohne Grund hat schon vor Jahren der Franzose Ch. Pegüy die Eltern die „größten Abenteurer des zwanzigsten Jahrhunderts" genannt. Die Entscheidung für die Übernahme von Verantwortung für Kinder setzt ein gerütteltes Maß an Sicherheit bis in Tiefen-schichten menschlicher Existenz voraus.
Generatives Verhalten und Gesamtwohl Mit dem vorstehenden Katalog wurde ansatzweise dargelegt, welche Veränderungen auf der persönlichen und gesellschaftlichen Ebene dazu führen können, daß zwischen der gesellschaftlich gewünschten Zahl von Kindern und deren individueller Wertschätzung eine mehr oder minder große Diskrepanz entsteht.
Nun könnte man einwenden, die einzelnen müßten ja letztlich die Beeinträchtigungen des Wohlergehens der Gesellschaft, von der sie selbst ein Teil sind, unmittelbar erfahren und von daher zu einer Verhaltenskorrektur gedrängt werden. Demgegenüber gilt es jedoch vor allem die für demographische Vorgänge so charakteristische „Langzeitwirkung" zu bedenken. Nach dem „Gesetz demographischer Trägheit" werden die heute im generativen Bereich fallenden Entscheidungen in ihrer vollen Tragweite erst in der weiteren Zukunft sichtbar. In dem Zeitpunkt, zu dem diese Entscheidungen getroffen werden, kann ihre Bedeutung für die individuellen Lebensbedingungen nachfolgender Jahrgänge und Generationen kaum voll ermessen werden. Es muß daher mit der Möglichkeit gerechnet werden, daß in sehr bedenklicher Weise über die Lebens-und Entwicklungsbedingungen nachfolgender Generationen vor-entschieden wird, wobei diejenigen, die heute diese Vorentscheidungen treffen, mit den Konsequenzen selbst nicht mehr konfrontiert werden.
Das Schicksal künftiger Generationen wird nicht nur durch den Grad wirksamer Kontrolle weltweiten Bevölkerungswachstums nachhaltig bestimmt, sondern in den westeuropäischen Regionen auch dadurch, wie gut eihe Rahmensteuerung des Bevölkerungsprozesses im Anschluß an den bisherigen „demographischen Übergang* und die behutsame Abfederung eines in Teilregionen u. U. längerfristig durchaus vertretbaren leichten Bevölkerungsrückgangs (gleichsam im „Gleitflug" und nicht im „Sturzflug") gelingt. Wenn man ein Ziel wie die längerfristig möglichste Annäherung an ein stabiles Nullwachstum bejaht, muß eine Situation wie etwa gegenwärtig in der Bundesrepublik Deutschland — gekennzeichnet durch ein Fruchtbarkeitsniveau in den jungen Ehen, das um ein Drittel unterhalb des einem solchen Ziel entsprechenden Niveaus liegt — deshalb besonders unbefriedigend erscheinen, weil sie, je länger sie anhält, tendenziell immer weiter von der Zielerreichung fortführt. Die mangelnde Transparenz des Zusammenhangs zwischen dem generativen Verhalten der vielen einzelnen Ehepaare und den Auswirkungen auf das längerfristige Wohlergehen der Gesellschaft kann dabei um so eher aufgehoben werden, je mehr es der demographischen Forschung und ihrer „Übersetzung" in die praktisch-politischen Handlungsfelder gelingt, auch diese Wirkungszusammenhänge aufzuhellen und einsichtig zu machen.
IV. Gezielte Veränderung der Rahmenbedingungen des generativen Verhaltens
Was ist nun im Falle einer mehr oder minder großen Diskrepanz zwischen dem generativen Verhalten der Individuen und der Wohlfahrt der Gesellschaft zu tun bzw. welche Fehlentwicklungen sind zu vermeiden?
Bloße ethische Appelle zu einem Verhalten, das sich betont auch an einer gesamtgesellschaftlichen Wohlfahrtsfunktion ausrichtet, reichen sicherlich nicht aus, ja es gibt Autoren, die die Ansicht vertreten, daß die individuelle Familienplanung die für die Gesellschaft optimale Bevölkerungsentwicklung mit Sicherheit nicht in Betracht ziehen werde.
Die Sicherung einer der gesamtgesellschaftlichen demographischen Zielsetzung entsprechenden Geburtenentwicklung kann aber auch nicht den Personen überlassen werden, die aus ganz anderen Antriebsstrukturen heraus eine größere Kinderzahl haben und dabei oft große Opfer auf sich nehmen. Zu denken ist dabei etwa an Gruppen mit starken religiösen Bindungen. Fortpflanzung erscheint hier als eine Verpflichtung, die aus der von Gott gegebenen Schöpfungsordnung hervorgeht und unter göttlichem Gebot steht. Auch jene — heute sicherlich sehr viel kleiner gewordenen — Kreise wären hier zu nennen, die gleichsam die „Thomas-Mann-Position" vertreten, wie sie sich in der Grundeinstellung dieses Dichters nachweisen und auf die Formel bringen läßt: „Kinder hat man zu ha-benl“ Wenn es aber darum geht, individuelle und gesellschaftliche Ziele besser in Einklang zu bringen, darf das, was sich als gesamtgesellschaftliche Notwendigkeit erweist, nicht eine Angelegenheit einzelner Gruppen bleiben. Eine tragfähige Lösung des demographischen Problems kann in dieser Richtung nicht ernsthaft gesucht werden. Aber in welcher Richtung dann?
Ordnungspolitische Voraussetzungen Was grundsätzlich gefordert ist, läßt sich dahin zusammenfassen: Es sind die Rahmenbedingungen für das generative Handeln so zu verändern, daß es dem einzelnen sinnvoll und auch ohne unzumutbare Abstriche bei andeB ren Wertverwirklichungen möglich erscheint, sich so zu verhalten, wie es unter demographischem Blickpunkt für das Wohl der Gesellschaft förderlich ist. Aufgabe einer Bevölkerungspolitik könnte es gerade sein, einen — auch ordnungspolitisch abgestützten — Handlungsrahmen für das generative Verhalten der einzelnen zu schaffen, der geeignet erscheint, die angesprochene Diskepranz gar nicht erst entstehen zu lassen. Dabei kann festgehalten werden, daß das generative Verhalten sich als gesellschaftlich überformtes individuelles Verhalten zweier Menschen darstellt. Diese Über-formung zeigt sich etwa darin, daß auch in diesem speziellen Verhaltensbereich bestimmte gesellschaftliche Wertsetzungen individuell übernommen und damit zu einer personalen Gegebenheit werden.
Grundsätzlich wird man nun in zwei Dimensionen planen müssen: Einmal geht es darum, Hindernisse wegzuräumen, wo immer solche einem an sich vorhandenen, aber durch vielfältige Lebensumstände „verschütteten" Kinderwunsch der einzelnen Paare entgegenstehen. Zum anderen wird man es nicht bei einem solchen „Negativkatalog" bewenden lassen dürfen, vielmehr die Frage stellen müssen, wie der Kinderwunsch selbst beeinflußt werden kann — gegebenenfalls werden muß, wenn eine vernünftige und im demokratischen Rückkopplungsprozeß gewonnene demographische Zielbestimmung anders nicht verwirklicht werden kann. Freilich müssen dabei alle Formen von Manipulation vermieden werden; aber nicht jede Einwirkung auf die Rahmenbedingungen des generativen Verhaltens (und damit mittelbar auf dieses Verhalten selbst) ist bereits Manipulation — ebensowenig wie verantwortliches pädagogisches Einwirken. Entscheidend ist, daß stets . die nötige Transparenz gewahrt bleibt.
Damit ist nun ein breites Spektrum nicht nur denkbarer, sondern auch praktikabler Maßnahmen bezeichnet, die im folgenden — nach einer allgemeinen Vorüberlegung — angesprochen werden sollen.
So sehr sich im Bereich der Zielbestimmung inzwischen gewisse Grundlinien und Konvergenzen in der Meinungsbildung abzeichnen, so wenig lassen sich bisher auf der Ebene des Mitteleinsatzes überzeugende und bevölkerungswissenschaftlich abgesicherte konkrete Strategiekonzepte erkennen.
Wenn es aber zutrifft — und es gibt eigentlich keinen Grund, daran zu zweifeln —, daß die drastischen Veränderungen im generativen Verhalten nicht monokausal erklärbar sind, daß andererseits die zahlreichen Einflußfaktoren ein deutlich unterschiedliches Gewicht haben, dann folgt daraus immerhin für eine denkbare Strategie ein Zweifaches: (1) Erforderlich ist ein ganzes Bündel aufeinander bezogener und sich einander in der Wirkung ergänzender Maßnahmen, die von der Wirtschafts-und Sozialpolitik über Schul-und Bildungspolitik bis zur Rechtspolitik reichen und die sich sowohl auf das sozio-kulturelle Feld (einschl.der öffentlichen Bewußtseinsbildung) beziehen wie auf die materiellen Lebensbedingungen der Familien. Das bedeutet den Verzicht auf die Vorstellung, dem anstehenden Problem ließe sich mit einem Allheilmittel wirksam begegnen. (2) Es erscheint erforderlich, innerhalb eines solchen Maßnahmenbündels Schwerpunkte dort zu bilden, wo Einflußfaktoren getroffen werden, denen deutlich ein Vorrang zukommt.
Beispiele integrativ zu planender Rahmensteuerung Welche Maßnahmen und Mittel könnten nun im einzelnen geeignet sein, zu einer ausgeglicheneren demographischen Entwicklung nahe einem Quasi-Nullwachstum beizutragen? Zusammenfassend lassen sich die verschiedenen Handlungsfelder wie folgt skizzieren:
Sozialpädagogisches Feld — Intensivere Information der Öffentlichkeit über die Ursachen und Folgen demographischer Veränderungen;
— Schärfung des Bewußtseins für die gesellschaftliche Relevanz der individuellen Entscheidungen über die Kinderzahl;
— Information insbesondere der nachwachsenden Generation über grundlegende demographische Zusammenhänge, was zurückverweist auf sozial-und bevölkerungswissenschaftliche Inhalte in schulischen Curricula; — Hinwirken darauf, daß eine vernünftige Zielvorstellung über Bevölkerungsentwicklung als ein Orientierungsdatum für die individuellen generativen Entscheidungen angesehen wird;
— „Übersetzung" dieser gesamtgesellschaftlichen Zielsetzung in „Muster differenzierter Kinderhäufigkeiten" der Familien-, — pädagogische und beraterische Hilfen für eine Familienplanung aus verantworteter Elternschaft (einschl. humangenetischer Beratung); — andererseits Verzicht auf Maßnahmen von sozial-institutioneller Seite, die dem „persönlichen Wollen* der Ehepartner zuwiderlaufen; — Anhebung des sozialen Status der Mutterschaft im öffentlichen Bewußtsein;
— gezielte Hilfen bei der Bewältigung der Probleme, die in der jungen Ehe weithin mit der Geburt des ersten Kindes verbunden sind, durch Vorbereitung der verheirateten Frau auch auf die Rolle als Mutter und Trägerin von Sozialisationsleistungen,
Vorbereitung der Eltern auf die durch die Geburt des ersten Kindes veränderte sozio-ökonomische Situation,
Vorbereitung der Partner auf die mit der Geburt des ersten Kindes möglicherweise verbundenen Einstellungsänderungen im generativen Bereich,
Vorbereitung der Partner auf eine mit dem Übergang von der Ehe zur Familie im psychosozialen Bereich eingeleitete „sensible Phase" (H. W. Jürgens und K. Pohl), in der die Partner sich gezwungen sehen, neue Verhaltensweisen zu lernen und bisherige Einstellungen zu revidieren; — sozialpädagogische Verarbeitung der Bedeutung des Alters der Frau bei der Geburt des ersten Kindes und des zeitlichen Abstandes zwischen den Geburten; — Vermittlung einer neuen Sicherheit der Eltern dem Kind gegenüber (als Aufgabe einer systematischen, von einer umfassenden Familienpolitik zu gewährleistenden Elternbildung), d. h. Abbau einer Unsicherheit, die aus nicht gelungener Bewältigung von Entwicklungsproblemen der Jugendlichen erwächst und eine zusätzliche Zurückhaltung bei Erwachsenen fördern mag, die Verantwortung für eigene Kinder zu übernehmen.
Sozio-kulturelles Feld — In den verschiedenen gesellschaftlichen Handlungsfeldern Durchsetzung des Prinzips der Orientierung am Kind und seinen Lebensbedürfnissen; — Schaffung allgemeiner Bedingungen, die die Vereinbarkeit von Erwerbstätigkeit der Frau und Mutterpflichten erleichtern;
— vermehrtes Angebot von Teilzeitarbeitsmöglichkeiten; dies ist nicht in erster Linie Sache des Staates, der aber u. U. solche Angebote erleichtern kann;
— dem Bedarf gerecht werdendes Angebot von Einrichtungen zur Kleinkinderbetreuung, insbesondere für die erwerbstätigen Mütter; — gezielter Abbau des Konfliktpotentials, das sich offenbar durchweg in allen Bevölkerungsgruppen aus der Kollision der Grundrechte der Frau auf Bildung einerseits und Eheschließung und Familiengründung andererseits bildet;
— Hinwirken auf Leitbildvorstellungen für Ehe und Familie, nach denen die Partner auch eine auf dem Egalitätsprinzip basierende Rollenverteilung in der Ehe befürworten und neuen Situationen flexibel und anpassungsbereit gegenüberstehen (ein besonders wichtiger Familientyp, in dem nach empirischen Befunden für die Bundesrepublik die Zwei-Kind-Norm deutlich überschritten wird).
Sozio-ökonomisches Feld — Sicherung ökonomischer Bedingungen, die die Geburt von Kindern auf der Basis gewollter Elternschaft begünstigen; Sicherung des ökonomischen Freiheitsspielraums gerade auch dort, wo Familien gern mehr Kinder hätten, als sie unter den gegebenen Bedingungen für vertretbar halten; — Sicherung familien-und insbesondere kindgerechter Wohnbedingungen, besonders für junge Ehen und Aufbaufamilien, was eine verstärkte Integration sozialwissenschaftlicher Einsichten. in die Lebensbedürfnisse des Kindes in die Wohnungspolitik voraussetzt; — Ausbau einer familiengemäßen Einkom-mensgestaltung für Familien, in denen sich Eltern von ihren Lebensplänen her für ein zweites bzw. drittes Kind entscheiden möchten. — einkommenspolitische Maßnahmen für die Familien, in denen durch Wegfall des zweiten Erwerbseinkommens mit Rücksicht auf die Versorgung kleiner Kinder eine empfindliche Beeinträchtigung der ökonomischen Basis des Familienhaushalts eintritt (ErziehungsgeldDiskussion) ;
— Verbesserung des sozialen Status der Mutterschaft dadurch, daß die Jahre, die die Frau dem Aufziehen kleinerer Kinder widmet, im System der sozialen Sicherung anerkannt werden.
Sozial-medizinisches Feld — Weiteres Bemühen um Senkung der allgemeinen Sterblichkeit;
— Ausschöpfen von noch bestehenden Möglichkeiten zur Senkung der Mütter-und Kindersterblichkeit. — Bei unfreiwilliger Kinderlosigkeit gewinnen medizinische Hilfen und Erleichterungen bei der Adoption fremder Kinder besondere Bedeutung. Insgesamt ist bei dem Bündel aufeinander abgestimmter Maßnahmen, wie noch einmal betont sei, Wert darauf zu legen, daß in deren Anlage und Ausgestaltung zugleich bereichsübergreifende Leitbilder zur Geltung kommen. Damit wird einer wichtigen Einsicht Rechnung getragen: Nach bisherigen Erfahrungen in verschiedenen europäischen Industriegesellschaften ist der Wirkungsgrad von staatlichen Maßnahmen offensichtlich dann relativ niedrig einzuschätzen, wenn diese isoliert ergriffen werden und grundlegenden gesellschaftlichen Wertentscheidungen — etwa zum gewandelten Selbstverständnis der Frau — entgegenstehen. Von dem Maßnahmenbündel muß zugleich erwartet werden, daß dadurch prinzipiell als unerwünscht anzusehende Schwankungen in der Bevölkerungsentwicklung nicht noch (ungewollt) zusätzlich in Gang gesetzt oder verstärkt werden. Ebenso muß vermieden werden, daß angesichts vorhandener Schwankungen in der Bevölkerungsentwicklung intensivierte Maßnahmen einer Rahmensteuerung nicht überproportionale Gegenwirkungen auslösen, die zu neuen unerwünschten Schwankungen führen. Damit werden im übrigen weitere wichtige Forschungsaufgaben bezeichnet.
Familienpolitik versus Bevßlkerungspolltik?
Besonders eine Familienpolitik, die jenseits demographischer Zielsetzung die Erfüllung fa-milialer Grundfunktionen zu optimieren sucht, gewinnt mittelbar eine geradezu strategische Bedeutung für die Rahmensteuerung des Bevölkerungsprozesses. Bei den hier vorschwebenden Umrissen eines bevölkerungspolitischen Entwurfs darf nicht Familienpolitik vorschnell auf „verkappte Bevölkerungspolitik'1 reduziert werden; wohl aber sollte sich eine von der Familienpolitik zu unterscheidende (relativ) eigenständige Bevölkerungspolitik auf die bevölkerungsmäßigen Aus-und Nebenwirkungen einer entfalteten Familienpolitik mit abstützen.
Bevölkerungspolitik und Familienpolitik müssen ihrerseits in ein übergreifendes gesellschaftspolitisches Gesamtkonzept eingebettet werden. Dazu noch einige Anmerkungen:
Es gibt die allgemeine Erfahrung, daß die Erwartungen des einzelnen besonders wichtig sind für eine Lebensentscheidung (so etwa für Berufsentscheidung, Sparentscheidung, Partnerwahl oder auch unternehmerische Investitionsentscheidung). Dieser allgemeine Befund darf sicherlich auf das Feld der generativen Entscheidungen übertragen werden. Dann aber wird ein restriktives generatives Verhalten dort verständlich, wo die jungen Ehepaare fast täglich mit sehr handfesten negativen Erfahrungen konfrontiert werden, die das Aufziehen und Erziehen von Kindern infolge von unzureichenden Plätzen in Betreuungseinrichtungen für Vorschulkinder, Schulstreßproblemen (mit „Müttern als Hilfslehrern der Nation"), Jugendarbeitslosigkeit und -kriminalität, jugendlicher Drogensucht u. ä. mit sich bringen können.
Umgekehrt wird man mit der Bejahung auch mehrerer Kinder durch junge Eltern um so eher rechnen können, als diese begründet erwarten können, — daß ihr Bestreben, Kinder durch das Schulsystem hindurchzubringen, nicht an ein abenteuerliches Unternehmen grenzt, sondern ihnen erleichtert wird; — daß ein guter Schulabschluß im Normalfall auch den Zugang zu den damit verknüpften weiterführenden Bildungswegen ermöglicht; — daß sie in einer Zeit, in der der Status des Ungelernten immer weniger erwünscht erscheint, eine Lehrstelle für ihre Kinder finden werden; — daß sie — bei aller Anerkennung des Selbständigkeitsstrebens junger Menschen — nicht vorzeitig zur bloßen materiellen . Versorgungsbasis" werden für das sich der elterlichen Lenkung oft früh entziehende Kind, sondern ihren elterlichen Erziehungsauftrag verantwortlich und auch mit Freude zu einem gewissen Abschluß führen können.
Schon aus diesem kurzen Katalog wird deutlich, wie sehr Bevölkerungspolitik mit der allgemeinen Sozialplanung und mit Maßnahmen in den verschiedensten Politikbereichen zur Förderung der Entwicklungschancen des heranwachsenden (und des erwachsenen) Menschen verflochten sein müßte. Es ist eigentlich erstaunlich, wie wenig diese Zusammenhänge bisher gesehen werden und statt dessen immer wieder Zuflucht genommen wird zu punktuellen Einzelaktionen, von denen das „demographische Heil" erwartet wird — mag dies nun ein Ehestandsdarlehen, eine Aufstok-kung von Kindergeldsätzen oder sonst etwas sein. Den Entwicklungsländern machen wir inzwischen eindringlich klar, wie sehr ihre Bemühungen um eine Senkung der Wachstumsraten ihrer Bevölkerungen in die allgemeine Sozialplanung und nationale Entwicklungspolitik integriert sein müssen. Steht unsere Politik nicht oft in der Gefahr, im eigenen Lande — nur mit umgekehrter Blickrichtung — in genau den Fehler zu verfallen, vor dem wir die Entwicklungsländer zu bewahren suchen?
V. Schlußbemerkungen
Ein bevölkerungspolitischer Entwurf sollte von der freien und verantwortlichen Entscheidung der einzelnen im generativen Bereich ausgehen. Von daher verbieten sich, wie schon betont, alle manipulativen Momente, während verschiedenartige Formen der Beeinflussung legitim sind, wenn dabei die notwendige Transparenz und eine überlegte, freie und informierte Entscheidung gewährleistet bleiben. Mit einer Kombination von breiter und für alle Schichten gleichermaßen zugänglicher Familienplanungsberatung und gleichzeitiger wirtschaftlicher, sozialer und kultureller Förderung der Familien wird daher gerade nicht einem — mit Recht in Verruf geratenen — Politikansatz der Vergangenheit gefolgt, der bei Nichterreichen des angestrebten Fruchtbarkeitsniveaus das Recht der Ehepaare, über Zahl und zeitliche Abfolge der Geburten zu entscheiden, mehr oder minder drastisch beschränkte. Defizite im Fruchtbarkeitsniveau dürfen nicht durch Abstriche am Prinzip der gewollten und bewußten Elternschaft ausgeglichen werden.
Die bisherigen Überlegungen haben nicht nur ein verhältnismäßig breites Spektrum von Möglichkeiten, sondern auch eine Reihe von Grenzen einer Rahmensteuerung der Bevölke-B rungsentwicklung sichtbar werden lassen. Die Zielsicherheit einer solchen Rahmensteuerung wird (noch) nicht allzu hoch eingeschätzt werden dürfen. Diese Feststellung darf allerdings nicht vorschnell zu der resignierenden Position verleiten, daß die „Steuerungsproblematik" zu komplex und konkrete Lösungen noch nicht möglich seien (und als Ziel formuliert den Politiker vielleicht sogar einem höchst überflüssigen Erwartungsdruck aussetzen). Bei einer solchen Grundeinstellung würde ein wichtiger Sachverhalt verkannt: Es läßt sich in vielfältiger Hinsicht angeben, daß ganz bestimmte Bedingungen von Familie und Gesellschaft einem geburtenfreundlichen (bzw. geburtenunfreundlichen) Verhalten der einzelnen sehr viel zuträglicher sind als andere; es käme also darauf an, solche Einsichten möglichst umfassend zu bezeichnen und sich gezielt an ihnen zu orientieren — im Sinne einer Rahmensteuerung, die nicht den illusionären Anspruch erhebt, eine jederzeit nach Belieben mögliche „Feinsteuerung“ zu sein.
Richtig verstanden muß eine solche Rahmen-steuerung, wenn sie wirksam sein will, vielfältige gesellschaftliche Reformen beinhalten; auch dies weist sie als einen Aspekt struktur-gestaltender Gesellschaftspolitik aus. Damit ist auf nachhaltige Wertekorrekturen ebenso verwiesen wie auf gezielte Veränderungen der soziokulturellen und sozialökonomischen Lebensbedingungen von Familien mit (mehreren) /Kindern, was zugleich eine grundlegende Neubewertung der Interessen des Kindes bedingt. Dabei gilt auch für eine bevölkerungspolitische Strategie, daß sie — das Ziel nicht aus dem Auge verlierend — aus einer Vielzahl von aufeinander abgestimmten Teilschritten wird bestehen müssen. Das verlangt Geduld und Zielstrebigkeit zugleich. Alfred Vierkandt hat einmal darauf hingewiesen, daß das Haus der Gesellschaft nie über Nacht abgerissen und neugebaut, sondern immer nur Stein um Stein ausgewechselt werde, bis der ganze Bau eine neue Gestalt gewonnen habe.
Bevölkerungspolitik — aber wie? Die drängende Frage bleibt. Sie wird uns in den europäischen Ländern in Zukunft wohl mehr denn je begleiten. Immer von neuem eine Antwort zu finden, ist nicht nur dem letztverantwortlichen Politiker und dem „policy maker“ in der Administration aufgegeben, sondern auch dem um Politikberatung gebetenen Sozialwissenschaftler. Hier gibt es noch manche Hindernisse und ein Mehr an rationaler Politik versperrende Barrieren, die Schritt für Schritt gemeinsam, d. h. von den Beteiligten auf beiden Seiten, abzubauen sind. Allerdings sei auch an die Feststellung Immanuel Kants erinnert, daß die Notwendigkeiten des Handelns immer sehr viel größer sind als die Möglichkeiten des Erkennens.