Ein Schwerpunktthema der innenpolitischen Auseinandersetzung in der Bundesrepublik Deutschland war und ist seit Anfang 1975 die Diskussion um die finanzielle Lage der gesetzlichen Rentenversicherung. Der Streit um Ursachen und Lösungsmöglichkeiten der aktuellen Krise berührt die in der Rentenreform 1957 geschaffenen Ordnungselemente der Rentenversicherung. Zur Erreichung einer ausreichenden, den Lebensstandard erhaltenden Alterssicherung werden als wesentliche Ordnungselemente Beitragsgerechtigkeit, Bruttolohnbezogenheit, Bewertung der Rente als Lohnersatz, Organisation nach dem Selbstverwaltungsprinzip und das Umlageverfahren angesehen. Punktuelle und willkürliche Eingriffe würden diese Ordnungsgrundlagen gefährden. Die fundamentale gesellschaftspolitische Bedeutung wird im folgenden durch, die Darlegung von Aufgaben und Umfang der Rentenversicherung dokumentiert. So leben rd. elf Millionen Menschen (83 v. H. aller über 65jährigen) überwiegend von einer Rente. Es wird dargestellt, welche verschiedenen Renten das Gesetz vorsieht, welche Anspruchsvoraussetzungen gelten, wie sich die einzelnen Renten grundsätzlich berechnen, wie hoch die unterschiedlichen Renten z. B. am 1. Juli 1976 waren und wie die Finanzierungsströme auf der Ausgaben-und Einnahmeseite der Rentenversicherung im einzelnen aussehen. Die krisenhafte Entwicklung der finanziellen Grundlagen der Rentenversicherung, deren Ursachen in erster Linie in der wirtschaftlichen Entwicklung und in politischen Entscheidungen (z. B. Rentenreform 1972) gesehen werden, und der Lösungsversuch der Regierung mit den Maßnahmen des 20. Rentenanpassungsgesetzes schließen sich an. Durch die sich verschlechternde wirtschaftliche Entwicklung (höhere Arbeitslosenzahlen, geringere Lohn-steigerungen) und durch weitergehende strukturelle Veränderungen und Probleme (demographische Entwicklung, Öffnung der Rentenversicherung, Einführung der flexiblen Altersgrenze, erheblicher Zugang an Erwerbs-und Berufsunfähigkeitsrenten etc.) ist die Krise der Rentenversicherung mit eben diesen Maßnahmen jedoch keineswegs bewältigt. Der Handlungsspielraum des Gesetzgebers wird durch diese — sich auch mittelfristig abzeichnende — Entwicklung bei der Lösung anstehender großer Aufgaben im Rentenrecht (Gleichstellung von Mann und Frau, Harmonisierung der unterschiedlichen Altersversorgungssysteme) wesentlich eingeengt. Damit stellt sich die Frage nach langfristig tragfähigen Lösungsmöglichkeiten, die mit den ordnungspolitischen Grundlagen der Rentenversicherung übereinstimmen. Die politische Diskussion läuft dabei auf die Alternative Nettoanpassung und Besteuerung der Renten bzw. Krankenversicherungsbeitrag der Rentner hinaus. Aus grundsätzlichen Bedenken wird die Nettoanpassung abgelehnt und die Besteuerung als eine ordnungskonforme Maßnahme angesehen.
I. Zur Einleitung: Gesellschaftspolitische Bedeutung der Rentenversicherung
Ein Schwerpunktthema der innenpolitischen Auseinandersetzung in der Bundesrepublik war und ist seit Anfang 1975 die Diskussion um die finanzielle Lage der gesetzlichen Rentenversicherung. Sie trug zum Rücktritt des Ministers für Arbeit-und Sozialordnung bei und endete — vorläufig — in einem Gesetzes-paket, daß insbesondere den Rentnern einschneidende Leistungskürzungen beschert.
Mit dem 20. Rentenanpassungsgesetz und dem Gesetz zur Verbesserung der Finanzgrundlagen der gesetzlichen Rentenversicherung, die am 30. Juni dieses Jahres im Bundesgesetz-blatt verkündet und am l. Juli wirksam wurden, soll die defizitäre Finanzentwicklung bis 1980 aufgefangen werden. Unstreitig ist, daß langfristige Probleme auch nach 1980 eine erneute Diskussion in der Rentenversicherung auslösen werden und eine weitere Änderung des Rentenrechts erforderlich machen. Aber bereits jetzt melden sich kritische Stimmen, die die bis 1980 erhoffte Ruhe um die Rentenversicherung als unwahrscheinlich erscheinen lassen, vor allem weil die wirtschaftlichen Annahmen, die den Sanierungsmaßnahmen zugrunde gelegt wurden, bereits heute als unrealistisch angesehen werden. Knapp zehn Wochen nach Inkrafttreten der Gesetze hat das Bundeskabinett am 14. September eine „Nachbesserung" nachgereicht. Nun „lebt" die Rentenversicherung wesentlich vom Vertrauen der Rentner und Versicherten in den Bestand des Generationenvertrages, wonach die heutigen Erwerbstätigen Beiträge zahlen in der Hoffnung, dann, wenn sie selbst aus dem Erwerbsleben ausscheiden, eine gesicherte und angemessene Altersversorgung zu erhalten. Wird dieses Vertrauen zerstört und die Altersversorgung einer ständigen, „willkürlichen“ Änderung unterworfen, muß der Generationenvertrag langfristig in Gefahr geraten. Die ersten Meldungen von privaten Lebensversicherungen über den rapiden Anstieg von Vertragsabschlüssen signalisieren die bereits eingetretene Verunsicherung.
Neben dem Bestreben, die Rentner an der wirtschaftlichen Entwicklung der Gesellschaft teilhaben zu lassen, war es ein Hauptanliegen der Rentenreform von 1957, auf die das heutige System der gesetzlichen Rentenversicherung in seinen Grundzügen zurückzuführen ist, die Altersversorgung von der „Willkür" bzw.der „Gnade“ der jeweiligen Regierung unabhängig zu machen. Dies wurde erreicht durch die Einführung der „bruttolohnbezoge-nen dynamischen Rente als Lohnersatzfunktion“. Danach sollen die Renten der Bruttolohnentwicklung der Arbeitnehmer dynamisch angepaßt werden. Ginge es nach Wilfried Schreiber, einem geistigen Vater dieser Rentenreform, dann würde diese Anpassung der Renten „automatisch“ erfolgen Dage*) gen hatte der Gesetzgeber sich 1957 Vorbehalten, die Rentenanpassung jährlich selbst vornehmen zu können. Allerdings ist bis heute eine Abweichung von der Bruttolohnentwicklung nicht erfolgt.
Die Rentenreform von 1957 und damit das heutige System der Rentenversicherung war und ist mehr als eine technisch-organisatorische Angelegenheit zur Absicherung von Lebensrisiken, die durch das Alter auftreten. Sie ist der ordnungspolitische Ausdruck eines freiheitlichen Rechts-und Sozialstaates, in dem die Freiheit und Würde auch des alten Menschen materiell abgesichert und ihm. ein rechtlicher, durch eigene Leistung erworbener Anspruch auf eine angemessene, dem Lebensstandard der Gesellschaft entsprechende Altersversorgung zuerkannt wird.
Daß dieses nicht selbstverständlich ist, zeigt ein Blick auf die geschichtliche Entwicklung. Als vor rund 100 Jahren in Deutschland die Einführung einer gesetzlichen Altersversorgung gefordert wurde, sollte eine geringfügige Rente vor allem zur „Entlastung der kommunalen Armenfürsorge" beitragen Praktisch hatte sich bis zum Zweiten Weltkrieg an dem Charakter der Sicherung des bloßen Existenzminimums kaum etwas geändert. Aber auch in Staaten mit anderen ordnungspolitischen Leitbildern, wie z. B.der DDR, wird an der Behandlung der alten, aus dem Erwerbsleben ausgeschiedenen Menschen ein Menschenbild deutlich, das — marxistisch geprägt — ausschließlich auf den im Produktionsprozeß stehenden Menschen ausgerichtet ist. So werden vergleichsweise niedrige Renten gezahlt, die an der wirtschaftlichen Entwicklung nicht in vollem Umfang teilhaben. 1972 erreichte die durchschnittliche Altersrente in der DDR mit 190 Mark nur 42 v. H.der Durchschnittsrenten in der Bundesrepublik In diesem Verständnis dürfen dann Rentner auch aus der DDR ausreisen, weil sie für die Gesellschaft nicht mehr „verwertbar" sind.
Angesichts der großen Bedeutung, die die Altersversorgung nicht nur für die rd. 11 Mio. Rentner, sondern auch für die rd. 27 Mio. Versicherten als Beitragszahler einnimmt, ist es kein Wunder, daß in einer parlamentarischen Demokratie, in der die Parteien dem Zwang zur Stimmenmaximierung unterworfen sind, auf diesem Felde politisch gerungen wird. Aus der Sicht der Rentenversicherung sind damit zwei Aspekte verbunden: In Zeiten, in denen die wirtschaftliche Entwicklung Finanzierungsspielräume ermöglicht, werden diese von den Parteien gerne in der Form der Verbesserung der sozialen Leistungen weitergegeben. Als Beispiel sei hier auf die Rentenreform 1972 — einem Jahr mit Bundestagswahlen — verwiesen. Gerät die Rentenversicherung aber in eine finanzielle Krise, wie es seit Anfang 1975 abzusehen war, dann werden notwendige Leistungseinschränkungen auf die lange Bank geschoben, in der Hoffnung, die nächsten Bundestagswahlen heil zu überstehen; auch wenn — wie die Bundesregierung es 1976 in Kauf genommen hat — die Probleme sich dadurch erheblich verschärfen.
Unabhängig von diesen in einer parlamentarischen Demokratie strukturell angelegten Bedingungen stellt sich aber die Frage, welche finanziellen und sonstigen Probleme auf die Rentenversicherung zukommen und welche ordnungspolitisch akzeptablen Lösungen sich zur Bewältigung dieser Probleme anbieten.
Methodisch soll deshalb im folgenden zunächst das ordnungspolitische Leitbild mit den sich daraus ergebenden Prinzipien dargestellt werden. Der Skizzierung der Aufgaben und Leistungen der Rentenversicherung folgt eine Analyse der Ursachen und parlamentarischen Lösungsangebote zur aktuellen Krise. Zukünftige Probleme in der Rentenversicherung aber erfordern weitere langfristig angelegte Maßnahmen.
II. Ordnungselemente der Rentenversicherung
Abbildung 2
Tabelle 1: Personen mit überwiegendem Lebensunterhalt durch Rente (Ergebnisse durch Mikrozensus Mai 1976)
Alter Anzahl Anteil an der (in 1 000) Wohnbevölkerung in v. H. unter 40 40 bis 60 60 bis 65 65 und mehr insgesamt: 1 012 1 102 1 662 7 564 11 341 2, 9 v. H.
7, 6 v. H. 49, 6 v. H. 82, 7 v. H. 18, 4 v. H. Quelle: Statistisches Bundesamt; Mikrozensus Mai 1976
Tabelle 1: Personen mit überwiegendem Lebensunterhalt durch Rente (Ergebnisse durch Mikrozensus Mai 1976)
Alter Anzahl Anteil an der (in 1 000) Wohnbevölkerung in v. H. unter 40 40 bis 60 60 bis 65 65 und mehr insgesamt: 1 012 1 102 1 662 7 564 11 341 2, 9 v. H.
7, 6 v. H. 49, 6 v. H. 82, 7 v. H. 18, 4 v. H. Quelle: Statistisches Bundesamt; Mikrozensus Mai 1976
Die Rentenversicherung enthält ebenso wie der gesamte Leistungsbereich der sozialen Sicherung mehrere idealtypische Maximen, z. B.: Das Versicherungs-, Versorgungs-und Fürsorgeprinzip, die man auch unter Kausal-und Finalprinzip klassifizieren kann
Bei dem Aufbau einer leistungsfähigen sozialen Alterssicherung, die das Ziel hat, die Arbeitnehmer beim Ausscheiden aus dem Erwerbsleben vor dem sozialen Abstieg und einer damit verbundenen Deklassierung zu bev wahren und eine ihrer Lebensleistung entsprechende Rente zu gewährleisten, fanden entsprechend dieser Zielsetzung insbesondere am Kausalprinzip orientierte Elemente Eingang in das Leistungsrecht.
Wesentliche Ordnungslemente unserer Alterssicherung, die diese Zielsetzung realisieren sollen, sind:
— Beitragsgerechtigkeit — Bruttolohnbezogenheit — Bewertung als Lohnersatz — Organisation nach dem Selbstverwaltungsprinzip — Finanzierung im Umlageverfahren.
Durch die Verankerung persönlicher Faktoren, wie persönliche Bemessungsgrundlage und anrechnungsfähige Versicherungsjahre in der Rentenformel, wurde das Prinzip der Beitragsgerechtigkeit zum wesentlichen Element unserer Alterssicherung gemacht.
Anzahl und Höhe der in der Vergangenheit geleisteten Beiträge bestimmen damit wesentlich die spätere Rente. Nach diesem Prinzip der Versicherung erfolgt die Leistungszumessung nach dem Äquivalent von Leistung und Gegenleistung. Nach dem eigenen Leistungsbeitrag wird die Gegenleistung der Sozialversicherung bemessen. Die gesetzliche Rentenversicherung basiert auf dem gesetzlichen Zwang zur Selbstvorsorge. Der Gesetzgeber veranlaßt den einzelnen Arbeitnehmer, sein unstetig anfallendes Lebenseinkommen in angemessener Weise auf alle Lebensphasen umzuschichten (intertemporaler Einkommensausgleich Dadurch soll gewährleistet werden, daß das Lebensniveau der nicht mehr Erwerbstätigen in einem bestimmten Verhältnis zu demjenigen in ihrer aktiven Lebensphase steht. Die Rente wird zum Lohnersatz. Die Rentner sollen wirtschaftlich so gestellt sein, daß sie in ihrem Lebenskreis verbleiben können. Gesellschaftspolitisch soll damit erreicht werden, die alten Menschen als vollwertige Glieder der Gemeinschaft zu erhalten
Neben dieser im wesentlichen auf dem Kausalprinzip (Höhe der Eigenleistung) beruhenden Leistungszumessung gibt es in der Rentenversicherung auch viele Leistungen, die nicht auf dem Versicherungs-, sondern auf dem Versorgungsprinzip beruhen. Die Leistung wird hier nicht von einer Vorleistung, sondern von einem sozialen Tatbestand abhängig gemacht. Diese finale Orientierung unserer Alterssicherung gibt es z. B. bei den Berufs-und Erwerbsunfähigkeitsrenten bei der Anrechnung von Ausfall-und Ersatzzeiten usw. Durch diese finalen Elemente kommt zur intertemporalen eine interpersonale Einkommenumverteilungsfunktion der Rentenversicherung hinzu. Unbestreitbar wurde diese Funktion seit 1969 wesentlich verstärkt. Es sei nur an folgende Maßnahmen, die in dieser Richtung wirken, erinnert: Die Rente nach Mindesteinkommen, die flexible Alters-grenze, die Abschaffung und Rückzahlung des Krankenversicherungsbeitrags der Rentner. Dazu kamen verschiedene Versuche des damaligen Bundesarbeitsministers Arendt, Sokkelelemente in die Rentenversicherung einzuführen. Man muß konstatieren, daß eine Fortsetzung dieser Tendenz unserer Alterssicherung zunehmend den Charakter einer Volksversorgung geben würde. Der Verlust des Versicherungscharakters muß jedoch aufgehalten werden Die Lebensplanung jedes einzelnen würde sonst mit Ungewißheit belastet, die für dieses Fundament unserer sozialen Sicherheit langfristig unerträglich wäre Beitragsbezogenheit und Beitragsgerechtigkeit läßt eine Beschneidung höherer Renten zugunsten niedriger Renten nicht zu Zudem würde damit auch der Eigentumscharakter von Sozialversicherungsansprüchen ausgehöhlt. Es muß nämlich beachtet werden, daß das Bundesverfassungsgericht (BVG) durch die verfassungsmäßige Garantie des Eigentums nach § GG auch Ansprüche gegenüber den Sozialversicherungsträgern geschützt sieht 14). Mit der gleichen Begründung muß auch weiterhin auf der Bruttolohnbezo- genheit der Renten bestanden werden. Entsprechende Pläne, die Sozialversicherungsrenten nettolohnbezogen anzupassen, verletzten das Äquivalenzprinzip, denn der Zusammenhang zwischen Beitrag und Rente würde zerrissen, weil die Beiträge im Erwerbsleben ja nicht vom Netto-, sondern vom Bruttolohn erhoben werden.
Diese Konstanz der Versicherungsbedingungen ist ebenso ein Erfordernis für die Stabilität des Generationenvertrages, denn die Erwerbstätigen, die mit ihren Beiträgen die Renten finanzieren, müssen wissen, welche Renten sie später selbst zu erwarten haben. Dieses Umlageverfahren über die Beiträge der Erwerbstätigen (ergänzt durch Bundeszuschüsse) hat sich erst nach und nach herausgebildet. Seit Bestehen der Bundesrepublik Deutschland sind folgende drei Verfahren zur Deckung der Rentenfinanzen angewandt worden
Bis zum Jahre 1957 war die Rentenversicherung auf das Anwartschaftsdeckungsverfahren aufgebaut. Die zufließenden Beiträge wurden thesauriert (angehäuft), um damit alle künftigen Versicherungsleistungen finanzieren zu können. Dieser Finanzierungsmodus sehr hohe verlangte Rücklagenbildung. Volkswirtschaftlich war dies jedoch wegen der damit verbundenen Kaufkraftabschöpfung widersinnig. Die Finanzierung der schnell wachsenden Versicherungsfälle war zudem nicht mehr durch eine permanente Vermögensaufstockung möglich. Dies war nicht zuletzt der Grund, bei der Rentenreform von 1957 auf das sog. Abschnittsdeckungsverfahren überzugehen. Bei dieser Methode war der Beitragssatz so zu wählen, daß die Summe von Beiträgen und Vermögen die Versicherungsleistungen eines Zeitraumes von zehn Jahren abdeckt. Aber auch dieses Verfahren offenbarte sehr rasch wieder den gleichen Mangel wie das Kapitaldeckungsverfahren.
Im Jahre 1969 wurde auch dieses Abschnittsdeckungsverfahren durch das 3. Rentenversicherungsänderungsgesetz zugunsten des derzeit praktizierten Umlageverfahrens abgeschafft. Heute gilt es, diesen Generationenvertrag nicht überzustrapazieren und damit die Lasten zwischen den Generationen zu sehr zu verschieben. Es gilt z. B. zu bedenken, daß durch die unterschiedliche Höhe der Beitrags-sätze zur Rentenversicherung sich auch die Quote der Selbstfinanzierung der Rente durch eigene Beiträge ständig ändert. Nach Berechnungen von Heubeck lag diese Quote 1965 bei 6 v. H., wogegen sie 1974 auf 38, 8 v. H. gestiegen war Es gilt darauf zu achten, daß der Alterslastquotient (das Verhältnis Erwerbstätige zu Rentnern), der sich in den nächsten Jahren ohnehin durch die demographische Entwicklung verschlechtert, nicht auf Dauer durch andere gesellschaftspolitische Maßnahmen zusätzlich belastet wird.
Die beste Gewähr für die strikte Beachtung der dargestellten ordnungspolitischen Grundlagen unserer Altersversicherung scheint die volle Anwendung des Selbstverwaltungsprinzips. Hier gilt es, sich nicht um den formalen Bestand, sondern um die fortlaufende Aushöhlung dieses Prinzips zu sorgen, denn in den letzten Jahren ist eine zunehmende Tendenz feststellbar, die Sozialversicherung immer mehr der Staatsverwaltung anzunähern
Ohne Zweifel hängen Funktionsfähigkeit und Effektivität der Selbstverwaltung im wesentlichen vom Verhalten des Staates als Gesetzgeber und Aufsichtsbehörde ab. Stellenweise wird bereits von einer „permanenten Krise" und von der Ohnmacht der Selbstverwaltung gesprochen, weil sie nur noch „wenig selbst zu verwalten habe" Der Ursprung der Sozialversicherung beruhte auf dem Gedanken einer staatlich organisierten Selbsthilfe und nicht einer vom Staat selbst durchgeführten Daseinsvorsorge. Diese Organisationsform der Rentenversicherung besteht so denn auch seit 1889 — den Anfängen der Rentenversicherung. Unterbrochen wurde sie nur durch die nationalsozialistische Regelung 1934. Die heutige Grundlage bildet das Selbstverwaltungsgesetz aus dem Jahre 1951. Diese vom Gesetzgeber zugewiesene eigenverantwortliche Ausübung bestimmter Aufgaben darf nicht nur auf dem Papier stehen, sondern muß auch in Zukunft real gegeben sein und ggf. zurückgewonnen werden, denn die langfristige und dauerhafte Sicherung unseres sozialen Leistungsnetzes kann nur durch ihre Entpolitisierung und durch ihre Einbettung in eine kontinuierliche Ordnungspolitik erfolgen
III. Aufgaben, Umfang und Finanzierung der Rentenversicherung
Abbildung 3
Tabelle 2: Durchschnittliche Höhe der laufenden Renten der Arbeiter-und Angestelltenrentenversicherung am 1. Juli 1976 DM/Monat Rentenart Berufsunfähigkeitsrente Erwerbsunfähigkeitsrente Altersruhegeld (65 Jahre) Altersruhegeld (an Arbeitslose) (60 Jahre) Altersruhegeld (62 Jahre) Altersruhegeld (63 Jahre) Versichertenrenten insges. Witwenrenten insgesamt Waisenrenten Insgesamt ArV 283, 60 408, 20 641, 20 953, 00 1 021, 10 1 102, 80 591, 30 483, 80 218, 40 AnV 348, 40 564, 10 1 034, 90 1 240, 30 1 297, 10 1-
Tabelle 2: Durchschnittliche Höhe der laufenden Renten der Arbeiter-und Angestelltenrentenversicherung am 1. Juli 1976 DM/Monat Rentenart Berufsunfähigkeitsrente Erwerbsunfähigkeitsrente Altersruhegeld (65 Jahre) Altersruhegeld (an Arbeitslose) (60 Jahre) Altersruhegeld (62 Jahre) Altersruhegeld (63 Jahre) Versichertenrenten insges. Witwenrenten insgesamt Waisenrenten Insgesamt ArV 283, 60 408, 20 641, 20 953, 00 1 021, 10 1 102, 80 591, 30 483, 80 218, 40 AnV 348, 40 564, 10 1 034, 90 1 240, 30 1 297, 10 1-
Aufgaben der Rentenversicherung und Anzahl der Rentenbezieher Aufgaben und Leistungen der Rentenversicherung haben in ihrer Entwicklung vielfältige und tiefgreifende Änderungen und eine stetige Anpassung an die sich wandelnden Strukturen von Wirtschaft und Gesellschaft erfahren. Die heutige Gestalt ist das Ergebnis einer über 80jährigen Geschichte, die 1889 mit dem Gesetz über die Invaliditäts-und Alterssicherung begann.
Die organisatorische Struktur der sozialen Alterssicherung gliedert sich in der Bundesrepublik in verschiedene Bereiche auf: Arbeiter-, Angestellten-und Knappschaftliche Rentenversicherung, Rentenversicherung der Handwerker, Rentenversicherung der Landwirte, Alterssicherung der freien Berufe, Beamten-versorgung und nicht zuletzt ein vielfältiger Bereich zusätzlicher Altersversorgungseinrichtungen (Betriebsrenten, Zusatzrente im öffentlichen Dienst etc.)
Der Aufgabenkatalog der gesetzlichen Rentenversicherung, auf welche die folgenden Darstellungen sich im wesentlichen beschränken, ist im 4. Buch der Reichsversicherungsordnung (RVO §§ 1226-1437) für die Arbeiterrentenversicherung und im Angestelltenversicherungsgesetz (AVG) für die Rentenversicherung der Angestellten fixiert. Nach diesen gesetzlichen Grundlagen sind als Aufgaben der Rentenversicherung folgende Punkte zu nennen
— Sie hat Rente zu zahlen, wenn der Beruf aus Krankheitsgründen nicht mehr ausgeübt werden kann, wenn beim Erreichen bestimmter Altersgrenzen der Ruhestand eintritt. — Die Rentenversicherung zahlt Renten an Hinterbliebene von verstorbenen Versicherten (Witwen-und Waisenrente).
— Die Rentenversicherung führt Gesundheitsmaßnahmen durch, wenn die Berufsfähigkeit durch Krankheit gefährdet ist, und veranlaßt berufsfördernde Maßnahmen, wenn die Erwerbsmöglichkeiten im bisherigen Beruf aus gesundheitlichen Gründen eingeschränkt sind.
— Sie gibt Aufklärung und Auskunft an Versicherte und Rentner, durch welche Beiträge die verschiedenen Ansprüche erworben und wie sie realisiert werden können.
— Sie übernimmt die Beitragszahlungen für die Krankenversicherung der Rentner.
Die gesellschaftliche Bedeutung dieser Leistungen als das Fundament unserer sozialen Sicherheit wird schlaglichtartig deutlich, wenn im folgenden dargestellt wird, wieviel Personen diese Leistungen in Anspruch nehmen und welche finanziellen Mittel dafür aufgewendet werden.
Die Gesamtzahl der laufenden Renten belief sich nach Darstellung der Bundesversicherungsanstalt für Angestellte (BfA) in der Arbeiter-und Angestelltenversicherung im Januar 1977 auf 11, 463 Millionen Renten (8, 144 Mio. in der Arbeiter-und 3, 319 Mio. Angestelltenversicherung).
Diese Gesamtzahl der Renten setzt sich im wesentlichen aus folgenden Rentenarten zusammen — 0, 274 Millionen Berufsunfähigkeitsrenten
— 6, 834 Millionen Erwerbsunfähigkeitsrenten und Altersruhegelder
— 3, 481 Millionen Witwenrenten
— 0, 510 Millionen Waisenrenten Der Aussagewert dieser Darstellung der Rentenfälle wäre begrenzt, wenn nicht zusätzlich dargestellt würde, welcher Anteil der Gesamtbevölkerung überwiegend von einer Rente lebt.
Im Mai 1976 lebten 11, 3 Millionen Bundesbürger, und zwar 4, 9 Mio. (16, 8 v. H.) der männlichen und 6, 4 Mio. (19, 9 v. H.) der weiblichen Bevölkerung, überwiegend von der Rente
Wie die Tabelle 1 zeigt, bestritten zum Zeitpunkt dieser Befragung fast 50 v. H. (49, 6 v. H.) in der Bevölkerungsgruppe der 60-65jährigen ihren Lebensunterhalt überwiegend von der Rente. In der Bevölkerungsgruppe der über 65jährigen lebten fast 83 v. H. (82, 7 v. H.) dieser Bevölkerungsgruppe überwiegend von der Rente. Diese Zahlen belegen in eindrucksvoller Weise, daß die gesetzliche Rentenversicherung für den weitaus größten Teil unserer älteren Mitbürger das wichtigste Fundament ihrer finanziellen Sicherung im Alter darstellt.
Die Höhe der einzelnen Renten Aus dem neuesten Rentenanpassungsbericbt der Bundesregierung ergibt sich über die Höhe der einzelnen Renten folgendes Bild Diese Tabelle zeigt einen erheblichen Unterschied zwischen den einzelnen Rentenarten und auch zwischen der Arbeiter-und Angestelltenversicherung. Die niedrigsten Renten sind die Berufsunfähigkeitsrenten — die höchsten Renten jeweils die flexiblen Altersruhegelder (63 Jahre). Bei der Arbeiterrentenversicherung ergibt sich für alle Versichertenrenten ein monatlicher Durchschnitt von 591, 30 DM und für die Angestelltenversicherung von 933, 50 DM. Dieser relativ niedrige Durchschnitt resultiert nicht zuletzt aus den bemerkenswert niedrigen Witwenrenten: In der Arbeiterrentenversicherung (ArV) 483, 80 DM und bei der Angestelltenversicherung (AnV) 694, 60 DM.
Grundsätzlich berechnet sich die Höhe einer Rente nach der seit 1957 gültigen Rentenformel. Die Faktoren, die nach dieser Rentenformel die Rente bestimmen, sind: — Die Anzahl der anrechnungsfähigen Versicherungsjahre Diese Zahl ergibt sich aus der Anzahl der Jahre, für die Beiträge geleistet wurden. Falls die Voraussetzungen für die Anrechenbarkeit gegeben sind, werden zu diesen Beitragszeiten noch Ersatzzeiten (Militärdienst), Ausfallzeiten (z. B. Zeiten der Krankheit, der Arbeitslosigkeit, der Schul-, Fachschul-oder Hochschulausbildung) und gegebenenfalls eine Zurechnungszeit (das sind bei vorzeitigem Eintritt der Berufs-oder Erwerbsunfähigkeit die Jahre bis zur Vollendung des 55. Lebensjahres) hinzugezählt. All diese Zeiten zusammen ergeben die anrechnungsfähigen Versicherungsjahre. — Der Prozentsatz der persönlichen Bemessungsgrundlage. Dieser Wert ergibt sich aus dem Verhältnis der in den einzelnen Versicherungsjahren erzielten Arbeitsentgelte zu dem jeweiligen durchschnittlichen Bruttoarbeitsverdienst aller Versicherten Dieses Verhältnis — ausgedrückt in einem Vom-Hundert-Satz — ist die persönliche Rentenbemessungsgrundlage.
Dadurch wird gewährleistet, daß sich die durchschnittliche individuelle Entgeltsituation des Arbeitnehmers während seines gesamten Arbeitslebens maßgebend auf die Höhe der Rente auswirken kann. — Die allgemeine Bemessungsgrundlage. Dieser Faktor ergibt sich aus dem durchschnittlichen Brutto-Arbeitsentgelt aller Versicherten im Mittel des dreijährigen Zeitraumes vor dem Eintritt des Versicherungsfalles Dadurch sollen bei der Festsetzung der Rente die aktuellen Lohnverhältnisse berücksichtigt werden. Aus dieser Systematik der allgemeinen Bemessungsgrundlage ergibt sich eine starke Abhängigkeit der Renten von der Entwicklung der Durchschnittsentgelte. Beträgt der jährliche Steigerungssatz der Durchschnittsentgelte z. B. 4 v. H., liegt die allgemeine Bemessungsgrundlage bei 88, 9 v. H.der jeweiligen Durchschnittsentgelte Beträgt dieser Steigerungssatz jeweils 10 v. H., so rutscht die allgemeine Bemessungsgrundlage sogar auf 75, 4 v. H. ab. Dementsprechend war das Rentenniveau in den Jahren relativ hoher Lohnsteigerungen sehr niedrig: 1971: 41, 5 v. H„ 1973 : 41, 6 v. H.
— Der Steigerung 5 v. H„ 1973 : 41, 6 v. H. 39).
— Der Steigerungssatz. Dieser Faktor beläuft sich für jedes anrechnungsfähige Versicherungsjahr bei der Rente wegen Berufsunfähigkeit auf 1, 0 v. H., bei der Rente wegen Erwerbsunfähigkeit und bei dem Altersruhegeld auf 1, 5 v. H. 40). Für die Hinterbliebenenrenten gelten die gleichen Steigerungssätze.
Aus diesen 4 Faktoren ergibt sich dann die Formel 41): VJ X PB X AB X ST, nach der sich die Jahresrente berechnet
Nach dieser Darstellung der Faktoren, die für die Höhe der Rente bestimmend sind, lassen sich auch die unterschiedlichen Rentenhöhen in Tabelle 2 leichter verstehen. Die sehr geringe Höhe der Berufsunfähigkeitsrenten ergibt sich aus dem geringen Steigerungssatz (1, 0 v. H. statt 1, 5 v. H.) und aus den meist geringen Versicherungsjahren, weil vom Zeitpunkt der Berufsunfähigkeit nur die Zeiten bis zur Vollendung des 55. Lebensjahres hinzugerechnet werden. Auch der Rentenanpassungsbericht 1977 bestätigt dies. Danach lag die durchschnittliche Anzahl der anrech-nungsfähigen Versicherungsjahre der am l. Juli 1976 laufenden Versichertenrenten bei den Berufsunfähigkeitsrenten in der ArV bei 29 und in der AnV bei 25, 7 Jahren, bei den Erwerbsunfähigkeitsrenten bei 30, 4 (ArV) und 28, 9 (AnV); beim Altersruhegeld (65 Jahre) lauten die Zahlen 37, 9 (ArV) und 38, 3 (AnV). Die höchsten durchschnittlichen Altersruhegelder mit 1 102, 80 DM in der ArV und 1 403, 50 DM in der AnV weisen auch die meisten Versicherungsjahre auf: 6 bei der ArV und 45, 4 in der AnV.
Bei der Bewertung der Höhe der einzelnen Renten gilt es jedoch, die Tatsache der Rentenkumulierung zu beachten, denn die Höhe der einzelnen Rente besagt nicht, ob der einzelne nur von dieser Rente leben muß oder ob er evtl, noch eine zweite Rente bezieht. Auf diese Fragen gibt eine Untersuchung des Statistischen Bundesamtes vom Mai 1976 A DM in der AnV weisen auch die meisten Versicherungsjahre auf: 45, 6 bei der ArV und 45, 4 in der AnV.
Bei der Bewertung der Höhe der einzelnen Renten gilt es jedoch, die Tatsache der Rentenkumulierung zu beachten, denn die Höhe der einzelnen Rente besagt nicht, ob der einzelne nur von dieser Rente leben muß oder ob er evtl, noch eine zweite Rente bezieht. Auf diese Fragen gibt eine Untersuchung des Statistischen Bundesamtes vom Mai 1976 Auskunft 45). In dieser Untersuchung wurde festgestellt, daß von den 11, 3 Millionen Personen, die im Mai 1976 überwiegend von einer Rente und dgl. lebten, 70, 0 v. H. (7, 9 Mill.) eine und 30, 0 v. H. (3, 4 Mill.) zwei oder mehr Renten bezogen haben.
Aber auch diese Zahlen sind in ihrem Aussagewert über die finanzielle Situation der Rentnerhaushalte relativ begrenzt, weil sie z. B. nichts über die absolute Höhe der kumulierten Renten aussagen.
Nach einer Untersuchung des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung 46) in Berlin stellte sich die Nettoeinkommenssituation der Rentnerhaushalte im Jahre 1976 wie folgt dar: Von den 8, 23 Millionen Rentnerhaushalten 47) mußten 850 000 (10, 3 v. H.) mit einem monatlichen Durchschnittseinkommen von 615 DM leben; rd. 1, 75 Millionen Rentnerhaushalte (21, 2 v. H.) hatten monatlich im Durchschnitt 875 DM zur Verfügung. Fast ein Drittel aller Rentnerhaushalte (2, 6 Millionen oder 31, 6 v. H.) mußten mit einem monatlichen Haushaltseinkommen von unter 1 000 DM auskommen. Weitere 3, 5 Millionen Rentnerhaushalte (43 v. H.) verfügten über ein Haushaltseinkommen zwischen 1 000 und 2 000 DM. über mehr als 2 000 DM im Monat verfügten noch rd. 2, 1 Mio. (25 v. H.) Rentnerhaushalte.
Ausgabevolumen und Finanzierung der Renten Im Jahre 1976 betrugen die Gesamtausgaben 48) der Arbeiter-, Angestellten-und Knappschaftlichen Rentenversicherung ca. 120 Mrd. DM 49). Von diesen Gesamtausgaben wurden rd. 92 Mrd. DM (77 v. H.) für Rentenzahlungen aufgewendet, 16, 3 Mrd. DM (14 v. H.) für die Krankenversicherung der Rentner 50) und 4 Mrd. DM (3 v. H.) für Gesundheitsmaßnahmen.
Finanziert wurden diese Ausgaben in erster Linie mit 85, 6 Mrd. DM Versicherungsbeiträgen Ein ebenfalls wesentlicher Einnahme-posten der Rentenversicherung waren die Bundeszuschüsse von 21 Mrd. DM. Der verbleibende Rest wurde durch Zinserträge (2, 7 Mrd. DM), Erstattungen (2, 1 Mrd. DM) und Abschmelzen der Rücklage (7, 2 Mrd. DM) aufgebracht.
Da rd. 80 v. H.der Einnahmen der Rentenversicherung aus Beiträgen bestehen, kann, von den übrigen Einnahmen abstrahierend, die Finanzierung der Renten durch folgende Gleichung dargestellt werden
Beitragssatz X Zahl der Beitragszahler X Durchschnittsentgelt = Zahl der Renten X Durchschnittsrente Aus dieser Gleichung ergibt sich für die Finanzierung des Generationenvertrages, daß die Einnahmen der Rentenversicherung u. a. wesentlich von der Belastungsquote (Anzahl der Renten in Relation zu der Anzahl der Pflichtversicherten) und vom Beitragssatz abhängig sind. Beide Faktoren haben sich seit der Rentenreform 1957 wesentlich verändert Die Belastungsquote stieg von 34, 7 v. H. 1958 über 41, 0 v. H. 1965 auf 55 v. H. 1975. Der Beitragssatz stieg ebenfalls von 14 v. H. 1957 auf 18 v. H. ab 1. 1. 1973
Ein weiterer wesentlicher Faktor zur Finanzierung der Renten, der in der Gleichung nicht berücksichtigt wurde, ist der Bundeszuschuß. Für die Ausgaben, die nach dem Versicherungsprinzip nicht Ausgaben der Rentenversicherung sind und demnach bei der Rentenbemessung als soziale Komponente Anrechnung finden (z. B. Ausbildungszeiten, Militärzeit, Zurechnungszeit, Fremdrenten etc.), leistet der Bund einen Zuschuß aus dem allgemeinen Steueraufkommen. Dieser Zuschuß liegt z. Zt. bei rd. 20 v. H.der Rentenausgaben und ist in den letzten Jahren kontinuierlich gesunken. Zudem hat der Bund sich selbst entlastet, indem er seine Zahlungen durch die Zuteilung von Schuldbuchforderungen und die Übernahme von Bundesschatzbriefen him ausgeschoben und darüber hinaus seine Verpflichtungen durch das Finanzänderungsgesetz 1967 um rd. 4, 1 Mrd. DM gekürzt hat. Für die Stabilität und Kontinuität der Finanzierung der Rentenversicherung ist es von besonderer Bedeutung, daß derartige Manipulationen in Zukunft unterbleiben und dieser Zuschuß des Bundes in angemessener Weise gezahlt wird.
IV. Ausmaß und Ursache der aktuellen Krise in der Rentenversicherung
Das Ausmaß der aktuellen Krise in der Rentenversicherung kann am besten damit beschrieben werden, daß die Bundesregierung selbst in ihrem Rentenanpassungsbericht 1977 davon ausgeht, bis 1980 in der Rentenversicherung eine finanzielle Lücke von rd. 80 Mrd. DM schließen zu müssen. Nachdem nun die gesetzlichen Maßnahmen, die diese Sanierung bewirken sollten am 1. 7. 1977 in Kraft getreten sind, mußte das Bundeskabinett am 14. 9. 1977 bereits über zusätzliche Maßnahmen zur Rentensanierung entscheiden, die aber nach neuesten Berechnungen des Verbandes Deutscher Rentenversicherungsträger vom 17. 10. 1977 und der Bundesversicherungsanstalt für Angestellte vom 2. 11. 1977 immer noch nicht ausreichen werden.
Für diese Entwicklung lassen sich im wesentlichen folgende Faktoren anführen:
Verringerung der Einnahmesteigerungen durch die wirtschaftliche Rezession Als wesentliche und auslösende Ursache für die Wende in der Finanzsituation der Rentenversicherung kann die wirtschaftliche Rezession, die 1974 einsetzte, genannt werden. Sie hat dazu geführt, daß:
— die Arbeitslosigkeit zunahm — die geleisteten Arbeitsstunden — insbesondere die Überstunden — zurückgingen — ausländische Arbeitnehmer abwanderten und — die Lohnsteigerungen sich abflachten All diese Faktoren bewirkten, daß die Beitragseinnahmen erheblich langsamer stiegen: Der Zuwachs verringerte sich von 18, 5 v. H, 1973 und 10, 7 v. H. 1974 auf 5, 8 v. H. 1975 und 8, 4 v. H. 1976
Erheblicher Ausgabenanstieg durch politische Entscheidungen Gerade in .der Phase sich abflachender Konjunktur wirkten sich die Maßnahmen finanziell spürbar aus, die der Gesetzgeber Anfang der siebziger Jahre beschlossen hatte. Zum einen war dies das Gesetz über den Wegfall des Beitrages der Rentner zur Krankenversicherung (1970) mit der dann noch zusätzlich beschlossenen Rückzahlung der 1968 und 1969 gezahlten Beiträge zur Rentnerkrankenversi58 cherung. Zum anderen war es das Rentenreformgesetz von 1972 mit der flexiblen Alters-grenze, Rente nach Mindesteinkommen, Vor-ziehung des Rentenanpassungstermines u. a. Bis 1976 ergibt sich als Auswirkung dieser Reform für ArV und AnV eine Mehrbelastung von 41, 5 Mrd. DM
Ausgabenanstieg durch die antizyklische Renteniormel Durch die Konstruktion der allgemeinen Bemessungsgrundlage hinken die Renten im Mittel drei Jahre hinter den Löhnen her Durch diese Rentenformel waren die Rentenanpassungssätze auch in den Jahren sich wesentlich abschwächender Lohnentwicklungen noch sehr hoch So betrug die Anpassung am 1. 7. 75 11, 1 v. H„ 1976 11, 0 v. H. und schließlich am 1. 7. 77 9, 9 v. H. Diesen sehr hohen Zuwachsraten auf der Ausgabenseite, welche die Lohnentwicklung 1971— 1975 widerspiegeln, stehen auf der Einnahmeseite jetzt nicht mehr die entsprechenden Steigerungsraten der Löhne gegenüber, was einem Ausgabenüberhang gleichkommt.
Starke Zunahme der Renten aus demographischen und arbeitsmarktpolitischen Gründen Die flexible Altersgrenze, die Öffnung der Rentenversicherung sowie der durch die Rechtsprechung erleichterte Bezug von Erwerbs-und Berufsunfähigkeitsrenten und nicht zuletzt die Bevölkerungsentwicklung haben dazu geführt, daß die Rentenbestände bei der BfA um 28, 7 v. H. und bei der Arbeiterrentenversicherung um 18, 11 v. H. zugenommen haben. Die Gesamtzahl der laufenden Renten stieg von 9, 2 Millionen 1970 auf 11, 4 Millionen am 1. 1. 1976 Auch diese Faktoren bedeuten für die Rentenversicherung einen wesentlichen Anstieg der Ausgaben. Für die absehbare Zukunft erwarten die Rentenversicherungsträger, daß die Anzahl der Versicherten-und Hinterbliebenenrenten von 11, 1 Mio. im Januar 1976 auf 12, 9 Mio. im Januar 1985 ansteigen wird. Weil die Zahl der Versicherten nur von 27, 2 Mio. auf 29 Mio. steigen wird, ergibt sich eine Verschlechterung der Belastungsrelation von 2, 45 auf * 24
Zudem wurde die aktuelle und mittelfristige Entwicklung der Rentenfinanzen durch die mangelnde Prognosefähigkeit und durch die Verschleppung der Probleme teilweise mit-verursacht und verschärft. Als Beispiel dafür sei nur angeführt, daß der Rentenanpassungsbericht 1971 für Ende 1985 noch ein Rücklagevermögen von 132 Mrd. DM schätzte; der Rentenanpassungsbericht 1972 erwartete für Ende 1976 200 Mrd. DM *Uberschuß selbst diese Schätzung korrigierte das Bundesministerium für Arbeit im September 1972 nochmals auf 221 Mrd. DM nach oben
Als dann offenkundig war, daß die tatsächliche Entwicklung diesen Erwartungen völlig entgegengesetzt verlaufen würde, hat die Bundesregierung die warnenden Stimmen aller Sachverständigen (Verband Deutscher Rentenversicherungsträger, BfA, Bundesbank etc.) lange Zeit (über die Bundestagswahl 1976 hinweg) ignoriert und damit wertvolle Zeit zur Lösung der Probleme verstreichen lassen. Durch diese offenkundige Verschleppung der Probleme wurden die Maßnahmen zur Sanierung, die im folgenden dargestellt werden, natürlich schwieriger.
V. Die angebotenen Lösungsmöglichkeiten zur Bewältigung der aktuellen Krise
Nachdem offizielle Zahlen über das bis 1980 zu erwartende Defizit von der Bundesregierung erstmals im Zusammenhang mit der Vorlage des Rentenanpassungsberichtes 1977 vorgelegt worden waren, war der Ausgangspunkt für alle Parteien die Überlegung, für den Zeitraum 1977— 1980 Maßnahmen zur Deckung einer Finanzierungslücke von rd. 83 Mrd. DM vorzuschlagen. Man konnte davon ausgehen, daß ein Finanzierungsbedarf in dieser Größenordnung nicht allein von den Rentnern oder allein von den Beitragszahlern aufzubringen ist, also alle gesellschaftlichen Gruppen einbezogen werden mußten.
Die im Rentenanpassungsbericht und in einem Gesetzentwurf vom 20. 1. 1977 von der Bundesregierung vorgelegten Lösungsvorschläge zur Sanierung der Rentenversicherung umfaßten folgende Schwerpunkte: — Erhöhung der Renten um 9, 9 v. H. zum 1. 7. 1977; aber Verschiebung der darauffolgenden Rentenanpassung um ein halbes Jahr auf den 1. 1. 1979. Die ursprünglich vom Bundeskabinett im Dezember beschlossene sofortige Verschiebung der Rentenanpassung war auf den einhelligen Protest der Öffentlichkeit gestoßen und als ein Bruch eines im Wahlkampf gegebenen Versprechens gewertet worden.
— Verlagerung der Kosten für die Rentenversicherungsbeiträge von Arbeitslosen, die die Bundesanstalt für Arbeit ab dem 1. 1. 1979 übernehmen soll.
— Änderung der Rentenformel durch die Umstellung der Bemessungsgrundlage von der bruttolohnbezogenen auf die nettolohnbezogene Rentenanpassung, zunächst für die Jahre 1979 und 1980.
— Verschiebung des Bemessungszeitraumes für die Rentenanpassungen um ein Jahr. Mit dieser sog. Teilaktualisierung wird das Jahr 1974 übersprungen, ein Jahr, in dem eine der höchsten Lohnsteigerungen nach dem Kriege erreicht worden war.
— Abschmelzen des Rücklagevermögens der Rentenversicherung von bisher mindestens drei Monatsausgaben auf eine Monatsausgabe. — Verlagerung von Kosten der Krankenversicherung der Rentner von der Renten-auf die Krankenversicherung, indem die Krankenversicherung statt wie bisher 17 v. H. nur noch 11 v. H.der Rentenausgaben erhält.
Diese und einige andere finanziell nicht so ins Gewicht fallende Maßnahmen wurden vom Bundesarbeitsminister als zur Sanierung der Rentenversicherung ausreichend bezeichnet. Wegen der Kostenverlagerung auf die Krankenversicherung wurde gleichzeitig ein Krankenversicherungs-Kostendämpfungsgesetz vorgelegt, das — nach Aussagen des Bundesarbeitsministers — eine Beitragserhöhung in der Krankenversicherung vermeiden sollte.
Folgt man diesen Aussagen, dann sind in der Solidargemeinschaft der Rentenversicherten ausschließlich die Rentner belastet worden. Die Einbußen entsprechen für diesen Zeitraum dem 21/2fachen einer Monatsrente.
Sowohl an den vorgeschlagenen Maßnahmen als auch an den dem errechneten Defizit zugrunde gelegten gesamtwirtschaftlichen Annahmen wurde heftige Kritik geübt. Die Kritik konzentrierte sich im wesentlichen auf drei Ansatzpunkte: — Die Maßnahmen seien zu knapp bemessen, weil die Annahmen über das Defizit zu optimistisch eingeschätzt würden; daher keine dauerhafte Lösung — Die Maßnahmen würden die Probleme nicht lösen, sondern sie auf andere Träger innerhalb der sozialen Sicherung verschieben: Durch die Verlagerung von rd. 30 Mrd. DM auf die Krankenversicherung würden zu der bisherigen Kostenexplosion im Gesundheitswesen weitere Belastungen treten, die ohne eine Beitragserhöhung in der Krankenversicherung nicht aufgefangen werden könnten; durch die Verlagerung von rd. 5 Mrd. DM auf die Bundesanstalt für Arbeit würde diese bei schlechterem Konjunkturverlauf ebenfalls nicht ohne eine Beitragserhöhung oder höhere Bundeszuschüsse auskommen. — Die Maßnahmen (Nettoanpassung, Teilaktualisierung) seien ordnungspolitisch bedenklich, weil sie die Rentenformel verändern und damit zu einer Unsicherheit über die Kontinuität der Rentenleistungen führen würden.
Die CDU/CSU-Opposition hatte ihre Bereitschaft, an der Lösung des Sanierungsproblems mitzuwirken, von der Bedingung abhängig gemacht, daß nur Maßnahmen ergriffen würden, die mit den ordnungspolitischen Grundlagen der Rentenversicherung übereinstimmen würden. Unter diesem Gesichtspunkt gab es zwischen Opposition und Regierung keine Meinungsverschiedenheiten über die Rentenanpassung zum 1. 7. 1977 und über die Verschiebung des nächsten Anpassungstermins. Auch die Übernahme der Rentenversicherungsbeiträge der Arbeitslosen durch die Bundesanstalt für Arbeit wurde als „systemgerecht“ angesehen und mitgetragen. Aber zentrale Punkte des Regierungskonzepts stießen bei der Opposition auf Ablehnung, weil sie darin „Flickschusterei“ und eine „Manipulation der Rentenformel“ sah. Die Position der Opposition hatte ihr sozialpolitischer Sprecher, Hans Katzer, zu Beginn des Jahres in einem Interview umrissen:
Festhalten an der bruttolohnbezogenen Rente und statt der Nettoanpassung und Teilaktuali23 sierung ein Krankenversicherungsbeitrag der Rentner
An diesen grundsätzlichen Unterschieden entzündete sich die Auseinandersetzung zwischen Regierung und Opposition. Im Rahmen der Maßnahmen zur Beschränkung des Ausgabenzuwachses hat die Bundesregierung die Absicht geäußert, bei der Anpassung der Bestandsrenten für 1979 und 1980 „als untere Grenze ... die Entwicklung der Bruttoeinkommen nach Abzug von Steuern und Sozialabgaben" zu setzen Dabei wird an der bisherigen Bemessung der Renten nach den Bruttoarbeitsentgelten kritisiert, daß dieses Anpassungsverfahren die ständig steigende Belastung der Aktivverdienste mit Steuern und Sozialabgaben nicht berücksichtigt. Für die Rentner bedeutet die Umstellung der Rentenformel auf Nettobasis, daß die Rentenanpassung um ca. 1, 5 Prozentpunkte niedriger ausfällt. Nimmt man noch die „Teilaktualisierung“ hinzu, die mit der „Hinführung der allgemeinen Bemessungsgrundlage um ein Jahr näher an die aktuelle Lohnentwicklung“ begründet wird dann wird die Rente zum 1. 1. 1979 statt wie bisher angenommen nach bisherigem Rentenrecht um ca. 8, 4 v. H. nur noch um 6, 1 v. H. angehoben.
Ebenso wie der Sozialbeirat beim Bundesarbeitsministerium hat auch die Opposition diese Maßnahmen aus ordnungspolitischen Gründen abgelehnt und stattdessen einen sozial gestaffelten Krankenversicherungsbeitrag gefordert. Die Bedenken gegen die Nettoanpassung richten sich auf folgende Punkte:
— Das Nettoprinzip trifft alle Rentner pauschal. Die kleinen Renten werden relativ sogar stärker belastet. Die niedrigen Renten werden damit noch weiter absinken und zu einem großen Teil unter die Sozialhilfe fallen.
— Die Rente ist zeitlich versetzter Lohn, auf den im Arbeitsleben verzichtet wurde. Das Bruttoprinzip ist eine notwendige Konsequenz der Lohnersatzfunktion, da auch die Beiträge zur Rentenversicherung vom Bruttolohn gezahlt werden.
— Das Nettoprinzip schafft neue Ungerechtigkeiten. Da die Festsetzung der Neurenten weiterhin nach dem Bruttoprinzip, die Anpassung der Altrenten aber nach dem Nettoprinzip erfolgen soll, werden alle die, die zeitlich später in die Rente gehen, eine höhere Rente erhalten, auch bei gleichen Voraussetzungen an Versicherungszeiten und Beitragszahlungen. — Das Nettoprinzip bringt die Rentenanpassung in Abhängigkeit von der Pinanzsituation des Staates. Uber die Festsetzung der Steuer-sätze kann auch die Rentenhöhe beeinflußt werden. Beim Bruttoprinzip entscheiden nur die Tarifpartner über die Lohnentwicklung und damit über die Rentenanpassung. — Und die Teilaktualisierung mit dem überspringen des Jahres 1974 führt dazu, daß die Renten an einer der höchsten Lohnsteigerungen nach dem Kriege keinen Anteil erhalten.
Das Abschmelzen der Rücklagen der Rentenversicherung von bisher drei Monatsausgaben auf eine Monatsausgabe wird von der Opposition nur als eine vorübergehende Maßnahme für den äußersten Notfall akzeptiert; als langfristige Maßnahme wird sie abgelehnt. Der Verband Deutscher Rentenversicherungsträger hat darauf hingewiesen, daß die Rücklagen ihre Aufgabe der Abdeckung von Risiken dann nicht erfüllen können, wenn sie zu gering angesetzt sind. Die Rücklage von einer Monatsausgabe aber bringt die Rentenversicherung schon bei kleinsten Konjunkturschwankungen in die Abhängigkeit der Bundesregierung. Damit wird die Unabhängigkeit der Selbstverwaltung in der Rentenversicherung ausgehöhlt.
Ein weiterer Schwerpunkt der Auseinandersetzung war die Verlagerung von Kosten in Höhe von 30 Mrd. DM auf die Krankenversicherung. Die Krankheitskosten der Rentner sind bisher überwiegend von der Rentenversicherung getragen worden. Sie hat dafür zuletzt 17 v. H.der Rentenausgaben an die Krankenversicherung abgeführt. Jetzt soll die Krankenversicherung für einen größeren Teil dieser Krankheitskosten der Rentner aufkommen und nur noch 11 v. H.der Rentenausgaben erhalten. Eine Anhörung von Sachverständigen im Bundestagsausschuß für Arbeit und Sozialordnung hat deutlich gemacht, daß trotz des Kostendämpfungsgesetzes im Gesundheitswesen mit einer Beitragserhöhung von 1, 2— 1, 5 Prozentpunkten gerechnet werden muß. Diese Feststellung ist noch nicht dadurch korrekturbedürftig geworden, daß eine Reihe von Krankenkassen eine vorläufige Beitragsstabilität signalisiert haben. Selbst wenn man die Wirksamkeit der Kostendämpfungsmaßnahmen unterstellt, dann werden diese nach Ansicht des Sozialbeirates dringend notwendig sein, um allein die bisherige Kostenentwicklung im Gesundheitswesen aufzufangen Damit stellte sich für die Sanierung der Rentenversicherung nur die Frage, ob eine Beitragserhöhung in der Renten-oder in der Krankenversicherung vorgenommen werden sollte. Nach Ansicht des DGB wäre es sachdienlicher und gerechter gewesen, wenn die Problemlösung überwiegend in der Rentenversicherung versucht worden wäre Wohl in der Hoffnung, im Bundesrat zusammen mit der FDP Veränderungen der Rentengesetze erreichen zu können, hatte auch die CDU/CSU der Krankenversicherung eine — allerdings geringere — Kostenbelastung zumuten wollen. Doch hat die Bundesregierung ihre Vorschläge ohne große Abweichungen durch den Bundestag gebracht. Da der Bundesrat eine Zustimmungspflicht für das Gesetz nicht sah, konnte die CDU/CSU in der politischen Verknüpfung mit dem Krankenversicherungs-Kostendämpfungsgesetz nur noch eine Erklärung von Bundesarbeitsminister Ehrenberg erreichen, in der zugesichert wird, die „Abweichung von der bruttolohnbezogenen Anpassung zu überdenken".
VI. Zukünftige Probleme in der Rentenversicherung
Risiken der wirtschaftlichen Entwicklung In dem vom Bundesarbeitsministerium herausgegebenen „Bundesarbeitsblatt“ schreibt Bundesarbeitsminister Ehrenberg in der August/September-Ausgabe: „Für die soziale Sicherung in unserem Lande ist der 1. Juli 1977 ein markantes Datum. Durch die an diesem Tage in Kraft getretenen Sozialgesetze, das Gesetz zur Zwanzigsten Rentenanpassung und zur Verbesserung der Finanzgrundlagen der gesetzlichen Rentenversicherung ... wurde das bewährte Netz der sozialen Sicherung gefestigt, Schwachstellen wurden beseitigt und notwendige Fäden zu seiner Konsolidierung und Stabilisierung eingezogen." Die Bundesregierung hatte mit diesem Gesetzespaket zweifellos die Hoffnung verbunden, diese Maßnahmen würden ausreichen, um die finanzielle Lage in der Rentenversicherung bis 1980 zu konsolidieren. Uber die langfristigen Probleme würde man sich in der nächsten Legislaturperiode nach 1980 unterhalten. Bis dahin sollte „Ruhe an der Rentenfront“ herrschen.
Aber bereits ab Mitte August — seit Verabschiedung der Rentengesetze waren noch nicht einmal zwei Monate vergangen — häufen sich die Stimmen, die die Finanzgrundlagen der Rentenversicherung noch vor 1980 wieder gefährdet sehen und für den Zeitraum bis 1980 weitere Defizite bis zu mehr als 15 Mrd. DM errechnen
Diese Befürchtungen knüpfen alle an den Annahmen-an, die den Sanierungsmaßnahmen zugrunde gelegt worden sind. Denn diese Annahmen gehen davon aus, daß die Zahl der Arbeitslosen von 850 000 (1977) auf 630 000 (1980) abgebaut werden kann und bis 1980 jährlich eine durchschnittliche Lohnsteigerung von nominal 7, 5 v. H. möglich wird. Nur unter diesen Voraussetzungen ergibt sich ein Defizit von (nur) 83 Mrd. DM und nur unter diesen Voraussetzungen können die beschlossenen Maßnahmen auch als ausreichend angesehen werden.
Aber spätestens mit der Bekanntgabe der Julizahlen über die Entwicklung des Arbeitsmarktes, die einen erneuten Anstieg der Arbeitslosenquote anzeigten, und mit den Signalen aus der Wirtschaft, die einen Stillstand der Antriebskräfte andeuteten, ist eine allgemeine Ernüchterung eingetreten.
Aus der sich abzeichnenden wirtschaftlichen Entwicklung ergeben sich folgende Konsequenzen: — Die Bundesregierung hat für 1977 850 000, für 1978 775 000, für 1979 700 000 und für 1980 630 000 Arbeitslose unterstellt. Die Renten-versicherungsträger dagegen erwarten bereits jetzt eine Arbeitslosigkeit von 1 Mio. für 1977 und von 950 000 für 1978.
Wahrscheinlicher aber noch ist nach Angaben des Münchner-Ifo-Instituts ein kontinuierlicher Anstieg der Arbeitslosigkeit von 1, 05— 1, 1 Mio. (1977) auf 1, 3 Mio. (1980).
Legt man die Faustformel zugrunde, daß 200 000 Arbeitslose für die Rentenversicherung pro Jahr einen Beitragsausfall von 1 Mrd. DM bedeuten, dann muß bis 1980 mit einem Einnahmeausfall von rd. 5— 8 Mrd. DM gerechnet werden.
Allerdings soll nach dem 20. Rentenanpassungsgesetz die Bundesanstalt für Arbeit ab 1. 1. 1979 die Rentenversicherungsbeiträge für die Arbeitslosen übernehmen, so daß die Rentenversicherung ab 1979 von der Entwicklung der Arbeitslosigkeit unabhängig wäre. Unter Beibehaltung des jetzigen Beitragsniveaus von 3 v. H. für die Arbeitslosenversicherung könnte die Bundesanstalt für Arbeit diese zusätzliche Verpflichtung, die von der Bundesregierung für 1979 und 1980 mit 4, 9 Mrd. DM beziffert wird, aber nur leisten, wenn die von der Bundesregierung angenommene Arbeitslosenentwicklung eintreten würde. Da davon nicht mehr die Rede sein kann, müßte entweder die Bundesanstalt für Arbeit die Beiträge erhöhen oder der Bund das Defizit übernehmen.
— Auch die Entwicklung der Bruttolöhne der Versicherten dürfte hinter den ursprünglichen Annahmen der Bundesregierung von durchschnittlich 7, 5 v. H. bis 1980 Zurückbleiben. Die neue Zielprojektion, die laut Presseberichten auf der Sitzung des Wirtschaftskabinetts der Regierung am 9. 8. 1977 in Hamburg festgelegt wurde, sieht zumindest für 1978 nur noch eine Steigerung von 6— 6, 5 v. H. Eine Faustformel aber besagt, daß ein um 1 v. H. geringerer Anstieg der durchschnittlichen Bruttolöhne für die Rentenversicherung einen jährlichen Beitragsausfall von 1 Mrd. DM bedeuten würde. Unterstellt man bis 1980 diese geringere Lohnsteigerung, hätte die Rentenversicherung einen weiteren Einnahmeausfall von 3— 3, 5 Mrd. DM. Die *»Zeit rechnet sogar mit einem „Minus von mindestens sechs, wahrscheinlich aber ... acht bis neun Mrd. DM“
— Bei den Maßnahmen zur Sanierung der Rentenversicherung ist zumindest für die Jahre 1979 und 1980 statt der bisherigen bruttolohnbezogenen Rentenanpassung nur noch eine Steigerung entsprechend der Nettolohn-entwicklung unterstellt Die Nettolohnanpassung soll der Rentenversicherung rd. 3, 5 Mrd. DM einsparen. Die Einhaltung dieser Maßnahme wird — unabhängig von der Erklärung, die Ehrenberg vor dem Bundesrat abgegeben hat und die eine Überprüfung der Nettolohnanpassung in Aussicht stellt — schon allein aus wirtschaftspolitischen Uber-legungen schwierig werden. Denn das Abflachen des Wirtschaftswachstums hat Bundestag und Bundesrat dazu veranlaßt, durch Steuersenkungen bzw. durch Erhöhung der steuerlichen Freibeträge der Wirtschaft neue Impulse zu geben. Durch den Abbau der Steuerbelstung steigen die Nettolöhne stärker als ursprünglich angenommen, so daß die nettolohnbezogene Rentenanpassung zum akuten Sanierungsbedarf keinen wesentlichen Beitrag mehr leistet Rechnet man zu diesen durch die schlechtere wirtschaftliche Entwicklung bedingten Einnahmeausfällen noch Mehrausgaben von 1 Mrd. DM hinzu, die dadurch entstehen, daß die ursprüngliche Absicht der Bundesregierung, die Kosten für die berufliche Rehabilitation von der Rentenversicherung auf die Bundesanstalt für Arbeit zu übertragen, schon im Gesetzgebungsverfahren nur teilweise verwirklicht werden konnte, dann muß selbst bei vorsichtiger Schätzung von einem neuen Defizit von rd. 10 Mrd. DM bis 1980 in der Rentenversicherung ausgegangen werden — ein Defizit, das durch die vorhandenen Rücklagen der Rentenversicherung nicht abgedeckt werden kann, da der Abbau dieses Vermögens von der Bundesregierung bereits für die bisherigen Rechnungen miteinbezogen war.
Durch diese Entwicklung sah sich die Bundesregierung veranlaßt, ihre gesamtwirtschaftlichen Annahmen zu korrigieren und erneut Maßnahmen zur Unterstützung der Rentenversicherung zu ergreifen. Statt einer bisher angenommenen Steigerung der Bruttoentgelte von jeweils 7, 5 v. H. bis 1980, erwartet man jetzt 6, 5 v. H.; die Arbeitslosenzahlen werden für 1977— 1980 um 120 000— 180 000 höher eingeschätzt. Am 14. 9. 1977 beschloß das Bundeskabinett, die Übernahme der Rentenversicherungsbeiträge für Arbeitslose durch die Bundesanstalt für Arbeit um ein halbes Jahr vorzuziehen, die Kindergeldzuschüsse der Rentenversicherung durch den Bund abzudekken und die Schulden des Bundes bei der Rentenversicherung vorzeitig zurückzuzahlen — Maßnahmen, die zusätzlich rd. 8 Mrd. DM kosten
Aber auch diese Annahmen, die den „Nachbesserungen" zugrunde gelegt worden sind, wird die Bundesregierung noch weiter nach unten korrigieren müssen. Nach dem neuesten Jahresgutachten des Sachverständigenrates zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung vom November 1977 wird man für 1978 mit einer Arbeitslosenzahl über der Millionengrenze und mit einer Steigerung der Bruttoentgelte von höchstens 5, 5 v. H. rechnen können. Der Verband Deutscher Rentenversicherungsträger erwartet bis 1981 einen Abbau des Rücklagevermögens auf minus 0, 5 Mrd. DM.
Damit steht auch der Termin der nächsten Diskussionsrunde um die Lage der Rentenversicherung bereits fest. Spätestens Ende März nächsten Jahres muß die Bundesregierung den Rentenanpassungsbericht 1978 dem Bundestag vorlegen. In diesen Bericht wird sie sowohl die Änderung der wirtschaftlichen Daten einbeziehen als auch zusätzliche Maßnahmen zur Sanierung der Rentenfinanzen Vorschlägen müssen, wie Ehrenberg es bereits auf einer Pressekonferenz am 15. 9. 1977 ankündigte Der Vorschlag eines Krankenversicherungsbeitrags der Rentner steht als Alternative zur Nettoanpassurg im Raum.
Auswirkungen struktureller Veränderungen Neben der finanziellen Belastung wegen ungünstiger wirtschaftlicher Entwicklung treten durch politische und gerichtliche Entscheidungen, aber auch durch gesellschafts-und bevölkerungspolitische Entwicklungen strukturelle Veränderungen auf, die weitere finanzielle Belastungen für die Rentenversicherung mit sich bringen. Diese Veränderungen bewirken fast durchweg eine Verschlechterung des Verhältnisses von Versicherten zu Rentnern mit der Folge, daß ein bestehendes Leistungsniveau für die Rentner nur bei steigender Belastung der Erwerbstätigen aufrechterhalten werden kann.
Z. B. konnte man bisher davon ausgehen, daß aufgrund der demographischen Entwicklung das Verhältnis Versicherte/Rentner sich bis 1985 verbessern würde Dieser Trend ist durchbrochen worden, weil die Mehrzahl nicht mehr mit 65 Jahren, sondern früher den Rentenantrag stellt Eine Übersicht über die Rentenanträge 1976, aufgegliedert nach der Leistungsart, zeigt, daß in der Angestelltenversicherung nur noch rd. 22 v. H., in der Arbeiterrentenversicherung sogar nur noch rd. 14 v. H.der Neurenten auf Altersruhegelder zum 65. Lebensjahr entfallen Nur im Zeitraum von 1976 bis 1980 wird die Zahl der Neurentner abnehmen; danach werden sie laufend zunehmen mit einer durchschnittlichen jährlichen Steigerungsrate von etwa 4, 5 v. H. Aufgrund dieser Entwicklung wird der gesamte Rentenbestand nach Schätzungen der BfA in dem Zeitraum von 1976 bis 1985 um fast 17 v. H. auf ca. 13 Mio. Rentner ansteigen. Damit steigt die Belastungsquote. Während 1975 rd. 2, 5 Versicherte eine Rente finanzieren mußten, werden es 1985 nur 2, 25 Versicherte sein.
Die Gründe für diese Entwicklung müssen gesehen werden in den politischen Entscheidungen der Rentenreform 1972 mit der Herabsetzung der flexiblen Altersgrenze auf 63 Jahre, der Öffnung der Rentenversicherung für Selbständige und Hausfrauen mit der Möglichkeit der Nadientrichtung von Beiträgen, in der gerichtlichen Entscheidung des Bundessozialgerichtes, die den Bezug von Erwerbs-und Berufsunfähigkeitsrenten erleichtert hat, und tendenziell — als langfristige gesellschaftsund bevölkerungspolitische Entwicklung — in den sich in allen Industriegesellschaften herausbildenden längeren Ausbildungszeiten der Noch-nicht-Erwerbstätigen und der größeren Lebenserwartung der Menschen. In nicht allzu ferner Zukunft wird das Verhältnis Versicherte/Rentner noch durch die demographische Entwicklung erheblich verschärft, wenn der zu erwartende „Rentnerberg" — insbesondere zu Beginn des nächsten Jahrhunderts — einem „Tal" der Erwerbstätigen („Pillenknick") gegenübersteht
Die Herabsetzung der Altersgrenze wird von rd. 70 v. H. in Anspruch genommen. Sie ist derart konstruiert, daß kaum noch ein Anreiz besteht, über das 63. Lebensjahr hinaus zu arbeiten. Eine echte Flexibilität mit versicherungsmathematischen Zu-und Abschlägen besteht nicht. Die vorgezogene Altersgrenze belastet dementsprechend die Rentenversicherung auf der Einnahmeseite durch den Verlust an Beitragszahlern, weil die Versicherten praktisch zwei Jahre weniger Beiträge zahlen, und auf der Ausgabenseite, weil zwei Jahre länger Rente gezahlt werden muß. Diese Mehrbelastung belief sich in dem Zeitraum von 1972 bis 1977 auf rd. 13, 5 Mrd. DM
In der aktuellen arbeitsmarktpolitischen Diskussion ist der Vorschlag diskutiert worden, zum Abbau der hohen Arbeitslosigkeit über die „Verkürzung der Lebensarbeitszeit“ das vorhandene Arbeitsvolumen einzuschränken. Aber: Selbst wenn die weitere Herabsetzung der Altersgrenze auf 60 Jahre dazu führt, daß die eher aus dem Erwerbsleben Ausscheidenden voll durch gegenwärtig Arbeitslose ersetzt und durch Einsparungen der Arbeitslosenversicherung finanziert würden — eine Annahme, die äußerst fraglich ist, hier aber nicht weiter untersucht werden soll —, kommt auf die Rentenversicherung eine Mehrbelastung zu, weil per Saldo die Aufwendungen für einen Rentner um 5 700— 8 000 DM höher liegen als für einen Arbeitslosen. Vor dem Hintergrund der demographischen Entwicklung, wonach ab 1990 die arbeitsmarktpolitische Situation sich in ihr Gegenteil verkehren und sich ein äußerst ungünstiges Verhältnis von Versicherten und Rentnern einstellen wird, verbieten sich aber alle Maßnahmen, die nicht wieder rückgängig zu machen sind. Eine unbefristete Herabsetzung der Alters-grenze aber dürfte politisch kaum reversibel sein.
Die öftnung der Rentenversicherung für Selbständige und Hausfrauen hat ebenfalls zu einer Erhöhung der Neurenten und damit des Rentenbestandes geführt, so daß „die Zahl der Rentner nicht parallel zur Bevölkerung in den entsprechenden Altersgruppen, sondern . .. überproportional“ angewachsen ist Vor allem Frauen, die bisher keine eigenen Rentenansprüche hatten, haben diese Möglichkeit genutzt; vielfach ist sie aber auch nur wahrgenommen worden, um mit einer kleinen Rente in den Genuß der kostenlosen Krankenversicherung für Rentner zu gelangen. , Bereits jetzt ist der „Anteil der Berufsunfähigkeits- und Erwerbsunfähigkeitsrenten an Personen, die beim Rentenbeginn 59 Jahre und jünger sind, sehr hoch“ Von den 1976 gestellten Rentenanträgen betrafen in der Angestelltenversicherung rd. 40 v. H. Renten für Berufs-oder Erwerbsunfähigkeit. Nach dem Urteil des Bundessozialgerichtes vom 10. 12. 1976 muß mit einem weiteren Anstieg dieser Leistungsarten gerechnet werden.
Danach besteht bereits ein Anspruch auf Erwerbsunfähigkeitsrente, wenn in dem zuständigen Arbeitsamtsbereich für den jeweils Betroffenen kein Arbeitsplatz zur Verfügung steht. Hier soll keine Wertung der Entscheidung des Bundessozialgerichtes vorgenommen werden, die für die Betroffenen sicherlich eine Entlastung darstellt. Aus der Sicht der Rentenversicherung stellt sich aber die Frage, ob damit nicht „versicherungsfremde“ Risiken, nämlich Arbeitsmarktrisiken, die eigentlich von der Bundesanstalt für Arbeit zu tragen wären, der Rentenversicherung aufgebürdet werden.
Eine Untersuchung der demographischen Entwicklung macht deutlich, daß in den Jahren 2005— 2010, insbesondere aber um das Jahr 2035 ein „Rentnerberg" auf uns zukommt, demgegenüber der „kleine Rentner-berg“ bis 1980 „noch relativ problemlos im Rahmen des bestehenden Rentensystems überwunden werden kann“ Während der Anstieg der Zahl der Rentner bis 1980 gleichzeitig mit einem Anstieg der Zahl deutscher Erwerbspersonen verbunden ist, wird zu Beginn des nächsten Jahrhunderts die Zahl der im Rentenalter stehenden Personen mit 1, 5 Mio. Personen über dem Niveau von 1970 liegen, die Zahl der deutschen Erwerbspersonen aber — wegen des Geburtenrückgangs — ab 1990 ständig abnehmen. Nach Angaben der Bundesregierung, die wegen der oben angezeigten strukturellen Veränderungen allerdings nicht die tatsächliche Belastung für die Rentenversicherung und für die Versicherten widerspiegeln, kamen 1975 als Belastungsquote auf 100 Personen im erwerbsfähigen Alter zwischen 15 und unter 65 Jahren 24 Personen, die älter als 65 Jahre waren. Diese Belastungsquote wird sich — bei einer ungünstigen Variante — verschlechtern auf 46 Personen über 65 Jahre Die langfristige Bevölkerungsentwicklung wird in dem bestehenden Rentensystem ohne Frage erhebliche Schwierigkeiten aufwerfen. Maßnahmen, die das Rentensystem berühren, sollten deshalb diese Entwicklung miteinbeziehen.
Anforderungen an eine zukünftige Renten-politik
Gleichstellung von Mann und Frau im Rentenrecht
Eines der wohl schwierigsten Probleme, das in der nächsten Legislaturperiode auf den Gesetzgeber zukommt und eine grundlegende Änderung des Rentenrechts mit erheblichen finanziellen Belastungen für die Rentenversicherung erforderlich macht, ist die Beseitigung der ungleichen Behandlung von Mann und Frau in der Altersversorgung. Das BVG hat nun mit Urteil vom 12. 3. 1975 dem Gesetzgeber den konkreten Verfassungsauftrag erteilt, „eine Neuregelung vorzusehen, die einen Verstoß gegen Art. 3 Abs. 2 und 3 GG für die weitere Zukunft ausschließt". Angesichts der Schwierigkeiten und der umfangreichen und zeitraubenden Vorarbeiten ist dem Gesetzgeber eine Frist bis 1984 gegeben worden. Dieses Urteil bezieht sich auf die Regelung in der Hinterbliebenenversorgung, wonach ein Ehemann nach dem Tode seiner versicherten Ehefrau nur dann eine Witwerrente erhält, wenn die Verstorbene den Unterhalt ihrer Familie überwiegend bestritten hat, während eine Witwenrente auch ohne diese Voraussetzung gezahlt wird. Noch 1963 hatte das BVG diese Regelung für vereinbar mit dem Grundgesetz erklärt
Eine Revision des Urteils ist mit der Veränderung der „tatsächlichen Verhältnisse und allgemeinen rechtlichen Umstände" begründet worden. Zu diesen Veränderungen gehört die Abkehr vom Leitbild der „Nur-HausfrauenEhe", der starke Anstieg abhängig erwerbstätiger verheirateter Frauen, der stärker in den Vordergrund tretende Versicherungscharakter der Rentenversicherung und schließlich eine Entscheidung des BVG aus dem Jahre 1967, wonach in den Beamtengesetzen eine Gleichstellung von Witwern und Witwen in der Hinterbliebenenversorgung erreicht worden sei, die auch für die gesetzliche Rentenversicherung zu gelten habe.
Zur Ausfüllung dieses Verfassungsauftrages hat die Bundesregierung am 17. 8. 1977 eine Kommission eingesetzt, „die sie bei ihren Arbeiten für eine Neuordnung der Hinterbliebenenversorgung von Witwen und Witwern sowie für eine ausgewogene Alterssicherung der Frau unterstützen soll" Zu den Aufgaben dieser Kommission wird weiter gesagt, daß sie „Lösungsmodelle für die geplante Neuregelung unterbreiten" soll, „die sich im Rahmen der Weiterentwicklung der sozialen Rentenversicherung finanziell auch langfristig verwirklichen lassen“, und sie soll untersuchen, „inwieweit sich die Lösungsmodelle für die soziale Rentenversicherung auch auf andere Versorgungssysteme übertragen lassen." Der Kommission, die aus 17 Mitgliedern besteht, gehören Vertreter der Parteien, der Verbände und der Wissenschaft an. Als bisher einzige Partei hat die CDU auf ihrem Mannheimer Parteitag 1975 mit der „Partnerrente" ein Modell einer eigenständigen sozialen Sicherung der Frau vorgelegt
Bei der Reform des Rentenrechts muß damit gerechnet werden, daß ein entsprechendes Gesetz „zwar bis 1984 verabschiedet.... aber zugleich mit langen übergangsfristen ausgestaltet werden wird. Die Gleichstellung wird erhebliche Mehrausgaben bringen, da die bis dahin erworbenen Ansprüche der Versicherten ... nicht beschnitten werden können, ohne die Sozialgarantieklausel des Grundgesetzes zu verletzen. Deswegen wird auch mit einer Erhöhung des Beitragssatzes zu diesem Zeitpunkt gerechnet.“
Harmonisierung der Altersversorgungssysteme Je mehr die Diskussion um die Krise der Rentenversicherung sich zuspitzte und der breiten Öffentlichkeit bewußt wurde, daß eine Sanierung ohne einschneidende Leistungskürzungen nicht möglich sein würde, um so häufiger wurde die Frage gestellt, warum in die Sanierungsmaßnahmen nur die gesetzliche Rentenversicherung, nicht aber z. B. die Versorgung des öffentlichen Dienstes einbezogen würde. Oder es kam der Hinweis etwa von Arbeitern, den Rentnern ginge es viel zu gut, die ständen sich ja besser als ihre noch arbeitenden früheren Kollegen.
Hinter diesem Unbehagen verbergen sich verschiedene Aspekte stark voneinander abweichender Altersversorgungssysteme. Die Versorgungsleistungen sind in diesen Systemen unterschiedlich geregelt, so daß die Zugehörigkeit zu einer bestimmten Berufsgruppe häufig mit einem unterschiedlichen Versorgungsniveau im Alter verbunden ist, ohne daß diese Unterschiede etwa durch unterschiedliche Arbeitsleistung zu rechtfertigen wären. Daneben gibt es in jedem Versorgungssystem starke Unterschiede in der Einkommenshöhe, die dazu führen, daß wir einerseits rd. 2 Millionen Rentner haben, die unter dem Sozialhilfeniveau liegen, andererseits aber Nicht-Mehr-Erwerbstätige ein höheres Einkommen als vergleichbare Erwerbstätige — eine „Überversorgung" — erzielen können. Beide Situationen können sicherlich nicht Sinn und Ziel einer sozialstaatlichen Regelung des Altersrisikos sein. Wie stark die Unterschiede zwischen verschiedenen Syste03) men sein können, soll durch einen Vergleich der gesetzlichen Rentenversicherung und der Beamtenversorgung verdeutlicht werden: Die Jahrespension eines Beamten der sehr niedrigen Besoldungsstufe A 2 betrug 1975 rd. 12 900 DM netto Geht man von der niedrigen Beamtenpension (A 2) aus, so stand ihr 1975 eine „Eckrente“, d. h. die Durchschnittsrente eines durchschnittlich verdienenden Arbeitnehmers mit 40 Versicherungsjahren, von rd. 9 400 DM in der Sozialversicherung gegenüber. Mit anderen Worten: Selbst die Beamtenpension einer niedrigen Besoldungsstufe lag — nach Abzug der Steuern und Krankenversicherungsbeiträge — monatlich noch um rd. 290 DM höher als die durchschnittliche Rente der Arbeitnehmer in der gesetzlichen Rentenversicherung. Dieser Unterschied kann nicht mehr mit dem Hinweis niedrigerer Bruttogehälter („vorenthaltener Lohn") begründet werden. Untersuchungen kommen zu dem eindeutigen Ergebnis, „daß sich Anzeichen für einen allgemeinen Rückstand der Beamtengehälter gegenüber der Wirtschaft nicht erkennen lassen“
Hinzu kommt, daß Beamte für diese gute Altersversorgung keine Beiträge zu zahlen brauchen, während die Finanzierung in der gesetzlichen Rentenversicherung von den Versicherten und deren Arbeitgebern mit Beiträgen von 18 v. H.des jeweiligen Einkommens selbst getragen werden muß.
Auf eine Analyse der Ursachen für diese Unterschiede soll hier verzichtet werden. Die Darstellung sollte nur verdeutlichen, daß soziale Ungleichheiten bestehen und daß gerade vor dem Hintergrund der finanziellen Belastungen, die auf die gesetzliche Rentenversicherung, aber auch auf die Altersversorgung insgesamt zukommen, eine tragfähige Lösung der langfristigen Probleme ohne Einbeziehung aller Systeme der Altersversorgung politisch nicht denkbar ist.
VII. Besteuerung der Renten — ordnungskonforme Maßnahme zur Lösung der langfristigen Probleme?
Die aufgezeigten Probleme der Rentenversicherung, die alle mit erheblichen finanziellen Mehrbelastungen verbunden sind, drängen auf eine langfristig tragbare Lösung, die den Generationenvertrag auf der Basis des Umlage-verfahrens festigt und die ordnungspolitischen Grundlagen der Rentenversicherung nicht gefährdet. Punktuelle Eingriffe, die — wie es zur Zeit geschieht — ohne erkennbare Perspektiven vorgenommen werden, nur geleitet von dem Willen, eine erneute Diskussion in der in der Rentenpolitik sensibilisierten Öffentlichkeit kurzfristig zu vermeiden, gefährden die ordnungspolitischen Grundlagen ebenso wie Maßnahmen, die ausschließlich unter fiskalischen Gesichtspunkten vorgenommen werden, ganz zu schweigen von ideologisch motivierten Vorschlägen etwa einer „Sockelrente", die die Leistungsbezogenheit der Rente durchbrechen würde.
Vor diesem Hintergrund läuft die rentenpolitische Diskussion in der Bundesrepublik auf die Alternative Nettoanpassung der Rente einerseits oder Besteuerung und/oder Krankenversicherungsbeitrag der Rentner andererseits zu.
Beiden Alternativen liegt das Motiv zugrunde, die Scherenentwicklung zwischen Brutto-und Nettoanpassung abzubauen. Beiden liegt aber auch das — ausgesprochene oder stille — Eingeständnis zugrunde, daß das einmal anvisierte Ziel eines Rentenniveaus von 60 bis 67, 5 v. H.der Bruttoentgelte nicht erreicht werden kann, erst recht nicht bei den Belastungen, die noch auf die Rentenversicherung zukommen. Da die Verfasser aus den dargestellten Gründen eine nettolohnbezogene Rentenanpassung ablehnen, soll im folgenden der Vorschlag einer Besteuerung der Renten eingehender untersucht werden.
Ausgangspunkt der Überlegung ist der Charakter der „bruttolohnbezogenen dynamischen Rente als Lohnersatzfunktion". Diese Formel, die vom sozialpolitischen Sprecher der CDU/CSU-Fraktion, Hans Katzer, Anfang dieses Jahres erneut in die Diskussion eingebracht und vom Bundeskanzler positiv aufgegriffen worden ist kennzeichnet die ordnungspolitische Konzeption der Rentenversicherung seit 1957. Folgt man diesem Hinweis, dann sollen notwendig gewordene Sanierungsmaßnahmen nur im Rahmen dieser Konzeption erfolgen und die Rente wie Lohn behandelt werden. Wenn der Staat heute zur Erfüllung seiner öffentlichen Leistungen Steuern und Sozialbeiträge erhebt, dann ist es selbstverständlich, daß die unterschiedliche Leistungsfähigkeit und Einkommenshöhe nach dem Prinzip der steuerlichen Gerechtigkeit berücksichtigt wird. Maßnahmen in der Rentenversicherung mit leistungskürzendem Charakter müssen ebenso die Leistungsfähigkeit und die starken Einkommensunterschiede der Rentner berücksichtigen. Und ebenso wie bei den Löhnen der Arbeitnehmer muß auch bei den Renten darauf geachtet werden, daß die Beitrags-und Einkommensgerechtigkeit gewahrt bleibt. Als Konsequenz dieser Überlegung bleibt nur ein sozial gestaffelter Krankenversicherungsbeitrag der Rentner und/oder eine Besteuerung der Renten. Nur diese beiden Maßnahmen entsprechen den ordnungspolitischen Grundlagen der Rentenversicherung. Ein sozial gestaffelter Krankenversicherungsbeitrag der Rentner stößt in der politischen Diskussion auf wenig Widerstand Anders dagegen verhält es sich mit dem Vorschlag der Besteuerung
Zunächst einmal gilt festzuhalten, daß eine Besteuerung der Sozialrenten rechtlich nichts Neues ist. Zwischen 1925 und 1955 waren die Renten in voller Höhe einkommensteuer-pflichtig. Auch die derzeitige Regelung, die seit 1955 in Kraft ist, sieht eine Besteuerung, allerdings nur des „Ertragsanteils", vor. Diese Regelung geht praktisch noch von der Vorstellung eines Kapitaldeckungsverfahrens aus, wonach der einzelne Versicherte aus seinem Einkommen als Erwerbstätiger ein Vermögen ansammelt, das später als Rente wieder aufgezehrt wird. Nur die über diese „Vermögensumschichtung“ hinausgehenden Erträge sollen deshalb versteuert werden. Eine Besteuerung kommt wegen der hohen Freigrenzen, zumal bei Beziehern von nur einer Rente, deshalb heute kaum zur Anwendung. Diese Vorstellung eines Kapitaldeckungsverfahrens mit der reinen Vermögensumschichtung entspricht aber in keiner Weise mehr dem jetzt praktizierten Umlageverfahren und dem Generationenvertrag. Die Beiträge der Versicherungspflichtigen, die an dem jeweiligen Lohn orientiert sind, werden nicht zum Aufbau eines Vermögens verwendet, sondern dienen dem Erwerb eines Anspruchs an die Solidargemeinschaft, der von der späteren Generation entsprechend ihres Lohnniveaus eingelöst wird. Dieser Anspruch ist deshalb auch keine Garantie für eine bestimmte, nominal feststehende Rente, sondern nur für eine bestimmte Relation innerhalb des späteren Rentengefüges, das selbst wiederum abhängig ist von der wirtschaftlichen und damit Lohnentwicklung. In einer dynamisch wachsenden Wirtschaft erhalten deshalb die Rentner auch ein „Vielfaches ihrer verzinsten Einzahlung" Die Arbeitnehmerbeiträge zum Erwerb dieses Anspruchs mindern als Sonderausgaben das zu versteuernde Einkommen; die Arbeitgeberbeiträge gehören von vornherein nicht zum steuerpflichtigen Arbeitslohn. Allein aus der Sicht der Steuersystematik müßten — wie es bei den Beamtenpensionen der Fall ist — schon die Renten besteuert werden
Die Einwände gegen eine Besteuerung der Renten können also nicht überzeugen. Gegenüber der Nettoanpassung aber liegen die Vorteile auf der Hand: Sie ist der sozial gereclrtere Weg, weil sie die individuelle Situation des einzelnen Rentners berücksichtigen kann. Sie vermeidet neue Ungerechtigkeiten zwischen Alt-und Neurentnern. Sie bringt — sofern die Steuereinnahmen zweckgebunden der Rentenversicherung zufließen — keine neuen Abhängigkeiten von der Haushaltssituation des Staates. Sie ist ökonomisch ebenso wirksam, wenn nicht sogar wirksamer, weil sie flexibler auf die strukturellen Verschiebungen zwischen Beitragszahlern und Rentnern reagieren kann, was von der Nettoanpassung nicht erfaßt wird. Sie ist ein möglicher Ansatzpunkt für eine bessere Harmonisierung der verschiedenen Altersversorgungssysteme. Und — nicht zuletzt — ist die Besteuerung der Renten zusammen mit einem Krankenversicherungsbeitrag der Rentner die einzige Möglichkeit, die ordnungspolitischen Grundlagen der „bruttolohnbezogenen dynamischen Rente" in ihrer Lohnersatzfunktion zu stärken. Sicherlich gibt es hier noch eine Reihe von Schwierigkeiten, die einer sachlichen Prüfung bedürfen, ehe eine politische Entscheidung getroffen werden kann.
s Johannes Kramer, Dipl. -Volksw., geb. 1947 in Wildeshausen; 1966— 1971 Studium der Volkswirtschaft und Politikwissenschaft in Mainz und Münster; 1972— 1975 Doktorand und wiss. Mitarbeiter am Institut für Politikwissenschaft der Universität Münster; dort 1975— 1977 Lehrbeauftragter für Politische Ökonomie; seit 1975 persönlicher Referent des Bundesministers für Arbeit und Sozialordnung a. D. Hans Katzer. Veröffentlichungen u. a.: Art. »Lohn", in: Gert von Eynern (Hrsg.), Wörterbuch zur politischen Ökonomie, Opladen 1973; Verteilungspolitik als zentrales gesellschaftspolitisches Problem, in: Dieter Grosser (Hrsg.), Politischer Unterricht. Fach-wissenschaftliche und didaktische Analysen, Freiburg 1976 (zusammen mit Gertrud Kramer); Der Einfluß der Sozialausschüsse der Christlich-Demokratischen Arbeitnehmerschaft auf die CDU. Ein Beitrag zur Parteientheorie, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, B 46— 47/1976; Die Staatsausgaben, in: Zielkonflikte staatlicher Finanzpolitik, hrsg. v. Dieter Grosser, in: Politische Bildung 3/1976. Richard Zimmer, Dipl. -Volksw., geb. 1948 in Schweich/Mosel; 1968— 1974 Studium der Volkswirtschaft, Politologie und Soziologie an den Universitäten Saarbrücken und Regensburg; 1974 Doktorand am Fachbereich Wirtschaftswissenschaft der Universität Regensburg; seit 1975 Mitarbeiter im Planungsstab der CDU/CSU-Bundestagsfraktion.
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