Stabilität und Tragfähigkeit — ja selbst die Legitimität — unserer demokratischen Institutionen sind in den letzten Jahren wieder ins Gerede gekommen. Liese Diskussion erweckt oft den Eindruck, als sei die demokratische Staatsform, wie wir sie in der Bundesrepublik ausgebildet haben, zumindest in ihrer gegenwärtigen Verfassung nicht imstande, die schwierigen Probleme unserer Gegenwart, geschweige denn die auf uns zukommenden zu lösen. Zwar gehört es gewissermaßen zum Alltag demokratischer Lebenspraxis, daß diejenigen, die sich zu politischer Kritik berufen fühlen, den jeweiligen Zustand ihrer demokratischen Ordnung meist als unzureichend oder sogar als inakzeptabel beurteilen. Dennoch scheint mir die heutige Bewußtseinsund Problemlage eine andere zu sein als in den ersten zwanzig Jahren der Bundesrepublik. Dazu haben materielle und geistige Veränderungen und Entwicklungsprozesse beigetragen, die vielfach als eine neue, in dieser Form bisher nicht dagewesene Herausforderung an die Demokratie und ihre Uberlebensfähigkeit interpretiert werden. Zwar kann man feststellen, daß es bei der kritischen Beurteilung unserer demokratischen Verhältnisse und ihrer Widerstandsfähigkeit gegen Krisen stets auch modische Themen und Akzentuierungen gibt, die schnell vorbeiziehen und darum ebenso schnell wieder vergessen werden. Doch kann man nicht darüber hinwegsehen, daß unser Meinungsklima in bezug auf die Frage, wie unsere Demokratie den neuen Herausforderungen der Zeit gegenüber bestehen kann und soll, sich insgesamt auffallend verschlechtert hat. Es fing an mit der Studentenrevolte; ihr ging es um den Abbau autoritärer Strukturen, um die Demokratisierung sozialer Lebensbereiche.
Die erste sozialliberale Regierung unter Willy Brandt hat das Thema aufgenommen und das Motto: . Mehr Demokratie wagen!'an die Spitze ihrer Politik der inneren Reformen gestellt. Dieses Thema ist in der öffentlichen Diskussion bis in die Gegenwart hinein lebendig geblieben, entweder, weil man auf der linken Seite das Ergebnis des eingeleiteten Demokratisierungsprozesses als viel zu kläglich beurteilt, oder weil man auf der Rechten der Auffassung ist, der Staat als Maschinerie für die Durchsetzung von sozialen und ökonomischen Programmen ziele mit einer so verstandenen Politik in Wahrheit am Bürger vorbei, den er doch auf diese Weise näher an sich zu binden gehofft hatte.
Die kritischen Urteile über-den Zustand unserer Demokratie kommen aus ganz unterschiedlichen Richtungen; aber sie machen gleichwohl deutlich, daß es ein aus verschiedenen Motiven gespeistes, weitverbreitetes Unbehagen an der gegenwärtigen Beschaffenheit unserer demokratischen Ordnung gibt.
Nach dem ungestümen, vielfach aus anarchistischen Quellen gespeisten Protest der Studentengeneration gegen die etablierte Demokratie der Bundesrepublik überschattete die durch den Olpreisschock ausgelöste Energiekrise für eine Zeitlang die allgemeine Diskussion. Viele Kritiker waren damals nicht nur besorgt, sondern auch überzeugt, die Energiekrise bedeute eine Zäsur von historischen Ausmaßen: Es sei nun an der Zeit, völlig umzudenken, man müsse neue Perspektiven für ein Zeitalter entwickeln, in dem es nicht mehr wie bisher um stetiges wirtschaftliches Wachstum gehen könne; vielmehr sei der Zeitpunkt gekommen, nun endlich die Grenzen der materiellen Leistungssteigerung zu erkennen und die notwendigen politischen Schlüsse daraus zu ziehen. Man sprach von der notwendigen Selbstbeschränkung, die sich die industriellen Demokratien auferlegen müßten; man beobachtete mit Sorge die Politik der großen Interessenverbände, die wenig bereit schienen, von ihrem Kurs der Verfolgung materieller Interessen für ihre Mitglieder ohne Rücksicht auf die Allgemeinheit abzugehen; man sprach allenthalben von Krisen, von denen die Energiekrise nur die greifbarste und vordergründigste war, während einige Sozialtheoretiker linker Observanz bereits das Vorhandensein einer Legitimationskrise unseres politischen Systems diagnostizierten. Die Energiekrise hatte dem Volk schlagartig zum Bewußtsein gebracht, daß Veränderungen ins Haus stünden, die auch die Lebensgewohnheiten und Lebenserwartungen des Durchschnittsmenschen tangieren würden; doch schon vorher war das Bewußtsein der Öffentlichkeit in den westlichen Industriestaaten verunsichert worden durch die Gefahren, die den Menschen in mannigfacher Wei3
Zuerst als Vortrag gehalten am 20. 6. 1977 vor der Gesellschaft Public Relations Agenturen e. V. In Bonn. se aus der Veränderung der Umwelt drohen, wenn die Schwere dieser Probleme nicht endlich erkannt würde. Der sozialdemokratische Politiker und führende Denker auf diesem Gebiet, Erhard Eppler, kleidete diese Problemlage in die griffige Antithese: . Ende oder Wende?'Die politische Brisanz dieses Themas schlägt uns quasi täglich entgegen in den leidenschaftlichen Auseinandersetzungen über den Bau von Anlagen zur Erzeugung von Kernenergie. Es ist erstaunlich, wie viele Kräfte, Energien und Leidenschaften dieses Thema bei uns hat mobilisieren können. Audi dies ist ein Anzeichen dafür, daß die demokratischen Organe des Staates und die politischen Parteien sich ganz offensichtlich schwer damit tun, eine zukunftsorientierte Politik zu betreiben, die auch auf allgemeine Zustimmung im Volke stößt.
Manchmal bin ich geneigt, das zum Teil exzessive Krisengerede von Wissenschaftlern, Politikern und Publizisten für eine groteske geistige Verirrung zu halten oder zumindest äls Ergebnis einer geistigen Verwirrung zu deuten. Schon ein kurzer vergleichender Blick in die Weimarer Republik belehrt uns, daß die kritischen Momente unseres gegenwärtigen Verfassungssystems in keinem Verhältnis stehen zu den extremen, in fast jeder Hinsicht außergewöhnlichen Belastungen, denen die erste deutsche Republik ausgesetzt war. Auch ein Blick in die wirtschaftlichen und politischen Verhältnisse der uns umgebenden europäischen demokratischen Nationen belehrt uns sehr schnell, daß die in der Bundesrepublik so wohlfeilen kritischen Innenansichten nur wenig zu tun haben mit dem Bild, das ein fairer Betrachter der Bundesrepublik von außen gewinnt, denn dies ist ein Land mit relativ gut funktionierenden demokratischen Institutionen, einer relativ intakten und leistungsfähigen WirtschaftsVerfassung und einem — wie die Politiker zu sagen belieben — vergleichsweise dicht geknüpften Netz sozialer Sicherheit
So könnte man also geneigt sein, das kritische Gerede über den Zustand unserer Demokratie und die vielfach geäußerten Zweifel an ihrer Fähigkeit, den neuen Herausforderungen gerecht zu werden, abzutun als das übertreibende Geschwätz von kritischen Intellektuellen, die den Sinn für Proportionen verloren haben oder die bestimmte, durchaus kritisch zu bewertende Vorgänge und Erscheinungen absichtsvoll übersteigern, sofern sie nicht von vornherein eine so fatale „Lust am Untergang" an den Tag legen, daß ihnen alles, was sie sehen, zum Negativen aus-schlägt. Blicken wir um uns, oder gar hinein in die politischen Parteien und die Organe der öffentlichen Meinung, so scheint der Pessimismus die Stunde zu regieren. Für die politische Qualität einer Stimmungslage ist es leider unerheblich, ob diese Stimmungslage die Wirklichkeit der Verhältnisse einigermaßen angemessen widerspiegelt oder nicht, denn Stimmungen — man könnte auch Lebensgefühl sagen — haben ihre Bedeutung für die Politik, weil sie das Klima mitbestimmen, in dem die politisch oder auch ökonomisch Handelnden ihre Entscheidungen treffen müssen. Sowohl die Bestimmung der politischen Ziele wie auch die Wahl der entsprechenden Mittel wird in der demokratischen Politik beeinflußt von der allgemeinen Stimmungslage. Auch wenn ich z. B. persönlich wenig Grund sehe, in das allgemeine Lamento über den Zustand unserer Demokratie und die unerhörten Herausforderungen, die an sie gestellt werden, einzustimmen, so bin ich mir gleichwohl des Umstandes bewußt, daß von einer vorherrschenden kritischen Stimmungslage Wirkungen auf das politische System als Ganzes ausgehen können, die seine Leistungsfähigkeit und Stabilität beeinträchtigen. Die bange Frage nach der möglichen Überforderung der Demokratie im Blick auf die Aufgaben der Zukunft entspringt einer solchen allgemeinen Stimmung.
Versagen die politischen Parteien?
Zunächst will ich einige eher vordergründige Erscheinungen und Artikulationen unseres Unbehagens analysieren. Man hat in der letzten Zeit vielfach von einem Versagen der politischen Parteien gesprochen. Als Beweis für dieses Versagen gelten vor allem die zahllosen Bürgerinitiativen, die es in unserem Lande gibt und die zumindest in der Kernkraftfrage zu einem maßgeblichen Faktor der politischen Auseinandersetzung geworden sind. Die „Bürgerinitiativbewegung" ist in der Tat ein für die Bundesrepublik erstaunliches Phänomen. Es gibt sie in nennenswertem Umfang erst seit den siebziger Jahren, was den Schluß nahelegt, daß die Bürgerinitiativen ihre Verbreitung vor allem der durch die studentische Protestbewegung ausgelösten Veränderung unseres politischen Bewußtseins zu danken haben. Diese Veränderung unseres politischen Bewußtseins lag in erster Linie in der Sensibilisierung der Bürger für die Idee der Partizipation, der Mitbestimmung, der Demokratisierung. In dem Maße, in dem Parteien, die ja den Charakter von Großorganisationen haben, und die öffentlichen Verwaltungen angesichts der immer umfangreicher werdenden Aufgaben dazu neigen, den Gesichtspunkt administrativer Effizienz und Friktionslosigkeit an die oberste Stelle zu rücken, sehen sich viele konkrete Interessen von Individuen und bestimmten lokalen Gruppen tatsächlich vernachlässigt und an die Peripherie des Politischen verwiesen. Ein neues partizipatorisches Verständnis von Demokratie, das mit und nach dem Studentenprotest bei uns durchbrach, machte ihnen Mut, ihre Interessen als Bürgerinitiativen zu artikulieren und mit den ihnen geeignet erscheinenden Mitteln durchzusetzen.
Die demokratischen Politiker der Bundesrepublik, voran unser Bundespräsident, haben aus guten Gründen die Bürgerinitiativen stets nur insoweit kritisiert, wie sie beanspruchen, sich an die Stelle der legitimierten Entscheidungsträger zu setzen oder gar mit gewaltförmigen Mitteln ihre Interessen durchzusetzen trachten. Im übrigen haben sie die Aktivität und die politische Artikulationsbereitschaft von Bürgern immer als ein Zeichen demokratischer Reife und als die legitime Wahrnehmung demokratischer Rechte begrüßt. Es bleibt den demokratischen Politikern auch gar nichts anderes übrig, denn Bürgerinitiativen sind ein legitimes Instrument in einer politischen Ordnung, die eine freie Demokratie und nicht ein Obrigkeitsstaat sein will.
Die Interessen von Bürgern sind in einer freien Gesellschaft naturgemäß höchst vielfältig; das wachsende Umweltbewußtsein hat darüber hinaus dazu beigetragen, die Empfindsamkeit der Bürger gegenüber staatlichen Planungen und technokratischen Verwaltungsprozessen zu steigern. Hohe Sensibilität für Veränderungen, die einen negativ betreffen können, in Verbindung mit dem gesteigerten Bewußtsein, demokratische Rechte als Bürger auch tatsächlich wahrnehmen zu sollen, haben zu dem neuen Phänomen der Bürgerinitiativbewegung geführt, von dem ich jedoch nicht behaupten würde, daß ihm ein Versagen der politischen Parteien zugrunde liegt. Die Bürgerinitiativbewegung ist zumindest ebensosehr ein Ausdruck des Protests gegen den herrschenden Verbände-und Verwaltungsstaat wie ein Angriff gegen den Parteienstaat. Im Bereich der Verwaltung sind die Initiativen ein Ventil der Kritik an der immer wieder drohenden Gefahr exekutiver Selbst-herrlichkeit; im Blick auf die Verbände machen sie deutlich, daß das organisierte System des Verbandspluralismus nicht identisch ist mit der gesamten Gesellschaft und den in ihnen vorhandenen realen Interessen. Die Parteien werden durch sie erneut daran erinnert, daß es ihre primäre Aufgabe ist, als , Transmissionsriemen’ zwischen den Bürgern und den Organen des Staates zu fungieren, auch wenn es den großen Volksparteien prinzipiell unmöglich ist, alle sich in Bürgerprotesten artikulierenden verschiedenartigen Interessen angemessen zu berücksichtigen.
Wo die Bürgerinitiativen jene Nischen ausfüllen, die von der eher großflächig angelegten Interessenorganisation der Verbände und Parteien nicht erfaßt werden, stellen sie eine wichtige Ergänzung der pluralistisch organisierten Willensbildung und der repräsentativen Demokratie dar. Ich glaube im übrigen nicht, daß es möglich sein wird, wie in den letzten Monaten hie und da orakelt wurde, die ziemlich lockere Struktur der Bürgerinitiativbewegung mit ihren so heterogenen Interessen zu straffen und zu einer neuen außerparlamentarischen Opposition zusammenzuschmieden. Dies wird selbst in der so virulenten Frage der Kernenergie nicht möglich sein, sofern die verantwortlichen Instanzen behutsam genug vorgehen. Ich sehe jedenfalls nicht, wie aus den Bürgerinitiativen eine Neuauflage jener außerparlamentarischen Opposition hervorgehen könnte, die Ende der sechziger Jahre als Studentenbewegung die Strukturen des politischen Establishments aufzubrechen versuchte und damit scheiterte. Was die Parteien angeht, so liegt ihr gegenwärtiges, von manchen als „Versagen" interpretiertes Erscheinungsbild weit eher in der zufälligen Häufung bestimmter, negativ eingeschätzter Erscheinungsformen, die schon immer mit dem Parteileben verknüpft waren und wohl auch nicht dauerhaft aus ihm zu eliminieren sind. Ich meine erstens das Thema der Verfilzung und Patronage, das freilich keineswegs nur für die politischen Parteien, sondern auch für die großen Verbände von Belang ist. Ich meine zweitens die immer wieder festzustellende geistige Trägheit und Lethargie der Parteien, denen von ihren Kritikern besonders häufig vorgeworfen wird, sie hätten keine zündenden Ideen, keine Vision der Zukunft; sie könnten der Gesellschaft keinen Weg aus den gegenwärtigen Bedrängnissen und Schwierigkeiten weisen; sie trieben anstelle einer Politik der verantwortungsvollen Zukunftsorientierung eine bloß pragmati5 sehe Politik des Machens und sich Durchwurstelns. Idi meine schließlich drittens das un-solidarische Innenleben unserer politischen Parteien sowie ihr verkrampftes Verhältnis zueinander.
In allen diesen Punkten haben die politischen Parteien in der Bundesrepublik gegenwärtig in der Tat wenig Anlaß zu frohlocken. Der Vorwurf der Filzokratie hat insbesondere die Sozialdemokratie getroffen, doch er läßt sich gewiß nicht allein auf diese Partei beschränken. Es scheint, als seien Sozialdemokraten in der Öffentlichkeit einer puritanischeren Ethik konfrontiert als andere politische Gruppen. Wie dem auch sei, die Art und Weise, wie die bekanntgewordenen Fälle in der Öffentlichkeit behandelt und . bereinigt'worden sind, zeigt, daß in unserem Parteileben moralische Grundsätze nach wie vor wirksam sind, die zwar nicht von allen Parteimitgliedern beherzigt werden, aber gleichwohl ihre reinigende Wirkung zeigen, wenn die Öffentlichkeit erfährt, daß prominente Parteimitglieder diese Grundsätze mißachtet haben. Ich glaube jedenfalls nicht, daß man aus den Vorfällen der letzten Zeit die Schlußfolgerung ziehen darf, die politischen Parteien seien einem allgemeinen moralischen Verfallsprozeß ausgesetzt. Zwar ist nicht zu leugnen, daß insgesamt gesehen die moralischen Maßstäbe in der Gesellschaft sich in den letzten Jahren etwas gelockert, oder sagen wir es neutraler: gewandelt haben, doch scheinen mir die politischen Parteien davon nicht stärker betroffen zu sein als andere Bereiche unserer Gesellschaft, von der sie ja doch nur ein Teil sind.
Weitaus schwieriger ist die Frage zu beantworten, ob die gegenwärtigen Parteien in der Bundesrepublik in der Lage sind, eine an der Zukunft orientierte, auf ihre Bewältigung hin konzipierte verantwortungsvolle Politik zu betreiben. Ich zögere auch in diesem Punkte, den politischen Parteien ein besonderes Versagen vorzuwerfen. Gewiß, sie sind unsicher, sie wissen nicht, wohin die Reise geht. Wenn sie zukunftsorientierte Programme machen, wie z. B. die SPD in ihrem 1975 verabschiedeten Orientierungsrahmen '85, dann basieren solche Programme zumeist auf Annahmen, die von der Wirklichkeit nicht eingelöst werden, so daß binnen kurzem die schönsten programmatischen Ansätze zu bloßer Makulatur werden. Machen sie indes gar keine derartigen Programme, wirft man ihnen einen Mangel an Perspektiven vor und beschuldigt sie, ihre Gegenwartspolitik ohne Rücksicht auf das Schicksal künftiger Generationen zu betreiben. Eine derartige Kritik kann jedoch nur vorbringen, wer selber eine klare Perspektive der Zukunft besitzt oder zumindest so tut, als könnte und müßte man sie haben. Ich bezweifle jedoch, ob man in unserer komplexen Gesellschaft und nicht minder komplexen Welt solche Perspektiven einfach gewinnen kann. Wenden sich die Parteien dann in bestimmten Politikbereichen tatsächlich der Erörterung kontroverser Fragen über die künftige politische Linie zu, so spiegelt sich in ihrem Innern in der Regel nur die Uneinigkeit und Gespaltenheit der gesamten Gesellschaft in bezug auf eben diese Fragen. Die Vorstellung, daß die politischen Parteien eine in konkrete politische Maßnahmen übersetzbare Zukunftsperspektive haben müßten, basiert auf einigen Prämissen, die zwar immer wieder sorglos unterstellt werden, gleichwohl aber nach meinem Dafürhalten nicht zutreffen:
1. Die Zukunft ist nur in engen Grenzen kalkulierbar, deshalb ist es unmöglich, eine Politik zielbewußt nach ihr auszurichten. Vielmehr ist es gerade die Aufgabe der Politik, da einzuspringen und nach neuen, vorübergehenden Lösungen zu suchen, wo die futuristischen Kalküle durcheinauderpurzeln.
2. Woher sollen die Partoien eigentlich eine Vision der Zukunft nehmen, wenn in der Gesellschaft als ganzer solche Visionen nicht deutlich und relativ einheitlich artikuliert werden? Die politischen Parteien fristen ihr Dasein ja nicht jenseits des interessenförmigen und geistigen Spektrums der Gesamtgesellschaft, sondern sind ein Teil davon. Sie können sich nicht — wie in den sozialistischen Systemen — anmaßen, die Vorhut der Gesellschaft zu sein, obwohl bis zu einem gewissen Grade auch von ihnen erwartet werden darf, daß sie bereit und fähig sind, eine Gesellschaft politisch zu führen. Da die politischen Parteien also abhängig, ja oft Gefangene dessen sind, was die Wissenschaft und die öffentliche Meinung laufend produzieren, kann man nicht gut erwarten, daß sie in ihrer Pro-grammatik weit über das hinausreichen und hinausgreifen, was die gesellschaftliche Diskussion in ihrer widersprüchlichen Vielfalt ihnen bietet. Eher scheint es, daß man unsere politischen Parteien, insbesondere die SPD in ihrer Politik der letzten Jahre, dafür tadeln muß, daß sie manchmal zu schnell und oft zu einseitig auf bestimmte geistige, ja gar ideologische Schablonen in der öffentlichen Meinung Rücksicht genommen haben. Gerade die Orientierung an dramatisch beschworenen Zielen, wie z. B. in der Bildungspolitik an der Idee der Gesamtschule und Gesamthochschule, oder etwa die Ausrichtung der Bildungspolitik auf stark vermehrte Bildungsmöglichkei-B ten für alle ohne jede Rücksicht auf den gesellschaftlichen Bedarf, haben uns gelehrt, daß Veränderungen, die durch eine Reformpolitik erzeugt werden, vielfach ambivalenter Natur sind und die Probleme oft noch komplizierter machen, als sie es vorher waren.
Mir scheint, daß den politischen Parteien in Deutschland, so wie sie als Parteien der Mitte angelegt sind, eine Politik der allmählichen, aber zielbewußten Veränderung besser bekommt als eine Politik, die von dem Willen bestimmt ist, das Steuer entschlossen in eine bestimmte Richtung herumzuwerfen. Jedenfalls ist es zuviel verlangt, Von den Parteien zu erwarten, sie sollten Herren der geistigen Situation sein, wenngleich man ihnen raten sollte, sich nicht zu deren Dienern oder gar Sklaven zu machen. Vielleicht kann man ein Versagen unserer politischen Parteien, und zwar nicht nur der Parteien der Linken, vor allem darin sehen, daß sie sich zu sehr auf die griffige Formel von der notwendigen Zukunftsorientierung der Politik haben festlegen lassen und damit nicht mehr frei genug sind zu einer pragmatischen, gleichwohl aber fest an ihren Grundwerten orientierten Ordnungspolitik.
Am negativsten, so scheint mir, zeigen sich die heutigen Parteien in ihrer inneren Verfaßtheit. Franz-Josef Strauß kann nach wie vor wirksam damit drohen, durch die Errich’tung einer vierten Partei das für die bisherige politische Stabilität der Bundesrepublik so wichtige Drei-Parteien-Gefüge zu zerbrechen; in der SPD sind vor allem seit der Studenten-revolte und der durch sie bewirkten Radikalisierung der Jungsozialisten Tendenzen am Werk, welche die lose gefügte geistige Einheit der Sozialdemokratischen Partei sprengen. Gewiß kann es in einer Partei, die Volkspartei sein will, keine einheitliche Meinungsbildung in allen politischen Einzelfragen geben, aber eine Partei sollte sich in ihren Grundwerten einig sein. Das ist man in der SPD zwar verbal und deklamatorisch, aber keineswegs in der konkreten innerparteilichen Auseinandersetzung, insbesondere wenn es um Fragen der Gesellschaftsanalyse und Strukturpolitik geht. Eine Partei, die in der Öffentlichkeit immer wieder den Eindruck erweckt, daß auch die politischen Grundwerte in ihr im Streit sind, läuft Gefahr, Vertrauen zu verlieren.
Was das Verhältnis der Parteien zueinander angeht, insbesondere zwischen SPD und CDU/CSU, so ist es seit der Regierungsübernähme durch die sozialliberale Koalition zweifellos viel gespannter und emotionalisierter als vorher. Die Ideologisierung des politischen Bewußtseins im Gefolge der studentischen Protestbewegung hat natürlich auch vor den Parteien nicht halt gemacht und sie teilweise in Frontstellungen getrieben, die dem Zusammenwirken miteinander konkurrierender demokratischer Parteien zweifellos nicht günstig sind. Vor allem in diesem Bereich, so scheint mir, sind einige Schwächemomente unseres Parteiensystems zu konstatieren. Ich bin keineswegs sicher, ob es in Zukunft gelingen wird, jene Gemeinsamkeit der Demokraten in elementaren Fragen unserer Verfassungsordnung herzustellen, die bei uns vor lauter Taktik und Strategie allzu leicht in Vergessenheit gerät. Ob die reale Gemeinsamkeit unter dem Druck terroristischer Herausforderung auch in Zukunft trägt, bleibt abzuwarten.
Die beiden großen deutschen Parteien waren und sind Volksparteien. Die Sonderrolle der CSU bei den Christdemokraten und gewisse Tendenzen innerhalb der SPD, die Partei wieder stärker auf den Typus einer Interessen-partei aller Arbeitnehmer festzulegen, deuten jedoch eine gewisse Preisgabe des volksparteilichen Ideals und eine Veränderung im deutschen Parteiensystem an, von der ich nicht sicher bin, daß sie der Stabilität und der Ausgewogenheit des politischen Systems der Bundesrepublik zugute kommen. Die Verschärfung des ideologischen Klimas zwischen den Parteien zwingt diese immer mehr dazu, sich ideologisch voneinander abzuheben und stärker ideologisch inspirierte Zielvorstellungen für ihre Politik zu formulieren. Zwar gab es schon in den fünfziger Jahren vereinzelt die These, die deutschen Parteien seien als Volksparteien so wenig voneinander unterschieden, daß es im Grunde egal sei, welche Regierung an der Macht ist, da doch alle Parteien, wenn auch mit verschiedenem Personal, im Grunde die gleiche Politik betrieben. Wie der Machtwechsel des Jahres 1969 gezeigt hat, ist es für die konkrete Politik und auch für das politische Klima im Lande jedoch keineswegs unerheblich, welche Parteienkoalition regiert, auch wenn die von den Werbeberatern der politischen Parteien ersonnenen Wahlkampfparolen einander oft zum Verwechseln ähnlich sind. Im Zuge der ideologischen Polarisierung und der damit verbundenen wechselseitigen Verteufelung des parteipolitischen Gegners könnte jedoch eine Stimmung Platz greifen, in der ein parteipolitischer Wechsel der Regierung keineswegs mehr so reibungslos und selbstverständ7 lieh vollzogen werden kann, wie dies für ein demokratisches System geboten ist. Deshalb wäre es wünschenswert, wenn uns die beiden großen Volksparteien mit ihrem relativ breiten innerparteilichen Meinungsspektrum er-halten blieben und nicht zu sehr der verständlichen Versuchung nachgeben würden, von Unregierbarkeit zu sprechen, wenn die andere Partei an die Macht kommt, weil sie angeblich alles anders machen wird.
Werden die Demokratien „unregierbar"?
Die Frage der zunehmenden Unregierbarkeit der Demokratien, die in den letzten Jahren häufig aufgeworfen wurde, eröffnet in der Tat eine düstere Perspektive. Die Behauptung, die westlichen Demokratien würden immer unregierbarer, bedeutet ja doch nicht weniger, als daß demokratische Regierungen unseres Systemtypus'vor immer größere Schwierigkeiten gestellt werden, bis es ihnen schließlich nicht mehr gelingt, das als notwendig Erkannte zu tun und durchzusetzen. In der Formel von der drohenden Unregierbarkeit der Demokratien drückt sich die Sorge aus, daß die Herausforderungen an die Demokratie schließlich so übermächtig würden, daß diese Regierungsform nicht mehr in der Lage wäre, ihnen angemessen zu begegnen und ihr überleben zu sichern. Das Problem der Regierbarkeit der Demokratien ist in der Tat ein ernstes Problem, das sich jedoch in sehr vielen Bezügen und Facetten präsentiert.
Die Diskussion darüber nahm ursprünglich ihren Ausgang von der Beobachtung, daß in einer zunehmenden Zahl von demokratisch regierten Ländern eindeutige politische Mehrheiten mit einem relativ klaren Wählerauftrag schwerer zu finden waren als ehedem. Das Paradebeispiel dafür war Großbritannien, wo die Labour Party nur sehr knappe Mehrheiten im Unterhaus erhielt und zudem mit weit weniger als der Hälfte der abgegehenen Stimmen gewählt wurde. Das andere oft zitierte Beispiel ist Italien, das keine mehrheitsfähigen Koalitionen bei gleichzeitigem Ausschluß der Kommunisten unter Führung der Christdemokraten mehr zustande brachte und nun auf den von den Kommunisten anvisierten »historischen Kompromiß“ zusteuert, bei dem die beiden großen politischen Lager des Landes, die kommunistische Linke und die christdemokratische Rechte, ein Bündnis bilden sollen. Auch die parlamentarische Lage Frankreichs in der Gegenwart ist zweifellos ein Beispiel für erschwerte Regierbarkeit. Der Präsident und sein Premierminister können ihrer früheren parlamentarischen Mehrheit nicht mehr sicher sein, da die Gaullisten, welche die Mehrheit dieser früheren Regierungsmehrheit bildeten, nun eigene Wege zu gehen versuchen. Sollte im März kommenden Jahres die Vereinigte Linke die französischen Parlamentswahlen gewinnen, so steht dort ein Verfassungskonflikt ins Haus zwischen einem liberal-konservativen Präsidenten, der bis 1981 im Amt bleiben, und einer linken Parlamentsmehrheit, die ihre eigene sozialistische Politik machen will.
Obwohl die Diskussion über die zu befürchtende Unregierbarkeit der westlichen Demokratien auch in unserem Lande ziemlich intensiv geführt wurde, bot unsere eigene parlamentarische Demokratie wenig Anlaß zu solch düsteren Perspektiven, denn bisher ist den parlamentarischen Parteien immer die Wahl eines Bundeskanzlers und die Bildung einer festen Regierungsmehrheit gelungen. Als sich 1972 das Patt zwischen den parlamentarischen Lagern einstellte, gab es zwar einen etwas komplizierten, aber doch verfassungsmäßigen Ausweg aus dieser Krise durch die vorzeitige Ab-haltung von Neuwahlen, die dann ein sehr deutliches Ergebnis brachten.
Im Grunde meint man mit dem Problem der Unregierbarkeit auch gar nicht jene äußeren parlamentarischen Beschwernisse, so gewichtig sie vorübergehend sein mögen, sondern vor allem den Umstand, daß die demokratischen Regierungen durch die Macht der großen gesellschaftlichen Organisationen — neuerdings auch durch Bürgerinitiativen — daran gehindert werden, ihre Vorstellung vom Gemeinwohl politisch durchzusetzen. Wenn aber die politischen Organe eines demokratischen Staates nicht mehr in der Lage sind, die von ihnen als richtig angesehene Politik gegenüber den sozialen Machtgruppen durchzusetzen, dagn könnte man in der Tat von einem Zustand der Unregierbarkeit sprechen. Man kann dies als eine Gefahr der „Selbstblockierung der politischen Entscheidungsmechanismen und der gesamtgesellschaftlichen Steuerungssysteme" (Scharpf) bezeichnen.
Jedermann weiß, daß die staatlichen Aufgaben vielfältiger und komplexer geworden sind und daß die Fähigkeit der Gesellschaft und der in ihr organisierten Gruppen, ohne Intervention des Staates ihre Konflikte miteinanB der auszutragen und auf diesem Wege zur Stabilisierung der gesellschaftlichen Ordnung beizutragen, abgenommen hat. Heute richten sich, vertreten durch oft machtvolle soziale Organisationen, vielfältige, miteinander konkurrierende Ansprüche an den Staat, von dem quasi selbstverständlich erwartet wird, daß er sie angemessen befriedigt. Großbritannien z. B. hat die Erfahrung gemacht, daß man ohne die wirksame Unterstützung der Gewerkschaften auch die minimalsten wirtschaftlichen und sozialpolitischen Ziele nicht verwirklichen kann. Die gegenwärtige Bundesregierung macht die Erfahrung, daß trotz ihrer wiederholten Appelle an die Unternehmer, doch zu investieren und auf diesem Wege zur Beseitigung der Arbeitslosigkeit beizutragen, die so Angesprochenen nur in Grenzen bereit sind, dem Appell zu folgen, also durchaus in der Lage sind, die von der Regierung erwünschte Politik zu konterkarieren.
Nun gehört es natürlich zum Wesen einer freien Gesellschaft, daß sich in ihr autonome, soziale Organisationen zur Vertretung bestimmter Interessen bilden können, die legitim auf die Politik Einfluß zu nehmen versuchen. Im günstigen Falle werden miteinander unvereinbare Ansprüche sozialer Gruppen durch wechselseitige Kompromisse befriedigt, die zwar in aller Regel entfernt sind von der Lösung, die eine bestimmte Interessengruppe im Auge hat, aber gleichwohl von allen Betroffenen als erträglich empfunden werden.
Die heutige Politik hat es mit einem sehr dichten und komplexen Geflecht von Interessen und Machtstrukturen in der Gesellschaft zu tun, das sie keineswegs ignorieren und auch nicht mit dem Anspruch auf die souveräne Gewalt des Staates überspielen kann. Es gehört zum Wesen einer demokratischen Gesellschaft, daß die sozialen Interessen an der Politik teilnehmen, und sie tun dies auch innerhalb der politischen Parteien, auf die sie ebenso einzuwirken versuchen wie auf die Staatsorgane. Schwierig wird die Situation immer dann, wenn gravierende neue Probleme auftauchen, für die ein einfacher Interessenausgleich nicht so ohne weiteres gefunden werden kann. Wir haben Probleme dieser Art gehabt bei der Rentenfinanzierung oder in der Gesundheitspolitik. In beiden Fällen waren optimale Lösungen des Problems aus einer Reihe von Gründen nicht realisierbar.
Das Problem der Unregierbarkeit der westlichen Demokratien betrifft also in erster Linie die offensichtlich wachsenden Schwierigkeiten innerhalb der vielgestaltigen Interessen-undKonfliktstruktur einer Gesellschaft zu einem erträglichen, den möglichen Fortschritt nicht hindernden Ausgleich zu kommen. Die Bereitschaft demokratischer Politiker, sich über große soziale Interessen hinwegzusetzen, ist aufgrund der demokratischen Natur ihres politischen Amtes naturgemäß begrenzt. Die Sozialdemokraten, aber auch die Christdemokraten werden kaum einen radikalen Konflikt mit den deutschen Gewerkschaften riskieren, wie andererseits auch jede Regierung in einem kapitalistischen Wirtschaftssystem sehr wohl weiß, daß sie gut daran tut, die Kooperation mit den mächtigen Wirtschaftsinteressen zu suchen, da sie ohne deren Unterstützung oder zumindest Duldung ihre politischen Programme nicht realisieren kann. In jedem Fall handelt es sich bei dem Zusammenwirken zwischen den politischen Organen und dem pluralistisch organisierten sozialen Machtsystem der Gesellschaft um ein ziemlich prekäres Gleichgewicht, das stets von neuem zu stabilisieren versucht werden muß. Die Stabilität eines solchen Interessengleichgewichts hängt einerseits ab von der Fähigkeit der Politiker zu erkennen, was sie der Gesellschaft und ihren verschiedenen Interessen jeweils zumuten können bzw. zumuten müssen, zum andern von der Mitwirkung der gesellschaftlichen Gruppen an der politischen Auseinandersetzung selber. In dem Maße, in dem große soziale Machtgruppen bestimmte Entscheidungen, die für die künftige Entwicklung eines Systems wichtig werden könnten, kraft ihrer Vetomacht blockieren, schränken sie die Regierungsfähigkeit eines solchen Systems natürlich ein.
Linke Kritiker haben in den letzten Jahren mit nicht verhohlenem Triumph festgestellt, der Staat der kapitalistischen Industriegesellschaft sei nicht imstande, die von ihm konzipierten Planungen und Programmentwürfe auch in die Wirklichkeit umzusetzen. Doch die Vorstellung, die sie zu entlarven hofften, daß nämlich der souveräne Staat der unangefochtene Demiurg des politischen Geschickes der Nation sei, war schon immer falsch. Nur juristisch, nicht aber faktisch ist der Staat in seinen Organen Träger der höchsten Gewalt. Ein Staat jedoch, der seinen politischen Willen durch das komplizierte Zusammenwirken sehr vieler staatlicher und nichtstaatlicher Instanzen bildet, ist in jedem Falle demokratischer als ein Staatsgebilde, das der Gesellschaft autoritär seinen Willen aufzwingt.
Ich will gar nicht leugnen, daß die Interdependenz aller politischen Fragen und auch die weitgehende Abhängigkeit eines politischen Systems wie dem der Bundesrepublik von den internationalen Konstellationen und Rahmenbedingungen es der Politik keinesfalls leichter machen, bestimmte notwendige Zielsetzungen auch zu erreichen. Im übrigen gibt es ja auch einigen Grund, daran zu zweifeln, daß der Staat, sofern er eine konsequente Politik durchsetzen könnte, damit auch unbedingt immer Gutes schaffen würde. Die Mitwirkung der Gesellschaft an den politischen Entscheidungen ist insofern ein notwendiges Element der Kontrolle staatlicher Macht, auch wenn die Ergebnisse einer politischen Planung am Ende kaum mehr den oft weittragenden Entwürfen entsprechen, die am Anfang des politischen Prozesses konzipiert worden sind.
Ich habe insgesamt nicht den Eindruck, daß wir zu den Ländern gehören, von denen man sagen könnte, daß sie unregierbar geworden seien. Wir teilen gewiß die Bedingungen der Komplexität, die auch andere demokratische Systeme vorfinden. Doch ist es uns im Laufe unserer Entwicklung seit 1949 aufgrund einer Reihe von äußeren Bedingungen und Grundeinstellungen gelungen, mit diesen schwierigen und komplexen Problemen relativ gut fertig zu werden. Dazu gehört nicht zuletzt die am Ende immer wieder bewährte Partnerschaft zwischen den beiden großen Machtgruppen, den Unternehmern einerseits und den Gewerkschaften andererseits. Nach meinem Dafürhalten liegt die Hauptschwierigkeit der heutigen Politik demokratischer Industriegesellschaften darin, daß dem Staat von allen Seiten zu viel abverlangt wird, ohne daß er die Mittel und Möglichkeiten besäße, den an ihn gestellten Erwartungen zu entsprechen.
Wird der Staat überfordert?
Nach einer geläufigen Definition bezeichnet man die moderne Entwicklung vom liberalen Rechtsstaat zum leistungsgewährenden Sozialstaat als die Entwicklung vom „Staat als Ordnungsgaranten zum Leistungsträger“. Ich glaube nicht, daß es eine einfache Rückkehr zur alten liberalen Idee des Staates als Ordnungsgaranten geben kann, aber möglicherweise ist das Pendel schon zu stark in die andere Richtung ausgeschwungen, so daß eine gewisse Korrektur durchaus hilfreich wäre. Die Gesellschaft ist offensichtlich immer weniger bereit, Selbsthilfe zu leisten. Aufgereiht in ihren massiven Interessenformationen bombardiert sie den Staat mit ihren konkurrierenden Ansprüchen, ohne daß dieser in der Lage wäre, aus souveräner Vollmacht heraus seine verbindlichen Entscheidungen zu treffen. Die wachsende Zahl der von der Gesellschaft an den Staat herangetragenen Aufgaben stärkt nicht nur die Macht der Bürokratie, sondern weckt auch in dem Bürger das Gefühl, daß seine ureigensten Angelegenheiten weder bei den Politikern der Parteien, noch bei der Staatsverwaltung in den besten Händen sind. Haben wir in den letzten Jahren nicht oft genug erfahren, daß die staatlichen Programme, die als Reformen initiiert wurden, die Probleme eher vermehrten, anstatt sie zu vermindern? Gibt es nicht vielleicht ein Zuviel an immer neuen Programmierungen und Zielsetzungen in unserer Politik, wobei solche Programme vielfach nur das Ergebnis von fehlgelaufenen Programmen sind, deren disparate Folgen man nicht deutlich genug gesehen hatte? Der moderne demokratische Staat steht in der Tat unter einem enormen Forderungsdruck, der von allen Seiten auf ihn ausgeübt wird, doch je mehr er diesem Begehren nachgibt und dafür die entsprechenden Einrichtungen zu schaffen versucht, desto stärker wächst offensichtlich das Unbehagen über diese Entwicklung, nicht zuletzt bei den Bürgern, die sich oft als bloßes Objekt staatlicher Strategien vorkommen und mißachtet fühlen.
Von dieser eher problematischen Tendenz zur Zielprogrammierung ist keine unserer maßgeblichen politischen Parteien auszunehmen. Werden wir von terroristischen Akten heimgesucht, so muß möglichst demonstrativ am Rechtsstaat herumkuriert werden, um eine größere Effizienz zu gewährleisten; wachsen uns die Gesundheitskosten über den Kopf, so versucht man sie an allen Ecken und Enden zu dämpfen, ohne jedoch das wirksamste Mittel in Anspruch zu nehmen, nämlich die Einführung einer Selbstbeteiligung, weil diese ein politisches Tabu ist Ganz schwierig ist offenbar die Bewältigung jener Herausforderungen, die durch die Umweltproblematik an unser politisches System gestellt werden, weil die darüber geführte Diskussion nicht ganz ohne Grund den Eindruck erweckt, als ginge es hier um Leben und Tod einer Gesellschaft, ja einer ganzen Welt.
Es liegt auf der Hand, daß, wo solche dramatischen Perspektiven die Diskussion bestimmen, jede politische Regelung solcher Fragen schwieriger wird. Das können wir ganz deut-B lieh an der Härte und Unerbittlichkeit der Auseinandersetzung in der Kernenergie studieren. Probleme dieser Art werden in Zukunft sicherlich nicht geringer; ihre politische Bewältigung dürfte eher schwieriger werden. Auch wenn wir heute noch feststellen können, daß im politischen System der Bundesrepublik trotz aller Unzulänglichkeiten und trotz innerer Auseinandersetzungen eine pragmatische Linie des Interessenausgleichs immer wieder hat gefunden werden können, so ist es doch keineswegs sicher, daß dies mit der gleichen Automatik auch in Zukunft geschehen kann. In diesem Zusammenhang spielen natürlich auch die geistigen Einstellungen eine Rolle. Je entschiedener bestimmte tonangebende Gruppen ihre Positionen für unverzichtbar halten, desto schwieriger wird der politische Ausgleich.
Zusammenfassend möchte ich sagen, daß ich die Herausforderungen, vor die sich unsere heutige demokratische Ordnung gestellt sieht, im Prinzip für überwindbar halte und daß gerade unsere eigene politische Situation in der Bundesrepublik ein Beispiel dafür ist, daß es gelingen kann, freiheitliche Gesellschaftsordnungen lebensfähig zu erhalten, wenn man sich der Gefahren genügend bewußt ist, die in der gegenwärtigen Lage drohen. Soviel ist immerhin klar: Die Faszination, die vom Beispiel der sozialistischen Länder auf die westlichen Gesellschaften ausgeht, ist denkbar gering. Zwar finden wir gerade in unseren westlichen Ordnungen viele Individuen und Gruppen wie auch politische Parteien, die mit der gegenwärtigen Verfassung unserer westlichen Systeme alles andere als zufrieden sind, weil sie sie nicht für gerecht und für demokratisch genug halten, aber nur ganz wenige, die so denken, propagieren gleichzeitig die Übernahme eines kommunistischen Systems sowjetischen oder chinesischen Musters.
Die Demokratie im Spannungsfeld zweier „Kulturen"
Ich sehe allerdings eine nicht geringe Gefahr für die Zukunft unseres Gemeinwesens in der Verbreitung von geistigen Einstellungen vor allem in der jungen Generation, die unsere Gesellschaftsordnung und ihre politische Verfassung grundsätzlich kritisch zu betrachten geneigt ist und mehr oder weniger offen die Auffassung vertritt, daß mit dieser deutschen Demokratie alles andere als ein Staat zu machen sei. Zwar ist die Zahl derjenigen, die in unserem System zu offenen Gegnern dieser Ordnung geworden sind oder sich so erklären, relativ gering; zwar haben radikale politische Gruppierungen nie eine einigermaßen ernsthafte Chance gehabt (mit Ausnahme der NPD im Jahre 1969), in das etablierte Drei-Parteien-System der deutschen Politik einzudringen, doch mache ich die bei vielen Intellektuellen verbreitete negative und kritische Einstellung gegenüber dem Staat der Bundesrepublik auch mitverantwortlich für das starke politische Unbehagen, das sich in unserem Lande weit über die Intellektuellen-zirkel hinaus breitgemacht hat. Auch wenn es, wie ich in meinem Buch über „Das Elend unserer Intellektuellen" zu zeigen versucht habe, den linken Theoretikern alles andere als gelungen ist, Einbrüche in das wirtschaftliche und soziale Struktursystem dieses Landes zu erzielen, so darf man doch ihre geistige Wirkung nicht geringschätzen, denn sie haben zu einer Verunsicherung und Verunklarung unseres politischen Bewußtseins geführt, die, wie wir aus inneren Kämpfen in der SPD und FDP wissen, bis weit in die etablierten Parteien hineinreicht.
Die Frage, ob unsere Demokratie überfordert ist, entscheidet sich nach meinem Dafürhalten nicht allein an der Schwere der Probleme, mit denen die demokratischen Staaten im letzten Viertel des 20. Jahrhunderts konfrontiert werden, sondern in noch höherem Grade an unserer Fähigkeit, die Probleme richtig zu erkennen und angemessen auf sie zu reagieren. Es kommt also letzten Endes weniger auf den Problemdruck als auf unsere geistigen Einstellungen und unsere sozialen Verhaltensmuster an. Ich meine, daß die These zutrifft, derzufolge die westlichen Industriegesellsdiaften in einen umfassenden kulturellen Wandlungsprozeß hineingezogen worden sind, der in idealtypischer Sicht zur Herausbildung von zwei Kulturen, d. h. von zwei gegensätzlichen Grundeinstellungen und Verhaltensmustern geführt hat, die heute in einem das kulturelle Gleichgewicht unserer Gesellschaften bedrohenden Spannungsverhältnis zueinander stehen. Die rationalisierte Welt der Arbeit, Technik und Wissenschaft, auf der die Produktivität und Leistungsfähigkeit unserer Wirtschaftsordnung beruht, sieht sich in zunehmendem Maße Verhaltensmustern und geistigen Einstellungen konfrontiert, die den bürgerlich-rationalen Werten der kapitalistischen Gesellschaft und der mit ihr verbunde-B nen puritanischen Ethik widersprechen. Der amerikanische Soziologe Daniel Bell hat in seinem Buch über „Die Zukunft der westlichen Welt'von einem „hedonistischen Durchbruch“ gesprochen, der in den letzten Jahren erfolgt sei. Er vertritt die Auffassung, der Bereich der Kultur im engeren Sinne sei, stärker als die Technologie, zur bestimmenden dynamischen Kraft unserer jüngsten Entwicklung geworden. In der kulturellen Sphäre rangiert, wie wir am Verhalten vor allem der jüngeren Generation überall beobachten können, die Idee einer möglichst ungehemmten Selbstverwirklichung des Menschen an erster Stelle.
Das neue Lebensgefühl, das sich überall anmeldet, sei es im Verlangen nach mehr Emanzipation, sei es in der Forderung nach dem Abbau aller Beschränkungen der geistigen und körperlichen Bewegungsfreiheit des Individuums, bleibt unter den gegebenen Verhältnissen jedoch meist unbefriedigt. Darum fühlen sich so viele Menschen, ungeachtet des Wohlstands, an dem sie partizipieren, frustriert und begehren nach neuen Lebensformen, die Erfüllung und Befriedigung gewähren und Sinn vermitteln. Die Bewußtseinslage der Menschen unserer industriellen Zivilisation ist erkennbar im Wandel begriffen; ihre Bereitschaft, sich abzufinden, Realitäten anzuerkennen, sich ins Unvermeidliche, weil Notwendige zu fügen, nimmt ab.
Aus dem gleichen Grunde werden die öffentlichen Institutionen mit Ansprüchen konfrontiert, die in ihrer Summe tatsächlich auf eine Überforderung de Systems hinauslaufen. Der Sozialstaat droht unter der Last solcher Ansprüche zusammenzubrechen, andererseits können die Parlamente und Regierungen das neue Lebensgefühl nicht gut ignorieren und suchen tastend nach Wegen, wie sie ihm gerecht werden können. Da jedoch die Dynamik und die Leistungsfähigkeit unserer Gesellschaft von Einstellungen und Verhaltensweisen abhängig sind, die dem neuen Lebensgefühl eher zuwider sind, nämlich von Einsatz, Leistungswillen, Verantwortungsfreudigkeit etc., gelingt den Politikern dieses Unterfangen mehr schlecht als recht. Die Folge ist ein allgemeines Unbehagen, sowohl bei vielen Bürgern, weil der Staat die Fülle der an ihn herangetragenen Ansprüche schlechterdings nicht befriedigen kann, als auch bei den Regierenden, weil sie sich irgendwie durchlavieren müssen, da sie selbst ihrer Maßstäbe nicht mehr sicher sind. Daß ein eher linker Sozialdemokrat wie Erhard Eppler sich mit guten Argumenten als der wahre Konservative ausgeben kann, ist dafür ein Indiz.
So ist das Problem der Überforderung unserer Demokratie in seiner umfassendsten Form ein kulturelles, d. h. ein geistiges und moralisches Problem. Es kann nicht einfach dadurch gelöst werden, daß wir die neuen Einstellungen und die aus ihnen resultierenden Ansprüche einfach verwerfen und statt dessen die alten Werte des Bürgertums und das Puritanismus hochhalten, sondern wir müssen daran arbeiten, die gestörte Balance zwischen den beiden Kulturen auf einer neuen Stufe unserer Entwicklung wieder herzustellen. Nach meinem Urteil geht es in der geistigen Situation von heute darum, dem schrankenlosen Hedonismus und dem mit ihm verbundenen sozialen Utopismus entgegenzutreten und sie wieder auf jenes Maß zurückzuschrauben, das mit der Lebensfähigkeit einer freien Industriegesellschaft verträglich erscheint. Doch dies kann nicht geschehen ohne das Bewußtsein davon, daß der hedonistische Durchbruch und die mit ihm zusammenhängende Störung unseres kulturellen Gleichgewichts in der vorausgehenden Einseitigkeit einer Entwicklung begründet war, die sich zu rücksichtslos dem materiellen Wachstum und einer materialistischen Grundeinstellung verschrieb und die humanen Kosten einer solchen Entwicklung allzu gering achtete.
Die Antwort auf die das System potentiell gefährdende Überlastung der demokratischen Institutionen kann also nicht darin liegen, dem ohnehin immer übermächtiger werdenden und zugleich so hilflos wirkenden Moloch Staat noch mehr als bisher zuzumuten, sie muß langfristig in einer geistigen und sozialen Erneuerung unseres Bewußtseins gesucht werden. Es gilt, solidarische Verantwortung zu stärken, an einem neuen Konsensus zu arbeiten, der ein politisches System zu tragen vermag, das Freiheit zur Selbstverwirklichung ermöglicht, doch so — mit Kant zu sprechen —, daß die Freiheit jedes anderen daneben zu bestehen vermag.
Die Aufgabe, die uns gestellt ist, ist also im letzten und eigentlichen eine geistige und moralische. Es hängt von unseren Einsichten, von unserer Fähigkeit zur Vernunft und natürlich von unserem Willen ab, ob wir sie zu bewältigen vermögen. Die Politiker allein, gleich welcher Richtung, wären damit überfordert. Sie bleiben es auch in Zukunft, sofern es den Menschen in unserer Gesellschaft nicht gelingt, von neuem einen tragfähigen Konsensus über unsere Grundwerte zu entwickeln. Daran zu arbeiten, ohne den Blick für das Wirkliche wie für das Mögliche zu verlieren, ist unser aller Bürgerpflicht