Wer sich mit dem Thema „Deutschland und die deutsche Nation im Unterricht" befaßt, hat Mühe, eine gewisse Melancholie und die Neigung zur Resignation zu bekämpfen. Unser Schulwesen, das schon vielgestaltig genug ist, bietet in diesem Bereich ein besonders unbefriedigendes Bild. Dies ist weniger auf fehlende rechtliche Voraussetzungen zurückzuführen. Hier haben die Kultusverwaltungen der Länder durchaus wichtige Vorarbeiten geleistet. Sie haben „Ostkunde-Erlasse" unter diesem oder ähnlichem Namen herausgebracht. Formal ist daher meist alles in Ordnung.
Woran liegt es, daß dennoch die Praxis so wenig befriedigt? Die Antwort scheint mir in der verbreiteten Unsicherheit über den Inhalt, über das Ziel des Unterrichts zu liegen. Die Kontroverse, die in dieser Zeitschrift darüber ausgetragen wird, ist ein besonders anschauliches Beispiel hierfür Ihr Kern scheint mir die Frage zu sein, ob man sich schon deshalb mit der Spaltung Deutschlands abfinden müsse, weil sie Realität ist. Ist es utopisch oder nicht vielleicht doch politisch vertretbar, auf eine Veränderung (Verbesserung) der gegenwärtigen Situation hinzuwirken — auch mit den Mitteln der politischen Bildung?
Dabei ist nicht zu verkennen, daß es zahlreiche Lehrer und auch für die Lehrerfortbildung Verantwortliche in den Schulen und Schulbehörden aller Bundesländer gibt, die bemüht sind, auch im Rahmen der Schule das ihrige dafür zu tun, daß das Bewußtsein von der Einheit der deutschen Nation trotz staatlicher Spaltung nicht untergeht, sondern gepflegt wird. Es gab und gibt Lehrer, die sich bemühen, mit modernen Mitteln der Jugend im Unterricht ein Deutschlandbild zu vermitteln, das über die Bundesrepublik Deutschland hinausgeht. Wer sich aus Neigung oder von Berufs wegen mit den hier zur Diskussion stehenden Fragen zu beschäftigen hat, spürt jedoch immer wie-der, daß sich vor allem die Lehrer in der Praxis häufig allein gelassen fühlen. Deutschland und die deutsche Nation im Unterricht zu behandeln, gilt als ausgesprochen heißes Eisen. Wer setzt sich schon gern dem Vorwurf aus, wie ihn Schmidt-Sinns mit beispielhafter Noblesse formuliert hat, die Jugend entweder zu „leeren Lippenbekenntnissen" zu erziehen oder ein „Irredenta-Klima" zu erzeugen, „das bei geringem Anlaß zum gefährlichen Ausbruch kommen könnte", sprich: den Frieden gefährdet? Wer sich um „gesamtdeutsches Bewußtsein" sorgt, ist damit zwangsläufig als potentieller Kriegsbrandstifter abgestempelt. Da ist die Versuchung für viele Lehrer schon verständlich, das Thema einfach unter den Tisch fallen zu lassen, wenn nicht von seifen der Schulverwaltungen mit Nachdruck auf seiner Behandlung bestanden wird, was meist nicht der Fall ist.
Aber auch die Bildungspolitiker aller Parteien in Bund und Länder kümmern sich nur wenig um diesen Bereich der Schulpolitik, so gern und so oft sie auch sonst über Einzelheiten der Bildungspolitik streiten mögen. Die Behandlung der deutschen Nation im Unterricht spielt in der Politik nur eine geringe Rolle. Eine Kleine Anfrage, wie sie die Fraktion der FDP im Landtag von Nordrhein-Westfalen zu diesem Thema eingebracht hat, gehört zu den Ausnahmen Es kommt auch sicherlich nicht von ungefähr, daß die jüngste umfangreiche Große Anfrage der CDU/CSU-Bundestagsfraktion zur Deutschlandpolitik keinen einzigen Hinweis auf Probleme der deutschlandpolitischen Bildungsarbeit enthielt
Unter diesen Umständen ist es zu begrüßen, daß in der Fachpresse dennoch hin und wieder Aufsätze zu diesem Themenkreis erscheinen. Die Diskussion in der Beilage zur Wochenzeitung DAS PARLAMENT ist hierfür ein wichtiges Beispiel. Die Frage ist allerdings, ob es sinnvoll ist, in erster Linie von didakti-sehen Ansätzen her das Problem anzugehen. Die Unsicherheit, die sowohl unter den Lehrern als auch in den Schulverwaltungen herrscht, scheint mir doch in erster Linie darauf zurückzuführen sein, daß Unklarheit hinsichtlich der politischen Ziele deutschlandpolitischer Bildungsarbeit besteht
Lernziele sind politische Entscheidungen Selbst wenn man nicht, wie Schmidt-Sinns es tut, das Ziel des Unterrichts darin sieht, unsere gesamtdeutsche nationale Identität aufzugeben, eine Bundesrepublik-Identität zu entwickeln und diese in ein weltbürgerliches Bewußtsein einzubetten, bleibt die Frage, ob es mit Kosthorst genügt, das Lernziel des Unterrichts darin zu sehen, „Einsicht in die Bedingungen der Möglichkeit der deutschen Teilung“ zu bieten und damit den Schülern Hilfe zur „Identitätsklärung" zu geben. Kosthorsts Formulierung hat sicherlich den Vorteil, daß sich sowohl „Linke" als auch „Rechte" auf dieses Unterrichtsziel verständigen können, denn es enthält ja noch keine materielle Aussage. Dennoch wird man ein solches Unterrichtsziel wohl als nicht ausreichend bezeichnen müssen. Der Schulunterricht unterliegt im Bereich der deutschlandpolitischen Bildungsarbeit noch weiteren Vorgaben, die sich aus den Grundentscheidungen unserer Verfassung ergeben. Er hat nicht wertneutral zu sein, sondern sich an den Grundwerten der freiheitlich-demokratischen Grundordnung zu orientieren. Diese Gebundenheit gilt auch und gerade für den Bereich der Deutschlandpolitik
Ihre Konkretisierung ist eine politische Aufgabe, die nach politischen Gesichtspunkten vorzunehmen ist und politisch-parlamentarischer Verantwortung unterliegt. Konkret bedeutet das, daß die Beantwortung der Frage nach dem Lernziel unserer Bildungsbemühungen im Bereich der Deutschlandpolitik we-der den Didaktikern noch den Historikern oder beiden allein überlassen bleiben darf. Wer zu der Frage Stellung nimmt, ob wir auf unsere gesamtdeutsche Identifikation zu Gunsten etwa eines weltbürgerlichen Bewußtseins verzichten sollten, äußert sich politisch. Dabei spielt es erst in zweiter Linie eine Rolle, ob seine historischen und sonstigen Argu-* mente stichhaltig sind, was ich nicht glaube. Was Ratschläge in bezug auf unser zukünftiges Verhalten anbelangt, so ist nicht, wie Schmidt-Sinns meint, jeder Wissenschaftler zugleich Didaktiker, sondern zuerst einmal Politiker. Zur inhaltlichen Ausfüllung der Politik, auch der Bildungspolitik, sind in unserem Staat aber nun einmal in erster Linie die Parteien und ihre Fraktionen im Bund und in den Ländern sowie die von ihnen getragenen Regierungen berufen. Bei der Umsetzung politischer Meinungen in staatliche Maßnahmen, also auch bei der Formulierung konkreter Lernziele für den Schulunterricht, unterliegen sie den Schranken, die von der Verfassung gezogen sind.
Verfassungsauftrag beachten In diesem Zusammenhang ist das Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 31. Juli 1973 in dem Verfahren zur verfassungsrechtlichen Prüfung des Gesetzes zum Vertrag vom 21. Dezember 1972 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Deutschen Demokratischen Republik über die Grundlagen der Beziehungen zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Deutschen Demokratischen Republik vom Juni 1973 6) von besonderer Bedeutung. Im Leitsatz 4 dieses Urteils hat das Bundesverfassungsgericht aus dem Wiedervereinigungsgebot des Grundgesetzes u. a. die Forderung hergeleitet, den Wiedervereinigungsanspruch im Innern wachzuhalten und nach außen beharrlich zu vertreten. Es liegt auf der Hand, daß der erste Teil dieser Forderung vor allem im Bereich der staatlichen Bildungsarbeit erfüllt werden kann und erfüllt werden muß. Die Schulen und die Schulverwaltungen sind durch diesen Teil des Urteils des Bundesverfassungsgerichts besonders angesprochen. Dem Unterricht ist damit eine Zielsetzung von eindeutig verfassungsrechtlichem Rang gegeben. Die politischen Bemühungen der Bundesrepublik Deutschland um die Einheit der deutschen Nation müssen von Verfassungs wegen durch eine entsprechende Bildungsarbeit begleitet werden. Die Mittel und Methoden des Unterrichts haben sich an dieser Zielsetzung zu orientieren. Zwar ist es dem Schüler freigestellt, wie er sich auf Grund der im Unterricht gewonnenen Erkenntnisse zu diesen Grundwerten unserer Verfassung einstellt. Der Lehrer hat jedoch diese Wahlfreiheit hinsichtlich der Zielsetzung seines Unterrichts nicht. Wie alle staatlichen Organe ist auch die Schule insofern gebunden. über die DDR informieren Der Forderung des Bundesverfassungsgerichts würde man im Ernst nicht gerecht werden, wollte man sich lediglich auf eine formelhafte Wiederholung unseres Wiedervereinigungsanspruchs im Unterricht beschränken. Damit wäre der Sadie sicherlich nicht gedient. Im Gegenteil: Durch eine Überfütterung mit Phrasen könnte die zu Recht kritische Jugend erst richtig in eine andere Richtung gedrängt werden. Ein Schulunterricht, der den Geboten der Verfassung Rechnung tragen will, wird auf eine besonders sachliche Grundlage zu stellen sein. Wer sich mit Deutschland und der deutschen Nation im Unterricht befaßt, muß sich nicht nur u. a. mit den von Schmidt-Sinns aus der Historie hergeleiteten Argumenten auseinander-setzen, die angeblich gegen eine deutsche Nation (angesichts staatlicher Spaltung Deutschlands) sprechen. Er steht vor allem vor der Aufgabe, den Schülern ein ausreichendes Faktenwissen über die DDR zu vermitteln, denn nur auf einer solchen Grundlage ist es möglich, ein fundiertes Urteil über die Lage der deutschen Nation heute und ihre Überlebenschancen in Europa und der Welt abzugeben. Es ist leider eine Binsenwahrheit, daß dem Interesse der Jugend in der DDR am Westen und ihrem relativ großen Wissen über die Bundesrepublik Deutschland ein nur sehr niedriger Wissensstand der bundesdeutschen Jugend hinsichtlich der Verhältnisse in der DDR gegenübersteht — und dies gilt wohl nicht nur für die Jugend. Die sporadischen Berichte in den westdeutschen Massenmedien über den anderen Teil Deutschlands sind offenkundig nicht ausreichend, um diese Wissenslücke zu schließen. Hier muß der Schulunterricht zuerst einmal ansetzen. Den Lehrer hierzu in die Lage zu versetzen und ihm ausreichend Unterrichtshilfen in die Hand zu geben, ist die wichtigste Aufgabe der Didaktik und der Curriculumforschung, bevor sie sich an der Formulierung politischer Ziele versuchen. Dies bedeutet, daß entscheidende Verbesserungen herbeigeführt werden müssen.
Eine Durchsicht der wichtigsten heute im Unterricht gebräuchlichen Schulbücher ergibt, daß, was die Deutschlandpolitik. und die DDR anbelangt, im Vordergrund des Interesses ihrer Verfasser die Geschichte der Spaltung Deutschlands steht. Nun bin ich der letzte, der etwa der Geschichtslosigkeit oder der Vernachlässigung der Zeitgeschichte das Wort reden wollte. Im Gegenteil: Eine Intensivierung des Geschichtsunterrichts scheint mir sogar dringend geboten. Die heutige Situation in der DDR wird man auch ohne ausreichende Kenntnisse über ihre Geschichte nicht zutreffend beurteilen können. Dennoch darf nicht verkannt werden, daß im Hinblick auf das Ziel, die Einheit der Nation zu wahren, eine im wesentlichen auf die Beschreibung des historischen Ablaufs der Spaltung Deutschlands beschränkte Darstellung im Unterricht nicht ausreicht. Hierfür ist vielmehr eine fundierte Kenntnis der Schüler über den Ist-Zustand der DDR von entscheidender Bedeutung. Ein Gefühl der Verbundenheit mit unseren Landsleuten im anderen Teil Deutschlands kann sich bei den Schülern nur dann einstellen, wenn sie die Verhältnisse, unter denen diese sich täglich bewähren müssen, kennen. Dies setzt eine eingehende Behandlung der Wirtschaft, der sozialen Verhältnisse, der Bildungsund Kulturpolitik und anderer Bereiche im Schulunterricht voraus. Dabei wird nicht nur die Rechtslage, sondern auch die Rechtswirklichkeit in der DDR zu beachten sein.
Ich kann also die prinzipielle Kritik von Moldenhauer an einem Schulbuch, das immer nach der Darstellung der Verhältnisse in der Bundesrepublik noch einen Abschnitt anfügt, der sich mit den entsprechenden Verhältnissen in der DDR befaßt, nicht teilen. Man darf sich auch nicht darauf beschränken, die innenpolitischen Entscheidungen der DDR-Führung aus dem Selbstverständnis des Marxismus-Leninismus heraus zu begründen. Gerade beim Systemvergleich ist es unvermeidlich, Teile des westlichen Gesellschaftsbildes dem östlichen gegenüberzustellen. Solche Vergleiche werden oft zuungunsten der DDR ausgehen. Dennoch ist das Verfahren legitim und kann auch von Marxisten kaum bestritten werden, denn schließlich soll ja das Sein das Bewußtsein bestimmen
Hilfsmittel für den Unterricht Leider gibt es nur wenige Hilfsmittel, die den Lehrer bei solchen Vergleichen wirksam unterstützen können. Die Sozialkundebücher beschäftigen sich — wenn überhaupt — meist nur verhältnismäßig kurz mit den Realitäten in der DDR 0). Darüber hinaus gibt es — neben einigen Materialsammlungen — auch nur wenige fertige Unterrichtsmodelle 7 ). Es ist sehr zu begrüßen, daß in allen Teilen der Bundesrepublik Deutschland interessierte Lehrer von sich aus bemüht sind, auf die Verhältnisse der DDR bezogene Unterrichtseinheiten zu schaffen. Die entsprechenden Materialanforderungen, die das Gesamtdeutsche Institut erreichen) zeigen deutlich, daß viele Lehrer die von mir dargestellte Lücke im Angebot der Unterrichtsmittel spüren und versuchen, sie aus eigenen Kräften, so gut es geht, zu schließen. Dennoch darf nicht verkannt werden, daß durchschlagende Erfolge in diesem Bereich ohne intensivere staatliche Einflußnahme wohl kaum zu erwarten sind.
In diesem Zusammenhang darf ich auf den bereits seit acht Jahren erscheinenden soge-nannten DDR-Kalender des Gesamtdeutschen Instituts verweisen, der vor allem 1976 Aufsehen erregt hat. In jedem Jahr bringt er eine Fülle von Informationen über die DDR. Wenn diesem Kalender gelegentlich der Vorwurf gemacht worden ist, er bereite das Material didaktisch nicht ausreichend auf, ja ein Kalender sei in dieser Richtung überhaupt ein wenig taugliches Unterrichtshilfsmittel so will ich das prinzipiell akzeptieren. Für das Gesamtdeutsche Institut kam es allerdings bei der Herausgabe der beiden letzten Kalender, die den Alltag in der DDR behandelten, vor allem darauf an, überhaupt Anstöße für eine Behandlung dieses Themas im Unterricht zu geben und Lehrern wie Schülern die Scheu vor dem Betreten unbekannten Terrains zu nehmen. Dieses Ziel scheint der Kalender wenigstens teilweise erreicht zu haben. Die Verwirklichung des darüber hinausgehenden großen Ziels, die Lebensverhältnisse in der DDR umfassend und didaktisch einwandfrei darzustellen, steht allerdings noch aus.
Viel hängt in diesem Zusammenhang davon ab, daß die Verhältnisse in der DDR bei der Ausbildung der Lehrer an den pädagogischen Hochschulen und Universitäten eine größere Rolle als bisher spielen. Nur wenn man die angehenden Lehrer in Vorlesungen und Seminaren rechtzeitig und intensiv auf den Lehrstoff DDR vorbereitet, werden sie ermutigt, dieses vermeintlich heiße Eisen auch im Unterricht beherzt anzufassen. Nur dann wird die heute weit verbreitete Angst, sich bei der Behandlung dieses Themas die Finger zu verbrennen, gar nicht erst aufkommen.
Erst auf der Grundlage ausreichender Detail-Informationen über die DDR wird es möglich sein, zufriedenstellende Antworten auf eine Reihe von politischen Fragen zu finden, denen sich Lehrer auch im Unterricht immer wieder ausgesetzt sehen. Diese Fragen betreffen vor allem die Chancen einer Wiedervereinigung. Viele Schüler, vielleicht auch Lehrer, neigen dazu, eine Behandlung der DDR-Verhältnisse im Unterricht schon deswegen für überflüssig zu halten, weil eine Wiedervereinigung Deutschlands ja sowieso nicht möglich oder noch nicht einmal wünschenswert sei.
Im folgenden möchte ich mich mit einigen der besonders häufig benutzten Argumente auseinandersetzen
Deutschlandpolitik Teil der Europapolitik Oft wird darauf hingewiesen, es bestehe ein Widerspruch zwischen einer aktiven Europapolitik und einer Deutschlandpolitik, die, wie es das Bundesverfassungsgericht verlangt, am Wiedervereinigungsanspruch festhält. Da niemand ein wiedervereinigtes Deutschland wolle, schließe Europapolitik die Wiedervereinigung Deutschlands aus.
Dieser Argumentation liegt offenkundig ein auf Westeuropa verengter Europabegriff zugrunde. Nur wenn man eine Vereinigung Westeuropas als das Ende aller Europapolitik ansieht, ist die Logik dieses Arguments zu verstehen. Auch hier, wie so oft bei der Formulierung politischer Ziele, ist man nicht in der Lage, eine über die nächsten Schritte hinausgehende Strategie gedanklich zu vollziehen. Wenn es auch richtig ist, daß wir die Überwindung der Gegensätze in Europa und die Verbesserung der Zusammenarbeit mit unseren Nachbarn zuerst einmal in dem Bereich in Angriff nehmen müssen, in dem eine prinzipielle Bereitschaft dazu vorausgesetzt werden kann, so können wir doch, wollen wir gegenüber der Geschichte und der Gegenwart nicht unglaubhaft werden, die ganze östliche Hälfte des historisch und kulturell gewachsenen europäischen Raumes nicht einfach aus dieser Tradition ausschließen. Eine Europapolitik, die diesen Namen verdient, muß also auch die osteuropäischen Völker bei der Formulierung von Fernzielen berücksichtigen. Da diese Völker sich durchaus wie wir als Europäer fühlen, wäre ein anderes Verhalten nicht 12 nur politisch ungerecht, sondern auch gefährlich, da sich die daraus dann zwangsläufig ergehenden Gefühle der Enttäuschung eines Tages gegen uns wenden müßten.
In einem vereinten Gesamteuropa werden aber auch die Deutschen die Möglichkeit ha-ben, unter einem — wie auch immer konstruierten — staatlichen Dach zu leben. Unsere Bemühungen um die Einheit der deutschen Nation sind damit nicht nur kein Gegensatz zur Europapolitik, sondern Teil einer richtig verstandenen Europapolitik. Deutschland-und Europapolitik bedingen einander. Die eine ist ohne die andere nicht denkbar.
Damit verliert das Argument an Gewicht, auch unsere westlichen Nachbarn seien ge-gen ein einheitliches Deutschland eingestellt. Natürlich haben sie kein größeres Interesse daran als die Deutschen selbst. Auch ihnen dürfte das Hemd näher sein als der Rock. Viele haben auch sicherlich ihre negativen Erfahrungen mit Deutschen während des Zweiten Weltkrieges noch nicht bewältigt. Aber schon 1954 haben sich die Regierungen unserer wichtigsten Partnerstaaten im Deutschlandvertrag verpflichtet, für die Einheit Deutschlands einzutreten. Was aber die öffentliche Meinung in diesen Ländern anbelangt, so wird es nicht zuletzt von unserem eigenen Verhalten abhängen, wie sie sich unseren nationalen Belangen gegenüber einstellt.
Was will die Bevölkerung in der DDR?
Häufig wird auch argumentiert, die DDR-Bevölkerung wolle gar nicht mehr eine gemeinsame Nation mit uns bilden. Man meldet Zweifel daran an, ob es geboten erscheint, an einem Begriff „deutsche Nation“ festzuhalten. Man stellt fest, die Mehrheit in der DDR wolle wahrscheinlich unsere Lebensformen, so wie sie sind, gar nicht übernehmen. Die Kritiker der SED in der DDR wollten einen anderen Sozialismus und jedenfalls keinen Anschluß an die Bundesrepublik Deutschland
Allen diesen Mutmaßungen liegen keine exakten, methodisch einwandfrei zustande gekommenen und überprüfbaren empirischen Untersuchungen zugrunde. Zwar gibt es auch in der DDR eine Meinungsforschung, die sich auf die uns interessierenden Gebiete erstreckt. Ihre Ergebnisse werden aber streng geheimgehalten und nur wenigen im Führungsapparat der SED zugänglich gemacht.
Sie lassen sich nur im Wege des Umkehrschlusses aus den Reaktionen der SED-Führung erahnen.
Wenn es das Politbüro des Zentralkomitees der SED z. B. für notwendig erachtet, in seinem Beschluß über die Massenarbeit besonders nationalistischen und bürgerlichen Bestrebungen den Kampf anzusagen dann wird es dafür wohl seine Gründe haben. Sie liegen offenbar in anderen Erkenntnissen der SED-Führung hinsichtlich des gesamtdeutschen Bewußtseins der DDR-Bevölkerung begründet, als sie manche sogenannte DDR-Kenner im Westen haben
So lassen sich einige Feststellungen treffen: Wenn es, was auch von Erich Honecker nicht bestritten wird, eine nicht unerhebliche Ausreisebewegung in der DDR gibt können unsere Lebensformen, so reformbedürftig sie sein mögen, offenbar doch nicht ohne Attraktivität auf große Teile der DDR-Bevölkerung sein. Wenn es stimmte, daß die Kritiker der SED in der DDR nicht unsere „kapitalistischen" (in unserem Verständnis: sozial-marktwirtschaftlichen) Verhältnisse wollen, sondern nur einen „anderen Sozialismus", so wäre hieran jedenfalls am bemerkenswertesten, daß auch sie offenbar den „realen" Sozialismus, so wie er sich ihnen darbietet, ablehnen. Dies ist wichtig! Wenn die weltpolitischen Konstellationen eine Wiedervereinigung Deutschlands zulassen, könnte man sich in der innenpolitischen Auseinandersetzung auch mit diesen Kritikern darüber auseinandersetzen, wieviel Sozialismus der marktwirtschaftlichen Ordnung beigegeben werden oder an ihre Stelle gesetzt werden sollte. Schließlich verbietet das Grundgesetz eine sozialistische Politik durchaus nicht, sondern eröffnet hierzu sogar in Artikel 15 die Möglichkeit, unabhängig davon, ob das zweckmäßig wäre oder nicht. Und nicht zuletzt lehrt das starke Interesse, das man in allen Bevölkerungskreisen der DDR den Verhältnissen in der Bundesrepublik Deutschland entgegenbringt, daß — jenseits al-ler Kritik an den Verhätnissen bei uns — trotz einer nun bald dreißigjährigen separaten Entwicklung das Gefühl der Verbundenheit bei der DDR-Bevölkerung zu keinem anderen Nachbarn so stark entwickelt ist wie zu den Deutschen in der Bundesrepublik. Man darf bei derartigen Diskussionen nie vergessen, daß der vielen Menschen unverständlich anmutende, weitgehend akademische Streit um die Definition von Begriffen wie Nation und Nationalität den Durchschnittsbürger in Ost und West überfordert. Er hat entweder ein Gefühl der Zusammengehörigkeit oder er hat es nicht. Im ersteren Falle nimmt er einfach Anteil am Schicksal von Menschen, die seine Sprache sprechen und mit denen ihn Beziehungen vielfältiger Art verbinden.
Die Deutschlandpolitik der SED Der Vollständigkeit halber muß auch das Argument geprüft werden, das derzeit vor allem von der SED-Führung mit Vehemenz vorgetragen wird: Die deutsche Frage sei durch die Entstehung zweier Nationen in Deutschland entschieden.
Die SED ist damit deutlich von ihrer früheren Deutschlandpolitik abgerückt, die auf die „Überwindung der Spaltung der deutschen Nation, die von den deutschen und ausländischen Imperialisten hervorgerufen“ worden sei abzielte und zu diesem Zweck eine „deutsche Konföderation" vorsah.
Es ist offenkundig, daß die neue Argumentation, deren Ursprung ziemlich genau auf das Frühjahr 1970 datiert werden kann, nur aus der Not geborene Reaktion ist auf die Gefahren, die nach Meinung der SED-Führung von der Ostpolitik der Regierung Brandt-Scheel und ihrer Nachfolgerin auf das innere Gefüge der DDR, insbesondere auf die Bewußtseinslage der dortigen Bevölkerung, ausgehen. Abgesehen davon, daß die Behauptung der Existenz einer sozialistischen deutschen Nation, die sich auf die DDR beschränkt, auch aus kommunistischer Sicht anfechtbar ist vermag doch niemand zu erklären, warum man noch 1968, also nur zwei Jahre früher, bei der Verabschiedung der 2. Verfassung der DDR ganz offensichtlich von einem anderen, dem unseren entsprechenden Nationbegriff ausgegangen ist. Ausführungen führender Funktionäre machen deutlich, daß die Deutschlandpolitik für die SED auch nach der Verfassungsänderung vom Jahre 1974 mit ihrer Eliminierung aller Bezüge auf die deutsche Nation nicht abgeschlossen ist. Die SED-Führung hat sich vielmehr alle Hintertüren offengelassen, um eines Tages, wenn die Einflüsse aus dem Westen nicht mehr als so bedrohlich angesehen werden, das Ruder wieder herumzuwerfen und erneut entsprechend dem Verfassungsauftrag von 1968 die Vereinigung der beiden deutschen Staaten auf der Grundlage von „Demokratie und Sozialismus“ anzustreben
Die neuen Definitionsbemühungen der SED-Führung in bezug auf die deutsche Nation sind für uns vor allem deshalb von Interesse, weil sie einen quasi Alleinvertretungsanspruch der „sozialistischen deutschen Nation“ auf alle positiven Aspekte der deutschen Geschichte und Kultur statuieren — bis hin zu dem, was man gemeinhin als „deutsche Tugenden" wie Fleiß und Arbeitsdisziplin bezeichnet, die den Deutschen in der Bundesrepublik zum Teil direkt abgesprochen werden. So erklärte Rudi Singer in Radio DDR auf eine Höreranfrage „Warum unterscheiden wir zwei deutsche Nationen?“ wörtlich „Und wenn wir uns die Realität betrachten: nicht in der kapitalistischen BRD, sondern in der DDR mündeten alle guten deutschen nationalen Eigenschaften, wie der theoretische Sinn der deutschen Arbeiterklasse, Fleiß, hohe Arbeitsdisziplin und Arbeitsfertigkeit. Seitdem haben sie sich wesentlich erweitert. Man sagt uns Deutschen (gemeint ist die DDR, D. K.) heutzutage echte Friedensliebe, tiefe Menschlichkeit, Achtung und freundschaftliche Haltung gegenüber anderen Völkern nach ... Darin sind wir eins mit allen anderen sozialistischen Nationen, und nichts unterscheidet uns von ihnen in dieser Frage."
Diesen Hochmut, der in der praktischen Politik, vor allem in der auswärtigen Kulturpolitik, durchaus von Bedeutung sein kann, sollte man ernst nehmen. Hier bekommt der oft zitierte „Wettkampf der Systeme" eine neue Dimension, die über den wirtschaftlichen Be-reich weit hinausgeht. DDR — stolz auf die eigene Leistung Für unser Problem ist es nur von geringer Bedeutung, von welchem Nationbegriff wir ausgehen Der Streit hierüber mutet recht akademisch an. Sicherlich sind die Begriffe Willensnation, Staatsnation, Kulturnation nicht identisch. Es kann aber nicht geleugnet werden, daß sie sich mindestens teilweise überschneiden. So ist es sicherlich kein Gegensatz, wenn das Zusammengehörigkeitsgefühl, das eine Willensnation auszeichnet, auch auf dem Bewußtsein einer gemeinsamen Geschichte und einer gemeinsamen Kultur basiert. Und für diejenigen, die sich eine Nation nur unter einem staatlichen Dach vorstellen können, mögen die diesbezüglichen Ausführungen des Bundesverfassungsgerichts im Urteil über den Grundlagenvertrag von Bedeutung sein Ernster zu nehmen ist die Frage, ob sich in der Bevölkerung der DDR ein eigenes, spezifisches DDR-Bewußtsein entwikkelt hat und ob, wenn diese Frage zu bejahen ist, dieses Bewußtsein einen ausschließenden Charakter gegenüber der westdeutschen Bevölkerung hat. Auch hierüber läßt sich trefflich spekulieren. Nur darf man eines nicht verkennen: Die Bevölkerung der DDR hat unter ungleich schwierigeren politischen und ökonomischen Bedingungen, als wir sie hatten, eine Aufbauleistung nach dem Kriege vollbracht, die ihr zwar nicht den Lebensstandard der Bundesrepublik Deutschland und auch nicht die Bewegungsfreiheit der westdeutschen Bevölkerung, aber doch immerhin in diesen Beziehungen die führende Rolle im gesamten sozialistischen Lager gebracht hat. Diese Erkenntnis hat die Bevölkerung in der DDR mit einem verständlichen Stolz auf die eigene Leistung erfüllt. Dieser Stolz verkennt nicht, daß diese Leistungen nicht auf das sozialistische System zurückzuführen sind, sondern trotz dieses Systems errungen wurden. Von einer Identifikation mit dem politischen System in der DDR ist dieses Gefühl des Stolzes daher noch recht verschieden
Deutschland ist mehr als die Bundesrepublik Was die Pflege des Zusammengehörigkeitsgefühls der Deutschen in Ost und West in unseren Schulen anbelangt, so sollten wir uns dabei nicht in erster Linie um die Bewußtseinslage der Jugend in der DDR sorgen. Für uns muß im Vordergrund stehen, ob es unserer politischen Bildungsarbeit gelingt, bei der westdeutschen Jugend ein dauerhaftes Gefühl der Verbundenheit mit der Jugend im anderen Teil Deutschlands wachzuhalten. Dies ist das eigentliche Kriterium für einen Erfolg unserer Bildungsarbeit im deutschlandpolitischen Bereich. Dieser Erfolg wird entscheidend davon abhängen, ob und wie Einflüsse der Massenmedien und persönliche Erfahrungen verarbeitet werden können.
Die größte Gefahr in diesem Bereich liegt z. Z. offenkundig in einer Einengung des Begriffs „Deutschland" nur auf das Gebiet der Bundesrepublik Deutschland. Entsprechende Tendenzen haben leider 1976 während der Olympischen Spiele einen starken Auftrieb erhalten. Daß maßgebliche Kreise bei uns damals stolz darauf waren, daß die Mannschaft der Bundesrepublik Deutschland unter der Bezeichnung Deutschland (Germany) auftrat, während die Mannschaft der DDR unter dem Namen ihres Staates geführt wurde, war und ist nicht recht verständlich. Bei dem großen Interesse, das sportlichen Ereignissen entgegengebracht wird, hat diese Einengung des Deutschlandbildes auf nur einen Teil Deutschlands sicherlich bei großen Teilen unserer Bevölkerung einen höchst unerwünsch-ten Effekt hervorgerufen. Verstärkt wurde dieser Eindruck dann noch durch die Sportberichterstattung, die es sich vor allem bei den Olympischen Winterspielen nicht nehmen ließ, Sportler aus dem Westen Deutschlands als Deutsche und Sportler aus dem Osten als Vertreter der DDR zu bezeichnen (Fernsehreporter: „Wie Sie sehen, meine Damen und Herren, unter den ersten 10 kein Deutscher!“ Dabei war der vierte ein Thüringer). Vielleicht auf Grund entsprechender Appelle war ein Teil der Sportpresse bei den Sommer-spielen problembewußter. Dennoch ist nicht zu verkennen, daß derartige Berichte eine wichtige Ursache dafür sind, daß manche Jugendliche bei uns offenbar die Bewohner der DDR als so etwas ähnliches wie deutschsprechende Russen ansehen.
Das Fernsehen, das neben der Sportbericht-erstattung auch sonst eine besondere bewußtseinsbildende Bedeutung hat, bringt eine Reihe von Sendungen, die interessant sind und besonders das Ziel verfolgen, Verständnis für die Lage des einzelnen in der DDR zu wecken. Die Frage ist nur, ob diese Sendungen eine ausreichende Breitenwirkung erzielen. Es wäre wünschenswert, wenn Lehrer ihre Schüler auf Grund der Programmvorschauen auf diese Sendungen aufmerksam machen und sie in ihren Unterricht einbauen würden. Klassenfahrten nach Ost-Berlin und in die DDR Kaum zu bestreiten ist, daß nichts so eindrucksvoll ist wie persönliche Erfahrungen. Tausende von Schulklassen besuchen Jahr für Jahr Berlin und haben im allgemeinen dabei auch Gelegenheit, wenigstens an einem Tag den Ostsektor der Stadt zu besuchen. Um so bedauerlicher ist es, daß es noch immer Schulverwaltungen gibt, die diesen Klassen nahelegen, bei einem Berlin-Besuch den Ostsektor zu meiden. Die angeführten Gründe einer möglichen Gefährdung der Kinder sind sicherlich nicht stichhaltig. Das gilt insbesondere dann, wenn die Schüler vorbereitet werden und sich drüben zurückhaltend bewegen. Der Nachteil, daß diese direkte Informationsmöglichkeit nicht genutzt wird, überwiegt jedenfalls bei weitem gegenüber allen Bedenken, die sonst noch vorgetragen werden können.
Klassenreisen in die DDR sind in den vergangenen Jahren nur in Einzelfällen möglich gewesen. Es bedurfte immer eines besonderen Glücks und Einsatzes von Lehrern, wenn die DDR-Behörden die Erlaubnis zur Durchführung einer solchen längeren Reise erteilten. Gelang das aber und war die Reise gut vorbereitet, so war der Bildungserfolg besonders groß Angesichts der politischen Verhältnisse in der DDR und der beschränkten Unterbringungsmöglichkeit wird auch in Zukunft kaum mit einer nennenswerten Ausweitung dieser Reisen zu rechnen sein. Um so wichtiger ist es, daß Schüler im Zonengrenzbereich angehalten werden, mehr von den Möglichkeiten des grenznahen Verkehrs Ge23) brauch zu machen. Lehrer können hierfür eine wichtige Voraussetzung schaffen, indem sie im Sachkundeunterricht, der ja heute teilweise die Rolle des alten Heimatkundeunterrichts übernommen hat, auch Orte und Landschaften jenseits der Zonengrenze behandeln. Auch dabei muß das Ziel sein, die Zonengrenze, so einschneidend sie wirkt, den Schülern nicht als das Ende der Welt erscheinen zu lassen.
Deutschlandpolitik nicht den Feinden der Demokratie überlassen Zum Schluß möchte ich noch auf einen Gesichtspunkt hinweisen, der schon bald an Bedeutung gewinnen kann.
Da anzunehmen ist, daß die SED-Führung und die ihr nahestehenden Kreise in der Bundesrepublik Deutschland dann, wenn es ihnen opportun erscheint, ihre Abgrenzungspolitik wieder aufgeben und nationale Gemeinsamkeiten wieder stärker betonen werden, könnte eine Aufgabe der Bemühungen um die deutsche Nation bei den Demokraten bald fatale Wirkungen haben. So, wie jetzt schon maoistische Gruppen mit Vehemenz die Einheit Deutschlands auf kommunistischer Grundlage fordern, könnte eines Tages, wenn wir ihr das Feld überließen, auch die SED-Führung eine Chance erhalten, in Kreise einzubrechen, die normalerweise kommunistischem Gedankengut femstehen. Aus all dem folgt, daß eine Intensivierung des Themenbereichs „Deutschland und die deutsche Nation" im Schulunterricht unerläßlich ist. Politiker, Kultusministerien, Einrichtungen der Lehrerausbildung und -fortbildung und die Lehrer selbst sind aufgerufen, sich verstärkt dieser Aufgabe zu widmen.