Wenige Tage vor seinem plötzlichen Tode am 7. Januar 1974 schloß Georg Eckert ein kleines Manuskript ab: „Schulbücher für Europa. Das Gespräch über die Grenze hinweg“. Der Gründer und Direktor des Internationalen Schulbuchinstituts in Braunschweig, Präsident der Deutschen UNESCO-Kommission (1964 bis 1974), appellierte darin an die deutschen Schulbuchautoren: „... das Gespräch über die Grenze hinweg zu führen, die heute Deutschland, Europa, die Welt in zwei antagonistische Blöcke scheidet. Das Schulbuchinstitut hat sich von jeher für den Dialog zwischen Anhängern verschiedener philosophischer Schulen und gegensätzlicher Gesellschaftssysteme verwandt: Es ist sich bewußt, daß es die entscheidende Friedensaufgabe an der Grenze zu lösen gilt, an der der Friede vor allem gefährdet scheint. Die Zusammenarbeit der deutschen und polnischen UNESCO-Kom-missionen sowie der ermutigende Verlauf der deutsch-polnischen Schulbuchkonferenzen 1972/73 lassen hoffen, daß auch im Osten gelingt, was dank des Auftrages und Erbes von Lapierre im Westen möglich war."
George Lapierre, Generalsekretär des Syndi-cat National des Institutrices et Instituteurs publics, der französischen Volksschullehrer-gewerkschaft, als Mitglied der Resistance in ein deutsches Konzentrationslager deportiert und dort im Februar 1945 an Typhus gestorben, war für Georg Eckert „Symbolgestalt einer pädagogischen Bewegung, die sich bemüht, durch internationale Zusammenarbeit von Historikern und Geographen, von Schulbuchautoren und -Verlegern zur Verkürzung des Abstandes von Forschung und Lehre, zur Entwicklung und Förderung des kritisch-politischen Bewußtseins, vor allem aber zu einem Mehr an Objektivität, zu einer Erziehung im Geiste der Toleranz und Völkerverständigung beizutragen.“
Lapierre hatte zwischen den Kriegen maßgeblich dabei mitgewirkt, Chauvinismus und Feindseligkeit aus den französischen Schulbüchern zu verdrängen und eine Verständigung zwischen deutschen und französischen Lehrern über eine Revision der Geschichtsbücher anzubahnen. Georg Eckert wußte zu erzählen, wie 1944, am Vorabend der Befreiung von Paris, ein mit Namen nicht mehr bekannter SS-Mann aus dem Konzentrationslager Dachau im Maison des Fonctionnaires, Rue de Solferi-no, erschienen sei, um der Sekretärin der Lehrergewerkschaft ein Päckchen von George Lapierre zu überreichen, das Briefe von ihm enthielt. In einem der Briefe hieß es: „Ich unterbreite Ihnen einige Betrachtungen, die ich leider aus äußeren Gründen so absolut und lapidar fassen muß. Ich werfe sie aufs Papier, ohne Ordnung, so wie sie in mir lebendig werden, und bitte Sie, Ihrerseits darüber nachzudenken, indem Sie sich sagen, daß Ihnen an einem zukünftigen Tage die Aufgabe zufallen könnte, die Initiative zu ergreifen und Verantwortung zu übernehmen, um die internationalen Verbindungen unter den Lehrern von neuem anzuknüpfen. Das Fehlschlagen der Anstrengungen von 20 Jahren, die internationalen Konflikte zu beendigen und schließlich eine internationale Einmütigkeit herzustellen, sollte unsere Überzeugungen nicht erschüttern und uns nicht entmutigen. — Der Irrtum der Menschen besteht in der Ungeduld und darin, nach jeder Bemühung eine sofortige Wirkung zu erwarten. Der menschliche Fortschritt wird nicht in einer Generation, sondern auf der Stufenleiter der Geschichte erreicht. .. Wenn die Erziehung nicht vergeblich sein soll, hat sie die Pflicht, ihrer Zeit voranzuschreiten und sich auf das Niveau der kommenden Generation zu begeben. Aber von der einen zur anderen Generation muß die Kontinuität gewahrt werden, wenn die Erziehung in Übereinstimmung mit ihrer Auftraggeberin, der Nation, bleiben will.“
Die deutsch-polnischen Schulbuchkonferenzen waren für Georg Eckert ein Höhepunkt der jahrzehntelangen Bemühungen seines Instituts, Verständigung und Aussöhnung vor allem mit den Völkern zu suchen, die unter der nationalsozialistischen Okkupationsherrschaft am schlimmsten gelitten hatten. Mit Frankreich wurden solche Bemühungen schon wenige Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg erfolgreich; mit Polen bedurfte es sehr viel längerer Zeit, um überhaupt erst einmal ins Gespräch zu kommen. Zwischen den deutsch-französischen und den deutsch-polnischen Schulbuchkonferenzen lagen mehr als zwei Jahrzehnte. Eine grundlegende Veränderung im politischen Verhältnis der Staaten zueinander mußte zunächst erfolgen und ebenso auch eine Veränderung der Maßstäbe des geschichtlichen und politischen Bewußtseins und Urteils.
Man hat bei der Beurteilung der deutsch-polnischen Schulbuchkonferenzen, insbesondere mit ihren „Empfehlungen für Schulbücher der Geschichte und Geographie in der Bundesrepublik Deutschland und in der Volksrepublik Polen“, Parallelen zu den deutsch-französischen Schulbuchkonferenzen ziehen wollen, um jene an diesen zu messen. Die Parallelität ist nicht willkürlich; aber ihr sind Grenzen gezogen. Ihren Motiven nach waren die Konferenzen mit den gleichen Maßstäben zu beurteilen, wie George Lapierre und Georg Eckert sie verstanden hatten oder wie sie Bundespräsident Prof. Heuss anläßlich der Konstituierung des Deutschen Ausschusses für das Erziehungs-und Bildungswesen am 22. September 1953 beschrieb: „... strittige Fragen zu einer inneren Klärung zu bringen und diese Schulbücher freizumachen von den fossil gewordenen Legenden oder von den verquerten nationalistischen Formgebungen, die europäisch beurteilt partikularische Propagandathesen gewesen sind. Es bedeutet freilich ein solcher Versuch, daß Professoren, Studienräte und — Journalisten bereit sind, als Lehrende selber noch einmal zu lernen." Und ähnlich auch der polnische Historiker Gerard Labuda: „Die Wiederherstellung des Friedens und die Wiedergeburt der früheren europäischen Gemeinschaft schien von dem bewußten Willen abhängig zu sein, die Gefühle des Antagonismus aus den Beziehungen zwischen den Völkern auszumerzen. Es schien so, daß mit der Reedukation der Völker vor allem bei der jungen Generation, die noch nicht von Gefüh4) len des Nationalismus angesteckt waren, begonnen werden sollte."
Neben der Parallelität der Motive gab es auch eine Parallelität der Methoden. Nach den Erfahrungen und nach den Ergebnissen des Zweiten Weltkrieges konnte die historische Interpretation nicht mehr einfach an Maßstäbe der Geschichtsschreibung der Zwischenkriegszeit anschließen, da die alte Staatenwelt in Trümmer gegangen und der politische und soziale Wandlungsprozeß im Wiederaufbau an Tiefgang und Breitenwirkung ohne Beispiel war. Wenn die historische Arbeit wieder fruchtbar und für die Erziehung der jungen Generation gewinnbringend sein sollte, dann mußte sie ihre Fragen in größere Zusammenhänge der nationalen und der europäischen Geschichte stellen, um zu Antworten zu gelangen, die die zweite Katastrophe des 20. Jahrhunderts zu erklären vermochten. Ferner gab es eine Parallelität der Ziele: Verständigung und Aussöhnung. Es war ein tief-empfundener Wunsch vieler Deutscher, vor allem der Lehrer, nach den Jahren der Feindschaft mit so vielen europäischen Nachbarn, nicht nur mit Frankreich und Polen, wieder anknüpfen zu können an gemeinsame Traditionen des friedlichen Miteinanderlebens. Nach den Jahren der nationalsozialistischen Diktatur, des Mißbrauchs der Geschichtswissenschaft und des Geschichtsunterrichts als propagandistische Waffe im Dienst des totalitären Regimes, ging es darum, die historische Arbeit für die Aufgabe gegenseitigen Verstehens zu gewinnen. Das hieß mit den Worten Hermann Heimpels im Vorspruch zu der „Deutsch-französischen Vereinbarung über strittige Fragen europäischer Geschichte': „... nicht Kompromisse zwischen verständigungsbereiten, streitmüden Leuten zu Lasten der Wahrheit. Die Wahrheit schließt keine Vergleiche, und sie liegt auch keineswegs , in der Mitte'. Und doch Verständigung: Nicht auf Kosten, sondern aus der Wahrheit. Alle historischen Urteile sind letzten Endes Aufklärungen historischer Vor-Urteile, nämlich solche vorwissenschaftlicher Vorstellungen, in denen das Erlebnis der eigenen Geschichte Wahres und Falsches gemischt hat. So ist, da alles Menschenwissen geschichtlich gebundenes Teilwissen ist, die andere Seite zu hö5) ren.“ Und das hieß dann schließlich auch mit den Worten des Bundespräsidenten Gustav Heinemann in seiner Ansprache anläßlich des 30. Jahrestages des deutschen Über-falls auf Polen: „Als neue Gewohnheit gilt es einzuüben, einen Konflikt auch mit den Augen des Gegners zu beurteilen. Zu den neuen Spielregeln muß die Bereitschaft zum Kompromiß gehören, die eine Selbstbehauptung um jeden Preis mit der Entschlossenheit vertauscht, eine von Generation zu Generation vererbte Feindseligkeit durch einen neuen Anfang auf beiden Seiten zu ersetzen. Zu den neuen Verhaltensweisen wäre zu rechnen, an der Angst und der Trauer, an dem Stolz und der Empfindlichkeit des Gegners Anteil zu nehmen."
Mit der Gemeinsamkeit der Motive, der Methoden und der Ziele scheint die Parallelität der deutsch-französischen und der deutsch-polnischen Schulbuchkonferenzen erschöpft. Sie gerät überdies in ein anderes Licht, wenn man auf die großen Unterschiede zwischen dem deutsch-französischen und dem deutsch-polnischen Geschichtsverhältnis stößt. Die Parallelität wird dann wieder fragwürdig. Die Unterschiede sowohl in der historischen als auch insbesondere in der zeitgenössischen Betrachtung liegen auf der Hand: Die nationalsozialistische Okkupation in Frankreich hatte anders als in Polen nicht die Zerstörung des französischen Staates, nicht die Versklavung des französischen Volkes und nicht die Vernichtung seiner Kultur zum Ziel. Auschwitz und die anderen Todeslager lagen nicht in Frankreich, sondern in Polen. Für Polen aber erschienen die nationalsozialistischen Verbrechen wie eine logische, wenn auch unerwartet grausame Konsequenz früherer deutscher Polenpolitik. Die deutsch-polnischen Beziehungen haben daher eine andere Spezifik und Emotionalität. Es wird im deutsch-polnischen Verhältnis noch lange Zeit eine „unbewältigte Vergangenheit" geben, die es Polen schwer machen wird, zu den Deutschen eine ähnlich unbefangene Einstellung zu finden wie zu Franzosen, Dänen, Schweden, Norwegern usw. „Die moralisch-politische Substanz unserer Beziehungen mit der Bundesrepublik Deutschland wird immer eine andere sein als die mit Frankreich. Dies ist nämlich keine Frage des politischen Programms. Die Bezie-hungen mit den Deutschen haben einfach unsere nationale Persönlichkeit historisch geformt und haben wohl auch in unserem Unterbewußtsein Wurzeln gefaßt. Außerdem müßte sich die Beziehung der Westdeutschen zu uns ändern. Seit 1 000 Jahren beruht die Haltung der Deutschen gegenüber den Polen auf dem Gefühl der Überlegenheit ihrer Wirtschaft, ihrer Organisation, ihrer Kultur gegenüber allem, was östlich von Deutschland liegt. Dieses Gefühl der Überlegenheit war der Motor zur Selbstrechtfertigung vieler deutscher Taten gegenüber Polen."
Konnten deutsche und französische Historiker bei ihrer Vereinbarung über strittige Fragen europäischer Geschichte, die sie innerhalb weniger Tage — 11. Oktober 1951) und nach nur einer Vorbereitungskonferenz im Mai desselben Jahres trafen, unmittelbar an die Thesen anschließen, die Historiker und Geschichtslehrer beider Länder Ende 1935 in Paris über die Beziehungen der beiden Völker von 1789 bis 1925 aufgestellt hatten, so gab es für die deutsch-polnischen Schulbuchkonferenzen keinen vergleichbaren Anknüpfungspunkt, obwohl auch sie ihre eigene Vorgeschichte hatten 9).
Die deutsch-polnische Nichtangriffserklärung von 1934 schien erstmals Voraussetzungen zu schaffen für deutsch-polnische Schulbuchgespräche. Deutscherseits beteiligten sich der Breslauer Oberschulrat Dr. Fitzek und der Breslauer Professor Aubin. Polnischerseits waren es die Professoren Jan Dqbrowski, Krakau, und Bohdan Nawroczynski, Warschau. Den einzigen originalen Hinweis auf die 1937 stattgefundenen Gespräche in Berlin und Warschau verdanken wir Hermann Aubin, der viele Jahre später rückblickend schrieb: „Die Verhandlungen verliefen sehr befriedigend. Beiden Parteien war das Bekenntnis zum eigenen Volkstum und deshalb die Achtung jedes Fremden gemeinsam. Für die nächste Begegnung, die im Frühjahr 1938 in Berlin stattfand, schlugen die Polen daher eine Ausdehnung der Besprechungen auf die geschichtlichen Atlanten vor. Dazu ist es nicht mehr gekommen. Aber die Partner schieden in der gleichen Gesinnung, in der sie verhan-delt hatten. Sie hofften, mit ihren Besprechungen etwas beiden Völkern Nützliches erreicht zu haben. Ein Abbruch ist wohl gar nicht erfolgt, sondern es fand weder eine Fortsetzung noch ein Abschluß statt. Die Niederschrift der Verhandlungen, die wir im Ministerium (dem Reichsministerium für Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung) eingereicht hatten, wurde der NSDAP im Braunen Haus nach München weitergegeben und dort verdammt. Das Ministerium erhielt den Auftrag, mir eine Rüge zu erteilen. Das Ministerium hat das nicht getan, sondern nur meinen federführenden Genossen Fitzek vertraulich ins Bild gesetzt." Weitere deutsche Aufzeichnungen über die offensichtlich informell geführten Gespräche sind bisher unbekannt
Sicher war die Kontaktnahme nicht zuletzt auch inspiriert durch Vereinbarungen, die der Ausschuß für Geistige Zusammenarbeit des Völkerbundes schon 1926 und 1932 getroffen hatte, wonach die nationalen Landesausschüsse sich der Frage der Schulbuchverbesserung nach einem zwischenstaatlich geregelten Verfahren annehmen sollten Zu den Ländern, die positiv darauf reagierten, gehörte damals neben Italien, den Niederlanden, den skandinavischen und baltischen Staaten auch Frankreich und Polen. Am 9. Juni 1933 trat in Warschau eine Unterkommission des polnischen Landesausschusses für Geistige Zusammenarbeit zur Untersuchung ausländischer Schulbücher zusammen. Sie forderte von Historikern und Geographen Gutachten an über die Schulbücher in den Mitgliedstaaten des Völkerbundes. Obwohl Deutschland aus dem Völkerbund bald ausschied und die nationalsozialistischen Behörden dem polnischen Begehren nach Einsicht in deutsche Schulbücher manche Hindernisse in den Weg legten, gelang es dennoch dem Kreis von 21 polnischen Gutachtern, ca. 200 Schulbücher und andere Lehrmaterialien, die in den deutschen Schulen benutzt wurden, einzusehen. Das Ergebnis ihrer Arbeit wurde 1937 Aubin und Fitzek vorgelegt. Aus dem Dokument gehe hervor, so heißt es in einer späteren polnischen Darstellung über die Tätigkeit der polnischen Kemmission für Geistige Zusammenarbeit, »daß eigentlich kein Teilabschnitt der Geschichte der deutsch-polnischen Beziehungen in den Schulbüchern des III. Reiches objektiv und frei von nationalistischen Einflüssen dargestellt worden war."
Es lag in der Natur der durch die nationalsozialistische Vernichtungspolitik total zerstörten deutsch-polnischen Beziehungen und erst recht in der neuen weltpolitischen Mächte-konstellation, daß sich für die Schulbucharbeit nach dem Zweiten Weltkrieg kein geeigneter Anknüpfungspunkt finden ließ. Während die deutsch-französischen Gespräche bald nach 1945 ohne Bitterkeit geführt wurden und bei der Erörterung von einst so erregenden Streitfragen im deutsch-französischen Verhältnis wie z. B. Elsaß-Lothringen, die Großmachtstellung Deutschlands nach 1871, die Kriegsschuldfrage von 1914 oder die Pariser Friedensschlüsse von 1919 und 1920 kaum die Sorge eines politischen Mißbrauchs oder unbilliger moralischer Verurteilung aufkam, führten die zwischen 1956 und 1959 von einzelnen deutschen und polnischen Historikern informell angestrengten Bemühungen um Gespräche zu keinem vergleichbaren Ergebnis.
Das Braunschweiger Internationale Schulbuch-institut hatte seit seiner Gründung 1951 unter Georg Eckerts Leitung neben den deutsch-französischen Schulbuchkonferenzen mehr als 100 bi-und multilaterale westeuropäische Schulbuchkonferenzen angeregt und durchgeführt oder an ihnen teilgenommen und dadurch dazu beigetragen, den engstirnigen historischen Nationalismus der Schulgeschichtsbücher zu relativieren, in ein umfassenderes europäisches Geschichtsbild einzuordnen und dieses am Weltbild der Nachkriegsgegenwart zu orientieren. Aber dieser eindrucksvolle Anstoß zur internationalen Zusammenarbeit mit seiner auf eine europäische Einigung zielende Richtung mußte auf die westliche Hälfte Europas beschränkt bleiben. überdies zeigte sich, daß der Impuls zumindest nicht primär europäisch-historischen Ursprungs war, sondern seine zeitweilige Kraft eher den akuten Herausforderungen der sowjetischen Europa-und Deutschlandpolitik verdankte, die am stärksten in der Bundesrepublik als Bedrohung der eigenen deutsch-12) land-und ostpolitischen Zielsetzungen empfunden wurde.
So wenig wie die historische Forschung autonom ihre Themen bestimmt und immer in einer gewissen Abhängigkeit zu den politisch bedeutsameren Fragen ihrer eigenen Zeit ihre Forschungsprobleme definiert, so wenig werden Schulbücher unabhängig von den mächtigen politischen Zeittendenzen verfaßt: Sie sind ihnen sehr viel stärker verhaftet. Doch war die Wende ins Europäische bei den vom Braunschweiger Schulbuchinstitut so engagiert betriebenen internationalen Schulbuch-konferenzen nicht etwa nur Ausdruck einer politisch naheliegenden Option für die Westintegration, sondern sie besaß auch eigene tiefere Wurzeln. Indem sich die Grenzen öffneten und deutsche Historiker und Geschichtslehrer mit ihren französischen, belgischen, niederländischen, britischen, dänischen, italienischen, norwegischen usw. Kollegen zu Konferenzen über die Verbesserung von Geschichtsbüchern zusammenkamen, öffnete sich auch der Blick wieder für gesamteuropäische Traditionen und Zukunftsperspektiven, die die borussisch-deutschen mit anderen nationalegoistischen Historiographien und schließlich die in Europa selbst verursachten Weltkriege verschüttet hatten. Diese Traditionen und die an sie zu knüpfenden Perspektiven wiesen über die Grenze hinaus, die unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg die Konfrontation der Supermächte durch den „Eisernen Vorhang“ geschaffen hatte.
„Hinsichtlich der internationalen Schulbuch-verbesserung ist in den letzten Jahren viel erreicht worden“, schrieb Enno Meyer 1956 in der Einleitung zu seinen 47 „Thesen über die Darstellung der deutsch-polnischen Beziehungen und der polnischen Geschichte in den Lehrbüchern höherer Schulen". „Geschichtsforscher und -lehrer vieler Länder haben in gemeinsamer Arbeit strittige Fragen geklärt und die Ergebnisse ihrer Bemühungen als . Empfehlungen'veröffentlicht. Die Wirkung dieser Empfehlungen kann man in den Geschichtsbüchern bereits erkennen. Aber diese Art internationaler Verständigung ist nur innerhalb der freien Welt möglich. Hinter dem Eisernen Vorhang gibt es keine Historiker und keine Verbände, die mit denen der freien Welt sachlich und unabhängig diskutieren könnten. Dabei wäre gerade das so notwendig. Erheben sich doch zwischen uns Deutschen und den Slawen ganze Berge von Vorurteilen und Irrtümern, die wegzuräumen wären. Die unheilvolle Politik der deutschen Führung gegenüber den Slawen in den Jahren von 1939 bis 1945 ist weitgehend darauf zurückzuführen, daß man an maßgeblicher Stelle falsche oder gar keine Vorstellungen von diesen Völkern hatte. In Deutschland war man von jeher geneigt — und ist es heute noch —, das Leben der angelsächsischen Völker und der Franzosen genauer zu studieren, aber von den slawischen Nachbarn kaum Notiz zu nehmen — und dabei ist unser Schicksal so eng und unlösbar mit dem der Polen und Tschechen verschlungen. Wer die deutschen Geschichts-(und Erdkunde-) Bücher daraufhin durchliest, was darin über Polen geschrieben wird, der findet, daß manches zu verbessern und vieles zu ergänzen ist. Aber wie soll man zu einer deutsch-polnischen Verständigung über den Inhalt der Lehrbücher kommen? An deutsch-polnische Tagungen ist nicht zu denken. Die polnischen Historiker im volksdemokratischen Polen sind zum Schweigen verurteilt, aber auch die in der Emigration befinden sich in einer so schwierigen Lage, abhängig von den Parteiungen innerhalb der Exilpolen, daß von ihnen nicht zu erwarten ist, daß sie ein Grenzgebiet zwischen Geschichte, Pädagogik und Politik betreten, das die Politiker als das ihre betrachten.“
Dennoch kam sehr rasch ein lebhafter Meinungsaustausch in Gang. Enno Meyer, Gott-hold Rhode und Gerard Labuda, die auch der späteren gemeinsamen deutsch-polnischen Schulbuchkommission angehören sollten, haben als unmittelbar beteiligte Gesprächspartner über diesen ersten Abschnitt eines deutsch-polnischen Verständigungsdialogs über Schulbücher ausführlich berichtet, so daß hier auf Einzelheiten nicht einzugehen ist Die Diskussion zeigte trotz der schweren Hypothek einer langen Geschichte der Feindschaft beider Staaten Möglichkeiten einer sachlichen Auseinandersetzung. Von Anfang an bestimmte, ungeachtet noch tiefer Gegensätze in den historischen Auffassungen, der Ton des Respekts und der gegenseitigen Achtung die wissenschaftlich geführte Kontroverse, bei der man den politisch heiklen Fragen nicht ausweichen, wohl aber sie be-hutsam erörtern wollte. Die Noblesse, mit der der polnische Mediävist und spätere Rektor der Universität Posen, Gerard Labuda, auf die Thesen Enno Meyers antwortete, mit einem Abstand von nur einem Jahrzehnt von einem persönlich erfahrenen Inferno nationalsozialistischer Grausamkeit, weckte Hoffnungen auf eine neue Phase der Beziehungen zwischen den Deutschen in der Bundesrepublik und den Polen in der Volksrepublik. Er schrieb: „Die zahlreichen kritischen Bemerkungen, die ich hier zum Thema der deutsch-polnischen Beziehungen im Geschichtsunterricht angesprochen habe, entsprangen der Überzeugung, daß wir am schnellsten zu unserem Ziele gelangen, wenn wir alle strittigen Gesichtspunkte ehrlich durchdiskutieren. Ich weiß die große geistige Leistung des Autors gehörig zu schätzen, die er bei der Ordnung eines umfangreichen Tatsachenmaterials und bei seiner Vorbereitung für die weitere Diskussion vollbracht hat... Vor allem aber müssen wir den Mut bewundern, mit dem er den jahrhundertealten Niederschlag von Vorurteilen und Feindseligkeiten bekämpft: Beide haben sich auf dieser und jener Seite der Grenze reichlich um das Problem der deutsch-polnischen Beziehungen aufgehäuft, und das nicht ohne Schuld der Historiker. Es wäre wünschenswert, daß dieser Austausch von Ansichten so bald wie möglich in praktisches Handeln und in eine allgemeine Diskussion übergeht. Denn es gibt für den Intellektuellen keine erhabenere Aufgabe, als der Idee der Verwirklichung von Frieden und Zusammenarbeit zwischen den Völkern zu dienen.“
Der Bann schien gebrochen, auch wenn sich niemand Illusionen machte über das „gegenwärtig politisch komplizierte Stadium der deutsch-polnischen Beziehungen“ (Gerard Labuda). Viele historische Einzelthemen wurden abgesteckt, die anderhalb Jahrzehnte später noch die Sitzungen der gemeinsamen deutsch-polnischen Schulbuchkommission beschäftigten. Es wurden die Brennpunkte kommender wissenschaftlicher Diskussionen sichtbar, von denen man hoffte, sie würden nicht nur schriftlich, sondern auch bald in Form direkter Gespräche zu führen sein. Es zeichnete sich ab, daß die in Gang zu setzende Schulbuchrevision einen langen Atem erfordern würde, weil zu viel „zu bereinigen" war und beiderseits befriedigende Ergebnisse nicht diktiert werden konnten. Es zeigte sich, daß gerade die persönlichen Belastungen mit den tragischen Erfahrungen der größten historischen Katastrophe zwischen Deutschen und Polen auf beiden Seiten das Gefühl der Verantwortung dafür stärkte, die erkennbare Spannung zwischen dem Wunsch nach Verständigung einerseits und dem Bedürfnis historischer Wahrheitsfindung andererseits nicht durch kleinliche Kasuistik zu vergrößern. Für den Leser jener ersten „Dokumente“ des Beginns einer gemeinsamen historischen Arbeit zwischen Deutschen der Bundesrepublik und Polen wird zugleich deutlich, was an Trennendem zwischen ihnen lag. Dazu gehörten nicht einmal in erster Linie die unterschiedlichen und durch die jeweiligen nationalen Historiographien geprägten Auffassungen über einzelne historische Themen. Die wissenschaftliche Arbeit vollzieht sich vor allem im Modus der kritischen Quellenanalyse, der Prüfung der empirischen Fakten, und die sogenannte Lösung historischer Probleme ist mehr eine Frage der Zeit und des Zugangs zu den Quellen. Es ist bezeichnend für diese erste, in wissenschaftlichen Zeitschriften geführte Diskussionsrunde, daß die besten Kenner der Geschichte der deutsch-polnischen Beziehungen, Gerard Labuda und Gotthold Rhode, in den von Enno Meyer vorgestellten strittigen Sachfragen weithin übereinstimm-ten Der Dissens tauchte im wesentlichen bei methodologischen Problemen auf, und das nicht etwa im simplen Schema von marxistischer gegen bürgerliche Geschichtswissenschaft, sondern in der Konkurrenz der Ansprüche auf die zureichenden Begründungen und empirisch abgesicherten Erklärungen der Wirkungszusammenhänge. „Es geht darum, daß die Geschichte der deutsch-polnischen Beziehungen sich nicht nur aus vielen, miteinander kaum in Beziehung stehenden . Ereignissen'zusammensetzt, sondern daß diese Beziehungen eine geschlossene Reihe von Tatsachen bilden, die fest miteinander verbunden sind. Die wichtigste Aufgabe des Historikers ist es gerade, diese ursächlichen Verbindungen aufzuzeigen. Dieses Verfahren eliminiert nämlich alle emotionellen, subjektiven Erklärungen der Wirklichkeit und bringt die historischen Tatsachen auf den Boden der objektiven Gesetzmäßigkeit der geschichtlichen Entwicklung. In dieser Formulierung ist zugleich die Forderung enthalten, die polnisch-deutsche Vergangenheit unter all ihren Gesichtspunkten zu zeigen: dem wirtschaftlichen, dem sozialen, dem politischen und dem kulturell-ideologischen.“
Diese scheinbar von der Schulbucharbeit wegführende und in die methodologischen Probleme der Fachwissenschaft hineinreichende Feststellung drückt im Kern ein Prinzip aus, das besonders für die deutsch-polnische Schulbucharbeit gelten muß. Denn die Themen, die sie sich zu stellen hat, sind von besonderer geschichtlicher Tragweite, die das Verhältnis zwischen beiden Völkern belastet und die Verständigung oder gar Versöhnung zu einem schwierigen Problem macht: Es handelt sich vor allem um Fragen der moralischen Schuld und um strittige Grenzfragen. Die Aufgabe der Schulbuch-verbesserung wäre hoffnungslos, wenn es nicht gelänge, gemeinsam einen Prozeß der allmählichen Auflösung gegenseitiger Anklagen einzuleiten, indem man das Bild vom »bösen Nachbarn“ in rational diskutierbare Kausalzusammenhänge bringt und die so heiß debattierten Schuldzusammenhänge diesen unterordnet, so daß auch moralisch heute noch entgegengesetzte Standpunkte schließlich versöhnbar werden.
Die Möglichkeit der Versöhnbarkeit moralisch gegensätzlicher Standpunkte deutete sich in dieser ersten deutsch-polnischen Diskussionsrunde schon früh an Doch konnte das nicht eine Sache des wissenschaftlichen Disputs sein. Auschwitz und die übrigen nationalsozialistischen Vernichtungslager auf polnischem Boden haben jedes mögliche Maß der Vergleichbarkeit und Aufrechenbarkeit gesprengt. Was blieb, war die Chance, dennoch, aber ohne je zu vergessen, etwas Besseres miteinander zu versuchen. Der Wille dazu war bei allen Diskussionspartnern vorhanden und bot der späteren gemeinsamen deutsch-polnischen Schulbuchkommission ihren ersten festen Anknüpfungspunkt.
Sodann, vom polnischen Standpunkt aus gesehen, gab es keine Grenzfrage mehr, keine »Vorläufigkeit“ Die Frage war für Polen entschieden mit der Anerkennung der Oder-Neiße-Linie durch die Deutsche Demokratische Republik im Görlitzer Vertrag von 1950. Es war jedoch vorauszusehen, daß die
Grenzfrage zum »eigentlichen Hindernis einer Verständigung mit der Bundesrepublik Deutschland werden mußte und daß deutsch-polnische Schulbuchkonferenzen in ähnlicher Weise wie seinerzeit die deutsch-französischen vor einer Änderung der Politik der Bundesrepublik Deutschland Polen gegenüber nicht stattfinden würden
Rückblickend kann man vielleicht sagen, daß es eine notwendige „Pause" war und die Hindernisse für eine freimütige Auseinandersetzung im vergrößerten und nicht mehr privaten Kreis und bei einer interessierten außer-wissenschaftlichen Publizistik, die ihre eigenen Forderungen an jede Seite gestellt hätte, noch zu groß waren. Auch war das Klima im außenpolitischen Verhältnis zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Volksrepublik Polen einer Verständigungsarbeit in diesem so empfindlichen Bereich tradierter Überzeugungen der „Schulbuchrevision" immer noch abträglich. Anders als beim fach-wissenschaftlichen Gespräch hatte man sich hier gewissermaßen in einem Grenzgebiet zu bewegen, in welchem die Ansprüche der Wissenschaft auf die Geltung ihrer empirisch überprüfbaren Aussagen, die Ansprüche der Erziehung auf die Bildung eines auf Wahrheit gegründeten historischen Bewußtseins und auf Verständigung und Versöhnung und schließlich die Ansprüche der Politik auf die Wahrnehmung von Interessen konkurrierten oder sogar sich widersprachen.
Die Argumentationsweise wie auch das Niveau der gegenwärtigen Kritik mancher Gruppen in der Bundesrepublik Deutschland an den hier in diesem Heft veröffentlichten Empfehlungen erlauben keine Illusionen. Die „Pause“ war ferner insofern nützlich, als jede Seite sich ein genaueres Bild davon zu machen versuchte, was denn in den Schulbüchern des Geschichtsund des Geographieunterrichts in der Bundesrepublik Deutschland bzw.der Volksrepublik Polen wirklich stand, wobei auch die eigenen Lehrbücher der Kritik unterzogen wurden. Die in ihren Methoden sehr unterschiedlichen Schulbuchanalysen, die zu ebenso unterschiedlichen Ergebnissen auf der einen wie der anderen Seite gelangten, erlauben kaum einen Vergleich. Jede Untersuchung macht jedoch in ihrer Weise ein Problem deutlich: Noch überwiegt in den meisten Schulbüchern eine germano-bzw. polonozentrische Sichtweise, die für die Geschichtswissenschaft in der Bundesrepublik Deutschland wie in der Volksrepublik Polen nicht mehr erkenntnisinteresseleitend sein kann
Der in der Schulgeschichtsschreibung noch dominante nationalhistorisch-antagonistische Bezugsrahmen, der sich in vielen polnischen Schulbüchern als ein Tausend-Jahre-Kampf-Trauma gegenüber Deutschland und in den deutschen Schulbüchern als ein Kulturleistungssyndrom mit Besitzanspruch niedergeschlagen hat, wirkte als Filter für die Auswahl der behandelten Themen und für die historische Bewertung. Innerhalb dieses Bezugsrahmens gab es genügend Anlaß, sich gegenseitig Mängel vorzuhalten und in einen kasuistischen Streit mit juristischen und moralischen Untertönen zu geraten. Hier lagen dann Gefahr und Versuchung nahe, statt vertiefter historischer Erkenntnis Raum zu geben, die Geschichte ahistorisch für politische Zwecke zu verwenden. Weder in der Bundesrepublik Deutschland noch in der Volksrepublik Polen konnte man in Abrede stellen, daß dies in der Vergangenheit häufig der Fall gewesen war. Nun haben internationale Schulbuchkonferenzen darin ihre besondere Aufgabe, durch gemeinsame historische Arbeit die Ursachen solcher Mängel aufzudecken und in Form von Empfehlungen zu ihrer Überwindung beizutragen. Die Tatsache, daß das nur in gemeinsamen Konferenzen möglich ist, setzt zumindest normale politische Beziehungen voraus. Deutsch-polnische Schulbuchkonferenzen konnte es so lange nicht geben, wie die Bundesrepublik Deutschland die Volksrepublik Polen in ihrem gegenwärtigen territorialen Bestand nicht anerkannte oder keine Anzeichen zu erkennen gab, es bald zu tun. Will man die deutsch-polnischen Schulbuchkonferenzen z. B. an den früheren deutsch-französischen messen, so muß man auch diese Grundvoraussetzung akzeptieren.
Der formale Prozeß der Normalisierung der Beziehungen zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Volksrepublik Polen — Abschluß des Vertrages von Warschau (7. Dez. 1970) und seine Ratifizierung im Deutschen Bundestag (17. Mai 1972) und Deut-* sehen Bundesrat (19. Mai 1972) sowie im Polnischen SEJM (26. Mai 1972) — hatte seinerseits erhebliche Veränderungen in der internationalen Politik, ganz besonders aber auch Veränderungen in der Einstellung der westdeutschen Bevölkerung zu Polen zur Voraussetzung. Anders als im Verhältnis zu Frankreich war der Einstellungswandel Polen gegenüber noch bis zu den Ratifizierungsdebatten im Deutschen Bundestag von einer Opposition begleitet, die jedes Abweichen von den Zielvorstellungen der Ost-und Deutschland-politik früherer Bundesregierungen in die Nähe eines Landesverrates oder zumindest einer groben Verfassungsverletzung rückte. Dabei mußte doch auch für sie erkennbar sein, daß von Jahr zu Jahr immer mehr Deutsche in der Bundesrepublik bereit waren, die Oder-Neiße-Grenze anzuerkennen und immer weniger Flüchtlinge, Zwangsausgesiedelte und Vertriebene eine Rückkehr in ihre frühere Heimat wünschten. Obwohl die Zahlen des Allensbacher Meinungsforschungsinstituts die Tatsache enthüllten, daß die gegenüber Polen vertretene unversöhnliche Haltung der Vertriebenenverbände keineswegs mehr von der Mehrheit derjenigen geteilt wurde, die deren Sprecher zu repräsentieren vorgaben, kritisierten diese besonders heftig die Normalisierung. Keine der anderen internationalen Schulbuch-konferenzen, an denen Pädagogen und Fachwissenschaftler aus der Bundesrepublik Deutschland beteiligt waren, stand in einem vergleichbaren innenpolitischen Spannungsfeld, und keine andere hatte es auch mit so vielen historischen Problemen politisierbarer Art zu tun wie die deutsch-polnischen Schulbuchkonferenzen. Die Forderung nach ihnen war jedoch schon Mitte der fünfziger Jahre laut geworden.
Der Wunsch nach regelmäßigen Konferenzen verstärkte sich noch in dem Maße, wie in den sechziger Jahren durch einen kontinuierlichen Austauschprozeß zwischen Wissenschaftlern, Lehrern, Erwachsenenbildnern, Journalisten usw., durch das Erleben und Erfahren der gegenwärtigen Realität in beiden Ländern, der immer noch starke Einfluß der so unterschiedlichen und doch gleichermaßen stark ausgeprägten nationalhistorisch-antagonistischen Denkmuster, die in den Schulbüchern manifestiert waren, allmählich seine Begrenzung erfuhr. Deutscherseits hatte man in diesen Jahren Polen und Ost(mit-tel) europa in einer neuen Weise sehen gelernt. Was die später so umstrittenen Empfeh-B lungen zur Ostkunde der Ständigen Konferenz der Kultusminister der Länder (13. /14. Dez. 1956) nicht vermocht hatten, bewirkte jetzt der vor allem auch kulturell und wissenschaftlich wieder bedeutsam werdende Verkehr, an dem nicht zuletzt viele ostdeutsche Flüchtlinge, Zwangsausgesiedelte und Vertriebene einen großen Anteil hatten. Auch wachsende Unsicherheit unter den Lehrern in der Bundesrepublik Deutschland gegenüber dem bildungspolitischen Konzept einer „Ostkunde“ sowohl als Fach wie auch als Unterrichtsprinzip spielte eine Rolle bei dem Verlangen nach Klärung des deutsch-polnischen Verhältnisses und der mit ihm verknüpften Schulbuchprobleme durch einen Dialog deutscher und polnischer Wissenschaftler, und zwar an einem Tisch
In der internationalen Schulbucharbeit kennt man verschiedene Formen der Zusammenarbeit. Den deutsch-französischen Schulbuch-konferenzen lag eine „Vereinbarung für die Durchsicht deutscher und französischer Schulbücher zwischen der Federation de l’Education Nationale und der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft" (19. Mai 1951) zugrunde Ein Jahr zuvor wurde ein „Abkommen zwischen der Arbeitsgemeinschaft Deutscher Lehrerverbände (AGDL) und dem National Council for the Social Studies (N. C. S. S.)“ (18. August 1950) getroffen
Die für die Bundesrepublik Deutschland typische Form waren „Abkommen" oder „Vereinbarungen" zwischen — rechtlich gesehen — privaten Organisationen, in der Regel gewerkschaftlich organisierten Lehrerverbänden und einzelnen Fachverbänden der Historiker und Geographen. Ihre Zusammenarbeit konnte verstanden werden als „auswärtige Politik von Privatpersonen" (H. Triepel) auf kulturellem Gebiet. „Die Privaten suchen selbständig und unmittelbar die Beziehungen ihrer Staaten zu fremden Staaten zu gestalten, indem sie Bemühungen des Staates gegenüber dem Ausland ergänzen oder ersetzen."
Die übliche Zweiseitigkeit solcher freiwillig eingegangenen Arbeitsabkommen zwischen privaten Organisationen darf jedoch nicht vergessen lassen, daß die internationale Schulbucharbeit schon seit den Tagen des Völkerbundes sozusagen auf Universalität hin angelegt war. Es wäre ein zu enges Verständnis, sie ausschließlich unter Aspekten einer nationalen Außen-Kulturpolitik zu begreifen, bei der es darauf ankommen müßte, auf der jeweils anderen Seite nicht nur „objektiv", sondern auch möglichst vorteilhaft ins Licht gerückt zu werden.
Der Satz in der Präambel der UNESCO-Ver-fassung, „daß, da Kriege im Geiste der Menschen entstehen, auch die Bollwerke des Friedens im Geiste der Menschen errichtet werden müssen“, gehört zu jenen hochherzigen universalen Gedanken, die unzählige Male zwar schon blamiert worden sind, aber dennoch ihren Anspruch nicht verloren haben, die Völker der „Vereinten Nationen" in der unaufgebbaren Idee eines „aktiven Friedens“ zu verbinden. Für die Pioniere der internationalen Schulbuchverbesserung wie George Lapierre oder Georg Eckert war der Gedanke nie so utopisch, daß es sich nicht gelohnt hätte, sich dafür mit den bescheidenen Mitteln der Wissenschaft, der gegenseitigen Kritik und der Anregungen zur Verbesserung von Geschichtsund Geographiebüchern einzusetzen. Die Idee des „aktiven Friedens" gab der Schulbucharbeit ihren Sinn; sie bleibt auch in Zukunft ihre Leitvorstellung und weist über die bloße Bilateralität hinaus
Ohne hier näher auf den Anteil der UNESCO an der internationalen Schulbuchverbesserung eingehen zu können, muß hervorgehoben werden, daß sie unvergleichlich wirksamer als das entsprechende Organ des Völker-bundes (Internationales Komitee für intellektuelle Zusammenarbeit) den Bewußtseinshorizont nationaler Bildungspläne und der Lehrpläne für den Geschichts-und Geographieun-* terrlcht in die internationale Umwelt hinein zu erweitern vermochte. Sie bewirkte eine immense Ausweitung der zwischenstaatlichen und transnationalen Kommunikationsstrukturen; sie propagierte, organisierte und koordinierte Schulbuchgespräche, bilateral und multilateral; und sie brachte das Thema immer wieder auf die Tagesordnung von Staatenkonferenzen. Auf der 18. Generalkonferenz der UNESCO verabschiedeten die Mitgliedsstaaten eine „Empfehlung über die Erziehung zu internationaler Verständigung und Zusammenarbeit und zum Weltfrieden sowie die Erziehung im Hinblick auf die Menschenrechte und Grundfreiheiten“. Die Empfehlung nimmt wiederholt Bezug auf die Schulbuch-verbesserung als eine wichtige Aufgabe der UNESCO
Auch wenn Empfehlungen dieser Art nur Absichtserklärungen sind, „ideals", nicht „ru-les", ohne rechtliche Bindung für die zustimmenden Mitgliedsstaaten, wirken sie doch durch ihre Wiederholungen, durch die häufige Berufung der einen Entschließung auf eine vorangegangene andere als Wegweiser für eine gemeinsame politische Wegstrecke. Auf Dauer geht von ihnen eine normative Wirkung aus. Sie beeinflussen das Denken von Millionen von Menschen und bestimmen indirekt auch die Bildungsziele der nationalen Politik mit Die Regierungen haben überdies durch ihre Mitgliedschaft in der UNESCO gemäß Artikel IV Abs. 4 der Satzung die Verpflichtung übernommen, Empfehlungen der Generalkonferenz den zuständigen Stellen wie etwa dem Deutschen Bundestag oder der Ständigen Konferenz der Kultusminister der Länder in der Bundesrepublik Deutschland innerhalb Jahresfrist vorzulegen Zugleich sind die Mitgliedsstaaten nach Artikel VIII der Satzung verpflichtet, der UNESCO mitzuteilen, ob und inwieweit sie den Empfehlungen oder Konventionen nachgekommen sind. Allerdings übt die UNESCO anders als etwa die Internationale Arbeitsorganisation keinerlei Einfluß auf ihre Mitgliedsstaaten aus, die
Berichte ggf. zu vervollständigen oder zu korrigieren. Doch bleibt die vertragliche Bericht-pflicht ein wichtiges Instrument der internationalen Publizität, auch im Bereich der Schulbucharbeit Aufgrund ihrer Statuten kann die UNESCO allerdings hier nur mittelbar tätig werden, da sie nicht in Angelegenheiten ihrer Mitglieder eingreifen darf, „die im wesentlichen in die innerstaatliche Zuständigkeit fallen“ (Art. I Abs. 3). Ihre Rolle als Förderer, Mittler und moralische Instanz ist dagegen unersetzbar. Es ist daher nicht richtig, von einem „Ausweichen auf die UNESCO-National-Kommissionen“ bei der Gründung der gemeinsamen deutsch-polnischen Schulbuchkommission zu sprechen
Die UNESCO-National-Kommissionen setzen sich in ihren Organen, von Land zu Land unterschiedlich im Anteil der betreffenden Gruppe, aus Vertretern der Regierungsressorts, gesellschaftlichen Organisationen und sachkompetenten Einzelpersonen zusammen (Art. VII UNESCO-Satzung). Ähnlich wie die Landesausschüsse für Geistige Zusammenarbeit zur Zeit des Völkerbundes (s. o.) sind sie eine Vermittlungsstelle zwischen der UN-Sonderorganisation, den nationalen Regierungen und den an der UNESCO-Arbeit aktiv beteiligten Menschen. Sie sind dafür gedacht, der UN-Sonderorganisation eine ihren Aufgaben gemäße breitere Verankerung im Leben der Völker und damit auch eine stärkere demokratische Legitimation zu geben.
Die von Anfang an engen Verbindungen zwischen der Deutschen UNESCO-Kommission und dem 1951 gegründeten Internationalen Schulbuchinstitut in Braunschweig, das heute den Namen seines verstorbenen Gründers und ersten Leiters trägt — „Georg-Eckert-Institut für Internationale Schulbuchforschung" —, sowie die Jahre gemeinsamer Arbeit — von 1964 bis zu seinem Tode war Georg Eckert auch Präsident der Deutschen UNESCO-Kommission — können hier nicht dargestellt wer-den Es muß aber Im Blick auf die deutsch-polnischen UNESCO-Vereinbarungen über die Schulbuchverbesserung in Erinnerung gerufen werden, daß die deutsche UNESCO-Kommission, um die Bemühungen der UNESCO für die internationale Schulbucharbeit nach besten Kräften zu fördern, schon 1952 im Sinne der Empfehlung der 6. Generalkonferenz der UNESCO — ähnlich wie andere Mitgliedsstaaten — einen Ausschuß für Schulbuchverbesserung bildete und daß die Hauptversammlung 1953 einstimmig die vom Ausschuß und dem Internationalen Schulbuchinstitut gemeinsam ausgearbeiteten »Grundsätze und Empfehlungen für die Verbesserung von Schul-und Jugendbüchern und sonstigen Unterrichts-und Erziehungsmitteln in Funk, Bild und Ton“ annahm Für die Durchführung einzelner Schulbuch-konferenzen galt in der Regel, „daß die eigentliche Arbeit der Schulbuchverbesserung dann am wirkungsvollsten sei, wenn sie auf freiwilliger Grundlage geschehe und frei sei von staatlichem und politischem Einfluß. Die Deutsche UNESCO-Kommission und ihr Sonderausschuß für diese Frage beabsichtige nicht, die eigentliche Ausarbeitung der Thesen durch Abhalten von Arbeitstagungen und Seminaren in eigener Regie selbständig vorzunehmen." 1964 beschloß die Hauptversammlung der Deutschen UNESCO-Kommission einstimmig, die Verbindung zu Nationalkommissionen sozialistischer Staaten aufzunehmen. 1965 folgte eine Delegation unter Leitung von Georg Eckert einer Einladung der polnischen Nationalkommission, wobei Fragen der Schulbuch-revision im Vordergrund standen. Während der 16. Generalkonferenz der UNESCO in Paris (1970) kamen die beiden Präsidenten der deutschen und der polnischen Nationalkommission überein, konkrete Schritte einzuleiten. Die Volksrepublik Polen hatte schon früher Schulbuchvereinbarungen nicht nur mit sozialistischen, sondern auch mit zahlreichen westeuropäischen Ländern getroffen wie z. B. mit Dänemark, Österreich und Frankreich Auf Einladung der UNESCO-Kommission der Volksrepublik Polen trafen sich vom 22. bis 26. Februar 1972 in Warschau und auf Einladung der Deutschen UNESCO-Kommission vom 10. bis 17. April 1972 im Internationalen Schulbuchinstitut in Braunschweig Historiker, Geographen, Pädagogen, Schulbuchautoren und -Verleger, um die Voraussetzungen der Zusammenarbeit zu klären und Empfehlungen zur Behandlung der gegenseitigen Beziehungen in Geschichtsund Geographiebüchern beider Länder zu entwerfen. Am 17. Oktober 1972 wurde im Historischen Festsaal des Altstadtrathauses von Braunschweig eine „Vereinbarung zwischen den UNESCO-Kommis-sionen der Bundesrepublik Deutschland und der Volksrepublik Polen über die Zusammenarbeit auf dem Gebiet der Schulbuchrevision" unterzeichnet. Für die Durchführung der Aufgabe der Schulbuchrevision stand deutscherseits das Braunschweiger Internationale Schulbuchinstitut, polnischerseits das Institut für Schulprogramme des Ministeriums für Bildung und Erziehung sowie die Polnische Akademie der Wissenschaften zur Verfügung
Die Vereinbarung über die Zusammenarbeit der beiden Kommissionen auf dem Gebiete der Schulbuchrevision konnte zustande kommen, weil seit Mitte der fünfziger Jahre der Wunsch nach einer Verständigung auf beiden Seiten immer stärker geworden war und seit dem Abschluß des Warschauer Vertrages und seiner schließlichen Ratifizierung im Deutschen Bundestag auch die für eine Zusammenarbeit unerläßlichen politischen Voraussetzungen gesichert schienen. Die der Unterzeichnung des Abkommens vorangegangenen Konferenzen in Warschau und in Braunschweig erarbeiteten 14 bzw. 17 Thesen, die in beiden Ländern sofort veröffentlicht wurden Die Thesen bezogen sich auf den ge-samten Zeitraum der Geschichte des deutsch-polnischen Verhältnisses von seinen Anfängen bis zum Ende des Zweiten Weltkrieges sowie auf die Schulbuchrevision im Fach Geographie
Die Konferenzen und ihre Empfehlungen fanden ein ungewöhnlich starkes und zustimmendes Echo in den deutschen und polnischen Massenmedien. Der allgemeine Tenor der Zustimmung in der Bundesrepublik wird gut wiedergegeben in einem Bericht der Wochenzeitung „Die Zeit". Dort hieß es im Anschluß an die 1. Deutsch-Polnische Schulbuch-konferenz in Warschau: Die Versöhnung mit Polen sei nicht allein durch Verträge, Handelsbeziehungen und Fabriken zu erreichen. Verständigung müsse an der Basis erzielt werden und dürfe nicht durch den Schulunterricht unterlaufen werden. Die erste Konferenz sei ein bedeutsamer Anfang gewesen, den Kalten Krieg aus den Schulbüchern zu vertreiben. „Generell sollte alles aus den Büchern entfernt werden, was die Jugend emotionalisiert und indoktriniert." Nach der 2. Deutsch-Polnischen Schulbuchkonferenz in Braunschweig schrieb die Tageszeitung „Die Welt": „Darüber, daß die deutsch-polnischen Gespräche gut und nützlich sind und daß sie fortgesetzt werden sollten, dürfte Einigkeit bestehen. Die Entgiftung der Atmosphäre erscheint zunächst wichtiger als die Klärung der Frage, welche Bedeutung die Huldigung Boguslaws I. gegenüber Kaiser Friedrich Barbarossa für die Zugehörigkeit Pommerns hatte.“ Der „Wissenschaftliche Dienst für Ost-Mittel-Europa'des Johann-Gottfried-Herder-Instituts begrüßte die Empfehlungen, da sie sich freimachten von den falschen Konzeptionen, welche die staatsschöpferischen Fähig-keiten der Polen negierten, auch wiederlegten sie die These einer ewigen Feindschaft zwischen Polen und Deutschen
Für die weitere Arbeit der Gemeinsamen deutsch-polnischen Schulbuchkommission war es besonders wichtig, welche Aufnahme ihre Empfehlungen bei den Kultusministerien der Länder fanden. Sie war ähnlich wie in der Publizistik außerordentlich positiv. Die Bundesländer Bremen, Hessen, Niedersachsen und Nordrhein-Westfalen veröffentlichten sie in ihren Amtsblättern im nichtamtlichen Teil Die Schulsenatoren und Kultusminister von Berlin, Hamburg, Rheinland-Pfalz, Saarland und Schleswig-Holstein sagten behördliche Unterstützung bei der Verteilung der Texte zu Der damalige Kultusminister von Rheinland-Pfalz, Dr. Bernhard Vogel, schrieb dazu an den Präsidenten der Deutschen UNESCO-Kommission, Prof. Eckert: „Gerade von der Situation eines Grenzlandes wie Rheinland-Pfalz her, in dem der Gedanke der Aussöhnung mit dem westlichen Nachbarn eine so hervorragende Rolle spielt, halte ich die von Ihnen ergriffene Initiative der Verständigung mit unserem polnischen Nachbarn für außerordentlich wertvoll. Ich begrüße diese Initiative um so mehr, als die von Ihnen zusammen mit polnischen Wissenschaftlern erarbeiteten Empfehlungen sich in der allgemeinen Tendenz und auch in vielen Einzelheiten mit den Ergebnissen der fachdidaktischen Arbeiten im Fach Geschichte in Rheinland-Pfalz decken, wie sie sich etwa in den Lernzielen und Stoffverteilungsplänen für Geschichte in Klasse 11 darstellen. Den zweckmäßigsten und wirkungsvollsten Weg, Ihrem Wunsch entsprechend die o. a. Empfeh-lungen den Lehrern näher zu bringen, sehe ich daher in der Einbeziehung dieser Empfehlungen in die entsprechenden Lehrpläne, wo sie bei der nächsten Neuauflage als Anhang zu den Richtlinien mit veröffentlicht werden können und für die Fachleute jederzeit greifbar sind.“ Auch die Lehrer-und Fachverbände der Geographen und Historiker stimmten dem Inhalt der Empfehlungen zu
Noch nie zuvor hatten Schulbuchempfehlungen eine so weite Verbreitung gefunden Mitglieder der Gemeinsamen deutsch-polnischen Schulbuchkommission berichteten über die Konferenzen regelmäßig und kommentierten ihre Ergebnise Es ist also dar-an zu erinnern, daß die hier für die Bundesrepublik Deutschland im einzelnen nachgewiesene freundliche, gelegentlich sogar emphatisch begrüßte Aufnahme des größten Teils der Empfehlungen der Gemeinsamen Kommission, d-h. vier Fünftel des Textes, zum Teil noch vor der Ratifizierungsdebatte im Deutschen Bundestag (17. Mai 1972) über den Warschauer Vertrag erfolgte und daß die öffentliche Meinung in Polen nicht weniger positiv darauf reagierte Ja, man muß sogar sagen, daß die gemeinsame Schulbucharbeit für das polnische Empfinden und Denken eine sehr viel größere Bedeutung besaß als für die Menschen in der Bundesrepublik, Wenn man sich hier gelegentlich beklagte, daß es ein Fehler der Polen sei, nicht vergessen zu können, dann mußte man sich als Deutscher erst recht mit dem Vorwurf auseinandersetzen, sich nicht erinnern zu wollen. Die Beziehungen zwischen der Volksrepublik Polen und der Bundesrepublik Deutschland wurden polnischerseits — im Gegensatz zu ihren Beziehungen zur Deutschen Demokratischen Republik — nicht nur als ein politisches Problem, sondern immer auch als eine Frage von politisch-moralischer Substanz verstanden und mit der Geschichte des deutsch-polnischen Verhältnisses seit der ersten Teilung Pojens verbunden Mit großer Wachsamkeit wurden die Westdeutschen Schulbücher verfolgt und — ob zu Recht oder zu Unrecht sei hier dahingestellt — mit den Schulbüchern der Deutschen Demokratischen Republik verglichen Das wichtigste Beobachtungskriterium war das Verhältnis zur jüngsten Vergangenheit und die Einstellung zum gegenwärtigen Polen. „Die Behauptung, daß sich fast jeder Pole zum Experten für deutsche Angelegenheiten berufen fühlt, kann als unbestreitbare Wahrheit gelten. Wenn ein Pole an die Sicherheit seines Landes, an seine eigene Zukunft oder auch die seiner Kinder denkt, lenkt er zu einem gewissen Zeitpunkt seinen Blick auf Deutschland. Dies ist keine neue Erscheinung. Die viele Jahrhunderte alte Geschichte des Ringens des polnischen Volkes mit dem auf uns eindringenden Deutschtum hat uns zu aufmerksamen, fast pedantischen Beobachtern und Analytikern alles dessen gemacht, was die Deutschen denken und tun. Die Besetzung durch Hitler, während derer buchstäblich jeder Pole direkt mit dem deutschen Imperialismus, repräsentiert durch die SS, die Wehrmacht, die Polizei, die Gestapo, die Beamten usw., in Beziehung kam, steigerte noch dieses Interesse. Während des letzten Krieges haben Hitler und seine Leute uns in, so möchte ich sagen, unmittelbarem Kontakt gelehrt, was man von den Deutschen zu halten hat. Später, in den nächsten 20 Jahren, haben die aufeinanderfolgenden führenden Männer der Bundesrepublik sich nicht darum bemüht, die Vorstellung von den Deutschen in dem Bewußtsein der Polen zu ändern.“
In der Bundesrepublik Deutschland ist der so überaus wichtige qualitative Unterschied in der gegenseitigen Wahrnehmung, der in der tragischen Geschichte der Beziehung der beiden Nachbarvölker begründet ist, und zwar nicht nur in der jüngsten Geschichte, nicht immer verstanden worden. Man weiß hierzulande viel weniger über Polen, seine Gegenwart und seine Vergangenheit, als es umgekehrt der Fall ist. Man ist hier auch uninteressierter. Eine Überwindung dieses qualitativen Unterschiedes im Sinne einer vollen gegenseitigen Respektierung scheint nur durch gemeinsame, geduldige geschichtliche Arbeit möglich, die nach dem Abschluß des War-schauer Vertrages über die Normalisierung mit der deutsch-polnischen Schulbuchkommission beginnen konnte. Für das polnische Verständnis schloß der Begriff der Normalisierung die historische Arbeit mit ein. Das machte verständlich, warum in Polen von Anfang an der Tätigkeit der Kommission, den Ergebnissen ihrer Konferenzen und den Urteilen über diese Ergebnisse in der westdeutschen Politik, Publizistik und in den Schulen eine so große Aufmerksamkeit geschenkt wurde und noch immer geschenkt wird.
Die Empfehlungen zur Zeitgeschichte und zur Darstellung der Beziehungen zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Volksrepublik Polen zwischen 1949 und der Gegenwart mußten dabei von ganz besonderem Interesse sein, da es sich hier um eine schwer zu bewältigende Hürde im Verständigungsprozeß zu handeln schien. Von der 3. (Braunschweig, 1. — 5. April 1973) bis zur 8.deutsch-polnischen Schulbuchkonferenz (Warschau, 25. Sept. — l. Okt. 1975) stand neben den Beratungen über die Geographie und die Geschichte des Deutschen Ordens die Zeitgeschichte im Vordergrund. In einem Beitrag des Leiters der polnischen Gruppe in der Kommission für die kultur-und konfessionspolitische Wochenzeitung „Argumenty", der sich zunächst mit den ersten beiden Konferenzen beschäftigt hatte, konnte man lesen: „Es ist damit zu rechnen, daß es bedeutend schwieriger sein wird, die Standpunkte über die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg in Übereinstimmung zu bringen, denn zu den theoretisch-methodologischen Unterschieden, welche die Verhandlungen komplizieren» treten solche der Wertung der in beiden Ländern sich gegenüberstehenden sozial-ökonomischen Verfassungen und der dadurch realisierten politischen Ziele. In den bourgeoisen Staaten ganz allgemein, namentlich aber in der Bundesrepublik während des sogenannten Kalten Krieges, der sich hier wohl am längsten gehalten hat, schlichen sich im besonderen Maße in die politische Sprache zahlreiche abschätzige Bezeichnungen ein, die unmittelbar und direkt unseren Staat und das polnische Volk sowie seine engsten Verbündeten beleidigen. Ich denke an die in Schulbüchern der jüngsten Geschichte und Gemeinschaftskunde gravierenden Begriffe wie . Eiserner Vorhang', . Satellitenstaaten', . totalitäres System'usw. Funktionen der Indoktrination, die im Widerspruch zum Grundsatz der gegenseitigen Verständigung und friedlichen Koexistenz der Völker stehen, erfüllen auch die in den Schulbüchern aufgenommenen Illustratio-B nen, die spezifische Auswahl der Fakten, sowie der Kontext, mit welchem sie besprochen und analysiert werden.“ Aber ebensowenig konnte man als Bürger der Bundesrepublik damit einverstanden sein, wenn polnische Lehrbücher die Politik der früheren Bundesregierungen als imperialistisch, militaristisch, revanchistisch und überhaupt als die „Hauptgefahr für den Frieden in Europa“ kennzeichneten. Hier war auf beiden Seiten das Bild, das man sich voneinander machte, im Licht moderner Zeitgeschichtsforschung zu korrigieren, indem man z. B.der Frage nachging, wie es denn dazu hatte kommen können, daß die gegenseitigen Bedrohungsvorstellungen wuchsen.
Manche westdeutschen Kritiker der „Empfehlungen“ haben in ihren Kommentaren angeführt, daß Gespräche mit Kommunisten von vornherein zu keinem sachlichen Ergebnis führen könnten. Abgesehen davon, daß die Zusammensetzung der polnischen — wie im übrigen auch der deutschen — Gruppe immer primär eine Frage der fachlichen Kompetenz und nicht der Parteizugehörigkeit iwar, muß man nachdrücklich betonen, daß die ideologischen Differenzen nicht die „den wissenschaftlichen Gedankenaustausch beherrschenden Elemente“ sind. Karl Dietrich Erdmann hat in seinem Bericht über das deutsch-sowjetische Historikertreffen in Leningrad (1. bis 5. April 1975) im Blick auf die sowjetischen Kollegen darauf hingewiesen, daß die ideologischen Positionen „keineswegs bei allen Teilnehmern völlig deckungsgleich waren" und daß es also falsch wäre, „von der Annahme unflexibler Positionen auszugehen". Was zählt, sind „die empirischen Argumente ... Denn über dieses Grundelement aller historischen Wissenschaft ist die Forschung hüben und drüben methodisch einig: Das kritisch erhärtete Faktum soll gelten.“ Kaum anders sahen es auch die polnischen Wissenschaftler bei den Gesprächen über die deutsch-polnischen Beziehungen der Nachkriegszeit: „Die Geschichte Europas nach dem Zweiten Weltkrieg ist bekanntlich immer noch verhältnismäßig wenig wissenschaftlich erforscht.
Selbst im Rahmen der nationalen Expertengruppen, die die Gemeinsame Schulbuchkommission bilden, treten Unterschiede in den Anschauungen auf, wenn es um die politische Bewertung der Ereignisse und Beschlüsse geht, die nach wie vor übermächtig die politische Wirklichkeit beeinflussen und darum noch nicht einen abgeschlossenen Abschnitt der Geschichte bilden.“
Uber die mit den Fragen zur Zeitgeschichte befaßten Konferenzen ist von Mitgliedern der Kommission häufiger schon berichtet worden Anders als die Empfehlungen zur Geschichte der (Empfehlungen 1— 20) deutsch-polnischen Beziehungen von ihren Anfängen bis zum Ende des Zweiten Weltkrieges und die Empfehlungen zur Geographie, die eine breite Zustimmung in der Öffentlichkeit, bei der Lehrerschaft sowie den Kultusministerien fanden (s. o.), gerieten die Empfehlungen zur Zeitgeschichte (Empfehlungen 21— 26) in einen lebhaften und noch anhaltenden politischen Meinungsstreit In diesem Streit spielt u. a. das nationalhistorisch-antagonistische Grundmuster eine wichtige Rolle Die Kritik gegen die Empfehlungen ist bisher nicht leicht greifbar gewesen, da es ihr an einer geschlossenen, den Empfehlungen vergleichbaren Darstellung, also gewissermaßen Anti-Empfehlungen, noch fehlt. Die „kritische Stellungnahme" von Hans Neuhoff und Hans-Günther Parplies zur Nachkriegsgeschichte trifft nicht den Inhalt der Empfehlungen. Sie argumentiert innerhalb eines Völker-und verfassungsrechtlichen Normensystems und dessen Auslegungen durch das Bundesverfassungsgericht, sie widerlegt aber nicht die inhaltlichen Aussagen über den geschichtlichen Prozeß, auf den auch Bundesverfassungsgerichtsurteile abheben; sie verfehlt den zu kritisierenden Gegenstand schon im Ansatz Auch in Polen mußten völkerrechtliche Normsetzungen dafür herhalten, historische Thesen zu fundieren, so etwa, wenn die Auffassung vertreten wurde, die ehemaligen deutschen Ostgebiete seien seit ihrer ersten Besiedlung uraltes polnisches Land, In das man als „wiedergewonnene Gebiete“ nach dem Zweiten Weltkriege „zurückgekehrt" sei; so etwa auch, wenn die These vertreten wurde, Polen habe einen gültigen Rechtsanspruch auf Kompensation im Westen durch seine an die Sowjetunion verlorenen Gebiete im Osten. Die deutsch-polnische Schulbuch-Kommission hat sich diese Betrachtungsweise nicht zu eigen gemacht. „Wenn uns um wirkliche Verständigung zu tun ist“, so appellierte der Kieler Völkerrechtler Eberhard Menzel auf einer Tagung deutscher und polnischer Völkerrechtler Anfang 1972 an seine polnischen Kollegen, „so müßten wir auf beiden Seiten derartige Vorstellungen abbauen. Vielleicht sollten wir uns im Laufe der kommenden Jahre daran machen, die unrichtigen Berufungen auf das Völkerrecht festzustellen und so auf unserem engen Fachbereich zur Verständigung beizutragen. Das wäre beiderseits ein wichtiger Beitrag zum Frieden. Wir brauchten hierbei nichts zu verurteilen oder zu revozieren, sondern nur die Spreu vom Weizen zu scheiden. Was sich bei Schulbüchern als nützlich erwiesen hat, sollte erst recht unter Juristen möglich sein, die dem Gedanken der Wahrheit und des Friedens besonders zugeneigt sein sollten.“
Die Bayerische Staatsregierung hat in ähnlicher Weise wie die zitierte „kritische Stellungnahme" seitens des Bundes der Vertriebenen die Empfehlungen der deutsch-polnischen Schulbuchkommission allerdings insgesamt, d. h. nicht nur die Empfehlungen zur Zeitgeschichte, verurteilt. Die Empfehlungen stünden „im Widerspruch zu den Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts bezüglich der Rechtslage Deutschlands". Sie seien außerdem gekennzeichnet von einer „sprachlichen Verharmlosung der Massenvertreibungen und verschweigen historische Fakten, so z. B. die Rolle der Sowjetunion von 1939 an.“ Sie seien „zu wenig ausgewogen und gehen zu sehr auf die Wünsche und Vorstellungen der polnischen Seite ein“
Der Vorwurf verfassungs-und völkerrechtswidriger Aussagen zur Rechtslage Deutschlands und der Deutschen ist durch den Text der Empfehlungen, wenn man ihn im Zusammenhang liest, nicht zu belegen. Der Text macht ja gerade nachdrücklich auf die unterschiedlichen Auslegungen der Potsdamer Konferenzbeschlüsse durch die Siegermächte, die mit zunehmendem zeitlichen Abstand von der Konferenz immer mehr divergierten, sowie auf die völkerrechtliche Problematik als einen wichtigen Faktor im politischen Konflikt aufmerksam. Die Kommission konnte doch nur das Faktum eines völkerrechtlichen Dissens feststellen und in bezug auf die Bestimmungen des Warschauer Vertrages über die polnische Westgrenze die deutsche verfassungsrechtliche Auffassung wiedergeben, daß die Bundesregierung beim Abschluß des Vertrages „nur im Namen der Bundesrepublik Deutschland" gehandelt habe. Der Kieler Historiker Karl Dietrich Erdmann hat in einer* vielbeachteten Rede vor dem CDU-Parteitag 1977 die Kritiker der Empfehlungen auf die Notwendigkeit der Unterscheidung zwischen normativen Rechtsfiguren und historischer Faktizität hingewiesen
Die an sich vermeidbaren Mißverständnisse, die nicht durch den Text der Empfehlungen verursacht sind, der hinsichtlich der Darstellung des faktischen Verlaufs der deutsch-polnischen Beziehungen nach dem Zweiten Weltkrieg völlig eindeutig ist, kehren in manchen Stellungnahmen auch in einigen Ministerien wieder Demgegenüber muß dringend an die Bitte des Bundeskanzlers erinnert werden, die er an die polnische Adresse richtete — und die zugleich auch an die deutschen Kritiker zu richten wäre —, „Entscheidungen unserer obersten Bundesgerichte nicht fehlerhaft politisch zu interpretieren und ihnen nicht einen gegen den Warschauer Vertrag verstoßenden oder gerichteten Inhalt zu unterstellen. Die Bundesregierung hat sich dazu eindeutig geäußert... sie steht ohne Abstriche zu unseren Verpflichtungen aus dem Warschauer Vertrag, und das bedeutet auch, daß für die Bundesrepublik Deutschland die Oder-Neiße-Grenze die Westgrenze Polens ist." Der Warschauer Vertrag bedeutete, historisch gesehen, eine tiefe und seit Jahrhunderten wieder positive Zäsur im deutsch-polnischen Verhältnis. Die Empfehlungen der Schulbuchkommission könnten dazu beitragen, seinen Inhalt nicht in Zweifel zu ziehen. Doch sind sowohl dieser Aspekt als auch andere Gesichtspunkte der Kritik mehrfach Gegenstand ausführlicher Erörterungen durch Mitglieder der Kommission gewesen
Als die deutsch-polnische Schulbuchkommission 1972 ihre Arbeit begann, waren sich ihre Mitglieder darüber im klaren, daß es vielleicht noch lange Zeit braucht, bis ihre Auf-gäbe auf beiden Seiten begriffen wird. Denn für viele Menschen ist die historische Sicht der Dinge, Konflikte auch mit den Augen des ehemaligen Gegners zu beurteilen, noch fremd, und sie mißverstehen sie daher. Man konnte deshalb auch nicht überrascht sein, daß die Empfehlungen Kritik erfuhren. Zum einen liegt es ohnehin im Wesen wissenschaftlicher Arbeit, daß sie kritisierbar bleibt. Zum anderen bietet der Umstand, daß zum ersten Male in der langen und leidvollen Geschichte der deutsch-polnischen Beziehungen Historiker und Geographen aus der Bundesrepublik Deutschland und der Volksrepublik Polen sich an einen Tisch setzten, um nach langen und mühseligen Verhandlungen ein „Gemeinschaftswerk" vorzulegen, genügend Anlaß zur kasuistischen Kritik. Und in der Tat sind diese Empfehlungen ebenso verbes-serungs-und ergänzungsfähig, wie alle internationalen Schulbuchempfehlungen es auch in Zukunft immer sein werden. Freilich hätte man sich gewünscht, daß die Kritik weniger polemisch ausgefallen wäre und sich auch distanzierter zu tagespolitischen Frontstellungen verhalten hätte. Aber das liegt wohl am zeitgeschichtlichen Stoff, daß viele Menschen so schwer Distanz finden. Im negativen Sinne beispielhaft hier die Kritik der 22. Empfehlung („Bevölkerungsverschiebungen"). Der pejorative Tenor, in dem sie vorgetragen wurde, ist auch heute noch kennzeichnend für den leicht mobilisierbaren emotionalen und moralisch verwertbaren Gehalt des Wortes „Vertreibung", der nach den Vorstellungen der Kritiker so unterschiedliche Vorgänge wie Flucht, Evakuierung, Ausweisung, Zwangsumsiedlung, Übersiedlung, Ausreise und Familienzusammenführung in einem Begriff zusammenfassen will. Der Verzicht auf diesen Begriff als Generalnenner für alles, was an Furchtbarem geschah, ist der Kommission als „Verharmlosung“ angelastet worden, während er in Wirklichkeit für eine differenzierte Darstellung unerläßlich war Auch kam es hier wie in anderen Fällen darauf an, die in der Tagespolitik hüben und drüben oft zu polemischen Zwecken benutzten „Reizwörter" zu vermeiden. Die Kommission ist darin auch richtig verstanden worden: „Der zweite Akt der Tragödie der beiden Völker im 20. Jahrhundert wird mit der Nüchternheit eines Wetterberichts dargestellt. Der Versuch, zu einer möglichst objektivierenden Betrachtungsweise gegenüber den heikelsten historisch-politischen Konfliktstoffen zu gelangen, die heute noch ungezählte Menschen in der Bundesrepublik Deutschland und in der Volksrepublik Polen tief erregen, weil sie selbst unmittelbar Opfer geworden sind, mußte auch sprachlich seine geeignete Form finden. Im übrigen hat zum Sachverhalt selber deutscherseits niemand so eindringlich und so häufig sich geäußert wie Gotthold Rhode seit seiner ersten Schrift zu diesem Thema „Völker auf dem Wege — Verschiebungen der Bevölkerung in Ostdeutschland und Osteuropa" (1952)
Auch versprechen die jüngsten Debatten in einigen Länderparlamenten über die deutsch-polnischen Schulbuchempfehlungen sowie die Stellungnahmen von Politikern aller demokratischen Parteien in der Bundesrepublik Deutschland eine zunehmende Versachlichung der anfangs noch sehr polemisch gefärbten Auseinandersetzungen, da einige Prämissen der Arbeit der deutsch-polnischen Schulbuchkommission noch wenig bekannt waren. Dazu gehörte die Entstehungsgeschichte der deutsch-polnischen Schulbuch-kommission selbst, die deshalb in diesem Beitrag kurz zu schildern war (s. o.). Die entscheidende Initiative ging von einzelnen für die deutsch-polnische Verständigung sehr engagierten Persönlichkeiten wie Georg Eckert und Wladyslaw Markiewiscz aus, die die Aufgabe der Schulbuchrevision und -Verbesserung im üblichen Rahmen einer bilateralen UNESCO-Vereinbarung „institutionalisieren“ konnten. Die Vereinbarung war kein völkerrechtlicher Vertrag, sondern ein Arbeitsabkommen, in dessen Rahmen Expertenkommissionen gebildet und tätig werden konnten. Beide Seiten legten größten Wert darauf, wissenschaftliche Fachkompetenz, nicht politische Repräsentanz zu vereinigen. Das entsprach den üblichen Gepflogenheiten in der internationalen Schulbucharbeit.
Die Unterschiede der politischen Systeme bildeten kein Hindernis, Übereinstimmungen oder auch Abweichungen in der historischen Bewertung gemeinsam festzustellen. Polnischerseits ist gelegentlich der Wunsch geäußert worden — sowohl auf politischer Verhandlungsebene als auch in Gesprächen ein-zelner Kommissionsmitglieder —, die deutsche Gruppe in der Kommission sozusagen zu einem staatlichen Organ zu machen. Doch blieb man dabei stets realistisch und rechnete nicht wirklich damit, daß, ungeachtet der der Kommissionstätigkeit beigemessenen Bedeutung für die Politik der Normalisierung, die Bundesrepublik ihre föderative Verfassung ändern würde.
Der Streit über die Arbeitsergebnisse der gemeinsamen deutsch-polnischen Schulbuch-kommission gewann gelegentlich dann an Schärfe in der Bundesrepublik, wenn man unterstellte, ihre Empfehlungen seien sozusagen „Befehle“ in der Art einer „Orwellschen Kommission 1984", die Teile der „geschichtlichen Wahrheit“ herausreißt, sie durch andere ersetzt und Sprachregelungen diktiert. Nach den vielen Pressemeldungen mit entsprechenden Schlagzeilen kann der Eindruck entstehen, als ob einige Kritiker ein solches Mißverständnis auch bewußt herbeiführen wollten, um die Kommission einer schlimmen Anmaßung bezichtigen zu können. Doch der Streit ist ganz müßig. Der Begriff „Empfehlung“ wird deutscher-wie polnischerseits seinem Wortsinn entsprechend verstanden Orientierungshilfe, Richtungsanzeige, wie Historiker bzw. Geographen in beiden Ländern ganz bestimmte wichtige Punkte in der Geschichte und in der Gegenwart der beiderseitigen Beziehungen beurteilen und was dabei für beide Seiten als wichtig gelten kann. Ruft man sich noch einmal in Erinnerung, daß hier zum ersten Male überhaupt in der Geschichte der deutsch-polnischen Beziehungen Fachleute zusammenkamen, um ein Feld von Vorurteilen und negativen Einstellungen zu räumen, dann wird auch deutlich, daß solche schwierige Arbeit erst am Anfang ihrer Entwicklung stehen kann und die Veröffentlichung von Empfehlungen nicht etwa auch schon ihr Ende sind. Die Bedeutung des Anfangs kann aber kaum überschätzt werden auf dem hier oft beschriebenen Hintergrund. Hinsichtlich der methodologischen Ergebnisse der Konferenzen wie auch hinsichtlich der in den Empfehlungen festgehaltenen Gesichtspunkte für gemeinsame oder auch strittige Bewertungsgrundlagen sind sie über einen bloßen Anfang auch bereits hinausgekommen. Das läßt nach Meinung der Kommission den Wunsch verständlich und berechtigt erscheinen, die Empfehlungen möchten bei den Schulbuchautoren, -Verlegern und den amtlichen Stellen, die über die Zulassung von Schulbüchern entscheiden, Beachtung finden und berücksichtigt werden. Der Wunsch ist nicht Ausdruck eines Bewußtseins, im öffentlichen Auftrag und mit eigenen Befugnissen ausgestattet gehandelt zu haben, sondern Ausdruck der Überzeugung jedes einzelnen Kommissionsmitgliedes, für beide Völker etwas Nützliches getan zu haben, was auch der Überprüfung nach Kriterien der Wissenschaftlichkeit standhält. Die Einbeziehung der Arbeit der deutsch-polnischen Schulbuchkommission, wie immer man ihren Status definieren mag, in das Kulturabkommen zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Volksrepublik Polen vom 11. Juni 1976 (Art. 4) beruht auf dieser Einschätzung. Wenn es auch in der Natur von Empfehlungen liegt, daß sie keinen Rechtscharakter haben können, weil sie nur durch die an ihrem Zustandekommen Beteiligten persönlich zu verantworten sind, so schließt das nicht aus, daß von ihnen nachhaltige Wirkungen auf die Gestaltung der Schulbücher in beiden Ländern ausgehen und auch schon ausgegangen sind. Hierbei können Kulturabkommen mit Schulbuchklauseln eine unterstützende Rolle spielen In der zentralistischen Volksrepublik Polen sind die Voraussetzungen dafür anderer Art als in der föderalistischen Bundesrepublik Deutschland. Hier wird es maßgeblich auf die Länder ankommen, ob die Empfehlungen, wie schon einmal 1972, als ein auch der Normalisierung der Beziehungen zwischen den beiden Staaten förderliches Werk beurteilt oder wie durch die Bayerische Staatsregierung als „nicht geeignet" verurteilt werden, da sie nicht „dem Ziel des Art. 4 des Kulturabkommens ... dienen, eine umfassende Kenntnis und ein besseres gegenseitiges Verständnis zu fördern.“ Die zunehmende Versachlichung in der Auseinandersetzung über die deutsch-polnischen Schulbuchempfehlungen läßt hoffen, daß auch das bayerische Urteil nicht das letzte Wort in dieser Sache gewesen sein wird. Unlängst hat das Niedersächsische Kultusministerium die Deutsch-Polnische Gesellschaft in Norder-stedt/Schleswig-Holstein wissen lassen, daß die Niedersächsische Landesregierung „die deutsch-polnischen Schulbuchempfehlungen als einen Beitrag zur Versachlichung der Darstellung der Nachkriegsgeschichte in den
Schulbüchern wertet. Sie werden akezptiert, weil sie den Willen zur Verständigung erkennen lassen und geeignet sind, den Weg zur Versöhnung zwischen den Völkern zu ebnen. Die Niedersächsische Landesregierung verschweigt nicht, daß sie einige von der Sache her begründete Vorbehalte gegenüber diesen Schulbuchempfehlungen hat, die in den auch von Ihnen genannten Kompromissen und den Auslassungen gewisser Probleme begründet sind. Die deutsch-polnischen Schulbuchempfehlungen können deshalb nicht den Charakter verbindlicher Richtlinien erhalten. Die Niedersächsische Landesregierung sieht es jedoch als selbstverständlich an, daß die Empfehlungen bei dem Verfahren zur Überprüfung von Schulbüchern berücksichtigt werden."
Die gemeinsame deutsch-polnische Schulbuch-kommission hat in ihrem Vorwort zu den Empfehlungen, deren Veröffentlichung den ersten, besonders fruchtbaren, aber auch außerordentlich schwierigen Abschnitt der Arbeit abschließt, ihren Wunsch zum Ausdruck gebracht, ihre Tätigkeit fortsetzen zu können. Die Empfehlungen bedürfen der Ergänzungen und Vertiefungen durch geschichtswissenschaftliche und geographische Fachkonferenzen, wie sie schon 1974 dem Deutschen Orden, 1977 dem Thema „Widerstandsbewegungen gegen den Nationalsozialismus in Deutschland und in Polen" und 1974 und 1976 den Fragen des Strukturwandels in der Landwirtschaft in der Bundesrepublik Deutschland und der Wirtschaft der Küstenregion am Beispiel der Dreistadt Danzig-Zoppot-Gdingen gewidmet waren Verständigung, wenn das Wort nicht eine Phrase in einem geschichtlich so außerordentlich belasteten Verhältnis bleiben soll, bedarf nicht der Deklamationen, sondern des genaueren Wissens voneinander. Hierfür kann auch die gemeinsame deutsch-polnische Schulbuchkommission einen Beitrag leisten. *