I. Der „Aufstand der Intellektuellen" 1956
Ernst Bloch. Die Unzufriedenheit der Arbeiter mit dem SED-Regime, die sich am sichtbarsten im Juni 1953 äußerte, aktualisierte die Diskussion um eine Erneuerung des dogmatisch erstarrten Marxismus; im Zentrum einer intellektuellen Opposition in der DDR standen Ernst Bloch und Wolfgang Harich. Beide gehörten 1953 zu den Begründern und Herausgebern der „Deutschen Zeitschrift für Philosophie’’, der die Aufgabe zugedacht war, Marx und die in sein Werk einmündenden philosophischen Traditionen einerseits und die ihnen widersprechende politisch-soziale Wirklichkeit andererseits miteinander zu konfrontieren. Die Zeitschrift entwickelte sich rasch zum Publikationsorgan für die gesamte kritische Intelligenz des Ostblocks; so veröffentlichten hier Leszek Kolakowski und Georg Lukäcs. Von Lukäcs waren seit Ende der 40er Jahre in der DDR fast alle Arbeiten, auch die vor 1933 er
Der vorliegende Aufsatz ist weitgehend identisch mit dem Kapitel „Ein besonderer deutscher Weg zum Sozialismus?" aus dem in diesen Tagen in der C. H. Beckschen Verlagsbuchhandlung München erscheinenden Buch der Verfasserin: „Der Revisionismus. Von Bernstein bis zum . Prager Frühling'", in diesem Buch werden die historischen und die gegenwärtig als „Revisionismus" bezeichneten Sozialismus-Konzepte analysiert, und es wird die Frage zu beantworten versucht, welche alternativen Kennzeichnungen anstelle des häufig nur noch in diffamierender Absicht gebrauchten Revisionismus-Begriffs verwendet werden können. Die Verfasserin versteht ihre Arbeit zugleich als einen versuch, über die Möglichkeiten zu orientieren, eine eigenständige demokratisch-sozialistische Position zu begründen.
Dem hier vorgelegten Text geht in der Buchver-öffentlichung unmittelbar voran die Darstellung der Diskussion über den besonderen deutschen Weg zum Sozialismus, wie sie 1945 bis 1948 in der sowjetischen Besatzungszone Deutschlands geführt worden Ist. Ernst Blochs Philosophie ist bereits in einem vorangehenden Kapitel im Zusammenhang mit der „Krise des Sozialismus“ nach 1914 und dem „Revisionismus von links" (Lenin) ausuhrlich behandelt worden. schienenen, in deutscher Übersetzung vorgelegt worden; Lukäcs beeinflußte deshalb die DDR-Intellektuellen zunächst viel stärker als Bloch.
Bloch lebt in den ersten Jahren nach der Übernahme des Lehrstuhls im Mai 1949 (von Hans-Georg Gadamer, der nach Westdeutschland gegangen war) an der Universität Leipzig relativ abgeschlossen, aber auch unangefochten in seinem Leipziger Schülerkreis.
Zwischen ihm, der auch jetzt nicht Mitglied der SED wurde, und dem DDR-Regime bestand eine Art Koexistenz: für das Regime war er ein repräsentativer Verbündeter, ein Prestige-Objekt, dem, obwohl man ihn nicht zu den Vertretern des Dialektischen Materialismus zählte, 1955, dem Jahr seines 70. Geburtstages, der Vaterländische Verdienstorden in Silber und der Nationalpreis verliehen wurden. Bloch selber sah sich trotz gelegentlicher Unmutsäußerungen gegen den Dogmatismus der offiziellen Lehre nicht im Konflikt mit dem Regime und der Regime-offiziellen 'Lehre. Er diente nun dem Sozialismus, nachdem er einen gleichfalls 1948 an ihn ergangenen Ruf an die Universität Frankfurt a. M. mit der Begründung abgelehnt hatte, er denke nicht daran, „dem Kapitalismus zu dienen". In einem Aufsatz aus dem Jahre 1951 „Parteilichkeit und Wissenschaft" drückt sich diese Entscheidung vermittelt aus: Die „bürgerliche Wissenschaft" mit ihrem Anspruch auf interessenfreie Objektivität ist eine Ideologie der Parteilichkeit; es fehlt ihr nur das Bewußtsein und die Reflektiertheit dieser Parteilichkeit Ihr gegenüber begründet Bloch die Parteilichkeit der marxistischen Wissenschaft als in Übereinstimmung mit der „objektiven Wahrheit": „Mögen die Toten ihre Toten begraben, die Forschung lebt. Das jetzt fällige Wissen ist eines ums beförderte Werden, die Fahne des Verstandes ist rot. Die wieder lebendig gewordene Parteilichkeit in der Wissenschaft, die konkret gewordene Aufklärung heißt Marxismus. Er macht kein Hehl aus seinem gesellschaftlichen Auftrag und seinem Willen, ihm zu genügen. So unterscheidet sich marxistische Parteilichkeit schon deshalb von aller bisherigen als einer unreflektierten, wenn auch gegebenenfalls noch so progressiven. Sie ist als erste sich ihrer bewußt und faßt sich vor allem als erste mit gutem Gewissen, ja mit dem besten, im gleichzeitig moralischen und wissenschaftlichen Sinn. (...)
Zum bewußt gewordenen Auftrag kommt also der endlich sachbezogene, trugfreie hinzu. Durchaus ist hier Objektivität gewährleistet; marxistische Richtung, objektive Wahrheit sind notwendig eins. Denn das Proletariat ist die erste Klasse, deren wohlverstandenes Interesse es selber ist, kein falsches Bewußtsein von sich, der Umwelt, der Welt insgesamt zu haben. ”
Bloch hat erst nach dem im Februar 1956 stattfindenden XX. Parteitag der KPdSU, im Zusammenhang mit dem Posener Aufstand im Juni 1956 und dem „Polnischen Oktober" im Jahre 1956 sowie dem ungarischen Aufstand im Oktober 1956 das volle Ausmaß der Distanz, ja des Widerspruchs zwischen seiner Philosophie und dem Dialektischen Materialismus wahrgenommen; erst danach hat er sich dann allerdings zu alttestamentarischer Schärfe seiner Kritik durchgerungen. Von Blochs Hauptwerk „Das Prinzip Hoffnung" erschien der erste Band 1954, der zweite 1955, der dritte dann 1959. Wie später zu Recht von den mit der Bloch-Überwindung befaßten SED-Pro-fessoren festgestellt wurde, war die Blochsche Philosophie unvereinbar mit der Philosophie des Dialektischen Materialismus, für die das Sowjetreich bereits das Reich der Freiheit, von dem Marx gesprochen hatte, bedeutete.
Für Bloch dagegen war die Weltgeschichte noch offen, unentschieden; es machte das Prinzip Hoffnung ja geradezu aus, daß das jeweils gegenwärtig Erreichte zugunsten einer in jedem Fall als besser „erträumten" Zukunft entwertet, das kommunistische Endziel relativiert wurde: „Wir haben keine Zuversicht, wir haben nur Hoffnung", sagt Bibch. Diese Hoffnung hat der Mensch, der in seinem Denken und Handeln nicht determiniert ist im Sinne eines Zwanges, Erfüllungsgehilfe der objektiven Gesetzmäßigkeit zu sein. Gewiß kann der „subjektive Faktor" nach Bloch nicht blind, abstrakt übersteigert, spontaneistisch gegen vorliegende Gesetzmäßigkeit handeln, aber er ist fähig, die Bedingung für eine Gesetzmäßigkeit herzustellen. Insofern steht bei Bloch der Mensch im Zentrum seiner Philosophie, wie oft festgestellt worden ist. Um zu verstehen, welche Welten Blochs Denken von der zeitgleichen offiziellen Manier, Klassiker-Zitate oder -Plagiate für schöpferische Philosophie auszugeben, trennen, genügen z. B. die Lektüre von zwei Seiten aus dem Aufsatz von Bloch aus dem Jahre 1954 „über Freiheit und objektive Gesetzlichkeit, im Prozeß gesehen" wo der Gedankengang von Tacitus über die Bibel, die Bauernkriege, Augustinus, Kopernikus, die Glorious Revolution von 1688, Aristoteles, Heraklit, Leibniz, Hegel und Goethe zu Marx führt.
Bloch wurde später — wie einst Sokrates — vorgeworfen, die Jugend verführt zu haben. Gerhard Zwerenz, einer seiner Schüler, bestätigt in seinem autobiographischen Bericht den ungeheuren Einfluß, den Bloch auf seine Studenten und auch auf andere Hörer, unter ihnen eine Zeitlang der Sekretär im ZK der SED für ideologische Fragen, Kurt Hager, ausgeübt hat. Wolfgang Harich mochte recht haben, wenn er gelegentlich zu Zwerenz bemerkte, „der Hoffnungsphilosoph sei in der Analyse nicht stark" aber Blochs Denken und der sprachliche Ausdruck dieses Denkens führte weit weg von dem herrschenden Vulgär-Marxismus und empiristischer Verarmung, führte „in das unbekannte Land jen-seits von Logik, und immer schon Gewußtem“
Fast schon Akte offenen Widerstandes und Anstiftung zur Revolution bildeten zwei Re-den Blochs im Jahre 1956. Sie kreisen um den Begriff der Freiheit und um die Erneuerung des Marxismus. Auf der Anfang März 1956 abgehaltenen Konferenz der Sektion Philosophie der Deutschen Akademie der Wissenschaften über „Das Problem der Freiheit im Lichte des wissenschaftlichen Sozialismus" fragt Bloch in seinem Referat „Freiheit, ihre Schichtung und ihr Verhältnis zur Wahrheit" nach der Bedeutung der sogenannten gesellschaftlichen Objektivität und konstatiert: sie ist das Verhältnis von Menschen zu Menschen und zur Natur, mithin ohne starken Prozentsatz subjektiven Faktors überhaupt nicht vorhanden. Entsprechend hat nach Bloch von Haus aus die Freiheit einen subjektiv-intensiven Charakter. Freiheit ist deshalb der Modus des menschlichen Verhaltens gegenüber objektiv-real Möglichem. Freiheit ist nur möglich, indem sie in der partiellen, noch ungeschlossenen Bedingtheit, in den noch währenden objektiv-realen Möglichkeiten der Welt ein ontologisches Korrelat hat. Ohne diese Bedingtheit gäbe es kein Vorhersehen der Folgen einer Freiheitsaktion, keine Freiheit mit Vernunft. Aber diese Bedingtheit ist erst eine partielle, also keine mit mechanischer Notwendigkeit zu Ende determinierte Seine Rede schließt Bloch mit folgenden Worten:
„Die Praxis der Wahrheit ist der Sozialismus der Freiheit, die Theorie der Freiheit ist der Marxismus der Wahrheit. Je breiter das endlich begriffen und erfahren wird, je unvermeidlicher die Decke über den Augen verschwindet, desto freundlicher könnte sich auch die immense Freundlichkeit des Marxismus durchsetzen; desto eher wird Tag."
Die zweite große Rede des Jahres 1956 „Hegel und die Gewalt des Systems" hält Bloch an der Humboldt-Universität zum 125. Todestag Hegels. Hier vertieft er seinen Angriff auf die — wie er sie nennt — Patrone des Vulgär-Materialismus und Vulgär-Marxismus, auf die „Murxisten“, wie Brecht sie genannt hat-te, die fürchten, daß Marx verkleinert würde, wenn Hegel groß bliebe. Bloch erinnert: „Ohne Hegel gäbe es keinen Marx, sowie es ohne Marx wiederum keinen Blick auf Hegel, kein Philosophieren vom Rang Hegels je ge-ben kann" er feiert Hegel: „Und so neigen wir uns tief vor Hegel, ohne den Kultur nicht gedacht werden kann.“ Er fordert eine „Erfrischungsepoche des Marxismus": „Dergestalt daß wieder Welt in ihrer Fülle und zentralen Tiefe abzubilden versucht wird, nicht aber ein Stilleben aus vier bis fünf Lesefrüchten oder eine Schulmeisterei aus Sekte und vorwissenschaftlichem Katechismus. Uns helfen keine roten Oberlehrer fern vom Le-ben, keine Papier-Ästhetik fern von Kunst, kein Philosophieren fern von Philosophie."
Bloch fordert die Befreiung „von der Not der schlechten, mindestens unzureichenden Einteilung unseres Stoffes in a) dialektischen, b) historischen Materialismus, wie bei einem Schulaufsatz" ll); er verlangt, daß die Schmalspur von „Histomat" und „Diamat" aufgegeben und Raum geschaffen wird für eine marxistische Anthropologie, Ethik und Ästhetik, „um von einer — nicht nur aus Negationen, Unkenntnissen und Weglassungen bestehenden — Religionsphilosophie (allein schon im Ernstnehmen Feuerbachs) zu schweigen.“
Ernst Bloch hielt seine Hegel-Rede am 14. November 1956 — mitten in den Tagen der Niederschlagung des ungarischen Aufstandes durch sowjetische Truppen; 15 Tage später, am 29. November 1956, wird Wolfgang Harich verhaftet.
Woligang Harich
Wolfgang Harich wurde 1923 in Königsberg als Sohn des Schriftstellers Walter Harich und dessen zweiter Frau Annelies, Tochter des Herausgebers der „Königsberger Allgemeinen Zeitung", Alexander Wyneken, geboren. Harichs Vater starb 1931; nach dem Abitur nahm Harich in Berlin das Studium der Philosophie auf. Es gelang ihm, sich bis 1943 dem Wehrdienst zu entziehen; 1943 dann doch noch eingezogen, konnte er dem Einsatz an der Front entgehen, bis er sich im Januar 1945 illegal von der Truppe entfernte. In den Kriegsjahren beteiligte er sich gemeinsam mit einer Gruppe von jungen Freunden und Bekannten (unter ihnen Rudolf Augstein) an Widerstandstätigkeiten. 1945 begann er zunächst als Mitarbeiter der von der französischen Besatzungsmacht lizensierten Berliner Abendzeitung „Der Kurier". 1946 wechselte er zur sowjetamtlichen „Täglichen Rundschau".
1948 erhielt er dann einen Lehrauftrag als Dozent, 1949 als Professor für Gesellschaftswissenschaften und Geschichte der Philosophie an der Humboldt-Universität Berlin, später wurde auch Aufbau-Verlages. Als er Cheflektor des 1950 im Zusammenhang mit den Säuberungen in der SED seine ebenfalls in der Partei politisch aktive Halbschwester aus der ersten Ehe seines Vaters, die Lyrikerin und Redakteurin an der (Ost-) „Berliner Zeitung“ Susanne Kerckhoff, sich das Leben nimmt, ändert sich an Harichs Einstellung zunächst nichts; erst nach dem 17. Juni 1953 beginnt er das Ulbricht-Regime zu kritisieren.
Harich war kein Schüler Ernst Blochs; als seinen Lehrmeister bezeichnete er Georg Lukäcs, und seine literatur-und philosophie-geschichtlichen Studien sind stark von Lukäcs geprägt. Mit Lukäcs teilte er die Auffassung, daß es scheinbar paradoxerweise den revolutionär Gesinnten aufgegeben sei, der Zerfahrenheit der bürgerlichen Geisteswissenschaft „einen neuen Sinn für Kontinuität, für die Bewahrung und Fortentwicklung des Wertvollen e*ntgegenzusetzen Obwohl mit Bloch befreundet, kritisiert er ihn zum Teil sehr scharf als analytisch unklar und erkenntnistheoretisch nicht nur von Hegel, sondern auch von Heidegger abhängig; aber mit Bloch eint ihn die Kritik an der mechanistischen Vulgär-Dialektik und der Kampf gegen die Unkenntnis der Marx vorangehenden idealistischen Philosophie und der Momente ihrer Durchbrechung: bei Kant in der Grenzziehung zwischen Glauben und Wissen, beim alten Lessing in dessen pantheistischem Bekenntnis, bei Fichte, Schelling und selbst Hegel und dann in Feuerbachs „realem Humanismus”. Wer von den Differenzierungen im Lager der bürgerlichen Philosophie keine Notiz nehme, so heißt es in dem Aufsatz „über Ludwig Feuerbach“, „... fällt unweigerlich einem tristen Sektierertum anheim, macht das marxistisch anzutretende Erbe ärmer, als es in Wirklichkeit ist."
Harich bringt in dieses Erbe Kants Lösung des Problems der Willensfreiheit ein: der Mensch ist bei Kant nicht bloßes Naturwesen, abhängig von seinen Trieben und Instinkten, sondern frei in dem Sinne, „daß sein Wollen auch durch nicht-natürliche, nicht unter mechanische Kausalität subsumierbare Triebfedern’ — eben durch „das Rationelle" — bestimmt sein könne Im Anschluß an diese Interpretation Kants skizziert Harich die Grundzüge einer marxistischen Anthropologie, wobei er ganz offensichtlich Gedanken aus der Kulturanthropologie Arnold Gehlens übernimmt. Bei der Beantwortung der Frage, wie denn diese spezifisch menschliche, qualitativ höhere Antriebsstruktur zu erklären sei, greift Harich wieder die Marxsche Kategorie der Arbeit auf:
„Zu der neuen Qualität des Menschen gehört eine qualitativ neue, vom tierischen Instinkt-leben unterschiedene, spezifisch menschliche Antriebsstruktur, von der Kant jedenfalls soviel gesehen hat, daß sie nicht rein biologisch determiniert ist. Die Aktionen des Menschen sind also nicht triebhaft festgelegt, und das heißt: sie sind frei auch gerade im Sinne der Willensfreiheit. Diese Willensfreiheit bedeutet freilich nicht Undeterminiertheit, sondern sie setzt, im Gegenteil, einen unabsehbaren Reichtum möglicher Motive voraus, die ausnahmslos determinieren und ihrerseits determiniert sind. (...) Wenn wir nun fragen, wie diese spezifisch menschliche Antriebsstruktur zu erklären ist, so lautet die Antwort: sie ist nicht naturgegeben, sondern ist im historischen Prozeß der Menschwerdung und der Entwicklung der menschlichen Gesellschaft tätig erworben worden — durch die Arbeit.“
Durch die Arbeit gelangt der Mensch zur Beherrschung der von ihm erkannten Naturgesetze im Sinne der Freiheit aus Einsicht in die Notwendigkeit. Durch die Arbeit verändert aber der Mensch nicht bloß die äußere, sich ihm entgegenstellende Natur, sondern auch sich seiber, seine eigene Natur und schafft sich jenen Antriebsüberschuß, der Willens-freiheit — frei sein vom Zwang und Druck der Naturtriebe — bedeutet:
„Mit der Arbeit hat der Mensch sein spezifisch menschliches Erkenntnisvermögen und zugleich auch — im selben Zuge — die spezifisch menschliche Struktur seines Antriebslebens, die variable Mannigfaltigkeit seiner möglichen inneren Motive geschaffen. Arbeit ist nämlich immer auch ein Hintanstellen, ein Vertagen unmittelbarer Bedürfnisse und mithin ein ständiges überwinden der tierischen Trieb-und Instinktgebundenheit des Verhaltens."
Zwar hat Harich nicht (und Bloch nur gelegentlich) die Konfrontation des Dialektischen Materialismus mit den modernen Naturwissenschaften aufgenommen; dies begann erst nach 1956 Robert Havemann; insofern hat sich Harich auf eine Teilkritik beschränkt. Aber Harich und seine Freunde waren in ihrer Kritik insofern radikal und absolut, als sie philosophisches Denken und konkretes politisches Handeln als eine notwendige Einheit begriffen. Mag Harich bei dem Versuch, die Forderungen der Opposition politisch durchzusetzen, dilettantisch oder romantisch oder eingebildet in sein eigenes Vermögen vorgegangen sein (wie ihm immer wieder vorgeworfen wird — wohl mit einigem Recht): die Situation war so ungünstig nicht nach dem XX. Parteitag der KPdSU. Da gab es im Früh-sommer den Aufstand in Posen, da gab es Anzeichen dafür, daß auch in der Arbeiterschaft der DDR die Bereitschaft zu politischer Opposition wuchs, daß die Ulbricht-Gruppe irritiert war und daß in den Parteiorganisationen die Stalinisten laufend beträchtliche Niederlagen erlitten; die Erinnerungen und Orientierungen an die Zeiten des vorstalinistischen Kommunismus nahmen offenbar zu.
In dieser Situation formulierten Harich und seine Freunde, unter ihnen der Altkommunist und Spanienkämpfer, nun Leiter des Aufbau-Verlages, Walter Janka, und der Chefredakteur des „Sonntag“, Gustav Just, die „politische Plattform über den besonderen deutschen Weg zum Sozialismus". Die Plattform beginnt mit der Frage: „Wer sind wir?" Die Antwort lautet: „Wir sind eine Gruppe von SED-Funktionären", die vom XX. Parteitag der KPdSU gelernt haben und aus Kontakten mit ausländischen Genossen, vor allem mit Georg Lukäcs; auch der im gleichen Jahr verstorbene Bertolt Brecht wird als Sympathisant genannt. Bekräftigt wird, daß man keinen Bruch mit der SED wolle: „Wir wollen nicht mit dem Marxismus-Leninismus brechen; aber wir wollen ihn vom Stalinismus und vom Dogmatismus befreien und auf seine humanistischen und undogmatischen Gedankengänge zurückführen". Und dies alles werde man vollkommen legal diskutieren und verwirklichen, solange die stalinistische SED-Führung dies nicht verhindere; in diesem Falle gelte dann das Vorbild Karl Liebknechts „der 1914 und 1918 die Parteidisziplin brach, um die Partei zu retten".
Die theoretisch-ideologische Konzeption der Plattform ist gekennzeichnet durch die Ansicht, „daß der Kapitalismus in Westeuropa seinem Ende zugeht und historisch überlebt ist. Wir sind der Ansicht, daß der Sieg des Sozialismus in Westeuropa unvermeidlich ist. Wir glauben aber nicht, daß der Sieg des Sozialismus in Westeuropa durch eine Revolution herbeigeführt werden muß. Wir glauben, daß der westeuropäische Sozialismus den Kapitalismus in friedlicher Weise ablösen wird." In Westdeutschland könne der Sozialismus nur durch die SPD verwirklicht werden, die im Gegensatz zu den völlig einflußlos gewordenen Kommunisten die Einheit der Arbeiterklasse in einer Partei verwirklicht habe. Ideologisch und auch politisch sei zwar viel gegen die SPD einzuwenden, aber im zentralen Punkt der Wiedervereinigung stimme man mit ihr überein. In einem wiedervereinigten Deutschland werde dann der Sozialismus durch eine neue sozialistische Partei der deutschen Arbeiterklasse, hervorgegangen aus der Verschmelzung der SPD mit einer reformierten, entstalinisierten SED, getragen werden. Der „sowjetische Sozialismus" in seiner gegenwärtigen Form wird als nicht mehr vorbildlich angesehen, denn er ist „in seiner heutigen Form zu einem Hemmnis für eine weitere sozialistische Entwicklung der UdSSR geworden". Vielmehr gilt Polen als beispielhaft: Der Widerstand gegen die Vorherrschaft der UdSSR ist „Ausdruck des revolutionären Klassenkampfes der Volksmassen gegenüber dem stalinistischen Partei-und Re-gierungsapparat und seinen Methoden" Das vorgeschlagene Reformprogramm für die SED steht unter der Devise:
„Wir wollen die Partei von innen reformieren.Wir wollen auf den Positionen des Marxismus-Leninismus bleiben. Wir wollen aber weg vom Stalinismus. Daraus ergibt sich für die Theorie des Marxismus-Leninismus: Sie muß ergänzt und erweitert werden durch die Erkenntnisse Trotzkis und vor allen Dingen durch die Bucharins; sie muß ergänzt und erweitert werden durch die Erkenntnisse Rosa Luxemburgs und teilweise auch durch die Karl Kautskys. Ferner müssen wir das Wertvolle aus den Erkenntnissen Fritz Sternbergs und anderer sozialdemokratischer Theoretiker in die Theorie des Marxismus-Leninismus übernehmen. Wir müssen die jugoslawischen Erfahrungen und Erkenntnisse in die Theorie des Marxismus-Leninismus mit aufnehmen und das Neue aus den theoretischen Diskussionen in den Ländern Polen und China, wobei besonders der VIII. Parteitag der chinesischen KP von besonderer Bedeutung ist. Organisatorisch ergeben sich für unsere Partei folgende Maßnahmen: Die Herrschaft des Parteiapparates über die Mitglieder muß radikal gebrochen werden. Der demokratische Zentralismus muß nach den Prinzipien von Marx, Engels und Lenin in der Praxis unserer Partei wiederhergestellt werden. Die Stalinisten müssen aus der Partei ausgeschlossen werden."
Für die DDR wird folgendes Reformprogramm vorgesehen: Erhöhung der Konsumgüterproduktion; Gewinnbeteiligung der Arbeiter in den sozialisierten Betrieben; Einführung von Arbeiterräten; Förderung der mittelständischen privaten Industrie; Beendigung der Zwangs-kollektivierung und Entwicklung eines „gesunden Klein-und Mittelbauerntums"; Wiederherstellung der völligen Geistesfreiheit; Schaffung eines parlamentarischen Regierungssystems, an dessen Spitze die Vertreter der reformierten SED stehen; Entwicklung einer Außenpolitik der völligen Unabhängigkeit und Gleichberechtigung aller Mitglieder des sozialistischen Lagers. Die Schlußsätze lauten:
„Wenn uns jedoch die Reformierung der SED auf der Grundlage der vorliegenden Plattform von innen her gelingt, dann wird es keinen zweiten Volksaufstand in der DDR geben. Das verpflichtet uns, alle unsere Kräfte einzuset-* zen, um die Partei von den Stalinisten zu säubern und durch eine veränderte Politik das Vertrauen der Arbeiterklasse und des gesamten Volkes wiederzugewinnen."
Harichs Position (und die seiner Freunde) ist unzweifelhaft eine immanent reformkommunistische: wiederaufgenommen wird die These vom besonderen deutschen Weg zum Sozialismus unter direkter Bezugnahme auf Verwirklichungen oder doch Verwirklichungsversuche des je besonderen nationalen Weges zum Sozialismus in anderen kommunistischen Ländern; die Mittel zur Durchsetzung der vorgesehenen Reformen sind die traditionell-autoritären und ganz und gar nicht von der demokratisch-sozialistischen Qualität, wie sie später in der CSSR, ja zeitgleich in Ansätzen in Polen und Ungarn anzutreffen ist.
Es ist darauf hingewiesen worden, daß ein pragmatisch-reformistischer Zug in der Plattform unverkennbar sei, so z. B. wenn der Gedanke an ein Zweckbündnis mit der SPD zur Schaffung der deutschen Einheit aufgenommen wird oder theoretische Bezugspunkte unterschiedlicher Herkunft gewählt werden Abgesehen davon, daß besser von einem taktisch-pragmatischen Zug zu sprechen wäre und darauf hinzuweisen ist, daß Ulbricht in seiner Deutschland-Politik in den Jahren 1958— 1961 nicht unähnlich dem verfahren ist, was die Plattform vorschlägt, auch die theoretischen Bezugspunkte schließen sich keineswegs aus. Rosa Luxemburg und Bucharin waren zwar Kontrahenten bei der theoretischen Erklärung des Imperialismus, nicht aber in ihren Auffassungen, wie der Übergang zum Sozialismus . sich vollziehen sollte, nämlich nicht terroristisch und nicht gegen den Willen derjenigen, die die Transformation durchführen sollten; und Fritz Sternberg, der in der Plattform etwas schief als sozialdemokratischer Theoretiker bezeichnet wird, wird wohl vor allem deshalb erwähnt, weil er mit seinem Buch „Marx und die Gegenwart" (1955) zum Analytiker der Sowjetgesellschaft als einer nicht-sozialistischen geworden war. Entscheidend für die Bewertung und Einordnung der Position Harichs ist jedoch das, was Rudolf Augstein zeitgleich bemerkte: „Harich wollte den Sieg des Sozialismus für ganz Deutschland sicherstellen, indem er dem Regime der Sowjetzone die Rolle eines Wegbereiters der deutschen Einheit zuweisen wollte.
Pankow sollte sich an die Spitze des geschichtlichen Fortschritts setzen, das war Harichs marxistisch korrekte Idee. Angesichts der Person Walter Ulbrichts mag das eine reichlich verstiegene Idee sein, eine Idee mit wenig Anziehungskraft in Ost und West — aber war es Verrat? Nenn'es Verrat! Im Bürgerkrieg gibt es nur mehr Verrat."
Harich, der im Mai/Juni 1956 nach Polen gereist war, suchte Kontakte zu anderen Regime-Gegnern, die Inzwischen politisch ausgeschaltet worden waren: zu Paul Merker und Franz Dahlem; er führte Ende Oktober 1956 Gespräche mit dem sowjetischen Botschafter Puschkin und Anfang November mit Ulbricht;
er nahm Verbindungen zu SPD-Kreisen in West-Berlin auf; er reiste Ende November über Polen nach Hamburg, um mit den Herausgebern bzw. Chefredakteuren von „Constanze", „Der Spiegel“ und „Die andere Zeitung” die Propagierung der Ziele der Gruppe von Westdeutschland aus zu besprechen. Nach seiner Rückkehr in die DDR wurde er am 29. November 1956 verhaftet, seine Freunde eben-falls. Drei Monate nach seiner Verhaftung, Anfang März 1957, findet der Prozeß gegen Harich und einige seiner Freunde statt (ein zweiter Prozeß folgt im Juli 1957); alle Angeklagten werden zu hohen Zuchthausstrafen verurteilt, Harich selbst zu zehn Jahren.
Ernst Bloch entging der Verhaftung nur knapp; er wurde jedoch Ende März 1957 zwangsweise emeritiert, durfte weder lehren noch publizieren und auch sein Institut nicht mehr betreten. 1958 muß Bloch im „Neuen Deutschland" deklarieren, daß er auf dem Bo-den der DDR stehe; zu einer Distanzierung von seinen Schülern kann er nicht bewegt werden. Einige Schüler Blochs wurden ange-•* klagt und verurteilt, so Günter Zehm, der den Entwurf einer marxistischen Anthropologie vorgelegt hatte, zu vier Jahren Zuchthaus;
andere fliehen, sofort wie Richard Lorenz, oder später nach manifester persönlicher Bedrohung wie Gerhard Zwerenz.
Die . Abrechnung’ mit Bloch und Harich Im Januar 1957 — also noch vor Beginn des Prozesses gegen Harich — tagte das 30. Plenum des ZK der SED. Ulbrichts Rede setzte die Zeichen für den künftigen Kurs der Parteiführung in philosophischen und ideologischen Fragen. Als „Revisionismus" wurden alle Reformbestrebungen deklariert, die nicht in den Führungsgremien der Partei beschlossen wurden. Die Erklärung für das Auftreten des Revisionismus in der SED wurde in der Behauptung gefunden, „daß einige Genossen wenig mit dem Aufbau des Sozialismus verbunden sind und die Reste der bürgerlichen Ideologie noch nicht überwunden haben. Sie erschrecken vor den Schwierigkeiten des Kampfes um die Stärkung der Arbeiter-und Bauern-Macht, weil sie die Probleme des Übergangs zum Sozialismus und die Widersprüche, die es in dieser Zeit gibt, noch nicht verstehen.“ Die Parteiorganisationen werden deshalb aufgerufen, d. h. angewiesen, „sich mehr mit den Lehren von Marx und Engels und ihrem Kampf gegen den Revisionismus (zu) beschäftigen und auch die Arbeiten von Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg ge-gen den Revisionismus aus(zu) werten"
Die Stärke der Partei und des Regimes wurde darin bestätigt gesehen, „daß die westlichen Agenturen niemand anders als einen Wolfgang Harich und eine kleine Gruppe für ihre konterrevolutionären Zwecke gefunden ha-ben"
Schließlich wurde allen zukünftigen möglichen oder noch verborgen gebliebenen Abweichungen mit der Wachsamkeit der Staatsorgane gedroht.
Mit dieser Rede wurde die Konsolidierungsphase des Ulbricht-Regimes eingeleitet, die erst in den ersten Monaten des Jahres 1958 abgeschlossen wurde. Der innerparteiliche ge-gen Ulbricht eingestellte Führungskern wurde aus Partei und staatlichen Ämtern ausge-schlossen: Karl Schirdewan, Fred Oelßner, Ernst Wollweber, Fritz Selbmann; anderen gelang durch öffentliche Selbstkritik der Anschluß an den neuen Kurs: Kurt Hager, Paul Wandel, Johannes R. Becher, Alexander Abusch, Willi Bredel, übrigens wurde im Jahre 1957 auch stillschweigend der sowjetische Botschafter Puschkin abgelöst. Bereits im Dezember 1956 eröffnete Rugard Otto Gropp, ein früherer Schüler von Bloch, mit einem Aufsatz im „Neuen Deutschland" die Anti-Bloch-Kampagne. Im Jahre 1957 erschien dann ein Band mit Aufsätzen über „Ernst Blochs Revision des Marxismus". Außerdem wurde von Hermann Ley und Kurt Hager in der theoretischen Zeitschrift der SED „Einheit" nochmals Stellung genommen. Blochs Philosophie wurde in die Nähe des Existentialismus Heideggers und Jaspers'gerückt. Es wurde ihm vorgeworfen, daß er die marxistische Dialektik entstelle und die marxistische Widerspiegelungstheorie ablehne. Seine zwiespältige Haltung zwischen Kapitalismus und proletarischem Sozialismus habe Bloch „in die Richtung des Sozialdemokratismus gedrängt". Wie von Ulbricht vorgegeben, wird Blochs Anziehungskraft auf Studenten und Intellektuelle überhaupt damit erklärt, daß es sich dabei um Leute handle, „die keine genügenden marxistischen Kenntnisse und politische Erfahrungen besitzen und sich der gesellschaftlichen Praxis entfremdet haben"
Blochs Philosophie werden dann die Axiome des Marxismus-Leninismus entgegengestellt und vor allem die Gültigkeit der Widerspiegelungstheorie bestätigt. Die Frage nach der Verlebendigung des Erbes der marxistischen Philosophie stellt sich dabei nicht, im Gegenteil: „Selbst ein kleiner Schatz Kenntnisse des Marxismus-Leninismus hilft mehr im Kampf gegen den antihumanistischen Imperialismus als Wortgepränge, das seinen Inhalt aus längst überholter Philosophie bezieht." Damit war auch umgekehrt klargestellt, daß „jedes Schwanken im Klassenkampf... an der theoretischen Front das Eindringen noch vorhandener, aber bereits historisch überholter Elemente der bürgerlichen Ideologie zur Folge" hat Eben dieser Vorwurf wurde Bloch gemacht, deshalb war er ein Revisionist, denn: „Revisionismus bedeutet das Eindringen bürgerlicher Ideologie in den Marxismus. Revisionisten sind keine Marxisten. Sie sind es selbst dann nicht, wenn sie Bruchstücke marxistischer Theorie aus dem Zusammenhang gerissen vortragen. Die Philosophie Blochs nun nährt sich aus vielen Quellen, die sich vorwiegend auf idealistischem Gebiet fin-den." So ergibt sich als „ein typisches philosophisches Charakteristikum des Revisionismus eine Übersteigerung des subjektiven Faktors gegenüber dem objektiven, die immer zum schließlichen Primat des Subjektiven gegenüber dem Objektiven führen muß"
Aber selbst den schärfsten Gegnern Blochs fiel es schwer, diesen einfach als kruden „Revisionisten" zu kennzeichnen. Kurt Hager, der Verantwortliche im ZK der SED für ideologische Fragen, versuchte denn auch, eine gewisse Rangfolge für die Einordnung in den Revisionismus einzuhalten. Als qualitativ höchste Stufe galt der Revisionismus Max Adlers und ihm verwandt der Blochs. Es fol-gen darunterstehend die alten Revisionisten der II. Internationale wie Bernstein und seine Anhänger; sie haben immerhin mit Adler und Bloch gemeinsam, daß sie noch eine Ahnung davon hatten, was der Marxismus ist und was Marx geschrieben hat: „Sie gaben sich zumindestens noch den Anschein, Marxisten bleiben zu wollen." Von ihnen zu unterscheiden sind die zeitgenössischen „sozialdemokratischen Opportunisten", die heutigen „Rechtssozialisten", die Vertreter des Sozialdemokratismus, die als logische Fortführer des Revisionismus den Marxismus nicht mehr ergänzen wollen, sondern ihn bekämpfen 29 Nachdem die intellektuelle Säuberungsarbeit geleistet war, erneuerte wiederum Ulbricht in einer Rede im April 1958 die Bedingung für die Mitwirkung der Intellektuellen beim «Aufbau des Sozialismus": die Anerkennung der materialistischen Dialektik als der Wissenschaft von den allgemeinen Gesetzen der Entwicklung der Natur, der Gesellschaft und unseres Denkens
II. Bloch und Harich — Zwanzig Jahre danach
Ernst Blochs Hoffnung auf dem krummen Weg der Revolution Emst Bloch entschließt sich im August 1961, kurz nach dem Mauerbau, von einer Reise nach Bayreuth zu Wieland Wagner nicht mehr in die DDR zurückzukehren. Mit 76 Jahren findet er in Tübingen, zuerst als Gastprofessor, bald darauf als ordentlicher Professor, einen neuen Lebens-und Wirkungsraum.
Bloch hatte sich in der DDR seit 1957 mit der Alternativ-Frage herumgeschlagen: „Hat sich der Marxismus oder vieles oder das meiste oder einiges — das muß immer untersucht werden — im Marxismus bis zur Kenntlichkeit oder nur bis zur Unkenntlichkeit verändert?"
Damit war gemeint: Hat der Kommunismus in der Sowjetunion und in den osteuropäischen Ländern nur den wahren Kern des Marxismus bis zur Unkenntlichkeit verborgen oder war das, was er geworden ist, von Anfang an in ihm enthalten: ist er also endlich historisch kenntlich geworden? Bloch war nun bereit, sich und denen, die wie er optierten, einzuräumen: „Und es liegt auf der Hand, daß diejenigen, die jetzt über die Mauer springen von Ost-nach West-Berlin tatsächlich einen Sprung aus dem Reich der Notwendigkeit in das Reich der Freiheit vollziehen." Diese Aussage darf nicht so verstanden werden, als ob Bloch nun dem Kapitalismus zugestehen wollte, er wäre das »Reich der Freiheit". Erst wo der „wahre Sozialismus” ist, wird das „Reich der Freiheit“ sein:
„Keine Demokratie ohne Sozialismus — aber auch kein Sozialismus ohne Demokratie. Was bedeutet, der Sozialismus hat noch nicht einmal angefangen. Man kann also in diesem strengeren Sinne gar nicht enttäuscht werden, obwohl wir uns nicht drücken wollen. Aber es ließe sich sagen: Hat noch gar nicht angefangenl Wir haben einen sozialistisch sich gebenden Staatskapitalismus in der Sowjetunion."
Bloch fand sich allerdings irritiert, daß es im Westen, besonders in der Bundesrepublik Deutschland, wo der krumme Weg der Revolution nun weitergeführt werden mußte, keinen „soziologischen Ort der Revolution", keine „unzufriedene Klasse“ gab. So beklagte er noch 1975 die „rätselhafte Stumpfheit und Ahnungslosigkeit im Proletariat", nachdem der Ersatz für die Proleten, „die Jugend", auf die Bloch 1968 sogleich gesetzt hatte die Hoffnungen auf ein exemplarisches Bewußtsein nicht erfüllt hatte. Skeptisch und verständnislos gegenüber der „gegenwärtigen Sozialdemokratie” scheinen inzwischen seine Hoffnungen auf eine Wiederbelebung des sozialistischen Gedankens wieder nach Osten gerichtet, auf die Zeit, „wenn das Krankheitsbild des Sozialismus in vielen Gegenden, Teilen und Amtsräumen des Ostens verschwindet" Denn Blochs Überzeugung ist nicht erschüttert, „daß ein wahrer Sozialismus, trotz russischer und benachbarter Entartungen, in der Zukunft möglich ist... In diesem Sinne steht meine Philosophie unter dem revolutionären Stern".
Daß es eine Kontinuität hoffnungsvollen humanen revolutionären Denkens gibt — wie immer man das Weglassen der Realität des gegenwärtigen Augenblicks in diesem Den-ken auch bewerten mag —, muß gerade angesichts des Weges einiger Mitstreiter Blochs im Jahre 1956 unterstrichen werden. Günter Zehm ging nach der Entlassung aus dem Zuchthaus in die Bundesrepublik, wurde Redakteur bei der „Welt“ und gehört seither zu den Protagonisten des neuen Konservatismus. Gerhard Zwerenz wiederum fühlt sich heute — mit seinen „so wenig kapitalismuskonformen Gedanken im deutschen Westen nie wirklich heimisch geworden" — als heimatloser Bürger der DDR in der Emigration: „Wenn es für mich je eine Heimat gegeben hat, so war es die DDR“, schrieb er 1974 in seinem autobiographischen Bericht Nach seinem Besuch in der DDR 1976 variierte er diese Aussage: „Ich war in meiner Heimat, aber ich bin dort nicht mehr daheim." Noch ein anderer ging damals 1957 aus der DDR weg: Alfred Kantorowicz, der die letzte Illusion verloren hatte, „daß aus solchem Abschaum eine neuere, bessere Welt geboren werden könnte" Auch er fand die neuere, bessere Welt im Westen nicht.
Wolfgang Harich . Wieder ganz dabei"?
Wolfgang Harich wurde im Herbst 1964 aus dem Zuchthaus Bautzen entlassen. Er lebt seither in Ost-Berlin und ist Mitarbeiter des Akademie-Verlages der DDR sowie Mitherausgeber der Feuerbach-Gesamtausgabe. Literarhistorisch hat Harich vor allem über Jean Paul gearbeitet Seine inzwischen erschienenen politischen Schriften geben viele Fragen auf: Ist Harich als „einer, der lange nicht dabei war“ (wie er sich einmal selbst äußerte), zurückgekehrt und nun wieder ganz dabei? Ist er das geblieben, was er immer war? Aber was war er? Ein „aufgeklärter Dogmatiker“, ein autoritär-elitärer Intellektueller mit viel Sinn für taktische Züge und einem guten Schuß Opportunitätsdenken? Hat er sich also vielleicht nur angepaßt oder neu eingestellt? Jeder Versuch einer Antwort wäre Spekulation. Es ist daher besser, man hält sich an das, was Harich inzwischen an Überlegungen zu einer Strategie des Übergangs vom Kapitalismus zum Sozialismus beigetragen hat.
Wie der konservative Kulturanthropologe Arnold Gehlen hält Harich den Menschen für ein Mängelwesen, das zu seiner Existenzbewältigung stützende, haltende und ausgleichende Institutionen benötigt. Die Mängel sind zwar Natur des Menschen oder besser: Merkmale des Abstrakt-Genus „der Mensch", aber die Institutionen sind, so wendet Harich gegen Gehlen ein, jeweils allenfalls historisch-kontingent notwendig, d. h. an bestimmte historisch-transitorische Verhältnisse gebunden, also als Teile des Überbaus der Produktionsweise aufhebbar. Den Marxisten kommt es deshalb nicht darauf an, irgendwelche Institutionen zu verunsichern, wie zu tun es Harich den 1968er Anarchisten vorwirft, „sondern darauf, daß diese eine, ausschlaggebende, alle übrigen Faktoren determinierende Struktur des Systems vernichtet wird" d. h. es kommt auf die Vernichtung der ökonomischen Basis der kapitalistischen Gesellschaftsformation an. Angesichts des Entwicklungsstandes des Kapitalimus als eines staatsmonopolistischen ist diese Aufgabe nur unter einer Bedingung lösbar: die Revolutionäre müssen sich auf den Sturz einer ganz bestimmten Institution konzentrieren, auf den Sturz des Klassenstaates der Bourgeoisie (wie Harich unter Bezug auf Lenins „Staat und Revolution“ deduziert). Revolutionäre Gewalt ist also unerläßlich, und da es nur den Weg zum Sozialismus über den revolutionären „parteimäßig organisierten Kampf des Proletariats um die Eroberung der politischen Macht" gibt, müssen die westeuropäischen Kommunisten davon überzeugt werden, daß ihre Konzeption eines friedlichen parlamentarischen Weges zum Sozialismus einer Überprüfung bedarf denn schon einmal hat die KPF im Mai 1968 versagt. Voraussetzung der Transformation ist also nach Harich die Schaffung des proletarischen Staates durch die proletarische Revolution. Mit den Mitteln der rücksichtslosen Diktatur wird dann die Transformation durchgeführt: Es gibt kein anderes Mittel der Vernichtung der Produktionsverhältnisse und ihrer ökono-mischen Basis „als staatlicher Zwang, ausgeübt von der zur politischen Macht gelangten Arbeiterklasse" Dabei kann es aus strategisch-taktischen Gründen durchaus notwendig sein, Prioritäten in der Vernichtung der Institutionen der bürgerlichen Gesellschaft zu setzen, d. h. gegebenenfalls ist die eine oder andere bürgerliche Institution bis tief in den Sozialismus hinein „stillschweigend“ zu respektieren. Der Umwälzungsprozeß wird also ein Prozeß der äußersten und anhaltenden Anwendung staatlicher Gewalt sein; der Staat in abstracto kann erst im Kommunismus verschwinden: Herrschaftslosigkeit allerdings bleibt das Endziel des Marxismus.
In Harichs letztem Buch „Kommunismus ohne Wachstum?" wird dieses Endziel jedoch aufgegeben. Die ökologische Krise in Permanenz läßt Harich das Projekt eines „Kommunismus der Rationierung“ entwerfen, der Nullwachstum erlaubt, die Marktbeziehungen ausschaltet, in dem Gebrauchswerte aufhören, Waren zu sein, der das Geld abschafft, das Leistungsprinzip obsolet werden läßt. Dieser Kommunismus wird nicht die Überflußgesellschaft sein, wie sie sich Marx vorgestellt hat; und er wird auch nie ohne staatliche Autorität und kodifiziertes Recht auskommen: „Jeder Gedanke an ein künftiges Absterben des Staates ist daher illusorisch." Harich kehrt damit zu der vorindustriellen, verteilungsegalitären, jakobinerhaft-diktatorischen Traditionslinie des vor-marxistischen Kommunismus zurück. Er fordert — seine eindimensionale Revolutionsstrategie modifizierend — „die Linke" in den kapitalistischen Ländern auf, „sei es auf friedlichem Wege, sei es durch gewaltsamen Umsturz" die Macht im Staate zu erringen und „dann schleunigst weg mit diesem System und her mit der wahren, der ursprünglichen Demokratie, die in Europa als erste die Jakobiner... verwirklicht haben und die Babeuf mit seiner . Verschwörung der Gleichen'wiederherstellen wollte"
Ziel und Strategie kennen wir nun. Und die Taktik? Zur Bundestagswahl im Oktober 1976 rief Harich seinen „westdeutschen Freunden, mit Einschluß der Sozialdemokraten unter ihnen“ zu: „Wählt DKP! Nur kommunistischer Stimmenzuwachs kann das politische Kräfteverhältnis in der Bundesrepublik, unabhängig davon, wer regieren wird, zum Besseren verschieben. Daß viele Linke an der DKP viel auszusetzen haben, tut dabei nichts zur Sache. Mir geht die ökologische Orientierung dieser Partei, trotz mancher Verdienste in Bürgerinitiativen, nicht weit genug. Ich wünschte sie mir radikal wachstumskritisch. Derjenige Bundesbürger, den ich am liebsten ihr beitreten sähe, heißt Herbert Gruhl..."
III. Der Fall Robert Havemann
Kein „Fall Havemann" 1956 1956 gab es keinen „Fall Havemann", obwohl Robert Havemann sich an der Kritik des herrschenden Dogmatismus in einer sehr deutlichen Weise beteiligt hatte. Nicht nur das: es hatte 1956 zwischen ihm und Harich eine Auseinandersetzung gegeben, aus der zu entnehmen war, daß Havemann mit seiner Dogmatismus-Kritik in einigen Punkten weiter ging als Harich. Dieser nahm im Vergleich zu Havemann eher eine traditionell-autoritative Position ein: alle Einzelwissenschaften hatten sich der Philosophie als der Wissenschaft »über alles" unterzuordnen. Es handelte sich nur dem Scheine nach um einen „Streit der Fakultäten"; tatsächlich beharrte — insofern durchaus dogmatisch — Harich auf der Funktion der Philosophie, und das hieß: des Histo-rischen und Dialektischen Materialismus als der alles Denken und Handeln anleitenden Metatheorie.
Havemann stellte demgegenüber fest, daß die Philosophie noch niemals die ursprüngliche Quelle neuer Erkenntnisse gewesen sei. Er verwies darauf, daß die Naturwissenschaften seit Engels'Begründung der materialistischen Dialektik zu Ergebnissen gelangt wäre, die die alte Dialektik „zwar nicht über den Haufen werfen, aber doch in ganz neues Licht set-zen". Er warf den Philosophen vor, daß sie nicht bereit wären, dies zur Kenntnis zu neh-men, und fragte, „weil sie angeblich im Besitz ewiger Wahrheiten" sind „Wir brauchen die Philosophie. Wir brauchen sie in allen Wissenschaften, im politischen Kampf, im Leben überhaupt, in der Kunst — überall. Aber der Dogmatismus der Philosophen hat bisher diese Lebenserweckung unserer Philosophie auf vielen wichtigen Gebieten aufs ärgste behindert. Er hat unsere Philosophie zu einem System allgemeinster Sätze über die allgemeinste Struktur der Welt zu machen versucht, zu einer Hauptverwaltung , Ewige Wahrheiten 1 (HEW).“ 49)
Allerdings blieb auch Havemann mit seiner Kritik am Dogmatismus immanent, weil er nur die Formen der Aneignung und der Anwendung des Dialektischen Materialismus kritisierte, nicht aber dessen prinzipielle wissenschaftliche Gültigkeit aufzuheben gedachte. Wenn es 1956 nicht einen „Fall Havemann" gab, obwohl Havemann bereits alle Momente der Kritik thematisiert hatte, die dann 1964 in einer innenpolitisch vergleichsweise viel weniger brisanten Situation zu seinem Konflikt mit der SED führten, so deshalb — dies läßt sich jedenfalls vermuten — weil die Partei Havemanns internationales Ansehen für die damals beginnende Anti-Atomtod-Kampagne brauchte und weil er nicht zu einem „kleinen Agenten des Imperialismus" gestempelt werden konnte.
Robert Havemann, 1910 in München geboren, war seit 1932 Mitglied der KPD und gehörte der Widerstandsgruppe „Neu beginnen“ an. Er promovierte 1935 im Fach Physikalische Chemie und habilitierte, sich 1943. Seine Widerstandstätigkeit wird im gleichen Jahr entdeckt, er wird zum Tode verurteilt; die Vollstreckung des Urteils wird bis Kriegsende immer wieder aufgeschoben, weil Freunde von Havemann erreichen, daß er vom Heeresamt für kriegswichtige Forschungen reklamiert wird. 1945 wird Havemann zum Leiter der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft zur Förderung der Wissenschaft bestellt, 1948 jedoch von der amerikanischen Militärregierung suspendiert. 1950 nimmt er an einer Demonstration zur Ächtung der Atombombe teil und wird vorübergehend in West-Berlin verhaftet. Im gleichen Jahr übernimmt er den Lehrstuhl für physikalische Chemie an der Humboldt-Universität in Ost-Berlin. Er gilt als ein in der internationalen Gelehrtenwelt angese-hener Wissenschaftler und unterhält vielfältige persönliche Beziehungen zu den prominenten Physikern in der westlichen Welt: Albert Einstein, Werner Heisenberg, Linus Pauling, Max Born und Carl Friedrich v. Weizsäcker. Diese internationale Geltung mag dazu beigetragen haben, Havemann 1956 anders zu behandeln als Harich. Aber auch Havemann wollte damals offensichtlich einen Waffenstillstand mit der Partei. Im März 1957, kurz nach der Verurteilung Harichs, veröffentlicht er im Neuen Deutschland einen Aufsatz, in dem er sich von den Bestrebungen distanziert, „unter der Flagge des Antidogmatismus den Marxismus zu revidieren" ohne seinen eigenen Standpunkt ganz aufzugeben. Havemann blieb auch in den folgenden Jahren immer im Bereich der Konfliktmöglichkeiten mit der SED-Führung, wenngleich auch er 1959 mit dem Nationalpreis der DDR ausgezeichnet wurde. Erst als Havemann im Wintersemester 1963/64 vor mehr als 1 000 Zuhörern seine Vorlesung über „Naturwissenschaftliche Aspekte philosophischer Probleme" hält (und die abgeschriebene Bandaufnahme als Skriptum an die Hörer verteilt wird), entscheidet die Parteiführung, daß nun „ein Schlußstrich unter eine seit Jahren währende Diskussion gezogen werden" muß
1964. -„Dialektik ohne Dogma?" Warum?
Havemann vertritt die Überzeugung, daß der Marxismus die Philosophie unserer Zeit ist; der Marxismus ist entwicklungsfähig, wenn er aus seiner dogmatischen Erstarrung befreit wird. Havemanns Ziel als Naturwissenschaftler ist es zunächst, die längst fällige Inbeziehungsetzung der modernen Quantenmechanik mit dem Dialektischen Materialismus in der Hegel/Engelsschen Fassung zu leisten. Seine Argumentationslinie ist: Die alte, die Geschichte der Philosophie beherrschende dogmatisch starre Trennung zwischen Determinismus und Indeterminismus besteht nicht, auch nicht die zwischen Kausalität und Akausalität. Wie die Inhalte sich gewandelt haben, so müssen auch die Begriffe geändert werden.
Auch die Quantenmechanik leugnet nicht, daß alle Ereignisse eine oder mehrere Ursa-chen haben; aber die Ursachen können verschiedene Wirkungsmöglichkeiten haben;
welche der möglichen Wirkungen eintritt, ist zufällig. Da es eine breite Skala von Möglichkeiten gibt, ist die Bewegung eines Elektrons nicht weiter determiniert als durch den Grad ihrer Möglichkeit: „Weil die wirklichen Ereignisse nicht mit Notwendigkeit auseinander hervorgehen, sondern weil nur die Möglichkeiten verschiedener kausaler Verknüpfungen mit Notwendigkeit gesetzmäßig bestimmt sind, ergibt sich die objektive Zufälligkeit des wirklichen Einzelprozesses."
So ist das Bild der Welt, das der mechanische Materialismus entworfen hatte, nach Have-mann falsch; diese Erklärung der Welt ließ keine Freiheit für aktives Handeln, denn alle Zukunft war durch die Vergangenheit schon determiniert, eine Vorstellung, gegen die um die Jahrhundertwende schon die Resultate der Relativitätstheorie gesprochen hatten
stattdessen spricht Havemann von der dialektischen Auffassung vom Zusammenhang zwischen Zufälligkeit und Notwendigkeit
Weitreichend sind die Schlüsse, die Have-mann für den naturwissenschaftlichen Gesetzesbegriff zieht: „Alle Gesetze der Natur, alle Gesetze der Wirklichkeit, die wir entdecken, besagen uns nur, was unter bestimmten Umständen jeweils möglich und was unter die-sen gleichen Umständen unmöglich ist. Die Gesetze besagen also nicht, was wirklich geschieht und geschehen wird, sie geben nur an, was geschehen kann." Damit wäre der Havemann Gesetzesbegriff von angenähert dem Tendenzbegriff, den auch Marx verwendet, d. h. Marx benutzt beide Begriffe — Tendenz und Gesetz — identisch, woraus dann je unterschiedliche Bezugnahmen auf Marx zustande kamen: Die Revisionisten im Gefolge Bernsteins z. B. das die haben Tendenzielle, Orthodoxen das Gesetzmäßige im Denken von Marx betont. Havemann behält aber den Materiebegriff Lenins respektive dessen Abbild-Theorie im Prinzip bei:
„In der Erkenntnistheorie ist, wie Lenin es definiert hat, die Materie einfach nur die objektive Realität, unabhängig von unserem Bewußtsein. Sie existiert, ob wir nun sind oder nicht, ob wir denken oder nicht. Sie existierte, bevor es Menschen gab und sie wird existieren, auch wenn es keine Menschen mehr geben wird. Aber die Welt ist auch in unserem Bewußtsein, sie ist die Welt, die wir uns bewußt machen, sie ist unsere Welt.“ Doch versucht Havemann die Abbild-Theorie zu verfeinern, vor allem, indem er dem Prozeß der Abstraktion des Wissens im Bewußtsein nachgeht:
„Der Prozeß der Begriffsbildung ist also materialistisch einfach zu verstehen als Ergebnis unserer Wechselwirkungen mit der Natur. Die Begriffe widerspiegeln vom Wesen das, was wir brauchen, was für uns wesentlich ist. Zunächst gewinnen wir also einen rein subjektiven Aspekt der objektiven Erscheinungswelt. Aber in dem Maße, wie die menschliche Erkenntnis sich auf immer höhere Stufen erhebt, überwindet sie diese pragmatischen, rein technisch-anthropomorphen Bezüge zu den Erscheinungen und gelangt in ständigem Fortschritt zu einer Abbildung der Wirklichkeit, in der sich das tiefere Wesen der Dinge widerspiegelt. Die Erkenntnis schreitet fort von der Erscheinung zum Wesen, vom einfachen Wesen zum immer tieferen We-sen.“
Diese Modifikation liegt — als solche wird sie in der Literatur gekennzeichnet — auf He der Linie, die bereits Lenin in den -gel-Fragmenten angedeutet Wie hat. Engels überträgt Havemann mit der Feststellung, die naturwissenschaftlichen Erkenntnisse hätten „weittragende Bedeutung für unser Verhältniszur Welt", diese auf die menschliche Gesellschaft. Die Begriffe bzw. Begriffspaare, um die es dabei geht, heißen: Freiheit und Notwendigkeit, Kausalität und Teleologie, Gesetzlichkeit und Spontaneität. Auch für das Leben des einzelnen und der Gesellschaft gibt es reale Möglichkeiten, auf die Dinge einzuwirken, sie zu verändern, denn die Zukunft ist nicht endgültig und absolut determiniert: „Die Freiheit des Menschen beruht gerade darauf, daß die Zukunft der Welt bestimmt werden kann, weil sie es noch nicht ist." Wieder wie beim Gesetzesbegriff interpretiert Havemann standardisiertes Rüstzeug des Dialektischen Materialismus neu: Hegels (von Engels wiederholter) Satz von der Freiheit als Einsicht in die Notwendigkeit sei falsch verstanden, wenn man ihn in dem Sinne begreife, daß Freiheit bedeute, jeweils nur eine einzige notwendige Sache tun zu können „Sondern wahre Freiheit haben wir erst, wenn es für unser Tun und Lassen eine breite Skala von Möglichkeiten gibt" Analog zu der breiten Skala der Möglichkeiten für das Geschehen in der Natur ergibt sich also auch für den Menschen die Möglichkeit, sich seine, eine bessere Welt zu schaffen: „Um diese Welt zu schaffen, bedarf es der Einsicht in die Notwendigkeit. Dies heißt ja nichts anderes, als die Entdeckung der phantastischen Möglichkeiten, die diese Welt uns bietet. Wir müssen von ihnen nur Gebrauch ma-chen.“
Dabei nimmt Havemann in seine Überlegungen auf, was für Materialisten bisher als Todsünde galt, weil gegen das allbeherrschende Prinzip der Kausalität verstoßend: den — wie er es nennt — „teleologischen Aspekt“. Zwecksetzungen anzunehmen, galt als subjektivistisch, anthropomorph oder gar theologisch verdächtig: „Ich glaube aber, daß man niemals verstehen kann, wie es zur Entwicklung des Lebens überhaupt kommen konnte, wenn man nicht davon ausgeht, daß das Le-ben ein zielgerichteter Prozeß ist, im einzelnen wie im ganzen, im Laufe der Entwicklung jedes einzelnen Individuums wie auch der historischen Entwicklung des Lebens im gan-zen.“ Havemann begründet diese These mit der genetischen Informationstheorie (Lebewesen können als kybernetisches System angesehen werden). Eine letztliche Zwecksetzung der Entwicklung bedeutet dann auch, die Dimension der Kontinuität — die Verknüpfung von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft — in die Betrachtung aufnehmen zu können. Der Mensch ist qua Sprache und Schrift das erste Lebewesen, „das einen kontinuierlichen Erkenntnisprozeß über die Dauer des individuellen Lebens hinweg zustande bringt"
Schließlich läßt Havemann auch den Aspekt der Spontaneität im menschlichen Handeln gelten: Der Mensch ist je immer von einer vollständigen Bewußtheit entfernt; „weil un-sere Bewußtheit stets unvollkommen ist, bedürfen wir ständig der Spontaneität unseres Handelns. Der Begriff Spontaneität wird manchmal in dogmatischer Weise abgewertet, als ob Spontaneität zielloses, eigennütziges, chaotisches Handeln bedeutet. Spontaneität bedeutet aber, trotz ungenügender Bewußtheit doch den Mut haben zum Weitergehen. Ohne Spontaneität kämen wir nicht einen Schritt voran."
Nicht Havemanns Bemühungen, den Dialektischen Materialismus in Übereinstimmung mit den Ergebnissen der modernen Naturwissenschaften zu bringen und ihm damit ein bisher nicht gegebenes Maß an methodologischer Auflockerung und sachlicher Solidität zu verschaffen, bildete den Stein des Anstoßes für die „Hauptverwaltung . Ewige Wahrheiten’ (HEW)". In der abschließenden Auseinandersetzung mit Havemann gab Kurt Hager zu, daß die philosophischen Probleme der Naturwissenschaften bis dato nicht auf dem ihnen gebührenden Niveau behandelt worden seien und nun „angepackt" werden müßten Der Konflikt lag vielmehr darin begründet, daß Havemann folgerichtig — und in prinzipieller Übereinstimmung mit der umfassenden Geltung der materialistischen Dialektik als der Wissenschaft von den Gesetzen der Natur, der menschlichen Gesellschaft und des Den-kens — auch seiner Interpretation des Dialektischen Materialismus für die menschliche Gesellschaft Geltung verschaffen wollte, d. h. über die Interpretation der Welt hinaus zu ihrer Veränderung schreiten wollte: Die Philosophen, die den Dogmatismus überwinden, „werden auch dazu beitragen, die politischen Verhältnisse zu ändern"
Havemanns „produktive Utopie’
Für Havemann bestand kein Zweifel daran, daß in den sogenannten sozialistischen Ländern (dies „sogenannt" hat Havemann später selbst verwendet) der Sozialismus nicht verwirklicht war, denn: „Sozialismus ist ohne Demokratie nicht zu realisieren", wie Have-mann unter Berufung auf Lenin feststellt. Dieser habe immer wieder darauf hingewiesen, welche furchtbaren Folgen die Zerstörung der Demokratie beim Aufbau des Sozialismus ha-ben müsse: „Nur durch Demokratie können wir die Massen für den Sozialismus überzeugen und für diesen Kampf gewinnen."
Auch die Entfremdung des Menschen war nicht aufgehoben, konnte nicht aufgehoben sein, wie in der offiziellen Literatur immer wieder behauptet wurde:
. Denn Sozialismus ist kein Ziel, sondern ein Weg. Sozialismus ist Wandlung, ist Übergang vom Kapitalismus zum Kommunismus. Wir treten im Augenblick der sozialistischen Revolution — ob wir sie selbst gemacht oder geschenkt bekommen haben — nicht plötzlich aus einem dunklen vergangenen Reich in eine lichte Gegenwart. Es hebt sich die Entfremdung des Menschen nicht mit einem Schlage auf..
Der Weg muß weiter gegangen werden; dabei war nach Havemanns Vorstellung in der sozialistischen Gesellschaft — also nach der Aufhebung der Widersprüche des Kapitalismus durch die Vergesellschaftung der Produktionsmittel — „die Moral die revolutionäre Kraft zur Umwandlung der Gesellschaft" Der Sozialismus ist also ein Übergangsstadium, der Weg, der in die Zukunft des Kommunismus führt: „Der Kommunismus ist der alte Traum der Menschheit von einem Gemeinwesen, in dem nicht ein Teil Rechte hat, die einem anderen Teil vorenthalten sind. Er ist der Traum von einer menschlichen Welt, wo alle die gleichen Rechte und Möglichkeiten haben, wo der Mensch gut sein kann, ohne sich opfern zu müssen."
Unter Berufung u. a. auf Lao-tse entwirft Havemann das visionäre Bild der kommunistischen Zukunftsgesellschaft, die keiner Moral, keiner Ideologie und keines Staates mehr bedarf. Aber auch in dieser Zukunftsgesellschaft wird der Widerspruch zwischen Individuum* und Gesellschaft nicht aufgehoben sein, weil er unauflösbar ist:
„Wenn ich dieses visionäre Bild der kommunistischen Gesellschaft entwerfe, so weiß ich, daß dies wohl ein Ziel ist, daß dieses Ziel aber auch in seiner seligen Widerspruchsfreiheit eine Utopie ist. (...) Niemals wird eine sol-che widerspruchsfreie, absolute, moralische Gesellschaft möglich sein. Immer werden wir nur auf dem Wege zu ihr sein. (...) Es wird eine Gesellschaft entstehen, in der sich niemand mehr auf Kosten des anderen bereichern können wird. Damit werden die sozialen Beziehungen zwischen den Menschen grundlegend gewandelt.“
Die Einordnung von Havemann in die Theoriegeschichte des Sozialismus und Kommunismus wirft Probleme auf. Havemann bleibt — wie Ludz feststellt — im wesentlichen ein Anhänger des Dialektischen Materialismus in Anlehnung an Hegel und Engels; aber er modifiziert ihn durch Überlegungen, wie sie in Lenins später Hegel-Rezeption angelegt sind; spurenweise sind bei Havemann sogar auch Fragestellungen zu entdecken, wie sie bei Max Adler zu finden sind. Wenn Havemann zu einer revolutionären Philosophie des Kommunismus zu gelangen sucht, die auch die ethischen Imperative des früheren Marxismus aufnimmt, so steht er damit — darin ist Ludz zuzustimmen — den Hegelianern und Dialektikern Korsch, Bloch und Lukäcs nahe. Doch wird man nicht übersehen dürfen, daß die Vorstellung von dem unauflösbaren Widerspruch zwischen Individuum und Gesellschaft dem Kantschen Antagonismus von der „ungeselligen Geselligkeit“ des Menschen in der Gesellschaft ähnlich ist.
Nur zögernd zunächst nahm die Parteiführung den Fehdehandschuh auf (zumal möglicherweise in der Behandlung des Konfliktes zunächst nicht einig); erst als ein Gespräch, das Havemann mit einem westdeutschen Journalisten geführt hatte, im „Hamburger Echo am Abend" veröffentlicht wurde (Havemann hat-te der Veröffentlichung zugestimmt, aber nicht in Form eines Interviews), war der Anlaß zu den Sanktionen gegeben, deren Begründung z. T. geradezu grotesk klingt, aber nach innen eine Abschreckungsfunktion ha-ben sollte: „In seinen Ausführungen macht sich Havemann faktisch die Losung des Godesberger Programms der SPD zu eigen.“ 74) Am 13. März 1964 wird Havemann aus der SED ausgeschlossen und aus dem Lehrkörper der Universität entlassen; er erhält Reise-und Veröffentlichungsverbot. Im Dezember 1965 wird er auch aus der Forschungsstelle „Fotochemie“ der Akademie der Wissenschaften, wo er seine für die Sowjetunion wichtigen Forschungen weiterführen konnte, entlassen (der Anlaß war wiederum eine Veröffentlichung in der Bundesrepublik, diesmal im Spiegel: „Plädoyer für eine neue KPD"); am 1. April 1966 wird er statutenwidrig aus der Liste der Mitglieder der Akademie der Wissenschaften gestrichen. Was ihm bleibt, ist eine Rente, die er als Opfer des Faschismus vom Staat erhält.
Aus den „Abrechnungen" mit Havemann wird klar, daß dieser nach Auffassung der SED-Führung in zwei Richtungen von der Linie abgewichen war:
1. Havemann hatte dem Dialektischen Materialismus eine Deutung gegeben, die als geeignet angesehen wurde, die Grundsubstanz des Katechismus zu gefährden: „Er fordert zum Zweifel an allen Grundpositionen unserer Philosophie auf, obwohl er sich bewußt sein mußte, daß damit der Boden einer festen Weltanschauung, des philosophischen Materialismus, verlassen und dem Skeptizismus oder Agnostizismus Tür und Tor geöffnet wurde." , 2. Havemann hatte mißachtet, daß die SED-Führung selbst den jeweiligen Reformspielraum bestimmte und in der Periode nach dem Mauerbau zunächst Schwierigkeiten hat-te, genau zu bestimmen, wo „Stabilität zur Hemmung" oder „Beweglichkeit zur Herrschaftsgefährdung" wurden Das Gleichgewicht zwischen Dogmatismus und Reformismus zu bestimmen, war jedenfalls nicht Sache der beliebigen Spontaneität des Denkens und Handelns im besten Falle noch so überzeugter Kommunisten, sondern der Parteiführung. Ulbricht hatte schon 1957 die „Laßt hundert Blumen blühen" -Diskussion der chinesischen KP kommentiert: „Es geht uns nicht darum, alle Blumen erblühen zu lassen, sondern um die richtige Zuchtwahl, um die Auswahl des wirklich Nützlichen, ohne daß maß, dabei das Wuchern schädlichen Unkrauts ... duldet" 77).
Havemanns legale Oppositionstaktik nach 1966; die Weiterführung des revolutionären Weges
Havemann hat auch in den den Sanktionen folgenden Jahren seine legale Oppositionstaktik weiterverfolgt; er hat jede konspirative Tätigkeit abgelehnt; er hat sich immer wieder als „überzeugter Kommunist" deklariert, der in der DDR zu leben wünsche. Allerdings wird man dabei beachten müssen, daß Richtung wie Inhalt seiner Kritik konkreter und seine Zielvorstellungen präziser und damit der Dissenz mit der DDR-und SED-Führung größer geworden sind.
In seinen Äußerungen seit 1965 — ausschließlich in Artikeln sowie Interviews in Zeitungen, Funk und Fernsehen in der Bundesrepublik — stellt Havemann zwei Problemkomplexe in den Vordergrund: 1. die Zukunft des Kommunismus; 2. die Weiterführung des revolutionären Weges. Havemann kritisiert das Eindringen der Verführung der industriellen Überflußzivilisation ins sozialistische Weltdrittel. Dies begann nach seiner Auffassung mit Chruschtschows Gulasch-Kommunismus und setzte sich fort in dem ökonomischen Pragmatismus, der die Fehler des industriellen Westens zwanghaft wiederholt, und in der zunehmenden Konsumorientiertheit des sozialistischen Alltagslebens „Leider wird hier dem Kapitalismus hinterhergelaufen.“ Dieser Nachvollzug in der Aneignung des überflüssigen bedeutet für Havemann ein verhängnisvolles Mißverständnis seiner asketisch gemeinten, von der Hoffnung auf die wachsende Vernünftigkeit des Menschen geprägten Utopie des Kommunismus. Gleichheit bedeutet da nicht Gleichheit in der Verteilung des Reichtums (ohnehin angesichts der ökologischen Krise eine Schimäre), sondern Gleichheit in der Möglichkeit der Entfaltung der Spielräume individueller geistig-seelischer Existenz des Menschen Havemanns Gedanken, seine (wie er sie selbst nennt) produktive Utopie, stellen eine humane innerkommunistische Alternative zu Harichs „Kommunismus der Rationierung" dar, haben aber auch gewisse Ähnlichkeit mit der konservativen Kultur-und Zivilisationskritik. Das zweite seine Gedanken beherrschende Moment ist die Überlegung, daß die Zukunft des Sozialismus bzw: des Kommunismus abhängt von der Vollendung der „auf halbem Wege stehengebliebenen" sozialistischen Revolution Der erste Schritt war die Zerschlagung der politischen und der ökonomischen Macht der Bourgeoisie. Der diesem ersten folgende zweite Schritt, der die Vollendung der Revolution bringen kann, nämlich der Aufbau einer sozialistischen Demokratie, wurde bisher nur kurz in der CSSR zu gehen versucht. Aber nur wenn dieser zweite Schritt gelingt, wird es nach Havemanns Auffassung möglich sein, die revolutionären Umwälzungen in den hochindustrialisierten Gesellschaften in Gang zu bringen. Als Folge der Krise des Kapitalismus — so warnt Havemann — sei die Revolution nicht zu erwarten:
„Der Sozialismus muß auch in Deutschland erst einmal viel Zeit wiedergewinnen, die er dank Stalin und seinen Nachfolgern verloren hat. Das Schlimme ist nur, daß man in den sozialistischen Ländern die Frist, die wir noch haben, ganz ungenügend nutzt. Es wäre auch sehr unklug, dabei allzusehr auf die internationale Krise des Kapitalismus zu bauen. Von dieser Krise können auch große Gefahren für den Frieden und die Existenz der Menschheit ausgehen. Solange der Sozialismus seine gegenwärtige bürokratische Sklerose nicht überwunden hat, kann er auch auf die sozialistische Revolution als eine Folge dieser Krise in den kapitalistischen Ländern nicht hoffen."
Havemann meint deshalb, daß es Zeit sei, „die Utopie des Kommunismus auch als Aufhebung gesellschaftlicher Zustände (zu) begreifen, die wir selbst geschaffen haben" Sehr früh hat Havemann auf die diesen Prozeß fördernde Rolle der kommunistischen Parteien Westeuropas hingewiesen Jüngst, im Juli 1976, kennzeichnete er den Eurokom-munismus als wirklich sozialistische Politik im Gegensatz zur Politik der kommunistischen Parteien „im sogenannten sozialistischen Lager", die ein Gesellschaftsmodell verwirklichen, „das in Wirklichkeit gar nicht sozialistisch ist"
Der „schwerste Klotz am Bein der sozialistischen Revolution" ist nach Havemann die DDR (samt der DKP — „fast nur noch eine Sekte?“, „schon wieder die alles besserwissenden Gralshüter der einzig wahren Lehre?"). Doch Havemann wehrt jeden Fatalismus ab und entwirft so etwas wie eine deutsch-deutsche sozialistische Utopie: „Jeder Fatalismus bei uns in den sozialistischen Staaten ist gefährlich wie eine schlimme Krankheit. Wir dürfen nicht tatenlos zuschauen, wie sich die Sozialisten und Kommunisten Westeuropas abmühen müssen, das Vertrauen der Massen zu gewinnen, das durch unsere Politik erschüttert und gefährdet ist. Wir müssen alles tun, den Sozialismus so attraktiv zu machen, daß wir nicht nur keine Mauer mehr brauchen, um die Arbeiter und Bauern daran zu hindern, aus dem Arbeiter-und Bauern-Staat fortzulaufen, sondern daß unser Staat in jeder Hinsicht für das ganze deutsche Volk zum Beispiel dafür wird, daß Sozialismus und Demokratie einander wechselseitig zur Voraussetzung haben, daß es ohne Sozialismus keine Demokratie und ohne Demokratie keinen Sozialismus geben kann."
Havemanns Freund Wolf Biermann muß inzwischen da leben, wo er nicht zu leben wünscht: in der Bundesrepublik; Havemann lebt heute noch dort, wo er immer zu leben wünschte: in der DDR, aber wie zu leben er vielleicht gefürchtet, doch letztlich nicht erwartet haben mag: unter Hausarrest bzw. unter ständiger Bewachung. Besteht die Annäherung des jetzt „realen" Sozialismus an den projektierten wirklichen Sozialismus darin, daß Havemann und Biermann nicht dort leben müssen, wo viele oppositionelle Kommunisten vor ihnen leben mußten: im Zuchthaus?