Mühsam, langwierig, teuer und selektiv — mit diesen Stichworten läßt sich der Gang der Umweltpolitik in den meisten Industrieländern umschreiben. Immerhin hat die Selektivität des staatlichen Umweltschutzes, d. h. die Konzentration staatlicher Maßnahmen auf Schwerpunktprobleme, trotz aller finanziellen Beschränkungen und gegensätzlichen Interessenlagen zu teilweise beachtlichen Erfolgen geführt: In zahlreichen Industrieländern konnte die Luftbelastung durch Schwefeldioxid, Staub und Kohlenmonoxid vermindert und der Ausbau von Kläranlagen beträchtlich erhöht werden
Ist es also an der Zeit, eine Entwarnung an der Umweltfront zu geben? Lassen die bisher erreichten Qualitätsverbesserungen in Teilbereichen gar den Schluß zu, daß die bisherige Form der Umweltpolitik grundsätzlich auf dem Erfolgspfade ist und nun kontinuierlich weitere Umweltbereiche blankgeputzt werden? Dagegen spricht vor allem dies: Zum einen dürfte die traditionelle Umweltpolitik langfristig auf immanente Grenzen selbst bisher erfolgreicher Strategien stoßen, zum anderen sind bereits jetzt Problembereiche ausgeklammert, die mit dem bisher üblichen Regelungsinstrumentarium nicht unter Kontrolle zu bringen sind, obwohl sie vermutlich die entscheidenden Herausforderungen der Zukunft sein werden.
Dieser letzte Aspekt, für den die Stichworte „Umweltchemikalien" sowie „Risikoproduktion" stehen, ist das Thema dieser Arbeit. Zum ersten Gesichtspunkt soll nur kurz die wichtigste Argumentationslinie nachgezeichnet werden
Die traditionelle Umweltpolitik basiert primär auf der Entsorgungsstrategie (treffender ist die englische Bezeichnung „end-of-pipe-treat-ment), d. h. auf der nachgeschalteten Beseitigung von Schadstoffen mit Hilfe von Filtern, Kläranlagen, passiven Lärmschutzmaßnahmen etc., anstatt auf Präventivmaßnahmen, die von prozeßtechnologischen Veränderungen über Recyclingverfahren bis zur Branchenumstrukturierung reichen können, wobei es hauptsächlich um die Verhinderung der Schadstoffentstehung geht.
Kurzfristig kann die Entsorgungsstrategie, wie die o. g. Erfolgsmeldungen zeigen, erfolgreich sein. Sie ist auch als zeitweilige Komponente in einem umweltpolitischen „Strate-giemix" durchaus sinnvoll. Zumindest drei Aspekte lassen es aber als sehr plausibel erscheinen, daß nicht nur langfristig die erreichten Erfolge gefährdet sind, sondern daß auch die alten „Sorgen" auf einem höheren Niveau wieder auftauchen werden: 1. Wachstumsbedingte Restschadstoffakkumulation Eine hundertprozentige Schadstoffbeseitigung ist mit nachgeschalteten Reinigungsanlagen oftmals technisch und vor allem auch ökonomisch nicht durchführbar. Die verbleibenden und in die Umwelt eindringenden Restschadstoffe akkumulieren sich also im Zuge des Wirtschaftswachstums. Irgendwann, der Zeitpunkt läßt sich unter der Annahme überwiegend konstanter Reinigungstechnologien aus den Wachstumsraten extrapolieren, wird der Ausgangspunkt an Gesamtemissionen wieder erreicht sein; jedoch nun auf einem angehobenen Problemniveau, da nicht nur eine größere Anzahl von Emittenten besteht, sondern auch an die Reinigungstechnologie extremere Anforderungen gestellt werden müssen: bekanntlich ist die Beseitigung der Restschadstoffe mit einer immensen Kostenprogression verbunden. 2. Kostenbelastung Entsorgung ist, langfristig gesehen, die teuerste Umweltschutzstrategie und damit vom volkswirtschaflichen Standpunkt aus betrachtet ein Fall von Ressourcenverschwendung. Insbesondere bei einer Kostensozialisie-Hing nach dem Gemeinlastprinzip setzt ihr die zunehmend fühlbarer werdende Finanzkrise des Staates Grenzen bzw. es werden innerhalb des knappen öffentlichen Budgets Um-schichtungen erzwungen, die potentiell zuungunsten sozialer Belange gehen können.
3. Problemverschiebung
Entsorgung in der vorherrschenden Weise schafft neue Sorgen, weil die Schadstoffe zwar am Eindringen in das jeweilige Umwelt-medium gehindert werden, aber als solche dennoch entstehen und beseitigt werden müssen. Solange keine ausreichende Recycling-technologie vorliegt oder umweltneutrale Beseitigungsverfahren entwickelt sind, führt dies hin und wieder zu dem Kuriosum, daß z. B. durch kostenintensive Reinigungsverfahren Schadstoffe am Eindringen in die Fließgewässer gehindert werden, um dann wenig später ins Meer verklappt zu werden. Diese Form der Problemverlagerung bzw. Problem-rotation findet man in allen Umweltbereichen: Zunehmende Dumping-Praktiken, überquellende Deponien oder sogenannte Giftmüllskandale sind oft die Endpunkte dieser Entwicklung.
Je intensiver, je besser also die Reinigungstechnologien und je strenger die staatlichen Emissionsnormen werden, desto schwieriger werden die Endbeseitigungsprobleme. Die Frage, wer entsorgt die Entsorgungsanlagen, ist in verschiedenen Staaten, und zwar gerade bei den umweltpolitischen Schrittmachern, schon längst auf der Tagesordnung. In Schweden z. B., das für seine außerordentlichen Klärleistungen bekannt ist, laufen jetzt große Anstrengungen an, für den rapiden Anstieg immer schadstoffangereicherteren Klärschlamms (der sich deshalb auch kaum noch zur sonst üblichen Kompostierung eignet) eine umweltschutzgerechte Lösung zu finden.
Dies alles sind der Entsorgungsstrategie immanente Probleme, die z. T. erst langfristig, dafür aber unausweichlich ein solches Problemniveau erreichen werden, daß es zu einer Änderung der vorherrschenden Umweltschutzstrategie kommen muß.
Demgegenüber gibt es Defizite der traditionellen Umweltpolitik, die schon jetzt zu (großenteils physisch noch nicht verspürten) Belastungen geführt haben, die quantitativ und qualitativ über dem Niveau bisher wahrge-nommener und thematisierter Umweltbeeinträchtigungen liegen. Gemeint ist die umweltschutzpolitische Ausklammerung der unzähligen chemischen Substanzen, die bereits produziert und gehandelt werden, und der vielen hundert neuen Substanzen, die jährlich hinzukommen — Stoffe, die vermarktet werden, ohne daß ihre Schädlichkeit für den Menschen und seine Umwelt zureichend berücksichtigt ist.
Das Dilemma einer ansteigenden „toxischen Gesamtsituation" entsteht vor allem dadurch, daß erstens die Selektionskriterien bisheriger Umweltschutzmaßnahmen überwiegend Schadstoffe in das administrative Regelungswerk einbezogen haben, die einen hohen Aufmerksamkeitswert und eine hohe Erfolgsaussicht bei ihrer Kontrolle hatten, daß zweitens die Umweltpolitik im allgemeinen auf eine Beseitigung von Schadstoffen abzielt, die in ihrer schädlichen Wirkung bekannt sind, und nicht auf eine Risikoverhinderung (bzw. -min-derung) abstellt, und daß drittens das Regelungswerk in den meisten Fällen mediengebunden und nicht medienübergreifend ansetzt. So kommt es, daß Emissionen erst dann in den administrativen Maßnahmenkatalog aufgenommen werden, wenn sich ihre schädliche Wirkung «mit großer Sicherheit nachweisen läßt, wobei in der Regel nur ihre medialen Effekte berücksichtigt und gesetzlich geregelt werden. Dementsprechend gibt es Standards und Auflagen für einzelne Schadstoffe, bezogen auf ihre Wirkung in einem Medium (Luft, Wasser, Boden) bzw. unter Berücksichtigung ihrer gesundheitlichen Auswirkungen, aber keine umfassende Berücksichtigung all ihrer Gesundheits-und Umweltaspekte innerhalb des gesamten ökologischen Kreislaufs, angefangen bei der Produktion bis hin zur Abfall-beseitigung. Diese Selektivität bei der Auswahl sowohl der Schadstoffe als auch der Risikobereiche führte unvermeidlich dazu, daß es zu schwerwiegenden Umweltbeeinträchtigungen und Gesundheitsschädigungen (oft mit Todesfolgen) durch Stoffe kam, für die dann im Nachhinein durch ein oftmals zeitraubendes parlamentarisches Procedere erst die gesetzlichen Eingriffsmöglichkeiten geschaffen werden mußten.
Die nachträglichen Maßnahmen erwiesen sich häufig dadurch als besonders schwierig, weil — der Schadstoff inzwischen weit verbreitet war, — eine Schadstoffbilanz als Voraussetzung für gezielte Maßnahmen (die z. B. gezeigt hät35 ten, in welchen Mengen und Produkten der betreffende Stoff vorhanden ist) nicht existierte und — der Stoff inzwischen oftmals eine hohe gesamtwirtschaftliche Bedeutung gewonnen hatte.
Einige herausragende Beispiele beleuchten schlaglichtartig die Relevanz der vorhergehenden Überlegungen. Am bekanntesten ist wohl der Fall DDT, diente doch dieses Pestizid auch der Meadows-Gruppe als entscheidender Parameter für die Umweltqualitätsvariable in ihrem Weltmodell. Ursprünglich als Schädlingsbekämpfungsmittel wegen seiner Bedeutsamkeit nobelpreisgewürdigt, zeigten sich erst nach Jahrzehnten seine nachteiligen Wirkungen für Mensch und Umwelt, die auch durch weitgehende Produktionsund Anwendungsbeschränkungen wegen der starken Persistenz dieses Stoffes nur sehr allmählich verringert werden können.
Fälle von Quecksilber-und Cadmiumvergiftungen in Japan (die sog. Minamata-und Itai-Itai-Krankheiten) mit zahlreichen Todesfällen und schwerwiegenden Gesundheitsfolgen zeigten insbesondere, daß die Langsamkeit des gesetzgeberischen Prozesses mit zusätzlichen Menschenleben bezahlt werden muß. Aber auch Stoffe, die als toxisch völlig unbedenklich galten, erwiesen sich langfristig als äußerst schädlich, wie am Beispiel PCB nachzuweisen ist. Diese chemische Substanz wird vor allem wegen ihrer hervorragenden physikalisch-chemischen Eigenschaften in Form von ölen oder Wachsen in der Elektrotechnik, bei Transformatoren, als Schmiermittel, Hydraulikflüssigkeit oder als sogenannter Weichmacher in der Kunststoffproduktion (u. a. für Farben und Lacke) eingesetzt. PCB it seit Anfang der dreißiger Jahre im Gebrauch, seine Toxizität wurde aber erst in den späten sechziger Jahren mehr oder minder zufällig entdeckt. Inzwischen ist dieser Stoff ähnlich wie DDT weltweit verbreitet und wurde in etwa gleichen Größenordnungen in Nahrungsmitteln (bis hin zur Mutter-milch) nachgewiesen. Er fand als Schadstoff vor allem dadurch erst so späte Aufmerkkamkeit, weil seine akute Toxizität sehr gering war, so daß seine chronische Toxizität (mit Wirkungen wie Leber-und Hautschäden)
nicht zureichend beachtet wurde. Vom sehr spät geäußerten Risikoverdacht bis hin zu gesetzlichen Maßnahmen war es dann ein dornenreicher Weg, weil im allgemeinen die Risikoschwelle, ab deren Überschreitung administrative Maßnahmen ergriffen werden, zugunsten der Wirtschaftsfreiheit so hoch ange.setzt ist, daß oftmals erst das „body.counting“ als hinreichender Beleg für Schädlichkeit anerkannt wird.
In den meisten Staaten bestehen inzwischen — wie auch für DDT — gesetzliche Regelungen für diesen Stoff. In der Regel wird seine Verwendung nur noch in sog. geschlossenen Systemen gestattet; in den USA kündigte der einzige US-Hersteller von PCB (Monsanto) an, daß er die Produktion Ende Oktober 1977 beenden wird — vermutlich nicht zuletzt aufgrund der verschärften Bestimmungen im Ende 1976 erlassenen Umweltchemikaliengesetz.
Wie bei anderen Schadstoffen wurden auch im Fall PCB erst sehr spät Gegenmaßnahmen ergriffen, obwohl schon 1968 über tausend Personen in Japan teilweise erhebliche Gesundheitsschäden durch PCB-Vergiftungen erlitten haben. Gar nicht erstaunlich — nämlich bei Würdigung der sonstigen umweltpolitischen Leistungen — ist, daß die EG-Kommi-ssion erst Ende 1975 dem Rat Richtlinienvorschläge für PCB zur Verabschiedung vorlegte.
Am Beispiel des jüngsten Unflücksfalles mit dem Pestizid Kepone in den USA, bei dem es zu schwerwiegenden Gesundheitsschäden (Gehirn-und Leberschäden, Sterilität) und Umweltbelastungen kam, wird erneut deutlich, daß trotz aller bekannten bisherigen Unglücksfälle immer noch kein funktionierendes Regelungssystem geschaffen worden war, so daß wieder einmal die vorhandenen gesetzlichen Grundlagen versagten. Im Falle Kepone wurden erst dann umfangreiche Umweltuntersuchungen eingeleitet, als bereits Gesundheitsschäden bei den Arbeitern der Herstellerfirma festgestellt worden waren. Es stellte sich dabei heraus, daß noch im weiten Umkreis der Firma Spurenelemente dieses toxischen Pestizids feststellbar waren, so daß auf langen Streckenabschnitten betroffener Flüsse der kommerzielle Fischfang verboten werden mußte; die wirtschaftlichen Schäden hierdurch wurden im nationalen Umweltreport von 1976 auf rund 4 Mio. US-Dollar geschätzt. Die Firma „Allied Chemical“ wurde inzwischen zur Geldstrafe, die bisher höchsten in einem Umweltschutzverfahren verhängt worden ist verurteilt: 13 Mio. US-Dollar.
Die Reihe der Beispiele könnte für eine Vielzahl weiterer Schadstoffe fortgesetzt werden (Asbeststaub, Polyvenylchlorid, Mirex etc). Das typische Problemlösungsmuster int Bereich der Umweltchemikalien zeigte bis vor kurzem für fast alle westlichen Industriestaaten das gleiche Bild: Der Staat läuft, zutreffender: hinkt der industriellen Risikoproduktion hinterher. Das gilt — und sei hier nur angedeutet — nicht nur für den Bereich der Umweltchemikalien, sondern in hohem Maße auch für andere Politikbereiche, sei es nun die Gesundheits-, die Arbeitsmarkt-oder die Verkehrspolitik.
Der bisherige „Zwang" für die Industrie, im Wettlauf mit der Konkurrenz, der Verknappung natürlicher Ressourcen, den Anpassungsreaktionen der Natur (zunehmende Resistenz gegen Schadstoffe) und mit den umwelt-politischen Maßnahmen immer neue und oft giftigere Stoffe zu produzieren, resultiert zu einem Großteil daraus, daß fast alles erlaubt ist, was nicht ausdrücklich verboten ist, d. h., daß Gesundheitsund Umwelteffekte der Produktion ein weitgehend zu vernachlässigendes Kriterium im Unternehmenskalkül sein können. Dieser Tatbestand ist treffend durch Aileen Smith beschrieben worden: „The morality that pollution is criminal only after legal conviction is the morality that causes pollution.“ Die kleine Auswahl aufgetretener Probleme durch Umweltchemikalien zeigt deutlich, daß ein wirksames Regelungsinstrumentarium auf einem — scharf gefaßten Risikobegriff, — einer gesamtökologischen Betrachtungsweise und — einem langfristigen Zeithorizont aufbauen muß.
Die OECD-Sektorgruppe „Umweltchemikali-en" schlug in diesem Zusammenhang vor kurzem vor, folgende fünf Punkte bei der Regelung von Umweltchemikalien zu berücksichtigen 3):
1. Herstellerdaten:
— chemikalische und physikalische Eigenschaften — Produktionsmenge — Nebenprodukte — arbeitshygienische Daten 2. Belastungsarten:
— Persistenz — Akkumulation 2 Bundesministerium für Jugend, Familie und Ge-
sundheit (Hrsg.), Umweltchemikalien. Probleme — Situation — Maßnahmen, Bonn, März 1977 (MS). — Abbaubarkeit — Anwendungsmuster — Verbreitung — Abfallbehandlung 3. Humantoxizität 4. Wirkungen auf die belebte Umwelt und auf Ökosysteme 5. Andere Umwelteffekte Das OECD-Schema wäre eine ausreichende Grundlage, gäbe es in allen Fällen eindeutige Wirkungsnachweise. Hier aber liegt die Crux eines Umweltchemikaliengesetzes: In den meisten Fällen mangelt es an eindeutigen Urteilen über alle für die Gesundheit und die Umwelt relevanten Aspekte des betreffenden Stoffes. Hier muß es zu einer politischen Entscheidung kommen, welche Risikomarge letztlich toleriert werden soll. Der Grad an staatlicher Souveränität läßt sich in diesem Fall daran ermessen, wie scharf der Risikobegriff gefaßt wird. Die härteste Fassung läge wohl in einer obligatorischen Unschädlichkeitsgarantie des Produzenten, Verkäufers oder Verwenders (im folgenden abgekürzt als Produzent etc.) inklusive einer generellen Entschädigungspflicht und der uneingeschränkten Vetomacht des Staates beim Genehmigungsverfahren. Eine solche Form der Produktkontrolle bzw. Produzentenhaftung ist bisher in keinem Staat verwirklicht und ist realistisch auch in Zukunft nirgendwo abzusehen. Aber auch weniger weitgespannte Regelungssysteme existieren, wie Untersuchungen der OECD sowie des Projektes „Ökologie und Politik der entwik-kelten Industriegesellschaften" der Freien Universität Berlin zeigen, bisher nur in einem Mitgliedsland der EG: in Frankreich. Hier trat im Juli 1977 ein Umweltchemikaliengesetz in Kraft. In allen anderen Fällen — und das gilt mit wenigen, weiter unten benannten Ausnahmen für alle westlichen Industriestaaten — besteht die staatliche Kontrollfunktion auf diesem Gebiet in partiellen Regelungen für einzelne Schadstoffe in einer Vielzahl von Gesetzen wie dem Lebensmittel-, Wasserschutz-, Immissionsschutz-, Arzneimittelgesetz etc. Für bekannte Schadstoffe wie z. B. PCB, DDT oder Waschmitteldetergentien gibt es oftmals Spezialgesetze, die als Regelungen Verbote, Beschränkungen usw. vorsehen, also nach dem gleichen Grundmuster verfahren wie die schadstoffrelevanten Regelungen in den medialen Umweltgesetzen: Eine generelle Risikobewertung vor dem Eintritt in die Umwelt braucht nicht stattzufinden. Dieser gesetzeslose Zustand, der das Unternehmerrisiko eher zu einem Konsumenten-risiko macht, wurde vor kurzem — meist in der Folge langwieriger politischer Auseinandersetzungen — in einigen westlichen Ländern eingeschränkt. Typischerweise vor allem in den beiden Ländern, die sich auch in anderen Bereichen des Umweltschutzes als relativ innovations-und maßnahme-freudig gezeigt haben: Schweden und die USA.
Die beiden Umweltchemikaliengesetze in den USA und in Schweden weisen wohl beträchtliche Unterschiede in ihrer Funktionsweise auf, haben aber eine fundamentale Gemeinsamkeit darin, daß sie beide sehr starken Nachdruck auf den Risikoaspekt von Umwelt-chemikalien legen. Insofern können sie als Beispiele eines (relativen) empirischen Optimalfalls dienen, an dem sich andere Länder orientieren und so die oftmals beträchtliche Zeitspanne von der Problemperzeption bis zur gesetzlichen Regelung verkürzen können. Teilt man die bestehenden Umweltchemikaliengesetze analog dem Klassifikationsschema des OECD-Umweltkomitees nach ihrem Verwaltungsaufwand ein so ergeben sich folgende drei Staatengruppen, geordnet nach abnehmendem Verwaltungsaufwand:
1. Länder, in denen für neue (und teilweise für existierende) Umweltchemikalien eine generelle Melde-und Genehmigungspflicht besteht: — USA — Schweiz — Japan 2. Länder nur mit Meldepflicht — Kanada 3. Länder ohne generelle Melde-, aber mit genereller Vorsichtspflicht der Produzenten etc.:
— Schweden — Norwegen Bevor die in ihrer Gruppe interessantesten und ausgereiftesten Regelungssysteme (USA, Schweden) ausführlich dargestellt werden, soll kurz das kanadische Modell, das hier eine Zwitterposition einnimmt, beschrieben werden. 1. Kanada Als die Verabschiedung des Begründung für . Environmental Contaminants Act 1975’ wurde angegeben, daß damit ein höheres Maß an Prävention geschaffen werden sollte. Anlaß hierfür waren eine Anzahl von entstandenen Umweltproblemen, zu deren Kontrolle keine angemessenen gesetzlichen Regelungen vorhanden waren. Das Gesetz verpflichtet den Hersteller etc. von Umweltchemikalien, alle neuen Umweltchemikalien innerhalb von drei Monaten nach ihrer Markteinführung (sofern sie mengenmäßig über 500 kg pro Jahr liegen) den zuständigen Behörden zu melden. Diese Notiz soll Angaben über die Art und Menge der Chemikalie und alle im Besitz des Herstellers befindlichen Informationen über ihre Gesundheitsund Umwelteffekte enthalten. Aufgrund dieser Angaben wird die Substanz in eine von drei unterschiedlichen Risikoklassen eingeteilt, wobei die gewählte Klasse darüber entscheidet, welche weiteren Maßnahmen ergriffen werden. Wird ein Risiko nur vermutet, so können die Behörden weitere Informationen anfordern bzw.selbst Untersuchungen durchführen. Besteht ein stärkerer Risikoverdacht, so können die Hersteller aufgefordert werden, Tests auf eigene Kosten durchzuführen. Ist ein Risiko weitgehend bestätigt, so wird ein umständlicher administrativer Prozeß in Gang gesetzt: In diesem Fall hat das Bundesumweltministerium Konsultationen mit den Provinzregierungen darüber aufzunehmen, ob ausreichende Maßnahmen durch bestehende Gesetze oder durch freiwillige Maßnahmen der Industrie zu erreichen sind. Erst wenn dies nicht möglich ist, erfolgt eine Empfehlung an das Bundeskabinett, eine angemessene Verordnung zu erlassen.
2. Schweden Das schwedische Umweltchemikaliengesetz („Act on Products Hazardous to Man or to the Environment") trat schon im Juli 1973 in Kraft, kann aber dennoch bis heute noch nicht hinsichtlich seiner Wirksamkeit beurteilt werden, da mit dem Gesetz vor allem die Grundprinzipien und die möglichen administrativen Maßnahmen festgelegt worden sind. Um wirksam zu werden, bedurfte es noch einer Reihe — inzwischen teilweise erlassener — konkreter Ausführungsbestimmungen und des Aufbaus der zuständigen Verwaltungseinheit.
Mit dem Argument, das Gesetz in einem Höchstmaß flexibel zu machen, wurde darauf verzichtet, eine feststehende „Giftstoffliste'aufzustellen und für jeden genannten Schadstoff jeweils besondere Anforderungen festzulegen. Die Einführung einer generellen Lizenzierungspflicht für alle chemischen Substanzen vor ihrer Verwendung wurde aufgrund des hierdurch erforderlich werdenden Verwaltungsaufwandes als unpraktikabel abgelehnt (wie weiter unten noch dargestellt wird, funktioniert ein solches System jedoch in der Schweiz nach eigenen Aussagen zufrieden-stellend). Als Folge dieser Überlegungen kam es in Schweden zu einer Kompromißlösung, bei der in Form von Generalklauseln zwei Grundprinzipien festgelegt wurden: Risikobe-rücksichtigung und generelle Vorsichtspflicht. a) Risikokonzept Alle diejenigen chemischen Substanzen fallen unter den gesetzlichen Regelungsbereich, bei denen der wohlbegründete Verdacht besteht, daß sie Gesundheitsoder Umweltschäden verursachen könnten. Die „Definitionsmacht" liegt dabei bei der zuständigen Abteilung des staatlichen Naturschutzamtes, dem Produkt-kontrollamt. Der große Vorteil des Risikokonzeptes gegenüber einer feststehenden Giftstoffliste wird darin gesehen, daß jeder auch erst zukünftig bekanntwerdende Schadstoff gesetzesmäßig erfaßt und administrabel ist.
b) Vorsichtspflicht Alle Hersteller etc. von Umweltchemikalien müssen die notwendigen Maßnahmen ergreifen, um mögliche Risiken ihrer Produkte zu erkennen. Das Produktkontrollamt kann bei Bedarf diese Informationen abfordern. Die Kosten für die Informationsbeschaffung trägt in der Regel der Hersteller etc.
In der Praxis sieht es zur Zeit so aus, daß das Produktkontrollamt eine'Giftstoffliste erarbeitet, wobei es sich zuerst den besonders ge-fährlichen Schadstoffen zuwendet. Die Hersteller solcher Substanzen müssen dann dem Amt alle ihre Informationen übermitteln, die zum Aufbau eines umfassenden Giftstoffkatasters verwendet werden, das es erlauben soll, bei bekanntwerdenden Gefährdungen zügig wirksame Maßnahmen zu ergreifen. Fallen die Substanzen in eine besondere Klasse, so können dem Hersteller etc. besondere Auflagen gemacht werden, die je nach Risikograd vom Verbot bis zu Etikettierungsauflagen reichen können.
Der betroffene Hersteller muß, um den administrativen Maßnahmen zu entgehen, selbst nachweisen, daß sein Produkt ungefährlich ist, und zwar soweit das beim gegenwärtigen Stand der Wissenschaft möglich ist. Diese Regelung wird oft als Unschädlichkeitsnachweispflicht tituliert, ist aber im Grunde nicht so rigide, da der Produzent nicht generell die Unschädlichkeit seines Produktes garantiert, sondern nur erklärt, daß unter Anwendung aller gesetzlichen Erfordernisse das Produkt ungefährlich zu sein scheint. In Fällen, wo es (noch) keine detaillierten Prüfungsanforderungen gibt, ist auch nur eine grobe Verletzung der allgemeinen Vorsichtspflicht strafbar. 3. USA Das amerikanische Umweltchemikaliengesetz „Toxic Substances Control Act“, das aufgrund politischer Differenzen zwischen dem Repräsentantenhaus, dessen Vorlage die Unterstützung der Industrie fand, und dem Senat, der von einer (seltenen) Koalition aus Bundesumweltbehörde (EPA), Umwelt-
schutzverbänden und Gewerkschaften unterstützt wurde, rund sechs Jahre brauchte, bis er im Januar 1977 in Kraft treten konnte, ist in wesentlichen Bereichen schärfer gefaßt als das schwedische Gesetz.
Auch hier geht es darum, — gesetzlich abgesicherte Maßnahmen schon beim wohlbegründeten Verdacht eines Risikos für die menschliche Gesundheit und die Umwelt zu ermöglichen, — eine an Schädlichkeitsaspekten orientierte Giftstoffliste zu erarbeiten, die Prioritäten für einzuleitende Prüfverfahren durch die Industrie (auf ihre Kosten) setzt, — die Beweislast für die Abwehr des Risiko-verdachts dem Produzenten aufzubürden und — ein umfassendes Schadstoffkataster aufzubauen. Gegenüber dem schwedischen Gesetz ist jedoch vorgesehen, daß alle neuen chemischen Substanzen mindestens 90 Tage vor ihrer Herstellung bzw. Verarbeitung der zuständigen Bundesumweltbehörde (EPA) gemeldet werden müssen. Zugleich müssen Prüfungsunterlagen mit allen dem Hersteller etc. bekannten oder (zumutbar) ermittelbaren Erkenntnissen über die betreffende Substanz übermittelt werden. Ausgehend von diesen Unterlagen kann die EPA dann Auflagen machen,, die vom Verbot bis zu Etikettierungsvorschriften reichen können.
In beiden Gesetzen, sowohl dem amerikanischen als auch dem schwedischen, taucht ein grundlegender Charakterzug ihrer allgemei39 nen Umweltpolitik wieder auf: In den USA spielen Gerichte und Öffentlichkeit eine entscheidende Rolle bei der Implementation und Kontrolle; in Schweden ist dagegen stark auf die Kooperation zwischen Verwaltung, Gewerkschaften und Industrie abgestellt
So ist z. B. im amerikanischen Gesetz vorgesehen, daß Entscheidungen der EPA sowohl von den betroffenen Herstellern als auch von Bürgen gerichtlich angefochten werden können, wobei noch die Kostenbarrieren für Personen, die mit ihren Einsprüchen kein wirtschaftliches Interesse verfolgen, durch öffentliche Unterstützungen vermindert werden können 5). Weiterhin sind fast alle Entscheidungen und die ihnen zugrunde liegenden Informationen (mit der Ausnahme solcher, die in den Bereich des Betriebsgeheimnisses fallen) — im Gegensatz zu Schweden — zu veröffentlichen. Nicht nur in dem behördlichen Giftstoffkataster werden umfassende Informationen gesammelt, auch die US-Hersteller sind verpflichtet, alle Erkenntnisse über Gesundheitsschäden ihrer Beschäftigten dreißig Jahre lang zu speichern; Berichte von außerhalb über Gesundheitsoder Umweltschäden müssen mindestens fünf Jahre lang aufbewahrt werden. 4. Schweiz und Japan Wie in den USA sind auch in der Schweiz und in Japan alle neuen Chemikalien einer Melde-und Genehmigungspflicht vor ihrer Markteinführung unterworfen.
In Japan nimmt die zuständige Behörde auf der Basis des 1974 in Kraft getretenen „Chemical Substances Control Law“ eine Klassifizierung der gemeldeten Substanzen vor. Werden sie als gefährlich eingestuft, sind besondere Auflagen (Verbot etc.) möglich. Ist das mit ihnen verbundene Risiko ungewiß, so werden von den Behörden Tests durchgeführt, die insbesondere aufdecken sollen, ob PCB-ähnliche Eigenschaften (chronische Toxizität, geringer Abbaugrad, Konzentrationstendenz in lebenden Organismen) vorliegen.
Das 1969 erlassene und 1971 wirksam gewordene Chemikaliengesetz der Schweiz legte die Grundlage dafür, daß auch alle bereits bestehenden Chemikalien, mit denen Konsumenten in Berührung kommen können, nachträglich erfaßt, überprüft und hinsichtlich ihrer potentiellen Gefahren klassifiziert wurden. Bis 1975 waren rund 40 000 Meldungen zu bearbeiten; rund 10 000 Substanzen wurden klassifiziert. Nach einer anfänglichen Überlastung der zuständigen Behörde soll dieses System seit 1975 zufriedenstellend funktionieren. Das Schweizer Gesetz, nach dem sich die öffentliche Hand und Industrie die Kosten für Prüfverfahren teilen, ist aber einer bedeutsamen Einschränkung unterworfen: Bei der Risikobewertung geht es primär um die Gefährdung der menschlichen Gesundheit. Eine Erweiterung des Gesetzes auch auf den allgemeinen Umweltbereich ist jedoch vorgesehen. 5. Norwegen Das norwegische „Product Control Act 1976', das im Juli 1977 effektiv wurde, ist in allen wesentlichen Punkten dem schwedischen Gesetz nachgebildet worden, mit der einen Ausnahme, daß hier keine Substanzen (wie Deter-gentien oder Lebensmittelzusätze, für die in Schweden besondere Regelungen bestehen) ausgeschlossen sind.
Der Überblick über die in den westlichen Industriestaaten existierenden Regelungssysteme für Umweltchemikalien zeigt, daß es zwei Basis-Modelle, nämlich das schwedische und das amerikanische, gibt, während die Gesetze in den übrigen Ländern mehr oder minder grobe Modifikationen davon sind. Die Unterschiede zwischen diesen beiden Grundmodellen lassen sich großenteils aus der Gesellschaftsauffassung, die der jeweiligen Umweltpolitik zugrunde liegt, erklären.
Während das schwedische Modell von Umweltpolitik allgemein auf einer Kooperation zwischen Industrie und Staat aufbaut, also konsensusorientiert ist, geht die amerikanische Umweltpolitik von einem fundamentalen Interessengegensatz zwischen den gesellschaftlichen Kräften aus, der sich an den Polen Profit-versus Gemeinwohlorientierung festmachen läßt, und auch nicht allein durch eine „neutrale" Behörde zu überbrücken ist. Insofern ist die Konfliktorientierung das der amerikanischen Umweltpolitik zugrunde liegende Charakteristikum.
Welches Modell das realistischere und effektivere ist, wird sich für den Bereich der Umweltchemikalien erst noch zeigen müssen. Ei-B nige immanente Schwächen beider Gesetze sind jedoch schon jetzt offensichtlich:
— es gibt keine ausdrücklichen Schadensersatzregelungen, — aufgrund ermöglichter gerichtlicher Einspruchsrechte durch die Industrie kann es starke Verzögerungen geben (USA), — es mangelt an ausreichenden Budgetbewilligungen für die zuständigen Behörden (vor allem in den USA), — die Effektivität des Gesetzes hängt sehr stark von der Aktivität der zuständigen Behörde ab (dies vor allem in Schweden, wo das zuständige Amt bisher jedoch in personaler wie sachlicher Hinsicht völlig unzureichend ausgestattet ist), — es besteht die Möglichkeit, neue Substanzen zu Testzwecken ohne das übliche Prüfverfahren auf den Markt zu bringen, — es wurde eine „ökonomische Harmonie-klausel" eingebaut, die besagt, daß vor administrativen Maßnahmen all die Vorteile berücksichtigt werden müssen, die die in Frage stehende Substanz volkswirtschaftlich bietet.
Dennoch können beide Gesetze als ein Schritt in die richtige Richtung angesehen werden, weil vermutlich schon die erzwungene erhöhte Sorgfaltspflicht und die in eindeutig problematischen Fällen nun möglichen zügigen administrativen Entscheidungen zu einem erhöhten Risikobewußtsein der Industrie führen werden.
Im EG-Bereich stehen solche Regelungen — bis auf Frankreich, das in dieser Analyse noch nicht berücksichtigt werden konnte — noch aus. Erst im September 1975 wurde ein j EG-Vorschlag veröffentlicht, dessen wichtigster Aspekt in der Verpflichtung der Produzenten liegt, vor der Markteinführung neuer Umwelt-chemikalien ihre Gesundheits-und Umwelteffekte zu untersuchen. Eine Genehmigungspflicht besteht dagegen nicht, denn die Prüfergebnisse müssen der zuständigen Behörde erst am Tage der Markteinführung mitgeteilt werden. Primäres Ziel ist demnach der Aufbau eines Giftstoffkatasters. Bereits existierende Substanzen fallen aus dem Regelungsbereich heraus, auch wenn sie einer völlig neuen Verwendung zugeführt werden.
Schließlich entfällt die Meldepflicht auch für solche neuen Substanzen, die lediglich zu Testzwecken vermarktet werden. Hier diente i p wie auch in den anderen Ländern — die egründung, daß anderenfalls die Forschungsund Innovationskapazität zu stark beeinträchtigt werden könnten. Die Diskussion um diesen Vorschlag auf der Ebene der national-staatlichen Expertenkommissionen läßt vermuten, daß diese ohnehin vergleichsweise schwachen Regelungen noch weiter entschärft werden.
In der Bundesrepublik wurde zwar noch im Umweltprogramm 1971 von der Notwendigkeit eines bundeseinheitlichen Giftgesetzes gesprochen, aber erst vor kurzem wurde das zuständige Bundesinnenministerium zumindest hinsichtlich der Zielvorstellungen konkreter, indem es erklärte, sich für die folgenden ergänzenden gesetzlichen Regelungen zum Schutz vor umweltgefährdenden Chemikalien „einzusetzen"
— Verpflichtung der Industrie zur Prüfung der Umweltgefährlichkeit neuer Chemikalien, — Information der Behörde über die Untersuchungsergebnisse, — Ermächtigung für Verbote und Beschränkungen von umweltgefährlichen Chemikalien. Eine Genehmigungspflicht für neue Umwelt-Chemikalien ist jedoch nicht vorgesehen. Auch der Sachverständigenrat für Umweltfragen, der für andere Umweltbereiche wertvolle Sondergutachten herausgegeben hat, hat sich diesem Thema (wie auch den Fragen der Kernenergie) unverständlicherweise nicht zugewandt. Das trifft ebenfalls für sein erstes Umweltgutachten (1974) zu, wo der Rat die Frage nach einem angemessenen Regelungssystem für Umweltchemikalien noch ausklammert, während die Diskussion hierum bei vergleichbaren Institutionen in anderen Ländern schon längst ein „heißes" Thema war. Im demnächst folgenden zweiten Gutachten soll dagegen das Thema Umweltchemikalien ausführlicher behandelt werden.
Es ist aufgrund anderer Erfahrungen auch kaum damit zu rechnen, daß die Bundesrepublik auf diesem Gebiet zu einem Schrittmacher werden könnte. Denn ob es sich um Umweltchemikalien, Arzneimittel, Lebensmittel-Zusätze oder ähnliche Dinge handelt, die in den USA wegen ihrer vermuteten Gesundheitsrisiken aus dem Verkehr gezogen werden, oftmals bemüht sich die Bundesregierung, die Risiken herunter zu spielen. Bedenklicher noch ist, daß selbst die Behörde, die als oberster Gesundheitswächter fungiert, nämlich das Bundesgesundheitsamt, ein gebrochenes Verhältnis zum Risikobegriff hat. Gerade diese Institution, die Verfechter eines rigorosen, von allen wirtschaftlichen Überlegungen freien Risikostandpunktes sein sollte, macht sich hin und wieder indirekt zum Fürsprecher der kritisierten Hersteller, indem erst nachweisbare Schäden administrative Maßnahmen nach sich ziehen sollen Wenn schon eine solche Institution eine so geringe Sensibilität für eventuelle Risiken besitzt, dann bestätigt sich doch wieder einmal die Richtigkeit der „ amerikanischen Umweltschutzphilosophie", die die „geschlossene Gesellschaft" von Bürokratie, Industrie und Wissenschaft durch effektive Partizipationsmöglichkeiten der Bürger aufbricht und die mit der EPA eine Umweltschutzbehörde geschaffen hat, die sich sozusagen „aggressiv“ für Umweltschutzbelange einsetzt.
Denn gerade der Bereich der Umweltchemikalien, deren Anzahl in die Millionen geht und zu denen jährlich rund tausend hinzukommen, darf — auch wenn er zur Zeit in der breiten Öffentlichkeit noch einen sehr geringen Aufmerksamkeitswert hat — nicht auf die leichte Schulter genommen werden, da es hier um einen Umweltschutzbereich geht, in dem die meisten und folgenreichsten Schäden entstehen. So diskutiert der nationale Umweltbericht der USA von 1975 sehr ausführlich die Ursachen der rapide steigenden Krebserkrankungen in den letzten Jahren und stellt hierzu fest: „Unglücklicherweise übersteigt die industrielle Kapazität, neue chemische Substanzen zu entwickeln, bei weitem die Möglichkeiten der medizinischen und wissenschaftlichen Institutionen, das karzinogene Potential solcher Chemikalien zu bestimmen. In den letzten Jahren ist die Produktion synthetischer organischer Chemikalien um 255 Prozent gestiegen ... Aufgrund der typischen Latenzzeit von 15— 40 Jahren für Krebs sind wir gezwungen anzunehmen, daß ein
Großteil der Krebsgefahren aus der gegenwärtigen industriellen Entwicklung jetzt noch nicht feststellbar ist“ (Seite 23). Und noch im Folgebericht des Jahres 1976 wird vor allem das geringe Risikobewußtsein gegenüber den Umweltchemikalien gerügt: „Glücklicherweise sind von den 3, 5 Mio. bekannten chemischen Verbindungen in ihrer gegenwärtigen Verwendung nur relativ wenig hochtoxisch. Das Ergebnis hiervon war allerdings, daß wir uns in ein falsches Sicherheitsgefühl einlullen ließen“ (Seite 29).
Die Problemdimension dieses industriellen Risikobereichs wird prinzipiell auch von der Bundesregierung anerkannt. Und da inzwischen beispielhafte gesetzliche Regelungssysteme bestehen, ist kein Grund (außer: mangelndes Durchsetzungsvermögen gegen industrielle Interessen) mehr vorhanden, noch lange Zeit bis zur Verabschiedung eines risiko-orientierten Umweltdiemikaliengesetzes verstreichen zu lassen, um auch in der Bundesrepublik die „Zweite Etappe" der Umweltschutzpolitikmit ihrem Grundziel „Prävention von Risiken" einzuleiten. Angesichts bisheriger Versäumnisse scheint jedoch die pessimistische Einschätzung Thomas von Randows realistischer zu sein: „Auf einen bloßen Verdacht hin wird hierzulande kein Industrieprodukt vom Markt genommen. Da müßte es schon viel massiver kommen.“
Demgegenüber heben sich die angeführten Beispiele aus anderen Staaten gerade deshalb positiv hervor, weil hier Ansätze vorhanden sind, die Souveränität der politischen Instanz im Sinne von „Veto-Macht” gegen den „industriellen Selbstlauf" zu stärken und damit anstelle des „Zyklus von industrieller Probleniproduktion und industrialisierter Problembewältigung" 10) eine ursachenorientierte politische Lösung zu setzen.