Die Lehrer der Bundesrepublik sind verunsichert. Das Thema „Beamtenstreik“ beunruhigt nicht nur die allgemeine bundesrepublikanische Öffentlichkeit, sondern auch die Lehrerschaft selbst reagiert darauf gespalten. Einheit besteht nicht einmal in bezug auf die mit der Streikaufforderung verbundenen finanziellen Postulate, geschweige denn im Hinblick auf die gesellschaftsund schulpolitische Begründung, mit der die „Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft“ ihre Aufforderung motiviert. Das Streikthema hat einen Sachverhalt sichtbar gemacht, dessen Hintergrund tief gestaffelt ist. Die Verunsicherung der Lehrerschaft spiegelt die Verunsicherung des bundesdeutschen Beamtentums im ganzen wider, und diese läuft wiederum parallel mit der Verunsicherung des allgemeinen deutschen Staatsbewußtseins. Die Schule und ihre Lehrer waren, seit der Prozeß der Verrechtlichung des Staates in Gang gekommen ist, schon immer besonders empfindliche Seismographen. Die heftige öffentliche Staatsschelte und die fast schonungslosere Schulkritik noch haben sich in den letzten zehn Jahren in der Bundesrepublik zu einer Melodie gleicher Tonart vereinigt.
Wenn beamtete Lehrer bei uns in bezug auf ihre Aufgabe unsicher geworden sind und zwischen Aktionismus und Resignation hin und her schwanken, so muß sich, will man das Phänomen analysieren, der Blick zunächst auf das allgemeine deutsche Staatsbewußtsein richten. Unsere Schulen sind Staatsschulen. Der die gesamte Problematik „Lehrer als Staatsbeamte" leitende Tatbestand ist, daß es in zwei Jahrhunderten deutscher Geschichte nicht gelungen ist, die Idee des Rechtsstaats in das politische Bewußtsein der Gesellschaft voll zu integrieren. Weder Rechtsstaat und Politik noch Rechtsstaat und Gesellschaft haben in der jüngeren deutschen Geschichte ganz zueinandergefunden. Immer noch ist in der Bundesrepublik der Staat genötigt, sich fortgesetzt zu rechtfertigen und für sein eigenes Dasein zu entschuldigen.
Im folgenden soll daher mit einigen Überlegungen zur Problematik unseres Staatsbewußtseins begonnen werden. In einem zweiten und dritten Teil folgen Bemerkungen zur Idee des Beamtentums und zum Selbstverständnis der beamteten Lehrerschaft. Systematischen Anspruch können die folgenden Darlegungen nicht erheben. Wenn sie zur weiteren Klärung eines heiß umstrittenen, weil für die Zukunft unserer Demokratie zentralen Gegenstandes auch nur einen kleinen Beitrag leisten, hat sich die Mühe gelohnt.
I. Der Leidensweg des deutschen Staatsbewußtseins
Nur wenige halten es in der Bundesrepublik noch für angebracht, sich zu „diesem Staat“ offen zu bekennen, und wo es geschieht, ist das Bekenntnis oft mehr durch Provokationen herausgefordert als das Ergebnis einer gelassenen kritischen Abwägung. Der Staat seinerseits wagt kaum noch, den Bürgern der Bundesrepublik spürbare Opfer abzuverlangen. Setzen wir den Staat einmal gleich mit der in Regierung und Opposition auseinandertretenden legislativen und exekutiven Zentralgewalt, so haben Interessengruppen entdeckt, daß der „Bonner“ Staat sich erpressen läßt. Pressure Groups und allgegenwärtige Bürgerinitiativen machen es ihm schwer, auf Gebieten, die im Interesse aller eine Neuregelung verlangen, zu eindeutigen Entscheidungen zu gelangen. In einem Augenblick, wo der Staat im Interesse von uns allen zur Politik befähigt werden müßte, ist ein Tiefstand an staatlichem Selbstvertrauen und an bürgerlichem Zutrauen zum Staat und zu seinen Organen festzustellen. Zyniker haben gesagt, wir erwarten heute vom Staat kaum noch etwas anderes, als daß er eine möglichst große Zahl von Bundesbürgern bis ans Lebensende versorgt; im übrigen ist es seine verdammte Pflicht und Schuldigkeit, die Konjunktur zu erhalten. Wo ist, so muß man fragen, die Spur jenes Vertrauens zur Idee von Recht und Gerechtigkeit geblieben, von der die deutsche Öffentlichkeit 1945 durchdrungen war und die die normative Substanz unseres Grundgesetzes ermöglicht hat? Heimweh nach der Staatsmetaphysik In einem Land Europas, das teilhat an der Tradition der antiken und christlichen Staats-idee, läge in einem solchen Augenblick nichts näher, als an die abendländische Überlieferung anzuknüpfen. Sie ist ja nicht identisch Platos, welche mit der Gesellschaftsutopie die Zügel der Staatsmacht den „Philosophen“, also den gelehrten Spitzen des Geistes in die Hand geben wollte-, ihr intellektueller und moralischer Rigorismus mußte mit Notwendigkeit zu einer kompletten ersten Theorie der Tyrannis führen. Wohl aber wurzelt das abendländische politische Denken tief in den Vorstellungen des Aristoteles, daß sich die Herrschaft des Staates nicht durch reine Zweckmäßigkeitserwägungen rechtfertige, sondern allein durch die Absicht, den Bürgern zu einem guten und edlen Leben zu verhelfen.
In die abendländische Staatstheorie ist der normative Gehalt der antiken Staatsidee tief eingelassen. Auch das ganze Mittelalter hindurch gab es keinen Zweifel, daß der Staat nicht irgendwelche, sondern eine sittlich gute Ordnung zu gewährleisten habe. Immer lag der Schwerpunkt des staatspolitischen Denkens „jenseits der Scheidelinie ordinärer Bedürftigkeit“ (B. Guggenberger). Erst mit der Aufklärung wurde das anders. Frühestens seit Hobbes stellte sich der Staat den Bürgern als eine in die Hand der Menschen gegebene, von ihnen selbst organisierte und vor allem ihrem überleben dienende Veranstaltung dar. Mit „letzten Dingen“ hatte der Staat von nun an nichts mehr zu tun. Der Staat des Natur-rechts hatte keinen Tugendauftrag mehr, sondern legitimierte sich allein auf der Grundlage der Interessen der Individuen. Er ist eine von den Menschen selbst beschlossene Form der Interessenvertretung und steht ganz unter der Kontrolle derjenigen, die ihm die Wahrung ihrer Angelegenheiten übertragen haben. Diese prinzipielle Autonomiekonzeption ist nicht mehr aus der Welt zu schaffen. Wir haben sie auch in die heutigen Bemühungen um die Erneuerung des Staatsbewußtseins mit einzubeziehen. Aber gerade dann, wenn wir Theorie und Praxis der zunehmenden Rationalisierung und Funktionalisierung des Staates ernst nehmen, darf auch nicht ignoriert werden, wie schwer es uns Deutschen fiel, von der alten Staatsmetaphysik Abschied zu nehmen. Die Geschichte des deutschen Geistes ist voll von Restaurierungsversuchen. Vielen revolutionären Gesellschaftskonstruktionen der Gegenwart, die mit der Idee einer „besten" Gesellschaft operieren, fehlt eben deshalb der Ernst und die Glaubwürdigkeit, weil sie ihre eigenen Visionen absolut setzen und nicht zur Kenntnis nehmen, welche ungeheuren geistigen Gestaltungsbemühungen im Raum der Geschichte ihren modernistischen geschichtslosen Spekulationen vorausgegangen sind.
Zweihundert Jahre deutscher Geschichte sind angefüllt mit einem teils stillen teils lauten Heimweh nach der Metaphysik der Staats-idee. Nicht nur Hegel ist hier zu nennen, sondern auch Marx und der Staatsidealismus der neukantianischen Pädagogik. Aber freilich Hegels Rechtsphilosophie war der Brocken, der am schwersten zu verdauen war. Hier erschien der Staat auf der obersten Stufe der Werte, als die Inkarnation des Objektiven Geistes, als die „Wirklichkeit der sittlichen Idee". Alle Bemühungen, die darauf abzielen, die Staatsidee der Deutschen im 19. und 20. Jahrhundert aus dem monarchischen Bezugsfeld herauszulösen und näher an das rechtsstaatliche Bewußtsein heranzuführen, haben in Hegels Staatsphilosophie einen Gegenspieler gehabt, der es den Intellektuellen Deutschlands leichtmachte, sich im Namen des Staatsethos von der demokratischen Entwicklung zu distanzieren. Insofern steht der Geist Hegels auch hinter der staatsbürgerlichen Pädagogik der Kaiserzeit und der Weimarer Republik. Verräterisch war damals der Begriff der „Gemeinschaft", der die politische Pädagogik der ersten drei Jahrzehnte unseres Jahrhunderts beherrscht hat. Der Münchener Stadtschulrat Kerschensteiner hielt es (1910) für die Aufgabe der Schule, den Staat dem Ideal der sittlichen Gemeinschaft immer näherzubringen und das „Schlagen immer humaner, das Vertragen immer freiwilliger" zu gestalten. Und der Neukantianer Paul Natorp, dessen „Sozialpädagogik" das politische Bewußtsein einer ganzen Generation geprägt hat, sah zwischen der Struktur der individuellen Sittlichkeit und dem Ethos des Staates überhaupt keinen Unterschied; die Gesellschaft gewann nach seiner Meinung ihre Gestalt, indem „das Selbst sich zur Gemeinschaft erweitert". Auch die neukantianischen Kategorien haben es — wie die Hegelscheu — jahrzehntelang den führenden Kreisen des deutschen Bürgertums ermöglicht, die Augen vor den gesellschaftlichen Gegebenheiten und vor den empirischen Befunden der Sozialpsychologie, vor allem auch vor den Sachzwängen der Institutionen mit gutem Gewissen zu verschließen. Die Welt ließ sich bequemer mit den Begriffen der Individualethik konstruieren. Die Staatsmetaphysik ist mit dem politischen Irrationalismus der Deutschen zwar nicht identisch, aber zwischen beiden besteht ein enger Zusammenhang. In dem nationalsozia-
listischen Mythos der „Volksgemeinschaft“
haben sich metaphysische Spekulationen und irrationale Sehnsüchte zu einer verführerischen Einheit zusammengeschlossen. Die Theorie des „Totalen Staates“ wurde den Volksgenossen in einer geheimnisvollen Verpackung von biologischen Halbwahrheiten und weltanschaulichen Kuriositäten schmackhaft gemacht. Im Reiche Hitlers war nun zwar von Staat viel die Rede, vor allem wenn es darum ging, Macht und Überlegenheit nach außen zu demonstrieren; aber wo immer die allein seligmachende Partei um die Gunst des Volkes warb, trat sie nicht als der fordernde Staat, sondern als die sich anbiedernde völkische Gemeinschaft auf den Plan. Der Slaat verlangte Gehorsam, die Volksgemeinschaft appellierte an die Verantwortung. Es war nur ein Spiel mit Worten. In Wirklichkeit bügelte das Prinzip der Parteilichkeit alle ideologischen Distinktionen zusammen, so daß Millionen Deutscher nicht gewahr wurden, daß sich im Reiche Hitlers hinter der Rede von der Verantwortung das skrupellose Ziel politischer Machterweiterung verbarg.
Die Spur des politischen Irrationalismus ist auch 1945 nicht gänzlich ausgelöscht worden. Zwar war der Staat nun demaskiert; mit der „höchsten sittlichen Idee" war es nun aus; die Deutschen hatten erfahren, daß der Staat selbst zum Verbrecher werden konnte. Zwar schienen die Deutschen nun entschlossen, ihre politischen Einstellungen nicht mehr an idealen Fernzielen, sondern an den nahen und übersehbaren Gegebenheiten zu orientieren. Zwar schien nun der Mehrheit die Erkenntnis aufgegangen, daß politische Freiheit an elementare Rechtsgrundlagen gebunden ist. Ich habe damals selbst mit meinem (unter dem Pseudonym Friedrich Oetinger erschienenen) Partnerschaftsbuch gemeint, einiges zur Um-Programmierung der politischen Erziehung vom traditionellen Staatsidealismus auf den Bereich der gesellschaftlichen Naherfahrungen beitragen zu können. Aber gerade am Schicksal dieses Buches, das weite Kreise zog, erwies sich, wie mächtig in Deutschland das Bedürfnis fortwirkte, für das staatsbürgerliche Verhalten eine harmonisch-idealistische Weltformel in der Hand zu haben. Was vom Autor niedergeschrieben war, um den Grund für eine Neuorientierung des politischen Bewußtseins jenseits der staatsbürgerlichen Kategorien zu legen, wurde alsbald im Sinne einer Renaissance alter, vertrauter politischer Gemeinschaftsmodelle interpretiert, und in der Polarisierung der Stellungnahmen ist die sozialtheoretische Substanz des Partnerschaftsbegriffes fast ganz untergegangen.
Die Vertreter der sogenannten Konfliktpädagogik haben sich in den folgenden Jahrzehnten ein Vergnügen daraus gemacht, das Oetinger-Buch in das Lager des alten staatsbürgerlichen Harmonismus abzuschieben, während es in Wahrheit exakt von der Erkenntnis ausging, daß Politik zwar ihrem Wesen nach konfliktgeladen ist, daß politische Bildung aber nicht darin bestehen kann, diese Konflikte zu verewigen, sondern daß die Schule Hilfen geben muß, sie zu überwinden (H. Giesecke 1975: Oetingers „Partnerschaft" „enthielt Regeln für die Lösung von Konflikten und keine Utopie eines friedlichen Schlaraffenlandes"). Spätere Generationen werden lächeln über den intellektuellen Aufwand, mit dem in den sechziger und siebziger Jahren der „Harmonismus“ als die höchste Gefahr für eine realistische politische Bildung „entlarvt" worden ist. Der Geschichtsschreiber wird einmal zu verzeichnen haben: Um 1970 trieb eine revolutionäre Theorie die politischen Pädagogen aus Heimweh nach dem Irrationalen in einem ausweglosen dialektischen Gehege zwischen dem absoluten Konflikts-und dem absoluten Harmoniemodell hin und her.
Vom „Ende des Staates" und vom „ganz anderen Leben“
Der Prozeß der Zersetzung des deutschen Staatsbewußtseins hat in den sechziger Jahren eine neue Stufe erreicht. Der Staat war im Bewußtsein der Wohlstandsgesellschaft nicht völlig ausgelöscht, sondern konnte im Gegenteil durch punktuelle Sensationen über Nacht zur Schlagzeile werden. Aber die Begegnung mit dem Staatsphänomen fand in einem anderen Medium statt. Es ging nicht mehr um Hochschätzung oder Verachtung, auch nicht um Zustimmung oder Kritik, sondern man wurde des Staates überdrüssig. In Marcuses Gesellschaftskritik ist das beherrschende Motiv der Überdruß am Staat. Der Staat hat keinen Sinn mehr, wir brauchen ihn nicht mehr, er wird zusehends überflüssig. Im übrigen wollen wir ihn auch gar nicht mehr, denn wir wollen ein ganz anderes als das staatlich dargebotene und verbriefte Leben führenl In die jüngste Position des politischen Irrationalismus ist der Reflexionsbestand des Marxismus eingegangen. Das politische Wunschbild heißt jetzt nicht mehr „Staat“ und nicht mehr „Gemeinschaft“, sondern „*Gesellschaft — eine „totale" Gesellschaft, die klassenlos ist und in der die Menschen, in ewiger Diskussion miteinander kommunizierend, keiner herrschaftlichen Hierarchie mehr bedürfen. Mit der Theorie der Demokratie als „permanenter Kommunikation'ist der Neomarxismus der Frankfurter Schule die letzte anspruchsvolle Station in der Geschichte des deutschen Heimwehs nach politischer Metaphysik. Der auf Marx selbst zurückgehende klassische Frühmarxismus hat zu der revolutionären neomarxistischen Endzeitvision einen zwar wesentlichen Beitrag geleistet, der aber für sich allein nicht genügt hätte, um den Neomarxismus als eine im Grunde „bürgerliche“, nämlich harmonistisch-unpolitische Position zu decouvrieren. Klassisch-marxistisch war die Lehre vom „Absterben des Staates": Das Ende des Staates wird dann gekommen sein, wenn das kapitalistische Prinzip sich selbst überschlägt und niemand mehr bereit sein wird, sich in seinem Dienst zu verzehren, weil allen alles im Überfluß zur Verfügung steht. Auf den ersten Blick ist der marxistische Beitrag zum deutschen Staatsverständnis ein eminent rationaler. Die Weltgeschichte ist berechenbar. Der Staat ist nicht geschichtlich geworden, sondern das Produkt rein wirtschaftlicher Zwecküberlegungen. Er ist von den Kapitalisten zur Verschleierung der Klassenkämpfe erfunden. Und so wie er ausschließlich als kapitalistische Zweckorganisation entstanden ist, wird er nach marxistischer Lehre auch wieder verschwinden, wenn die Gesellschaft endgültig entkapitalisiert sein wird. Für Marx hatte der Staat nur eine transitorische Funktion. Er ist eine vergängliche Erscheinung, ein reines Herrschaftsinstrument, das ausgedient haben wird, wenn die menschlichen Bedürfnisse saturiert sind und die Gesellschaft sich selbst verwalten kann. Die Zukunftsvision einer „Endlösung", in der es keinen Staat mehr, sondern nur noch Verwaltung geben wird, ist freilich nur für den überzeugend, der die marxistische Geschichtsfälschung mitvollzieht und die Staats-tätigkeit mit der wirtschaftlichen Produktion gleichsetzt. Wer den Staat auf monopolkapitalistische Tendenzen reduziert, dem freilich ist es möglich, eine Gesetzmäßigkeit des geschichtlichen Prozesses zu konstruieren und jenen Punkt anzugeben, wo die Produktivität ihren absoluten Schlußpunkt erreicht haben wird. Aber die Geschichte ist anders strukturiert, und eben diese geschichtsphilosophische Fälschung ist die Stelle, wo das so rational anmutende Konzept des historischen Materialismus in eine irrationale Zukunftsvision umschlägt. Das „Ende" des Staates kann nur derjenige prophezeien, der die Geschichte so eindimensional instrumentalisiert, daß ihr Verlauf kalkulierbar wird.
Auch die neomarxistischen Theorien laufen auf das Ende des Staates hinaus. Aber sie operieren mit anderen Vorstellungen. Während nach klassisch-marxistischer Ideologie die Geschichte mit Notwendigkeit zum Absterben des Staates führt, ist es nach neomarxistischer Überzeugung erforderlich, den Staat abzuschaffen, um den Menschen zu retten. Zu der geschichtsphilosophischen Spekulation treten jetzt sozialanalytische und psychotherapeutische Spekulationen hinzu. Marcuses Buch „Der eindimensionale Mensch“, das in den sechziger Jahren zur Bibel der radikalen Linken wurde, räsonniert auf zwei Ebenen. Gesellschaftspolitisch erscheint der Staat als diejenige Macht, die nichts anderes bezweckt, als die Bedingungen der die moderne Zivilisation begleitenden „komfortablen, reibungslosen, vernünftigen, demokratischen Unfreiheit" aufrechtzuerhalten und ständig zu reproduzieren. Psychologie und Anthropologie zeigen aber — nach Marcuse — zugleich, daß das bestehende staatliche Machtsystem alle konstruktiven Kräfte des Menschen unterdrückt und nur diejenigen fördert, die sich in das staatlich genehmigte Produktionsund Interessenschema einfügen. Der makabre Trick dieses bürgerlich-kapitalistischen Staates besteht nach Marcuse darin, dem Menschen glaubhaft zu machen, daß die „falschen" Bedürfnisse die „wahren“ seien — daß die Befriedigung der Bedürfnisse, die ihm durch die Manipulationsmittel des Staates suggeriert werden und die das Subjekt sich selbst entfremden, das wahre Glück des Menschen ausmachen und ihn zu sich selbst führen. Politisch ist es dem Staat gelungen, den Klassenkampf abzuschwächen, eine wirkungsvolle Opposition auszuschalten und die unterdrückte Arbeiterschaft zu dem Glauben zu verführen, sie müsse dieses System im eigenen Interesse verteidigen. An einer entscheidenden Stelle nämlich, sagt Marcuse, hat Marx sich geirrt: die befreienden Kräfte lassen sich nicht innerhalb der etablierten Gesellschaft entwickeln, weil jedes Paktieren mit ihren Zielen und Methoden immer nur wieder deren eigene Position stärken wird. Wer den Menschen aus diesem System . meisterhafter Versklavung" wirklich befreien will, wer ihn herausretten will aus der Umklammerung durch den kapitalistischen Leistungsehrgeiz und ihn öffnen will für sein wahres Glück, muß daher diesen Staat frontal angreifen bis zur totalen Negation aller seiner Funktionselemente.
In den neomarxistischen Konzepten figuriert der Staat nicht mehr bloß als die Herrschaftsmacht, welche die produzierenden Klassen unterdrückt, sondern auch noch als jener übermächtige Steuerungsapparat, der es in der Hand hat, die individuelle Produktivität zu kanalisieren und das Individuum insgesamt auf eine Bahn der „Entfremdung“ festzulegen. „Die Sklaven der entwickelten industriellen Zivilisation sind sublimierte Sklaven, aber sie sind Sklaven... ; denn darin besteht die reine Form von Knechtschaft: als ein Instrument, als ein Ding zu existieren.“ Diese Verdinglichung des Menschen — die Reduktion der vollen Humanität auf die eine Dimension, die dem kapitalistischen Leistungssystem dienlich ist — muß aufgehoben werden, und das kann nur durch die totale Beseitigung des Staates geschehen. . Wissenschaftlich" war diese Argumentation so wenig wie die Marxsche Einengung der Weltgeschichte auf die wirtschaftliche Produktion. Was Marcuse und seine philosophischen Helfershelfer über die Alternative zu einer so „eindimensionalen" Gesellschaft verlautbaren ließen, blieb so allgemein wie die Marxschen Zukunftsandeutungen im 24. Kapitel des „Kapitals". Auch der unpolitische Charakter der alternativen Visionen einer . Endlösung" des vollkommenen Glücks ist dem klassischen Marxismus und seinen neuesten intellektuellen Spielarten gemeinsam. Man will nicht eine neue politische Verfassung der Gesellschaft, sondern eine neue Form politikfreien Lebens. Man will überhaupt keinen Staat mehr, sondern das „ganz Andere", ein Leben in purer Menschlichkeit, das von innen heraus so fundamentiert ist, daß es keiner politischen Verfassung der Gesellschaft mehr bedarf. Die Kritik am bestehenden
Staat ist in eine Kritik am bestehenden Dasein verwandelt; der Traum von der Klassengesellschaft wird in einen Traum vom ganz anderen Leben umfunktioniert.
Eben damit aber reiht sich auch die jüngste Variation der Staatskritik konsequent in die Kette des deutschen politischen Irrationalismus ein. Was sich so modern und rational gibt, die Kritik an den Ausuferungen zentraler staatlicher Verwaltung und an der technokratischen Überwucherung unseres Daseins, läuft auf Stimmungen und Empfindungen hinaus, die sich eine rationale Überprüfung der gegebenen Möglichkeiten gar nicht mehr abverlangen. Ein allgemeiner Überdruß am Staat wird zum eigentlichen Motiv der außer-parlamentarischen Opposition, und was als Alternative angeboten wird, ist mehr ein Bild von andersartiger Gemütsverfassung als eine politische Konzeption. Die neomarxistischen Argumente gehören in das Reservoir der bürgerlichen deutschen Kulturkritik und stehen dem Geiste Nietzsches und Spenglers näher als Marx und auch als dem Parlamentarischen Rat, der nach 1945 in der Stunde Null sich um eine neue politische Wertgrundlage unserer Gesellschaft mühte.
Theorie der „Gegengewalt"
Von der „Frankfurter" Kulturkritik ist es nur ein kleiner Schritt zu denjenigen Theorien, die den bestehenden Staat insgesamt als ein System der Gewalt denunzieren und die Gegengewalt für den einzigen Weg halten, an den bestehenden Verhältnissen etwas zu bessern. Während es lange Zeit den Anschein hatte, es handle sich bei den Verfechtern der „Gegengewalt“ um vereinzelte Außenseiter bzw. um unbedeutende Gruppen extremistischer Marodeure, belehrt uns die Häufung der politischen Geiselnahmen und Morde eines Besseren. Die Theorie der „Gegengewalt" ist eine weitere Eskalationsstufe der Zersetzung des Staatsbewußtseins, und genau dies ist von den Mördern beabsichtigt.
Die Kulisse des politischen Terrorismus wird gebildet durch die Interpretation der westlichen Demokratien als Gewaltsystemen. Während dies geschrieben wird, findet auf dem Gebiet eines geplanten Kernkraftwerkes eine Schlacht von organisierten, mit allen Schikanen des modernen Terrors ausgerüsteten Kampftrupps gegen die Polizei statt, die vom Staat zum Schutze des Objekts eingesetzt ist. Das Ziel der Gegengewalt ist längst nicht mehr, die Ausdehnung der Produktion von Kernenergie zu verhindern, sondern man will dem parlamentarischen Staat selbst eine wirksame Schlappe beibringen. In der Theorie der . Gegengewalt" lassen sich die gleichen beiden Konstruktionselemente unterscheiden, von denen oben gesprochen worden ist. Einerseits ist die Theorie der Gegengewalt die konsequente — brutale — Fortsetzung der altmarxistischen Gleichsetzung von Staat und Kapitalismus. Die rechtsstaatlichen Institutionen sind, so wird argumentiert, nur die moralische Verschleierung des Gewaltsystems, das der staatskapitalistische Staat zu seiner Selbsterhaltung nötig hat. Die Theologiestudenten, die dem mutmaßlichen Buback-Mörder einen Rosenstrauß schickten, ihr Verhalten -in Selbst haben aller verständlichkeit damit begründet, der Mörder und der Ermordete seien «beide Opfer ein und desselben gesellschaftlichen Prozesses, der auf Gewalt basiert, wie diese gesamte Ge -sellschaft auf dem Gewaltverhältnis von wenigen Kapitaleignern und vielen abhängigen Lohnarbeitern basiert". Die «Gegengewalt“ wird moralisch.des Juristen, die Anwälte Rechts sein sollten, werden zu Assistenten der Verbrecher. Der wird „Hinrichtung“ Mord genannt. Ihre im Gefängnis sitzenden Kumpels bezeichnen die Terroristen als „Kriegsgefangene". Gräfin Dönhoff hat dazu (in der ZEIT vom 5. August 1977) bemerkt: „Das ist der alte Hitler-Trick, mit dem alle dem Menschen innewohnenden Sperren blockiert werden sollen: Wer dem verheißungsvollen Idealzustand im Wege steht, wird zum anonymen Stein des Anstoßes versachlicht, den zu beseitigen Verdienst ist — damals waren ein es die Juden, heute sind es die kapitalistischen Ausbeuter."
Andererseits rechtfertigt sich die terroristische Praxis mit der Theorie der «Strukturellen Gewalt", die Gewalt mit Zwang verwechselt. Jetzt sind der Angriffspunkt nicht die spezifischen Institutionen des Staates, sondern die Erscheinungen der Verapparatung und Bürokratisierung, die dem Staat und der Wirtschaft gemeinsam sind. Man beruft sich dann als wissenschaftlichen Zeugen auf Max Weber, der ja in der Tat die Bürokratie in einen notwendigen Zusammenhang mit dem Funktionalismus moderner Großgesellschaften gebracht hat. Aber was bei Max Weber eine unausweichliche Voraussetzung geordneten gesellschaftlichen Daseins war, erscheint in der Theorie der «Strukturellen Gewalt“ mit einem moralischen Stigma versehen und wird als das verdammenswürdige Verfallsprodukt bürokratischer Perfektionierung mit antibürokratischen Emotionen aufgeheizt. Die Gleichsetzung des modernen industriellen Verfas-sungsund Verwaltungsstaates mit einem System «struktureller Gewalt" ist wissenschaftlich nicht haltbar, sobald man den Begriff der Gewalt präzis faßt und nicht mit denjenigen Sachzwängen identifiziert, die überall notwendig auftreten, wo bestimmte Leistungen vollbracht werden müssen. Gleichwohl findet das Dogma der Gegengewalt die Zustimmung vieler, denen Bürokratie lästig ist, ohne sich darüber klar zu sein, daß sie im Zweifelsfalle die bürokratische Ordnung doch wohl dem Chaos und der Diktatur vorziehen würden. Die Theorien der . Gegengewalt" sind deshalb so zerstörerisch, weil die Unmoral hier moralisch begründet und gerechtfertigt wird. Man beruhigt das mit der Erklärung, daß Gewissen die sie Aufklärung verschließt, weil sich der mit Gewalt zur Vernunft gebracht werden muß. Es enthüllen sich eigenartige Zusammenhänge. Die politischen Mörder haben noch vor wenigen Jahren mit denjenigen sympathisiert, denen es als ausgemacht galt, der Stil künftiger gesellschaftlicher Konflikts-bereinigung könne nur noch die permanente rationale Diskussion sein. Die Extreme berühren sich auf eine fatale Weise. Wer nicht mehr zu unterscheiden vermag zwischen tatsächlicher Gewalt, die das Monopol des an vereinbarte Rechtsgrundsätze gebundenen Staates ist, und jenen verborgenen Zwängen, die dem großorganisierten Dasein notwendigerweise anhaften, dem erscheint schließlich auch der Mord qualitativ nichts anderes als ein konsequent zu Ende geführtes Argument. Die permanente staatliche Friedensleistung Hält man sich den Prozeß der unterschwelligen Zersetzung des Staatsbewußtseins vor Augen, so fragt man sich immer wieder von neuem, wie es möglich ist, daß Hunderttausende von erwachsenen Bundesbürgern, darunter große Teile akademisch gebildeter Jugendlicher, wie hypnotisiert auf einige punktuelle Ausfallserscheinungen der deutschen Nachkriegsdemokratie starren und völlig blind zu sein scheinen für die fortlaufende lebenswichtige und existenzbegründende Ordnungs-und Friedensleistung dieses Staates.
Die „Normalsituation" zählt nicht; der Blick bleibt haften an den einzelnen Korruptionssensationen, welche von Fall zu Fall die Presse alarmieren. Wie ist dieses Mißverhältnis zwischen faktischer kontinuierlicher Wirkungsweise des Staates und dem desparaten antistaatlichen Aktivismus extremer Gruppen (und der leisen oder auch offenen Zustimmung, die sie finden) zu erklären? Einige Vermutungen lassen sich aufzählen:
1, Ganz offensichtlich haben im Bewußtsein vieler Staatsbürger Staat und Gesellschaft immer noch nicht zusammengefunden. Die hoheitlichen Traditionen hängen der deutschen Demokratie immer noch wie ein Gewicht um den Hals und nötigen den Staat, auch noch in Zeiten, wo er längst für uns alle daseinsnotwendig geworden ist, sich ständig gleichsam für seine Existenz zu entschuldigen. Der permanente Legitimierungszwang — so hat man mit Recht gesagt — ist heute die größte Schwäche des „Bonner" Staates. Ganz gewiß geht es an eben dieser Stelle zugleich auch um das Grundprinzip des Rechtsstaats. Er unterscheidet sich von der Diktatur genau dadurch, daß er seine Herrschaftsmacht und seinen Autoritätsanspruch legitimieren muß. Aber die Legitimation vollzieht »ich im System derjenigen Institutionen, die in der Verfassung eingesetzt und rechtlich Begründet sind. Längst ist auch in Deutschland — wenngleich hier mit der Verspätung von Diktatur und Krieg — die Gesellschaft in den Staat hineingewachsen. Der Staat hat sich zur Gesellschaft erweitert. Die marxistische Argumentation ist ja eben deshalb nicht mehr überzeugend, weil der Staat in den westlichen Industrienationen die alte Herrschaftsorientierung hinter sich gelassen und sich zu einer Organisation umfassender „Daseinsvorsorge“ fortentwickelt hat. Er „nützt" längst nicht mehr allein den Kapitalisten, sondern uns allen. Er verfügt nicht nur über Polizei und bedrängt uns nicht nur mit dem Finanzamt, sondern er baut auch Wohnungen und Verkehrswege, beschafft Rohstoffe und Energie, bemüht sich um Vollbeschäftigung und wirtschaftliche Stabilität; er betreibt Gesundheitspolitik und entwickelt das Ausbildungswesen, und er sorgt für soziale Gerechtigkeit, soweit dies auf distributivem Wege möglich ist. Längst ist auch eine Art Regelkreislauf in Gang gekommen, weil ein so allgegenwärtiger Staat natürlich auf Rückkoppelung angewiesen ist und ohne die Unterstützung der Majorität nicht existieren kann. Daß es infolgedessen im vitalen Interesse der ganzen Gesellschaft ist, diesen Staat nicht funktionsunfähig zu machen, sondern zur Politik zu befähigen, diese Einsicht gehört zum elementarsten Nachholbedarf der politischen Bildung in unserem Lande.
2. Wie wenig die Einheit von Staat und Gesellschaft uns noch in Fleisch und Blut übergegangen ist, hat der überraschende Erfolg der revolutionären Pmanzipationslehre gezeigt. In keinem angelsächsischen Land, auch nicht im Einflußbereich der soziologisch geschulten politischen Theorie Frankreichs, war es möglich, die Vorstellung gesellschaftlicher Freiheit auf die Vorstellung der Befreiung von jeder Art von Zwang und Disziplin herunterzuspielen.
In der Bundesrepublik haben nicht nur kompromißlose Extremisten, sondern auch durchaus gutwillige Liberale an folgenden naiven Überlegungen Gefallen gefunden: Der Staat ist wesentlich die Organisation von Unterdrückungs-und Abhängigkeitsverhältnissen, also können sich die Menschen nur durch den Kampf gegen die öffentlichen Repressionsmechanismen Freiheit verschaffen. Aber der gleiche „Unterdrük-kungsstaat" ist auch der Schutzherr und Garant jenes hohen Maßes individueller Freiheit, die den Menschen der Bundesrepublik nun schon im vierten Jahrzehnt beschieden ist. Daß Freiheit in der Weltgeschichte immer nur auf der Basis rechtlich geregelter Bindungen und Verpflichtungen realisiert worden ist, kommt nur wenigen zum Bewußtsein. Die Bundesrepublik mit den maximalistischen Phrasen absoluter Emanzipation anzugreifen, kann nur jemandem Befriedigung verschaffen, der 1933 bis 1945 nicht erlebt hat. Es war daher vor allem die diesseits von Hitler aufgewachsene Generation, die an dem emanzipatorischen Schema Gefallen fand; ihr fällt es schwer zu begreifen, daß wirkliche Freiheit, die nicht neue Verknechtung nur kaschieren will, nicht im Raume der „Endlösungen“ zu suchen ist, sondern in den kompromißbeladenen Zwischenräumen des Lebens selbst. Weil der „Staat" seinen Bürgern selbstverständlich auch Opfer zumuten muß, versammelt der emanzipatorische Maßstab allen Schatten auf der Seite des „Staates" und alles Licht auf der Seite einer geheimnisvoll unschuldigen, mit allen wünschenswerten — insbesondere auch ästhetischen — Qualitäten behängten „Gesellschaft“. Auch in solcher Betrachtung entpuppt sich die Emanzipationstheorie, die sich als eine eminent „politische" Theorie in Szene setzte, nachdem der erste Rausch vorüber ist, als ein Ruheplatz für unpolitische Resignation.
3. Es kommt eine weitere Erklärung hinzu. Wo das Organ für die Notwendigkeit der Unterordnung fehlt, fehlt in der Regel der Sinn für Ordnung überhaupt. Die tägliche selbstverständliche Ordnungsfunktion des Staates, die Herstellung und Sicherung jener elementaren öffentlichen Verkehrsregeln, die es uns überhaupt erst möglich machen, das Lebensnotwendige zu erreichen und die Linie der geistigen und künstlerischen Produktivität zu überschreiten — wird sie vom Computer der kompromißlosen Staatsgegner überhaupt nicht registriert?
Wer in Deutschland die *„Ordnung verteidigt, macht sich entweder der Pedanterie verdächtig oder aber gerät in den Verdacht der Reaktion. In Wirklichkeit hat die Idee der Ordnung ein doppeltes Gesicht: Ordnung ist keineswegs nur das Produkt politischer Phantasielosigkeit, sondern sie ist zugleich „eine Wohltat für alle". Wir müssen uns in der Bundesrepublik in ein neues, von Erinnerungen und Ideologien befreites Verhältnis zum Ordnungsbegriff bringen. Zwar ist es unmöglich, einfach zu den Perspektiven des klassischen Altertums zurückzukehren; aber sie können ein Anstoß zur Besinnung sein. Für die Griechen war der Zusammenhang der gesellschaftlichen Ordnung mit der Ordnung des Kosmos eine Selbstverständlichkeit. Ordnung war das Gute, Unordnung das Böse. Denn was anderes konnte die kosmische Ordnung zum Inhalt haben als die Ermöglichung eines gewaltfreien Zusammenlebens? Für das Zusammenleben ist sowohl die innere wie die äußere Ordnung entscheidend: die Geordnetheit von Geist und Gemüt und die geordnete Regelung der öffentlichen Interaktionen. Noch für Schopenhauer ist das Böse der Gegenzug zur Ordnung, der Egoismus die spezifische Unordnungspotenz, Krieg und Zerstörung (Terror, Sabotage, Geiselnahme, Mord) gleichbedeutend mit der Negation äußerer Ordnung. Von Goethe kennt man jene (allerdings in einem sehr speziellen Kontext und nur auf Bedrängen geäußerte) Bemerkung, daß es nun einmal in seiner Natur liege, lieber eine Ungerechtigkeit zu begehen, als Unordnung zu ertragen (Belagerung von Mainz). Die Ablösung der Idee des Bösen von der Ordnungsidee ist erst das Werk des 19. Jahrhunderts. Walter Schulz hat in seiner Verantwortungsphilosophie die Spur der antiken Ordnungsethik wieder aufgenommen: „Die Ethik richtet sich an mich als einzelnen, aber als einzelnen unter anderen; mit diesen anderen habe ich mich — meinen Egoismus zurückstellend — zu vereinigen, wobei ich die anderen ebenso zur Ordnung vermittle, wie ich durch sie zur Ordnung vermittelt werde" (Philosophie in der veränderten Welt, 1972, S. 727). Solche Einsichten sollten uns instand setzen, die kulturkritischen und polizei-staatlichenVorbehalte hintanzusetzen und die Ordnungsvorstellung, geläutert und entpolarisiert, dem Instrumentarium unserer poli-tischen Ethik einzuverleiben.
Gerechtigkeit und positives Recht 4. Drei Gründe wurden bereits genannt, die verständlich machen können, warum das Staatsbewußtsein der Bürger der Bundesrepublik die unbetonte ständige Friedensleistung des Staates so wenig honoriert: Sie wird in Deutschland nicht dem „Staat" gutgeschrieben, sondern einem unpolitischen „gesellschaftlichen" Sonderkonto; die Allergie gegen Herrschaft und Unterordnung verschließt den Blick für öffentliche Vorgänge, die sich nicht auf den Nenner von Abhängigkeitsverhältnissen vereinfachen lassen; und der Sinn für „Ordnung" ist durch diktaturstaatliche Erinnerungen verformt — gegen die notwendige öffentliche Minimalordnung lehnt sich ein irrationales Lebensbedürfnis auf. Dazu kommt noch eine vierte Schwierigkeit, die das deutsche Staatsbewußtsein belastet, und zwar nicht erst im jüngsten revolutionären Jahrzehnt, sondern bereits seit Bestehen der deutschen Republik: wir meinen das Verhältnis der Deutschen zu den Institutionen, insbesonder zur Institution des Rechts. Dieser vierte Sachverhalt ist in unserem Zusammenhang von besonderer Bedeutung, weil auch die Schule zu den im Zwielicht institutionalisierten Lebens stehenden Instrumenten des Staates gehört und Lehrer als Beamte mit sich nicht ins Reine kommen können, wenn sie von den staatlichen Institutionen zu viel, zu wenig oder das Falsche erwarten.
Die staatlichen Institutionen — Gerichte, die Verfassung, Gesetzgebung und Verwaltung, die Schulen und ihre amtlichen Lehrpläne — gewährleisten die Stabilität und die Kontinuität des öffentlichen Lebens. Sie sind nicht dieses Leben selbst; denn Leben ist in ständiger Bewegung, während in den Institutionen das Lebendige für eine gewisse Zeit zum Stillstand kommt, indem es gleichsam seinen Aggregatzustand verändert. Eine Verfassung ist eine Institution, in der die Grundwerte und Basisentscheidungen der Gesellschaft in ein-klagbare Rechtssätze gefaßt sind. Die Verfassung gilt nicht für alle Ewigkeit, sie muß „von Zeit zu Zeit" revidiert werden; das wußten schon die Gründungsväter der Staatenvereinigung von Nordamerika. Aber gerade sie ließen keinen Zweifel daran, daß im positiven Gesetzesrecht die normative Grundord- nung der Gesellschaft virulent ist. Gesetze und richterliche Entscheidungen sind nicht die Gerechtigkeit selbst; aber in ihnen ist das für die Gegenwart und die nähere Zukunft gültige institutionalisierte Recht sichtbar. Es gilt so lange, bis die beschlossene „Wahrheit“
unglaubwürdig wird und eine Neufassung der Kodifizierung auf dem verfassungsmäßigen Wege notwendig erscheint. Ohne solche institutionelle Korsettstangen ist keine Gesellschaft existenzfähig. Je mehr sich die Staatsbürger bewußt sind, daß sich in den Institutionen des Staates keine transzendente Normativität zur Geltung bringt, sondern „nur“ das Rechtsbewußtsein der Menschen selbst, um so größer wird die Bereitschaft sein, den selbst-gesetzten Regeln in der Form zu gehorchen, wie sie „zur Zeit" institutionalisiert sind.
Institutionen haben also ein doppeltes Gesicht: Sie tun dem Leben Gewalt an, insofern sie die permanente Veränderung des Rechtsgültigen verhindern; aber sie sind gleichzeitig auch eine unverzichtbare Voraussetzung dafür, daß sich eine Gesellschaft überhaupt entfalten kann, ohne durch die konstante Veränderungslust revolutionärer Geister gestört zu werden und ohne dauernden Zweifeln ausgesetzt zu sein, was denn nun eigentlich Rechtens ist. Alle staatlichen Institutionen, einschließlich der Gerichte und der Schulen, stehen in Deutschland herkömmlicherweise unter dem Verdacht, allein dem Nutzen der Herrschenden zu dienen. Staatsbewußtsein setzt voraus, daß die Gesellschaft die Institutionen „annimmt“ und, statt sich ihnen subaltern zu unterwerfen, in das Bewußtsein der eigenen Verantwortung hereinnimmt.
Die wichtigste Institution rechtsstaatlicher Erneuerung ist das Recht selbst. Die Idee des Rechts ist das Fundament der freiheitlichen Demokratie. Es war ein folgenschweres Mißverständnis, als der deutsche Staat im 19. Jahrhundert sich anschickte, eine inhaltliche Position nach der anderen aufzugeben und teils an die Konfessionen, teils an die Parteien zu veräußern. Er hat sich damit einen schlechten Dienst erwiesen. Denn Rechtsstaat kann nicht bedeuten: Staat ohne jede inhaltliche Substanz; im Rechtsstaat hat vielmehr eine eindeutige politische Vorentscheidung für das Prinzip der Gerechtigkeit stattgefunden.
Hier ist eine ganz ähnliche Überlegung anzustellen wie beim Begriff der Ordnung. Natürlich lassen sich theoretisch beide, Ordnung und Recht, auch auf die reine individuelle Selbstverpflichtung gründen, auf die Kraft der autonomen Person, die sich selbst Rücksichtnahme und Gerechtigkeit auferlegt. Aber das menschliche Ich kommt sich nur in Augenblicken emotionaler Erhebung so stark vor, daß es sich zutraut, sittliches Verhalten im Alleingang zu konstituieren. Häufiger sind die Schwächeanfälle des Subjekts, und eine realistische Anthropologie weiß, wie sehr es objektiver Stützaktionen, Mechanismen und Institutionen bedarf, um das Individuum auf den langen Srecken fehlender Hochgemutheit aufrecht zu erhalten. Ordnung und Recht, wären sie allein auf die Selbstverpflichtung des Individuums gebaut, müßten zerfallen. Es sind institutionelle Hilfen nötig.
Institutionen stehen bei uns unter dem Verdacht der Äußerlichkeit. An der Äußerlichkeit des Rechts haben die Verfechter der Innerlichkeitsethik immer wieder Anstoß genommen. Rechtserziehung war in ihren Augen ein bloßes Anpassungstraining. In die Lehrpläne der deutschen Schulen hat das Recht erst lange hinter dem staatsbürgerlichen Unterricht Eingang gefunden. Um so notwendiger ist es, die Rolle des positiven Rechts zu präzisieren. Das positive Recht — die in der Bundesrepublik geltenden Gesetze, Grundgesetz, Bürgerliches Gesetzbuch, Strafgesetze usw. — kann nicht für sich in Anspruch nehmen, absolute Gerechtigkeit zu verkörpern. Aber bei der Entstehung der Gesetze war die Idee der Gerechtigkeit gegenwärtig und wirksam, und die Praktizierung der Gesetze bleibt mit der Idee der Gerechtigkeit laufend verbunden. „Der Friede — hat Martin Luther King gesagt — ist nicht die Abwesenheit der Gewalt, sondern die Anwesenheit des Rechts."
Das in den Gesetzen festgelegte Recht geht einen mittleren Weg zwischen absoluter Gerechtigkeit und reinen Ad-hoc-Lösungen. Es hält sich fern von Theorie und Praxis der totalitären Regime, für die das Recht nichts ist als der verlängerte Arm der Regierungsmacht. In den Staaten des Ostblocks durchdringt das Prinzip der „Parteilichkeit“ die Rechtsprechung. Die modernen neomarxistischen Theorien machen auch dem „bürgerlichen" Recht den Vorwurf, der Verdunkelung der sozialen Ungleichheiten und der Stabilisierung der kapitalistischen Herrschaft zu dienen, und reden der Vergesellschaftung des Rechts das Wort. Auf der anderen Seite grenzt sich das Recht gegen alle metaphysischen Überhöhungen ab. Sooft die Rechtsphilosophie sich in der Höhenlage nach oben vergriff, war das Ergebnis Enttäuschung oder Entsetzen. Jener Robbespierre, der nichts als die Herrschaft der »Tugend“ wollte, schickte sich im Dienst eben dieser Tugend an, Frankreich durch die Guillotine zu entvölkern. Die Rolle des Gesetzgebers und der Rechtsprechung werden im Rechtsstaat nüchtern beurteilt, aber es wäre ein großer Irrtum zu meinen, das Gesetzesrecht sei damit aus dem Legitimationskreis der Gerechtigkeit herausgerückt. Die Norm ist und bleibt die Ermöglichung sozial-gerechten Zusammenlebens. Wo das Gesetz einen Ermessensspielraum offen läßt, hat sich die Interpretation an diese Norm zu halten. Ist für diese Norm kein Raum, so ist das Gesetz änderungsbedürftig.
Entscheidend ist bei dem allem, daß die Entdeckung »Gesetze sind nicht die Gerechtigkeit selbst'und die Erkenntnis »Die Rechts-satzung bedarf von Zeit zu Zeit der Revision" uns in den moralischen Ansprüchen an Recht und Ordnung nicht wankend macht. Allzulange war man in Deutschland geneigt, dem Rechtsstaat nur dann eine moralische Qualifikation zuzubilligen, wenn hinter ihm der Horizont ewiger Wahrheit sichtbar erschien. Die Argumentation auf der mittleren Ebene ist nicht darum weniger moralisch, weil sie Recht und Ordnung nur mit der Herstellung relativer sozialer Gerechtigkeit und relativer Weisheiten begründet. Denn nicht ein neuer sittlicher Rigorismus bringt uns zu den staatlichen Institutionen in ein engagiertes Verhältnis, sondern allein das Bewußtsein, daß im Rechtsstaat die Bürger für die Gerechtigkeit der Gesetze selbst verantwortlich sind.
II. Das verstörte Staatsbewußtsein der Beamten
Mit dem Prozeß der fortschreitenden inhaltlichen Entleerung des Staatsbewußtseins läuft die Verunsicherung des Verhältnisses der bundesdeutschen Beamtenschaft zum Staat parallel. In der Theorie des Beamtentums sind in Deutschland von jeher die Juristen führend. Sie denken in erster Linie an den Verwaltungsbeamten. Aber die Problematik des beamteten Lehrers weicht von der der Verwaltungsbürokratie nicht grundsätzlich ab, sie hat höchstens einige zusätzliche Aspekte. Stellen wir also den Sonderfall des beamteten Lehrers zunächst noch zurück und richten wir unseren Blick zuerst auf die Szene des deutschen Beamtentums im allgemeinen.
Das Grundgesetz hat in Artikel 33 festgelegt: „Das Recht des öffentlichen Dienstes ist unter Berücksichtigung der hergebrachten Grundsätze des Berufsbeamtentums zu regeln." Was war mit diesen „hergebrachten Grundsätzen" gemeint? Möglicherweise hat der Redaktionsausschuß des Parlamentarischen Rates dabei neben dem öffentlichen Dienst-und Treueverhältnis (Art. 33, 4) in Absatz 5 nur noch an das Prinzip der lebenslangen Anstellung, der Entlassung nur auf dem Dienstweg und an die gesetzlich zu regelnde Alters-und Hinterbliebenenversorgung gedacht. Aber die Berufung auf die „hergebrachten Grundsätze" verrät doch deutlich genug die Verlegenheit, den Beamtenstatus inhaltlich zu qualifizieren. Eine neue Inhaltsbestimmung war nach dem Zusammenbruch dringend nötig. Sie ist vor 30 Jahren nicht gelungen. Die Verlegenheit ist auch heute geblieben. Die Gründe liegen in der Geschichte des deutschen Beamtentums.
Fürstendiener — Staatsdiener — Parteidiener Diese Geschichte des deutschen Beamtentums hier nachzuzeichnen, ist weder möglich noch nötig. Es genügt, auch hier noch einmal daran zu erinnern, daß der Prozeß der Formalisierung und Funktionalisierung der Idee des Beamtentums erst mit der Aufklärung begann. In der Antike und im Mittelalter waren die Beamten nicht reine Handlanger der Exekutive, sondern zugleich die Repräsentanten der Normen, die das Gemeinwesen leiteten. Auch wenn Friedrich II.seine Beamten auf verfassungsrechtliche und außenpolitische Aufgaben ansetzte, wurden sie gleichzeitig Teilhaber der den Kaiser motivierenden universellen Idee der Gerechtigkeit. „Diener ihres Herren" wurden die Beamten in Europa erst mit dem Ausbau partikularer Hausmächte. Erst im 17. und 18. Jahrhundert wurden sie die klassischen „Fürstendiener". Erst jetzt war der Bezugspunkt in erster Linie die Person und das Interesse des Landesherrn. Der Landesherr selbst machte daraus kein Hehl. Der Eid, den die Neumärkische Kammergerichtsordnung von 1700 für die Regierungsräte des Landes vorschrieb, machte den Dienern Seiner Kurfürstlichen Durchlaucht nicht nur Amts-verschwiegenheit und Unbestechlichkeit zur Auflage, sondern verlangte von ihnen in einer Art Generalklausel, „alles das zu tun, was einem getreuen Regierung«und Konsistorialrat und Diener zusteht“.
Als das absolutistische Regime durch konstitutionelle Regelungen eingeschränkt wurde, verwandelten sich die Fürstendiener in . Staatsdiener’. Aber die Neigung, das Interesse des Staates mit der Person von König oder Kaiser gleichzusetzen, blieb beim deutschen Beamtentum noch bis ins 20. Jahrhundert lebendig. Die obrigkeitlichen Traditionen ließen sich auch dort, wo man ihre Gefahren erkannte, nur schwer abschütteln. In seiner geschichtlichen Inkubationszeit zeigt der Typus des deutschen „Staatsdieners“ ein eigenartiges Doppelgesicht. Einerseits war die Um-programmierung vom *„Fürsten auf den „Staat“ durchaus geeignet, das politische Bewußtsein des Beamtentums zu kräftigen und zu schärfen; andererseits erschien gerade dieses Bewußtsein verharmlost und privatisiert, indem es sich auf die Personen des Herrscherhauses konzentrierte. Für beide Aspekte gibt es bekannte Beispiele. Das Beamtentum als „Pouvoir Neutre" zwischen König und Volk gehörte zu den Lieblingsvorstellungen des deutschen Frühliberalismus (das Lexikon von Rotteck und Welcker war vor und nach 1848 voll davon). Das war eine echte politische Konzeption, die gar nicht so unaktuell ist; denn die Frage nach der Rolle des Beamtentums im System der Gewaltenteilung stellt sich auch heute dann wieder neu, wenn nach Möglichkeiten Ausschau gehalten wird, die schwache Stellung der Regierung gegenüber dem Parlament zu stärken und das Montesquieusche „Gleichgewicht" mit Hilfe der Beamtenschaft wiederherzustellen. Ein Beispiel in der anderen Richtung sind die Reden, die zwischen 1871 und 1914 in den deutschen Schulen am Geburtstag des Kaisers und am Sedanstag gehalten wurden. Sie ergingen sich in Lobeshymnen und Ergebenheitsbekundungen für den Kaiser selbst und die namentlich aufgeführten anderen Mitglieder des Herrscherhauses, denen man seine „Liebe" beteuerte. Das politische Bewußtsein der staatsbeamteten Lehrer der Wilhelminischen Ära zeigt sich auf einem Niveau von Privatismus und Subalternität Auch das ist aber nur die halbe Wahrheit, denn mit jener Devotion gegenüber dem Herrscherhaus verbanden sich zugleich diejenigen Qualitäten, die den legendären Ruhm des preußischen Beamtentums ausmachen:'Pünktlichkeit (bis zur Pedanterie), Sachlichkeit (bis zur Unmenschlichkeit) und Disziplin (bis zu paramilitärischen Gehorsamsvorstellungen). Die politische Neutralität ist zur eigentlichen Signatur des deutschen Beamtentums vor dem Ersten Weltkrieg geworden, und es war möglicherweise das Verhängnis der Weimarer Republik, daß sie diese Tradition des politisch neutralen Beamtentums ohne Abstriche übernahm. Adolf Grimme bekannte in der Stunde der Offenbarung 1945 in einer Rede vor deutschen Lehrern: „Wir sind an der Erziehung zur Subalternität zerbrochen ... Wir hatten den korrekten, sauberen Beamten und den bis in den Tod gehorchenden Soldaten... sie taten, was befohlen war.“ Sicher ist auch dies eine unzulässige Vereinfachung. Aber es läßt sich kaum bestreiten, daß die strenge Entpolitisierung des Beamtentums die Integration des deutschen Volkes in die rechtsstaatliche Demokratie der Weimarer Republik entscheidend erschwert hat. Die Devise der Entpolitisierung hat das Beamtentum gesellschaftlich isoliert und eine breite Schicht von Staatsbürgern guten Willens vom demokratischen Integrationsprozeß ferngehalten. Wie sollte sich die Nation für die neue Staatsform erwärmen, wenn dem Beamten aufgetragen war, sich politisch steril zu verhalten? Das Bestreben, das Beamtentum aus den Richtungskämpfen von dreißig Parteien herauszuhalten, hat die Weimarer Republik zuletzt eher geschwächt als gestärkt.
Auf den Fürsten-und Staatsdiener folgte 1933 der Parteidiener. Die dem deutschen Beamtentum zugemutete Bewußtseinsänderung kam einer kompletten Kehrtwendung gleich. Wenn es eben noch ein Ruhmesblatt war, von aller Parteipolitik fern zu sein, so machte der Nationalsozialismus aus dem typisch unpolitischen Beamten über Nacht den Fahnenträger der politischen Ideen des Führers und seiner Partei. Ich habe noch in den Ohren, wie schwer es meinem damaligen Staatsrechtslehrer fiel, seinen verdutzten Zuhörern diese Kehrtwendung plausibel zu machen. Mit kühner Akrobatik machte der Vortragende aus dem Treueschwur zur Verfassung den Treue-schwur zum Führer: „denn Treue ist Hingabe von Person zu Person". Jetzt also sollten die deutschen Verwaltungsbeamten „aus einem lebenden Inventar der Behörden zu Priestern des Staats und seiner Weltanschauung werden“. Der Vortragende verstieg sich schließlich zu der Forderung, „daß der Beamte innerlich mit dem Füher als dem politischen Mittelpunkte des Staates lebt“. Otto Koellreutter ergänzte 1934: „Der Jurist im deutschen Führerstaat muß zunächst politischer Mensch sein, weil Staatsidee und Rechtsidee, Politik und Recht nur ein verschiedener Ausdruck der völkischen Einheit sind.“
Die radikale Umkehr, die dem deutschen Beamtentum 1933 zugemutet wurde, war freilich nur in der Theorie eine Selbstverständlichkeit. Die Praxis sah dann doch etwas anders aus. Zwar ist unbestreitbar, daß das Image des Beamten durch die nationalsozialistischen Zumutungen erheblich gelitten hat. Sicher ist aber auch (um es mit den Worten des ehern. schleswig-holsteinischen Innenministers Schlegelberger zu sagen), daß es unberechtigt wäre, der deutschen Beamtenschaft gerade aufgrund der Geschehnisse nach 1933 den Makel des Untertanengeistes anzuheften: „Ein solches Pauschalurteil verkennt die unzähligen mit nahezu untauglichen Mitteln tagtäglich geführten Abwehrkämpfe der Verwaltung gegen die totale Besitzergreifung des Staates durch die Partei."
Die „hergebrachten Grundsätze“
Die „hergebrachten Grundsätze des Berufsbe-amtentums", auf die sich unser Grundgesetz beruft, bereiten also einige Schwierigkeiten. Denn „hergebracht“ sind, wie jeder Blick in die Geschichte zeigt, nicht nur der Grundsatz der Sachlichkeit und der politischen Neutralität, sondern hergebracht sind auch Anpassungsfähigkeit und Resignation. Was nach 1945 in der Periode des wirtschaftlichen Wiederaufbaus nicht gleich sichtbar war, hat die Problematisierung der Demokratieidee in den sechziger und siebziger Jahren deutlich zum Vorschein gebracht: es rächt sich jetzt, daß es weder in der Weimarer Republik noch in der bisherigen Geschichte der Bundesrepublik gelungen ist, Beamtenbewußtsein und Rechtsstaatsidee innerlich so zusammenzuführen, daß in der Öffentlichkeit über die Rolle der Beamtenschaft ein selbstverständlicher Konsens bestehen würde. Die Interpretation des Status des Berufsbeamten schwankt seit dem Erlaß des Grundgesetzes zwischen inhaltlichen Leerformeln und inhaltlichen Überforderungen hin und her.
Unterbewertet und inhaltlich unterfordert ist das Bild des Berufsbeamten dann, wenn man zwischen der Arbeit in einem privaten Produktionsbetrieb und der Tätigkeit im öffentlichen Dienst gar keinen Unterschied mehr macht und das Konzept des „Arbeitnehmers" mit allen Konsequenzen auch auf die Tätigkeit in Verwaltungsämtern und staatlichen Schulen überträgt. Immer häufiger wird der Standpunkt vertreten, die ganze Konstruktion eines besonderen Dienstverhältnisses mit Treueverpflichtung und Alimentationsanspruch sei überflüssig und ein Relikt aus der autokratischen Vergangenheit. Dann aber bleiben in der Gesellschaft sehr wahrscheinlich diejenigen Einstellungen und Bereitschaften unausgeschöpft, die auf eine Berufstätigkeit spekulieren, die keiner besonderen Rechtfertigung bedarf, weil jedermann offenkundig ist, daß sie im Interesse der Allgemeinheit liegt und unter allem Umständen geleistet werden muß. Wer Beamte zum Streiken animiert, bringt damit zum Ausdruck, daß er der Meinung ist, auch die öffentlichen Tätigkeiten von Staat und Gemeinden dienten im Grunde privaten Teilinteressen. Die Theorie des Streikrechts der Beamtenschaft setzt konsequenterweise die Zuordnung der Bundesrepublik zu einem Staatskapitalismus voraus, der seine Tätigkeit überwiegend an Gewinninteressen orientiert. (Es ist eine ganz andere Frage, ob nicht manche Tätigkeit, die heute mit Beamtenqualität versehen ist, auch im Wege des Angestelltenverhältnisses gleich gut oder mögliche. . eise sogar „effizienter" erledigt werden könnte; und wahrscheinlich läge es im Interesse der Allgemeinheit, in einigen Bereichen des öffentlichen Dienstes das Leistungsprinzip deutlicher zu artikulieren.)
Die Tendenz zur Überhöhung des Beamtenbildes hat sich in der Bundesrepublik bemerkbar gemacht, seit sich der Staat durch das Eindringen kommunistischer Parteimitglieder in die staatlichen Ämter bedroht fühlt. Es ist Alarm im „Staate Dänemark", und Regierung und Verwaltung (und nicht zuletzt die Gerichte) zeigen seit einigen Jahren die Neigung, besonders hohe — und möglicherweise übertriebene — inhaltliche Anforderungen an die Beamtenqualität zu stellen. Während das Grundgesetz über das spezifische Verpflichtungsverhältnis des Beamten zum Staat schweigt, stellt das Beamtenrechtsrahmengesetz (und mit ihm die Mehrzahl der Beamten-gesetze der Länder) in bekannten Paragraphen mehrere Maßgaben auf, die der beliebigen Ausdeutung der Beamtenqualität immerhin einige Grenzen setzen. Der Beamte muß sich „durch sein gesamtes Verhalten zu der freiheitlichen demokratischen Grundordnung im Sinne des Grundgesetzes bekennen", muß sich „mit voller Hingabe seinem Beruf widmen" und muß sein ganzes Verhalten „innerhalb und außerhalb des Dienstes" so einrichten, daß es „der Achtung und dem Vertrauen gerecht wird, die sein Beruf erfordert". Die Verfassungstreue wird in der Regel als eine Treuepflicht gegenüber dem „Staat und seiner Verfassung" kommentiert — eine Formel, die den Intensitätsgrad der öffentlichen Verantwortung offenbar noch erhöhen soll. Arnold Gehlen hat von einer erhöhten Inpflichtnah-
me des (Verwaltungs-) Beamten „ähnlich dem Status des Soldaten" gesprochen.
Wie wenig sicher wir alle in der Beurteilung dessen sind, was einem bundesdeutschen Beamten an „Hingabe" an den Staat zugemutet werden darf oder muß, zeigt die Stellungnahme des Bundesverfassungsgerichts von 1975 anläßlich der Klage eines Rechtskandidaten wegen Nichtzulassung zum Referendarvorbereitungsdienst. Durch die unterdessen alarmierend gewordene Bedrohung des Staates durch die kommunistische Unterwanderung seiner Institutionen haben sich die Verfassungsrichter verleiten lassen, über die Erklärungen des Beamtengesetzes hinauszugehen.
Unverzichtbar ist — hieß es in dem Beschluß vom 22. Mai 1975 —, „daß der Beamte den Staat — ungeachtet seiner Mängel — und die geltende verfassungsrechliche Ordnung, so wie sie in Kraft steht — bejaht, sie als schützenswert anerkennt, in diesem Sinne sich zu ihnen bekennt und aktiv für sie eintritt" — „daß er diesen Staat und seine Verfassung als einen hohen positiven Wert erkennt und anerkennt, für den einzutreten sich lohnt" — ja, daß er sich „in dem Staat, dem er dienen soll, zu Hause fühlt" (Hervorhebungen nicht im Text des BVG), Und dann folgen jene heftig umstrittenen Erklärungen, daß es bei der Eignung zum Beamten auf die ganze „Persönlichkeit“ des Bewerbers ankomme, deren Merkmale dann auch noch (ein kühnes Unterfangen der Verfassungsrichter!) mit einigen Einzelaspekten charakterisiert werden (Beamte dürfen nicht „uneinsichtig rechthaberisch" sein; beamtete Lehrer sollen über „ein Minimum an Geschick im Umgang mit den Schülern“ verfügen; und Drückeberger, die Entscheidungen „unschlüssig vor sich herschieben", dürfen Beamte auch nicht sein!). Was aber ist dann der Unterschied zwischen einer „normalen" und einer zum Beamten geeigneten Persönlichkeit? Der Versuch des BVG, das in einem Jahrhundert Versäumte, nämlich eine Inhaltsdefinition notwendiger Beamten-qualitäten, in einer einzigen Urteilsbegründung nachzuholen, wirkt mehr hilflos als überzeugend. Weil vom deutschen Nachkriegsbeamten hinsichtlich seiner politischen Wertorientierung zu wenig verlangt worden war, ging der Eifer des BVG in der Stunde der Not entschieden zu weit. Denn wer könnte sich jemals — auch vorausgesetzt, unser Staat wäre der denkbar beste — im Staate wirklich „zu Hause fühlen"; und wer wollte seine Treuepflicht gegenüber dem Staat so emotionalisieren, daß er die Welt in Freunde und Feinde einteilt und sich zum „aktiven" Kampf gegen die „Verfassungsfeinde“ berufen fühlt? Im Grundgesetz war von Verfassungsfeinden nicht die Rede. Und was das Sich-zu-Hause-Fühlen betrifft, so ist dies der Ort, um an Heinemann zu erinnern. Als man den damaligen Bundespräsidenten einmal fragte, ob er den Staat, dem er diene, liebe, antwortete er lakonisch: „Ich liebe meine Frau!"
Streik mit schlechtem Gewissen Im Juni 1977 entfaltete die „Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft" einen großangelegten Werbefeldzug, um die deutsche Lehrerschaft zu einem „Warnstreik" zu bewegen. In Informationsblättern und Schnellbriefen wurden Dokumente und Argumente zu dem umstrittenen Thema in die Lehrerzimmer getragen. Anlaß war die Ansicht einiger Länder der Bundesrepublik, die Lehrerbildung auf den „Stufenlehrer" umzustellen, was eine einheitliche Besoldung aller Lehrer der Grund-und Mittelstufe einerseits und der Oberstufenlehrer andererseits zur Folge haben müßte. Die Betroffenen und die GEW haben vorausgesetzt, daß die Gleichschaltung von Grund-und Mittelstufe nach oben erfolgen, daß also die bisherigen Hauptschullehrer auf die Stufe der bisherigen Realschullehrer angehoben werden sollten. Die Bundesregierung aber — der Bund hat die Besoldungshoheit — erklärt, dies sei finanziell untragbar, und verlangt die Angleichung auf der Ebene der Bezüge der Hauptschullehrer. Sollen die Lehrer aus diesem Anlaß streiken? Sollen sie das nach herkömmlichem Recht „dürfen", oder sollen sie sich zum Streik entschließen, ohne die Rechtsfrage überhaupt zu stellen? Sollen sie öffentlich demonstrieren, daß „eine Epoche zu Ende ist" und daß auch Beamte, die zur Staats-und Verfassungstreue verpflichtet sind, einen „Eingriff in ihren Besitzstand" nicht kampflos hinzunehmen brauchen? Die GEW war in einer unangenehmen Lage: als prononcierte Vorkämpferin der Lehrerbildung im Sinne des Stufenlehrers war sie gezwungen, bei der ersten Gelegenheit, wo für die neue Konzeption Opfer gebracht werden sollten, zum Mittel der Protestdemonstration zu greifen. Die Problematik des Beamtenstreiks ist schon auf der Seite der „Theorie" hintergründig und alles andere als „klar“ — die Praxis der bildungspolitischen Auseinandersetzung ist es erst recht nicht. In unserem Zusammenhang interessieren nur die Argumente, und auch sie gehen uns hier nur insoweit an, als die umstrittene Situation Licht auf das Selbstverständnis des deutschen Beamtentums, insbesondere der beamteten Lehrerschaft, wirft. Auch der schärfste Gegner der GEW-Politik muß dieser zubilligen, daß ihr bei der Sache nicht wohl ist; der beträchtliche Argumentationsaufwand verrät, daß sie sich laufend selbst neuen Mut machen muß. Das Streikrecht ist ein Mittel auf der Ebene der Lohnkämpfe und im Rechtsstaat nur für Situationen vorgesehen, wo das für den erforderliche Arbeitsfrieden Minimum von Verständigung zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer über die Verteilung des Gewinns fehlt. Auch der Streikaufruf der GEW argumentiert daher mit arbeitsrechtlichen Begriffen. Mit Nachdrude heißt es, mit dem Lehrerstreik solle in die nicht Entscheidungsfreiheit der politischen Organe eingegriffen werden. Es wird zur Disziplin aufgerufen und dem Einwand von vornherein vorgebeugt, eine Lehrerdemonstration, die Unterrichtsausfall bewirke, werde auf dem Rücken der Kinder ausgetragen: der eine Tag ohne Unterricht falle, so hieß es im Aufruf Erich Fristers vom 6. Juni 1977, gegenüber dem vom Staate selbst durch Unterbesetzung hervorgerufenen langanhaltenden'Unterrichts-ausfall nicht ins Gewicht. Aber die ganze Argumentation wird überlagert durch die Rechtslage. „Ist der Beamtenstreik unzulässig?" Und nun offenbart die Streikaktion der GEW — und nur deshalb ist sie für uns wichtig — die ganze Misere der Theorie des deutsche Beamtentums. Ausgewichen war bereits der Parlamentarische Rat, der im Grundgesetz das Streikrecht der Beamten nicht eindeutig abgelehnt hat. Auch das Bundesverfassungsgericht hat sich seit seinem Bestehen nie eindeutig zu der Frage geäußert, ob Beamte urabstimmen und streiken dürfen. Das Hessische Verwaltungsgericht verschanzte sich 1973 hinter der Erklärung, die Frage, ob beamtete Lehrer streiken dürfen, sei „noch nicht abschließend geklärt“. Einzig das Saarland bestimmt in Artikel 119 seiner Landesverfassung: „Die Stellung des Beamten zum Staat schließt das Streikrecht aus.“ Befragt man schließlich die Staatslehre selbst, so sucht man auch hier vergebens nach einer „herrschenden . *Lehre Die Meinungen gehen vielmehr diametral auseinander, und weil sich nachgerade herumgesprochen hat, wer für, wer gegen das Streikrecht ist, läßt die GEW begreiflicherweise aus dem Kreise der Wissenschaftler vor allem die Befürworter des Streikrechtes zum Wort kommen. Sie weisen immer wieder auf die im Grundgesetz garantierte Koalitions-und Vereinigungsfreiheit hin; darüber hinaus bleibt rechtlich „alles offen”. Damit sind wir wieder bei unserer zentralen These angelangt: Der Streit um das Streikrecht der Beamten macht die allgemeine juristische Ratlosigkeit und politische in bezug auf eine inhaltliche Substanziierung der Beamtenqualität besonders deutlich sichtbar. Juristisch ist die Frage „Haben Beamte ein Streikrecht?" nicht zu lösen. Sie ist nur politisch zu beantworten. Die politische Substanz der Problematik läßt sich so umschreiben: Ist eine rechtsstaatlich verfaßte Gesellschaft überhaupt lebensfähig ohne die Instrumentalisierung von Einstellungen und Bereitschaften, deren Motivation weniger der persönliche Vorteil ist als das Wohl der Allgemeinheit — Menschen, in deren Augen die elementare öffentliche „Ordnung" Voraussetzung für die das Glück der Gesellschaft und in diesem Sinne „eine Wohltat für alle" ist? überall, wo die Diskussion um das Beamtenstreikrecht nicht rein formaljuristisch geführt wird, bewegen sich die Argumente um diesen Mittelpunkt. Ganz gewiß entspricht das geltende Beamtenrecht nicht mehr den „Erfordernissen der heutigen Zeit“. Aber jeder Modernisierungsversuch wird sich an einigen Sachverhalten orientieren müssen, die jene spezifische „dienende“ Bereitschaft gegenüber der Allgemeinheit betreffen, die im bisherigen Recht Treueverhältnis zum Staat und zu seiner Verfassung hieß. Welche Verpflichtungen und Selbstkontrollen erwachsen dem in diesem Sinne „Dienenden” aus der Tatsache, daß der Staat sich von vornherein verpflichtet, das Arbeitsverhältnis bis zum Lebensende nicht aufzulösen? Welche Rückwirkungen hat der Beamtenstreik auf di zum Schutze der Gesellschaft unentbehrlichen öffentlichen Funktionen? Trifft der Lehrerstreik, der doch die Regierung treffen soll, nicht in erster Linie „Unbeteiligte", Eltern und Schüler, die auf die Ausgestaltung der Arbeitsbedingungen kaum Einfluß nehmen können? Sind die Leidtragenden nicht wieder genau die sozial Schwächsten, die den Unterrichtsausfall nicht durch elterliche Hilfe kompensieren können? Was ist „Öffentlicher Dienst“? Fragt man den Mann auf der Straße, so nennt er Müllabfuhr, Wasserwerk, Finanzamt, Krankenhaus, Straßenbahn, Baubehörde, Polizei und dann ganz gewiß auch die Schule. Aber eine Bezugnahme auf den Staat wird man kaum vernehmen. Auch in der Diskussion um das Beamten-streikrecht ist die Problematik der staatlichen Integration weitgehend durch arbeitsrechtliche Argumente verdeckt. Wichtiger aber ist die Überlegung, daß die bloße Erweiterung des gesellschaftlichen Spielraums durch das Streikrecht noch lange keine Gewähr bietet für eine inhaltliche Erneuerung des Selbstbewußtseins der Beamtenschaft. Erst seit sich die Morde an Spitzenkräften der Gesellschaft häufen, wird ein Teil der Beamtenschaft selbst dazu getrieben, die Art und Weise, wie sie ihr Amt auffassen, offen zu bekunden. öffentlicher Dienst und Gewaltanwendung gegen den gleichen Staat, der diesen öffentlichen Dienst schützt, ist schon allein logisch unvereinbar. Man kann daraus nur zwei Konsequenzen ziehen: entweder ist man der Meinung, es sei für bestimmte staatliche Institutionen, z. B. für die Schule, besser, auf Beamte zu verzichten, und redet also dem Ende des Beamtenstatus für Lehrer das Wort — dann können auch die Lehrer streiken, wenn sie sich benachteiligt fühlen, und die Gewerkschaft ist dann der legitime Vertreter ihrer Interessen in einem nach privatwirtschaftlichen Gesichtspunkten geführten Arbeitskampf; aber gerade die Aufhebung des Beamtenstatus für Lehrer will die GEW nicht! Oder aber man zieht als Beamter selbst die Konsequenz aus seiner Staatsverdrossenheit und quittiert den öffentlichen Dienst; aber gerade dieses Opfer will keiner bringen! Ein drittes gibt es nicht. Als achtundvierzig bundesdeutsche Professoren, darunter allein sieben Erziehungswissenschaftler und Soziologen der PH Berlin, im Sommer 1977 sich mit jenem Studentenbrief solidarisierten, der den «Abschuß’’ des Generalbundesanwalts Buback mit „klammheimlicher Freude" billigte, beschwor sie der Berliner Wissenschaftssenator Glotz: „Seien Sie konsequent! Bekämpfen Sie diesen Staat, wenn Sie dies für notwendig halten; aber bekämpfen Sie ihn nicht mit Pensionsberechtigung. Scheiden Sie aus einem Dienstverhältnis aus, das dann seinen Sinn verloren hat!" (Die Welt 8. 7. 77).
Amtsbegriff und Repräsentationsprinzip In der Diskussion über die Neufassung des Beamtenrechts, die von allen Seiten, auch vom Staat selbst, für notwendig gehalten wird, spielt die Trennung von Statusrecht und Folgerecht eine Rolle. Nach den Vorstellungen des Deutschen Gewerkschaftsbundes würde in den Bereich des ersteren die Regelung der dienstrechtlichen Beziehungen zwischen dem Beamten und seinem Arbeitgeber gehören, während das letztere aus dem dienstrechtlichen Verhältnis alle materiellen Folgen zu ziehen hätte. Die Pointe der DGB-Vorschläge besteht im Prinzip der Gleichberechtigung zwischen Beamten und Arbeitgeber (Staat und Gemeinden), woraus dann unter Bezug auf die grundgesetzliche Koalitionsfreiheit u. a. auch das Streikrecht der Beamten hergeleitet wird. Das erscheint konsequent — freilich nur unter der Voraussetzung, daß auch die öffentlich-rechtlichen Aufgaben und Notwendigkeiten im Wege üblicher privatrechtlicher Vertragsverhältnisse bewältigt werden können und das Rechtsinstitut des Beamtentums von der Sache her als überflüssig betrachtet wird. Eine „Einheitslösung’’ solcher oder ähnlicher Art läuft entweder auf die Privatisierung des gesamten öffentlichen Dienstbereiches oder auf die Verstaatlichung aller privatwirtschaftlichen Tätigkeiten hinaus. Die arbeitsrechtliche Einheitsgesellschaft ist mit einem marktwirtschaftlichen und mit einem sozialistischen Vorzeichen denkbar. Die Neugestaltung des Beamtenrechts erhebt sich damit in den Rang von sehr weitreichenden Folgen.
Weil dies alles im Flusse ist und beide Seiten, Staat und Gewerkschaften, eine Entscheidung im einen oder anderen Sinne vor sich herschieben, ist es notwendig, die beiden Brennpunkte anzugeben, um die sich die neue Ortsbestimmung des Beamtentums bewegen muß. Es sind die Begriffe „Amt“ und „Repräsentation". Das eine, was nottut, ist eine neue inhaltliche Auffüllung der Amtsvorstellung. Das Amt hat einen wesentlichen Teil seines alten guten Klanges eingebüßt, indem das individuelle Engagement durch die Anonymität der Institution überlagert wurde. Schon wenn man von der Einzahl des Amtes auf die Mehrzahl der „Ämter" übergeht, verliert sich der Bezug des Vertrauens zu dem, der das Amt innehat. Schnell sind wir bereit, Hamlets Klage über den „Übermut der Ämter" vom Staate Dänemark auf die Bundesrepublik zu übernehmen. Es muß folgende Klärung stattfinden: Das „Amt" hat zwar auch in der Einzahl institutionellen Charakter, jedoch unter Wahrung eines Spielraums für individuelles Ermessen, der persön-liehe Verantwortung ermöglicht. Ein Amt innehaben heißt nicht einfach Angeordnetes ausführen, sondern eigene Verantwortung tragen. Amt und Verantwortung gehören zusammen. Das Amt ist auf die Person des Amtsträgers gebaut, obwohl die persönliche Entscheidung des Beamteten dadurch, daß er Amtsträger ist, ihre Beliebigkeit verliert und dem Maßstab der „Repräsentation" ausgesetzt wird.
Wilhelm Hennis hat immer wieder (zuletzt in: Die mißverstandene Demokratie, 1973) betont, daß der Amtsgedanke nicht etwa in die Mottenkiste des monarchischen Obrigkeitsstaates gehört, sondern gerade für die rechtsstaatliche Integration des Gemeinwesens unentbehrlich ist. Es ist, sagt Hennis, sowohl notwendig als auch möglich, den Amtsbegriff aus der formalistischen Enge zu befreien, in die er hineingeraten ist. Im Bereich der Verwaltung wäre dazu die Vergrößerung des Ermessensspielraums erforderlich, was wiederum zur Voraussetzung hätte, daß die Gesetzesflut eingedämmt und durch eine weitmaschige Rahmengesetzgebung ersetzt würde. (Wobei die Verwaltungsjuristen offen zugeben, daß an der überflutenden Kasuistik nicht ausschließlich das Parlament schuldig ist, sondern auch die Verwaltung selbst, wo vor allem die Jüngeren oft die Last der eigenen Entscheidung scheuen.) Auch die Lehrer haben ein Amt und keinen . Posten“. Um das Amt des Lehrers inhaltlich aufzuwerten, ist zum Beispiel erforderlich, daß dem Lehrer nicht nur das Wie, sondern auch das Was des Unterrichts (selbstverständlich innerhalb gewisser globaler Leistungsziele) in eigener Entscheidung überlassen bleibt. Mehr Spielraum für pädagogische Varianz ist eine bildungspolitische Forderung, die weit über das einzelne Experiment hinausreicht und schließlich die ganze Struktur der Demokratie berührt. Hennis: „Eine Staatsform, die wesentlich auf Vertrauen beruht — einem stets auf seine Rechtfertigung zu prüfenden Vertrauen, das nicht leichtfertig, sondern nach vernünftiger Prüfung gewährt wird —, setzt spezifische Haltungen, einen bestimmten . Geist'des Gemeinwesens voraus.“ Amt und Gemeinwohl gehören so eng zusammen wie Amt und Vertrauen. Das zweite, was erforderlich ist, um Reamtentum und Rechtsstaat zueinanderzuführen, ist nicht in erster Linie ein Bestandteil des staatlichen Funktionssystems, sondern seine Aufgabe liegt auf der Ebene der Repräsentation der Grundwerte dieses Staates. Das gilt für jeden Richter und für jeden Polizeibeamten, es gilt aber ganz besonders für jeden Lehrer.
Wer in der Schule lehrt, hat nicht (oder jedenfalls nicht in erster Linie) durch Kenntnis-vermittlung und Information und durch die Einübung der Schüler in bestimmte Verhaltensweisen dafür zu sorgen, daß der staatliche (und natürlich dann zunächst der schulische) Apparat möglichst reibungslos funktioniert. Lehrer sind vielmehr Repräsentanten derjenigen Grundwerte und „Basisentscheidüngen", welche die Rechtsstaatlichkeit unseres Daseins begründen und im Grundgesetz „für eine gewisse Zeit" schriftlich fixiert sind. Sie repräsentieren die 'Wertordnung der Bundesrepublik. Das bedeutet nicht, daß dem Lehrerbeamten eine höhere Legitimationsquelle zur Verfügung steht. Er repräsentiert keine vorrationale, naturrechtliche oder metaphysische Rechtsordnung. Im Rechtsstaat sind auch die Grundwerte nicht göttliches, sondern von Menschen beschlossenes Recht. Aber die Grundwerte gelten, „als ob" sie dem Menschen von Natur beigelegt worden seien, und stehen insofern in einem idealen Orientierungshorizont. Das Repräsentationsprinzip legt den beamteten Lehrern ganz gewiß die Beschränkungen auf, die im Beamtengesetz (nicht immer glücklich) formuliert sind. Aber durch das Repräsentationsprinzip werden die Lehrenden zugleich auch freigesetzt für die Ausfüllung ihres Amtes mit eigener Substanz. Die Lehrer unserer Staatsschulen repräsentieren nicht eine bestimmte Partei-oder Koalitionsmeinung, sondern sie repräsentieren „diejenige Seite des Staates, die gegnerschaftslos ist" (Gehlen), was heißen soll: Wir alle müssen darauf vertrauen können, daß Lehrerbeamte sich für die weiträumige, an das Rechts-prinzip gebundene gesellschaftliche Grundentscheidung einsetzen, die wir nach dem Zusammenbruch der Hitlerdiktatur für die nächste Zukunft getroffen haben. Nicht mehr und nicht weniger, aber vor allem nicht das Gegenteil. Amtsgedanke und Repräsentationsprinzip gehören innerlich zusammen. Beiden liegt die Vorstellung zugrunde, daß die Gesellschaft in ihrem eigenen Interesse einer begrenzten Anzahl von Personen bestimmte Aufgaben zur Erledigung „anvertraut". Sie vertraut darauf, daß die so Beamteten den Ermessensspielraum, der ihnen eingeräumt ist, nicht eigennützig mißbrauchen. Es ist irreführend, wenn das Beamtenrecht der Bundesrepublik die Lehrer dem Hoheitsbereich des Staates zu-B rechnet und ihre Lehr-und Erziehungstätigkeit als „hoheitsrechtliche Aufgaben" im Sin-ne der „Sicherung des Staates“ versteht (Beamtenrechtsrahmengesetz § 2). An die Stelle der vertikalen Perspektive, in der die Befehlsund Anordnungsverhältnisse die entscheidende Rolle spielen, setzt das Repräsentationsprinzip eine horizontale Betrachtungsweise, bei der die Struktur der Demokratie in verschiedenen Schichten sichtbar wird, wobei sich die Schicht der direkten Herrschaftsausübung und die Schicht der gesellschaftlichen Vitalisierung durch die Reproduktion der Grundwerte deutlich unterscheiden.
Der Repräsentationsgedanke ist im übrigen auch in der Vergangenheit nicht gänzlich verlorengegangen. Er hat im 19. Jahrhundert in der Geburtsstunde des parlamentarischen Vertreterprinzips eine Rolle gespielt, und es ist recht und billig, daran zu erinnern, daß auch die Pädagogik das Ihre beigetragen hat, um ihn am Leben zu halten. Kein Geringerer als Herman Nohl hat, um die Lehrer wenigstens in der Theorie aus der totalen Politisierung herauszuhalten, dem Lehrer als „Priester der nationalsozialistischen Weltanschauung“ den Lehrer als „Repräsentanten der Kultur" entgegengestellt und auch nach dem Kriege noch die Theorie vertreten, im Dienste der „kulturellen Werte" erfahre der Lehrerbeamte „dieselbe Befreiung von seinen individuellen Interessen, wie wer Kunst und Wissenschaft treibt". Auch der deutschen Staatsrechtslehre schlug mitten in der Phase der nationalsozialistischen Umprogrammierung das wissenschaftliche Gewissen. Während es allerdings an Beispielen williger „Gleichschaltung” nicht fehlte, versuchten andere das Kunststück, der totalen Parteipolitisierung des Verwaltungsbeamtentums dadurch entgegenzusteuern, daß sie die Beamten zu „Repräsentanten des Rechts" erklärten (H. Gerber). Der rettende Ast, den sie damit ergriffen zu haben glaubten, hat freilich nicht lange gehalten.
Es ist jetzt möglich zusammenzufassen. „Amt" und „Repräsentation" sind die beiden Säulen, die die neue Beamtenkonzeption tragen müssen. Das Amts-und Repräsentationsprinzip und nicht bestimmte individuelle Charakterqualitäten, wie das Bundesverfassungsgericht meinte, bilden die Legitimation der beamteten Lehrerschaft. Amts-und Repräsentationsprinzip machen das Streikverbot zu einer Selbstverständlichkeit. Sie verschließen sich einer arbeitsrechtlichen Argumentationsweise, die von zwei sich bekämpfenden Parteien ausgeht. Das Amt legitimiert sich, richtig verstanden, nicht durch eine Staatsmacht, die der Gesellschaft gegenübersteht, sondern allein durch die den Staat und die Gesellschaft gemeinsam umschließenden Grundwerte. Wenn der eine der Partner von vornherein auf Gegenmaßnahmen verzichtet, wird das Kampfpathos zur Farce. Die Demokratie bietet der Beamtenschaft andere Möglichkeiten, ihre Lohnforderungen durchzusetzen — es sit-zen wahrhaftig genügend Beamte in unseren Parlamenten
III. Lehrer Schulen im öffentlichen Dienst
Der staatsbeamtete Lehrer stammt aus der Zeit des monarchischen Wohlfahrtsstaats. Die Beamtenqualität wurde in jenen Anfängen unspezifisch aufgefaßt; noch 1872 erregte es keine Entrüstung, wenn in Preußen Volksschullehrer auch zu Polizei-und Richterfunktionen „abgestellt" wurden. Die Zuteilung des Lehramts zu den „hoheitsrechtlichen" Aufgaben des Staates ist nur historisch zu rechtfertigen. Sie stammt aus einer Zeit, wo die Schule tatsächlich der verlängerte Arm der staatlichen Hoheitsmacht war, wie sie sich in Polizeigewalt, in der Finanzhoheit und im Strafvollzug kundtut. Von der Sache her gehört die Schule nicht zur Hoheitsverwaltung, sondern zur Leistungsverwaltung des Staates. Aber es erhebt sich die Frage, ob es unter den rechtsstaatlich-demokratischen Vorausund
Setzungen überhaupt noch richtig ist, die Schule am Leitseil des Staates zu führen und die Lehrer als Staatsbeamte zu qualifizieren. Könnten sich Lehrer und Schüler nicht viel freier fühlen und würde nicht eine viel befrie-digendere Lernleistung herauskommen, wenn der Staat das Schulwesen ganz aus der Hand geben und das Staatsschulsystem in ein umfassendes, zwar aus öffentlichen Mitteln finanziertes, aber in seinen Zielsetzungen und Dispositionen unabhängiges Privatschulwesen verwandeln würde? Fragt man die Lehrerschaft selbst, so findet die prinzipielle Entstaatlichung freilich wenig Beifall. Niemand möchte die Lebenssicherung aufgeben, die der Beamtenstatus gewährt. Und auch die Eltern sind in diesem Zusammenhang keine überzeugende Gegeninstanz; für viele ist es ohnedies der Traum, ihre Kinder als Beamte versorgt zu sehen. Ich weiß nicht, ob das eine deutsche Besonderheit ist. Ein französischer Witzbold hat gesagt, die Chancengleichheit werde in Deutschland vor allem verstanden als die gleiche Chance, Beamter zu werden, und es sei der Traum der deutschen Sozialisten, Hitlers der Stirn und der Faust" in »Arbeiter „Beamte der Stirn und der Faust“ umzufunktionieren.
Zwischen Aktivismus und Resignation Was nach außen in schöner Einmütigkeit erscheint, zeigt nach innen Zeichen höchster Verunsicherung. Die Demokratisierungsbewegung der sechziger Jahre hat auch in den Lehrerzimmern ihre Wellen geschlagen. Viele wurden aus einer pädagogisch nur noch wenig reflektierten Routine aufgescheucht und sahen sich veranlaßt, ihre unterrichtliche und erzieherische Wirksamkeit kritisch zu überprüfen. Andere, vor allem die nachrücken-den Junglehrer und Referendare, wurden von dem revolutionären Eifer unmittelbar ergriffen und machten Anstalten, selbst auf die Barrikaden zu gehen. Mit der Krise des Staatsbewußtseins geht eine Identitätskrise der beamteten Lehrerschaft Hand in Hand. Sie hat in den Lehrerzimmern ganz diamentrale Verhaltensweisen ausgelöst. Die einen fühlten sich aufgerufen, sich in der Stunde der Not offen zum Bonner Staat zu bekennen, was die mit den „kritischen" Theorien überrannten Abiturienten zu besonders heftigen Angriffen herausforderte. Die anderen argumentierten auf dem Boden der inzwischen offiziell gewordenen „Kritischen Theorie", die Stunde der Demokratie habe noch gar nicht begonnen und es sei Aufgabe der Schule, die Demokratisierung der Gesellschaft nun endlich richtig in Gang zu bringen. Auf beiden Seiten haben sich die Gemüter heute wieder einigermaßen beruhigt, leider aber nicht immer mit dem Ergebnis einer an den gegebenen Möglichkeiten orientierten politischen Ernüchterung, sondern oft mit dem Resultat weitgehender Resignation.
Trotzdem ist das Ergebnis der revolutionären Umtriebe der Schule im ganzen positiv zu in beurteilen. Einerseits hat sich ein bildungspolitischer Aktivismus entfaltet, der an einigen Stellen (z. B. an den experimentellen Gesamtschulen) pionierhafte Formen angenommen hat. Andererseits ist auch der weniger aktivistisch orientierten Mehrheit der Lehrerschaft zum Bewußtsein gekommen, daß es typische denen Spannungen gibt, mit die bestehende Schule fertig werden muß, wenn sie des nicht in die Abseite Rechtsstaates bzw.des demokratischen Integrationsprozesses geraten will. Drei solcher Spannungen sind besonders deutlich geworden, wobei die „emanzipatorischen" Gegentheorien zur Profilierung des Tatbestandes entscheidend beigetragen haben:
1. Alle Erziehung, also auch die im Medium des schulischen Unterrichts geschehende Erziehung, orientiert sich nicht nur an dem Gegebenen, Bestehenden, am Ist-Bestand, sondern an dem, was sein soll, was aufgegeben ist, was in Zukunft besser werden soll. Das ist keine modische Konzession an die emanzipatorischen Zukunftsvisionen, sondern eine alte pädagogische Weisheit. In Kants Vorlesungen über Pädagogik heißt es: „Kinder sollen nicht dem gegenwärtigen, sondern dem zukünftig möglich besseren Zustande des menschlichen Geschlechts, das ist: der Idee der Menschheit und deren ganzer Bestimmung, angemessen erzogen werden.“ Die Schwäche des staatsbürgerlichen Unterrichts der Weimarer Zeit und dann auch wieder des ersten Nachkriegsjahrzehnts bestand darin, daß er vor allem auf die Rechtfertigung der bestehenden politischen Strukturen abgestellt war und jedes Ausweichen der Gedanken auf gesellschaftliche Wunschbilder für einen Verstoß gegen den eigentlichen Zweck der politischen Bildung hielt. Unterdessen sind wir ins andere Extrem verfallen. Heute sind die Lehrbücher angefüllt mit den Idealkonstruktionen der »besten Gesellschaft”, die allen zu ihrem persönlichen Glück und dem Kollektiv zur inneren Harmonie verhelfen soll; der Mühe der Information über das, was in der Geschichte wirklich möglich war, und über die Institutionen des Grundgesetzes von 1949 unterziehen sich die Schüler nur noch widerstrebend. Vielleicht schlägt das Pendel neuestens wieder nach der anderen Seite aus. Aber auch dann dürfen Lehrer und Schulerzieher den Horizont dessen, was *»eigentlich sein sollte, was „besser" wäre als die gegebenen Verhältnisse, nicht aus den Augen verlieren. Die normative Orientierung gehört unverzichtbar zum Geschäft der Erziehung. Die Endzeitvision des Marxismus, Blochs »Prinzip Hoffnung", die „Wahrheit gegen die Empirie" haben einen ursprünglichen pädagogischen Kem.
2. Die traditionelle deutsche Schulerziehung zielt auf Individualbildung, Demokratie aber erfordert eine Form von Bildung und Erzie-die folgende Klarstellung: Das Beamtentum ist Verpflichtungen anerkennt. Unsere Schulbildung isoliert die persönliche Leistung und prämiert sie als einen individuellen Konkurrenzsieg. Die Schule als kooperatives Übungsfeld ist eine Perspektive ganz jungen Datums. Da kann man kaum hinter den Münchener Stadtschulrat Kerschensteiner zurückgehen, der am Anfang unseres Jahrhunderts die Schule als »Staat im kleinen" und den Staat als „Schule im großen" verstand. Aber Kerschensteiner hat zwar theoretisch die Thematik sozialer Erziehung initiiert, aber die Entwicklung ging in die falsche Richtung; denn nicht darauf kommt es an, in der Schule Staat (z. B. Parlament) zu spielen oder gar die Gesellschaft im ganzen zu einem schulartigen Lernfeld zu verharmlosen, sondern die sozialen Möglichkeiten pädagogisch auszunutzen, die in der Schule implizit vorhanden sind. Die Schule ist ein potenter sozialer Erfahrungsraum, neben der Familie die entscheidende Institution zur Vermittlung gesellschaftlicher Nonnen. Hier wird entweder Terror oder Kooperation gelernt. Hier werden Konflikte entweder provoziert und verewigt, oder aber man lernt, wie man sie überwindet und mit ihnen lebt. Schülern tritt in heutigen Schulen immer noch wenig selbstverständliche Solidarität vor Augen, sowohl auf der Seite der Lehrer als auch zwischen den Schülern selbst.
Langsam beginnt die Pädagogik zu begreifen, was in dieser Hinsicht in der Vergangenheit versäumt worden ist und nachgeholt werden muß. Und schon überziehen wieder neue Wolken das soziale Lernfeld der Schule: Man will die soziale Schulerziehung in das Prokrustesbett der »*Gruppe zwängen und macht so aus der Erziehungsstätte eine therapeutische Anstalt. 3. Nicht nur das überlieferte deutsche Staatsbewußtsein, sondern auch die deutsche Schul-pädagoik waren mehr auf Entgegennehmen und Stillehalten als auf Kritik, mehr auf Gehorsam als auf Oppositon, mehr auf Passivität als auf Aktivität ausgerichtet. Das klingt allzu hart und summarisch, und es gibt natürlich tausend Beispiele aus der Geschichte des 20. Jahrhunderts, die dem widersprechen. Dennoch muß man sehen, daß der moderne demokratische Aktionismus ein geheimes pädagogisches Ferment enthält. Der Prozeß des Lernens muß, wie man seit gut hundert Jahren weiß, mit der Aktivität des Lernenden rechnen. Die neueren Wissenschaften — Psychologie, Soziologie und Pädagogik — haben diesen aktiven Aspekt des Lehr-Lern-geschehens noch stärker herausgearbeitet, als er bereits der reformpädagogischen Gründer-generation bekannt war (Lietz, Geheeb, Montessori, Dewey, Ferriere). Auch als Lerninstitution also steht die Schule in einer Spannung zwischen dem immanenten pädagogischen Aktivitätsprinzip und einer eher auf Vollzugsgehorsam und Verwaltungsroutine angewiesenen Staatsinstitution. Es gibt Lehrer, die gerade mit diesem Argument die bestehende Staatsschule besonders hart kritisieren. Es beseitigt das Problem nicht, wenn festzustellen ist, daß die Maßlosigkeit junger akademischer Extremisten das implizite pädagogische Aktivitätselement zu einem Prinzip des „Handelns um jeden Preis" emporgesteigert haben, das hinter Hitlers Kult der „Tat" kaum zurückbleibt. Der gute Sinn der pädagogischen Aktivitätsperspektive ist heute oft umgeschlagen in die Meinung, alle Erziehung müsse sich alsbald in aktivem Handeln auszahlen. „Die Schule dient der Erziehung des Kindes zum verantwortlich handelnden, frei-heitsund ehrliebenden Menschen", heißt es — beispielsweise — in der schleswig-holsteinischen Dienstordnung von 1971 — als ob es nicht vielmehr darauf ankomme, in der Schule eine Ordnung der Vorstellungswelt herbeizuführen, die zum jeweils richtigen Verhalten befähigt, das ebenso oft auch ein Nicht-Handeln sein kann. Am Leitseil der Didaktik Die hier angedeuteten Spannungen haben einen grundsätzlicheren Hintergrund, als es zunächst den Anschein hat. Hinter der Verunsicherung der Lehrerschaft, die bei den einen zu aufgescheuchtem Aktivismus, bei den anderen zu gelähmter Resignation geführt hat, stehen grundsätzliche Zweifel, ob denn der Staat überhaupt noch in der Lage sei, der Schule inhaltliche „Richtlinien“ zu geben. Ist nicht — fragen sich gerade die nachdenklichen Kollegen — vielleicht der Zeitpunkt gekommen, wo die Orientierung der Schule an Staat und Gesellschaft insgesamt abgelöst werden muß durch die Orientierung an der pädagogischen Wissenschaitl Anders ausgedrückt.
Sind Lehrer nicht in erster Linie Spezialisten der Erziehung und des Unterrichts und erst in zweiter Linie auch Beamte des öffentlichen Dienstes? Besteht, nachdem sich erwiesen hat, wie seismographisch empfindlich das Lehrerzimmer die Verunsicherung des allgemeinen Staatsbewußtseins registriert, für Lehrer und Schule nicht die einzige Rettung aus der Krisenlage in der Orientierung an der Erziehungswissenschaft^ Die wissenschaftliche Pädagogik, an deren Adresse sich solche Erwartungen richten, muß sich ihrerseits fragen, ob sie von sich aus und mit ihren Mitteln das leisten kann, was der Staat im Augenblick offensichtlich nicht mehr leistet.
Der Kieler Erziehungswissenschaftler Klaus Prange hat diese Frage („Kann die Erziehungswissenschaft in die Rolle eintreten, die die Schulverwaltung nicht mehr angemessen ausfüllt?") in aller Form gestellt (Deutsche Schule 1973). Seine Überlegungen laufen jedoch auf einen Optimismus hinaus, den nicht jeder teilen wird. Man wird sowohl die Zuständigkeit als auch die Tragfähigkeit pädagogisch-wissenschaftlicher Reflexionen prüfen und sich durch die Geschichte belehren lassen müssen, daß der Anspruch pädagogischer „Eigenständigkeit" die deutsche Schule schon einmal in eine gefährliche politische Isolierung geführt hat. Zwar hat die Pädagogik die gesellschaftlichen und politischen Sachverhalte in den letzten drei Jahrzehnten einigermaßen rezipiert. Aber die Gefahren, die sich aus der Verabsolutierung pädagogischer Gesichtspunkte mit Notwendigkeit ergeben, sind noch immer die gleichen wie im Zeitalter einer sich „eigenständig“ verstehenden Kulturpädagogik. Die Sackgasse der zwanziger Jahre sollte denen eine Warnung sein, die heute den Versuch unternehmen, die bundesdeutsche Schule allein von didaktischen Prämissen her zu konstruieren.
Die Empfänglichkeit für einen Orientierungshorizont, der aus den politischen Polarisierungen herausgehoben ist, hat einen Teil der Lehrerschaft in die Arme der lerntheoretischen Didaktik getrieben. Man wollte „festen Boden" unter die Füße bekommen. In Wirklichkeit zeigt gerade der Prozeß zunehmender Verabsolutierung der curricularen Didaktik, in was für einen gefährlichen Sog Schule und Lehrer auf solchem Untergrund geraten können. Was sehr vernünftig anfing — das Bemühen, einen durchkomponierten Zusammenhang von Zielen, Inhalten, Materialien, Verfahren, Kontrollen und Rückkoppelungseffekten des Lernens herzustellen und „wissenschaftlich" zu planen, was vorher weitgehend dem Belieben und dem individuellen Einsatz des Lehrers überlassen blieb —, hat sich im Lauf der Jahre als ein Bumerang erwiesen, der auf die Pädagogik selbst zurücksaust. Macht man nämlich schließlich auch die Wahl des Zieles davon abhängig, wie gut es sich für den Lernvorgang zubereiten („operationalisieren") läßt, dann kann zwar die Didaktik selbst zu einem bewundernswert konsequenten und in sich schlüssigen System gelangen; aber die Verfahrensfragen gewinnen in einem Maße die Oberhand, daß die Inhalte zu beliebig auswechselbaren Größen verkümmern. Die Curriculum-Didaktik, „erfunden" in der Absicht, das schulische Lernen sozial gerechter und effizienter zu machen, ist zu einem System der prozessualen Lernanordnung geworden, in das sich beliebige Inhalte und Ziele einsetzen lassen. Es war daher keine Überraschung, daß dort, wo sich ein Kultusminister entschloß, die Lehrpläne konsequent „curricular durchzukonstruieren", es einer aktiven Gruppe von Ideologen gelingen konnte, ihre eigenen doktrinären Überzeugungen den öffentlichen Schullehrplänen als allgemeines Lernziel überzustülpen. Wenn das in einer Staatsschule (des Landes Hessen) möglich war, was würde geschehen, wenn unser Schulsystem gar entstaatlicht wäre und sich in der Hand einzelner ideologisierter Machtgruppen befände?
Machen uns also klar: Die Pädagogik folgendes ist für sich allein, mit ihren spezifischen wissenschaftlichen Argumenten und Materialien, nicht in der Lage, das zu ersetzen, was der Staat im Augenblick nicht mehr gibt. Sie kann von sich aus keine orientierungsfähige Grundausstattung von Werten und Normen liefern, die verhindert, daß di« Schulziele von beliebigen Minoritäten für ihre partiellen ideologischen Zwecke usurpiert werden. Gerade die so vielversprechend und so erfolgreich angelaufene Entwicklung der curricularen Didaktik hat gezeigt, daß eine Pädagogik, die sich „eigenständig" isoliert, zugleich das Handwerkszeug liefert für diejenigen, die es darauf abgesehen haben, die rechtsstaatlichen Grundwerte ganz außer Geltung zu setzen. Der Rückgriff auf die alte »pädagogische Autonomie“ ist, auch wenn sie sich ganz modern kleidet, kein Ausweg aus dem Dilemma der Staatsschule. Die Aufgabe, die mit der Regeneration von Staats-schule und beamteten Lehrern gestellt ist, kann nicht unter Ausschluß von Staat und Gesellschaft gelöst werden, sondern nur von Pädagogik und Politik gemeinsam.
Mehr Selbstverwaltung — weniger Dirigismus Der Kollisionspunkt von staatlichen und pädagogischen Interessen ist die Selbständigkeit der einzelnen Schule. Man kann die These wagen: Die Verunsicherung des politischen Bewußtseins unserer Lehrerschaft wird erst dann aufhören, wenn der Verwaltungsbürokratismus um ein gehöriges Maß reduziert und wenn der Raum, in dem sich die einzelne Schule in relativer Selbständigkeit bewegen kann, entschieden vergrößert wird. Das Problem hat zwei Die Seiten. eine heißt Schulbürokratie, die andere Selbständigkeit der Schule.
Was die bürokratische Seite betrifft, so muß man sich bei solchen Überlegungen freimachen von emotionalen Unlustreaktionen auf das Dirigiertwerden und Gehorchenmüssen. Wer sagt, unseren Staatsschulen täte weniger Bürokratie gut, verwendet den Begriff nicht im moralischen Sinn, um öffentliches Mißbehagen über „die Bürokratie" anzuzeigen — ein Mißbehagen, das übrigens keiner anderen Berufsgruppe in gleichem Maße zuteil wird (darauf hat Gehlen aufmerksam gemacht). Eine generelle moralische Verurteilung der Schulbürokratie wäre schon deshalb falsch, weil im Zweifelsfalle auch der Lehrer die Bü-rokratisierung der Verwaltung dem Dilettantismus der Verwaltung vorziehen würde und weil zum Prinzip der Bürokratie ja auch die Sachlichkeit gehört, auf die die Schule ebenfalls nicht gern verzichtet. Man darf schließlich auch nicht übersehen, daß sich hinter den Kampfparolen gegen den „Schulbürokratismus" oft handfeste politische Ziele verbergen: in einem gewissen Lager ist der Kampf gegen die „bürokratische Schule" gleichbedeutend mit dem Kampf gegen den bestehenden Staat. Im Unterschied von alledem gehen wir von einem entpolarisierten Max Weberschen Bürokratiebegriff aus, der in den sachlichen Struktur-und Funktionszusammenhang der Gesellschaft gehört.
Aber gerade wenn man das tut, erkennt man, wie stark die Tradition der staatlichen Leitung und Kontrolle den Zuschnitt der einzelnen Schule bestimmt. Für den Pädagogen gibt es keinen Zweifel: Der Dirigismus der staatlichen Schulverwaltungen sollte auf ein Maß zurückgekurbelt werden, das Spielraum für pädagogische Varianz läßt. Ganz offensichtlich gehen die Detailanweisungen „von oben" zu weit. Einige Kritiker haben für das die Schule in ihrer pädagogischen Freiheit hemmende Verfahren den Begriff der „Adhocra-tie" erfunden (R. Winkel) — was heißen soll: manche Schulverwaltungen der Bundesrepublik meinen, sie würden ihre Aufgabe verfehlen, wenn sie nicht für jede einzelne Situation eine Verhaltensanweisung bereitgestellt hätten. Das Problem gibt es auch anderswo; der Begriff der „totalen Schulverwaltung" ist englischen Ursprungs, weil man in England vor dem Hintergrund der Selfgovernment-Überlieferung gegen Dirigismus von oben besonders empfindlich ist. Aber in Deutschland ist die Sache virulent. Es um besonders geht die Verlagerung von Kompetenz nach unten ohne Schwächung der politischen Führung „oben". Wovor unsere Schulen Angst haben, ist die Ansteckung der Schule durch Formen anonymer Verwaltung, welche die persönliche Verantwortung und damit eine Grundbedingung erzieherischer Wirksamkeit erstikken. Die Lehrerschaft rebelliert nicht grundsätzlich gegen die ordnende Hand des Staates, aber sie ist empfindlich gegen die Übertragung von Verwaltungsprinzipien auf den Bereich des Lernens und der Erziehung, der das nicht erträgt. Das Beispiel Schwedens, das wir so gern als das Musterbeispiel des pädagogischen Fortschritts ansehen, ist bedenklich genug; dort hat sich in drei Jahrzehnten sozialistischer Zentralverwaltung neben dem Kultusministerium eine Schulbehörde von über tausend Köpfen gebildet, die von den Kritikern im Anschluß an Orwells Zukunftsvision „Wahrheitsministerium" genannt wird, weil sie alle Einzelheiten des Schulbetriebs — selbstverständlich auch die Curricula — zentral regelt und überwacht. Ist es richtig, daß der Lehrer der Bundesrepublik die Hand des Staates vor allem in Gestalt von Erlassen und Verfügungen zu spüren bekommt und viel seltener in Gestalt von Vertrauensvorgaben, die dem Erziehungs-und Unterrichtsspezialisten den Rücken stärken? Das „großorganisierte Dasein“ (Max Weber) ist nicht unbedingt das für Erziehung und Unterricht ideale Modell; die Mammutschulen sind es auch nicht. Professor Lobkowicz, Präsident der Universität München, hat gesagt (FÄZ 24. Juni 1977): Gut wäre — zunächst in der Universität — „ein bißchen weniger Planung, ein bißchen mehr Chaos". Das ist sicher ein kleiner Fehlgriff in der Wahl des Wortes; denn „Chaos“ kann wenigstens die Schule, in der es ja vor allem auf die Ordnung der Vorstellungen ankommt, sicher nicht brauchen. Sagen wir daher lieber: Ein bißdien weniger Planung, ein bißchen mehr Freiheit für Irrwege und Improvisation! Und ich habe mir noch ein zweites Zitat notiert, das hierher gehört. Nietzsche schreibt einmal: „Ein alter Chinese sagte, er habe gehört, wenn Reiche zugrunde-gehen sollen, so hätten sie viele Gesetze!" Ob er den ungeheuren Output der curricularen Institute und die Flut der verwaltungstechnischen Schulerlasse von 1977 vorausgesehen hat?
Ins Positive gewendet lautet das Anliegen: mehr Selbständigkeit für Schule und Lehrer. Das ist kein sehr origineller Gedanke. Die Forderung größerer Selbständigkeit für Schule und Lehrer ist bereits Gegenstand einer eigenen Empfehlung der Bildungskommission des Deutschen Bildungsrates gewesen (1973). Daß die Dinge in dieser Richtung nicht recht vorankommen, hat verschiedene Gründe. Die Sache ist auch theoretisch nicht völlig ausdiskutiert. Ist das Prinzip der „Selbstverwaltung", so läßt sich einwenden, nicht überholt, ein Relikt aus der Zeit der kommunalen Entwicklung des Frühliberalismus, das heute auch in den Kommunen nicht mehr ohne Abstriche anwendbar ist und auf die politische Struktur der Großdemokratien schon gar nicht mehr paßt? Vor allem aber läßt sich auf die Gefahr hinweisen, daß sich das Prinzip der Selbstverwaltung unter den heutigen Umständen leicht mißbrauchen läßt als Verschleierung von Intentionen, die eindeutig auf absolute Selbstregierung zielen. In der Tat verbergen sich auch hinter ganz harmlos aussehenden Partizipationstheorien heute oft Anschläge auf die Funktionsfähigkeit der Regierung selbst. Aber warum muß das Kind mit dem Bade ausgeschüttet werden? Schulen sind keine Gemeindeverwaltungen, und mehr Selbständigkeit braucht in der Schulsphäre nicht gleich zu bedeuten: wir wollen gar nicht mehr gehorchen. „Was spricht eigentlich gegen eine großzügigere, weniger einengende Wahrnehmung der Aufsichtsfunktion der Schulverwaltungen, die Initiative von unten erlaubt, Profilbildung der Schulen erleichtert und auch Versuche gestattet, die nicht im Katalog planungskonformer Schulversuche stehen?“ (E. Schuppe). Durch Präzisierung der staatlichen Rahmenkompetenz muß es möglich sein, die Freiräume an der Basis auch bei der Schule zu vergrößern, wie das ja auch auf anderen Ebenen (Kirchenvorstand, Parteien, Schöffen, Betriebsräte) geschieht.
Was heißt auf der schulischen Szene vernünftige Partizipation'? Glücklicherweise haben sich nun auch einmal die Juristen (und nicht immer nur die Pädagogen) mit der Theorie der Schulorganisation im Rechtsstaat befaßt. Der 51. Deutsche Juristentag hat 1976 einen Beschluß verabschiedet, in dem es u. a. heißt: „Dem freiheitlichen Charakter der demokratischen Grundordnung des Grundgesetzes entspricht im Schulbereich ein partizipatorisches Grundmuster der Schulordnung (Beteiligung von Schülern, Eltern, Lehrern). Die Mitwirkungsrechte der Beteiligten sind begrenzt durch den Vorrang der Willensbildung der Allgemeinheit in der Form von Parlamentsgesetzen und die Pflicht des Staates, die Bildungseinheit zu wahren." Einerseits bestätigen also auch die Juristen, daß sich die Partizipation wirklich „lohnen" muß, was sie nicht tut, wenn sich die Mitwirkung von Schülern und Eltern und der Lehrer selbst nur auf methodische und organisatorische Fragen erstreckt. Andererseits wird die Schulverwaltung selbst in ihre Grenzen zurückverwiesen, indem klargestellt wird, daß im Rechtsstaat „bei allen wesentlichen Schulangelegenheiten“ der Gesetzesvorbehalt gilt. Es liegt nicht im Belieben und nicht in der Macht einer Mi-nisterialverwaltung, Fragen der grundlegenden Umstrukturierung des Schulwesens im Wege des Verwaltungsaktes zu erledigen. Dafür sind im Sozial-und Rechtsstaat die Parlamente zuständig.
IV. Zusammenfassung
Wir schließen mit einigen Thesen, die das Vorangegangene teils zusammenfassen, teils noch um einige Überlegungen erweitern.
1. Die Verunsicherung der bundesdeutschen Lehrerschaft in ihrem Verhältnis zum Staat hat eine ihrer Wurzeln in der Verunsicherung des Staates selbst und in der damit parallel laufenden Verunsicherung des allgemeinen deutschen Staatsbewußtseins.
2. Eine Erneuerung unseres Staatsbewußtseins darf nicht erst die Folge neuer Notzustände sein, wo dann jeder nach der starken Hand ruft, sondern sie muß auf dem Boden einer neuen inhaltlichen Anreicherung der Staatsidee durch die Idee der Einheit von Staat und Gesellschaft erwachsen.
3. Diesem Sachverhalt parallel verläuft die Kurve des Selbstverständnisses des deutschen Beamtentums. Die Idee des Berufsbeamtentums ist in Deutschland tief in autoritäre Überlieferungen eingelassen und hat den Prozeß der Formalisierung und Funktionalisierung von Stufe zu Stufe mitvollzogen. Eine Neubegründung des Beamtenverhältnisses ist in Theorie und Praxis nötig.
4. Diese Neubegründung kann nicht durch die totale Negation des Bestehenden erfolgen, sondern nur durch den Rückgriff auf zwei Prinzipien, die in der Geburtsstunde des Rechtsstaates lebendig waren. Erforderlich ist a) die Aufwertung der Idee des Amtes und b) die Vitalisierung des Repräsentationsprinzips. Ein Amt ist kein bloßer Job, sondern die Institutionalisierung eines Aufgabenbereichs, der von der Sache her Spielraum für persönliche Verantwortung erfordert. Im Prinzip der Repräsentation wiederholt sich das Amtsprinzip auf der Ebene der politischen Struktur der Gesellschaft. Beamte sind — richtig verstanden — nicht Ausführende im Rahmen eines staatlichen Funktionsapparates, sondern sie „repräsentieren" unter eigener Verantwortung die Grundwerte, auf denen unser Rechtsstaat beruht.
5. Zwischen den Aufgaben der Erziehung und Bildung und dem Status des Staatsbeamten besteht nur dann kein Widerspruch, wenn Lehrer die Gewißheit haben können, daß sie ihre schulische Tätigkeit als ein vollgültiges, also mit einem beträchtlichen Ermessensspielraum versehenes Amt verstehen dürfen. Der Staat seinerseits muß sich darauf verlassen können, daß beamtete Lehrer die grundlegenden Normenentscheidungen teilen, die 1949 im Grundgesetz der Bundesrepublik ihren Niederschlag gefunden haben.
6. Mit der Forderung eines Streikrechts würde die Lehrerschaft die Amts-und Repräsentationsgrundlage ihrer Berufstätigkeit selbst untergraben und sich auf die Ebene des privatrechtlichen Arbeitskampfes begeben, was den Staat seinerseits dazu zwingen würde, seine Vertrauensvorgabe zurückzuziehen.
7. Die Schizophrenie, einerseits den „öffentlichen Dienst" in der Schule zum Lebensinhalt zu machen, andererseits zugleich aber politisch sowohl den Staat mit seinen bestehenden Institutionen als auch die ihn tragenden Grundentscheidungen zu bekämpfen, ist mit dem für Erziehung und Unterricht erforderlichen Schulklima nicht vereinbar. Bewerber um den staatlichen Lehrberuf müssen sich beizeiten über die logische Unvereinbarkeit beider Prinzipien klar werden. (Möglicherweise ist dazu eine Veränderung der Rechtsfigur des „Staatlichen Vorbereitungsdienstes“ notwendig, dergestalt, daß die Referendare die Entscheidung, ob sie in einer staatlichen Schule tätig werden wollen oder nicht, ohne beamtenrechtliche Diskriminierung auf einen späteren Zeitpunkt hinausschieben können und nicht bereits am Ende des Studiums zu treffen brauchen.)
8. Jede moderne Gesellschaft braucht eine Institution, wo gelehrt und gelernt wird, die gesellschaftlichen Grundvorgänge und politischen Entscheidungsnotwendigkeiten rational zu verarbeiten — Stätten also, wo das Nachdenken gelernt wird und wo gelernt wird, in die Hochflut des punktuellen Details und der zusammenhanglosen Einzelinformationen eine grundlegende Ordnung zu bringen. Diese Trainingsstätte ist die Schule. Die politische Legitimation der Schule baut sich also von unten noch oben auf — und nicht umgekehrt. Weil die Gesellschaft Institutionen für rationales Training und elementares soziales Verhalten nötig hat, werden Schulen gebraucht, die vom Staat geschützt werden — und nicht umgekehrt: weil eine bestimmte staatliche Herrschaftsschicht sich im Sattel halten will, richtet der Staat Schulen ein, in denen die Denkweise dieser herrschenden Schichten reproduziert und verewigt wird. 9. Möglicherweise ist das bundesdeutsche Staatsschulsystem pädagogisch nicht die beste Lösung. Aber ein Schulsystem auf privat-rechtlicher Grundlage würde keine Garantie für eine einschneidende Besserung gerade der pädagogischen Seite der Schule bieten. Wie die Dinge in der Bundesrepublik liegen, ist der Staat als Schutzmacht der Schule das kleinere Übel. Alles andere wäre schlimmer. Wer erlebt hat, was es bedeutet, mit den Glaubenssätzen einer fanatisierten Minderheit „gleichgeschaltet" zu werden, hat begründete Angst vor den Gleichschaltungen, die den Deutschen blühen würden, wenn außer-parlamentarische Minderheitsgruppen den „Schutz" der Schule übernehmen würden. (In Frankreich gehen soeben kommunistische Gemeinden dazu über, die bisherigen öffentlichen Zuschüsse an die — kirchlichen — Pri. vatschulen ersatzlos zu streichen.)
10) Die empfindlichste Stelle des deutschen Staatsschulsystems (und des beamteten Lehrerstatus) ist der behördliche Dirigismus. Es gilt die richtige Mitte zu finden zwischen der relativen Selbständigkeit der Schule, die pädagogisch wünschenswert und für die Verantwortungsbereitschaft des Lehrers grundlegend ist, einerseits und dem Prinzip der staatlichen Schutzmacht andererseits. Die Erziehungswissenschaft kann das allein nicht leisten. Bei der rechtsstaatlichen Normierung der Schulziele und bei der Normierung des schulischen Sozialmodells müssen Pädagogik und Politik Zusammenwirken. Grundlegende Weichenstellungen, die das Schulmodell ex fundamento ändern, unterliegen dem Gesetzesvorbehalt.
Literatur, auf die Bezug genommen wurde:
Altmann, Rüdiger, Späte Nachricht vom Staat, 1968.
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