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Hintergründe der Arbeitsbedingungen für Journalisten in Ost und West | APuZ 40/1977 | bpb.de

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APuZ 40/1977 Massenmedien und die KSZE Westliche Journalisten in den Staaten des Ostblocks Eine Bilanz zwei Jahre nach Helsinki Hintergründe der Arbeitsbedingungen für Journalisten in Ost und West Auszug aus der Schlußakte der Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa

Hintergründe der Arbeitsbedingungen für Journalisten in Ost und West

Klaus Emmerich

/ 14 Minuten zu lesen

Zusammenfassung

Bei einer Zwischenbilanzierung der Ergebnisse von Korb III der Schlußakte von Helsinki werden im Vorfeld der KSZE-Nachfolgekonferenz in Belgrad wechselseitig zahlreiche Vorwürfe erhoben, die sich nicht nur auf die Arbeitsbedingungen der Journalisten, sondern auch generell auf die Informationspolitik beziehen. Nach Ansicht des Autors sind viele dieser Vorhaltungen, die oft auf Desinformation über Information beruhen, geeignet, die Ziele der KSZE und die Zusammenarbeit auf dem Gebiet der Information zu gefährden. Kritik und Beschwerde gehen oft von unangemessenen Gleichsetzungen und Übertragungen aus (wie sie allerdings durch manche Kompromißformeln in der Schlußakte nahegelegt werden). Die Systemdifferenzen zwischen West und Ost verbieten aber einen schematischen Vergleich der Medienverhältnisse, jedenfalls führt es auf beiden Seiten nicht weiter, die informationspolitische Landschaft des anderen nach den eigenen Maßstäben werten zu wollen. Kooperation auf dem Gebiet der Information ist trotz der Andersartigkeit der Systeme nicht nur möglich, sie hat sich inzwischen als unentbehrlich erwiesen.

Mit Desinformation über die Information gehen viele in Ost und West an eine Zwischenbilanz der KSZE. Wenn die wechselseitigen Vorwürfe — teils propagandistisch angelegt, teils nüchtern hochgerechnet, teils wissenschaftlich verpackt — von beiden Seiten im Vorfeld der Belgrader Nachfolgekonferenz ausgestreut werden, dann geraten nicht nur wesentliche Ziele dieser diplomatischen Großveranstaltung in Gefahr; auch das bisherige Maß vernunfts-und realitätsbezogener Zusammenarbeit zwischen West und Ost erscheint auf dem vielfältigen und, wie man sieht, mehr denn je sensiblen Gebiet der Information gefährdet.

Breite und Tiefgang der Argumentationen auf beiden Seiten können Politik und Diplomatie lehren: Bei zwei vorgegebenen, erklärtermaßen rivalisierenden Gesellschaftssystemen ist es zwar nicht leicht, aber am Konferenztisch doch möglich, beispielsweise den Austausch von Werkzeugmaschinen, Erdgas, wissenschaftlichen Erkenntnissen, Sportlern oder Künstlern zu vereinbaren. Wo aber Politik und damit auch Macht mit gehöriger Tiefen-schärfe gespiegelt werden, nämlich in den so-genannten Medien und bei ihren Gestaltern, verhält es sich anders. Was es mit „der Presse“ oder „den Journalisten“ so auf sich hat, erfahren die Politiker in allen 35 Unterzeichnerstaaten der Schlußakte der Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Helsinki nur einmal mehr; zum ersten Mal geschieht dies nicht.

Hergabe, Verbreitung und Entgegennahme von Informationen sind so alt wie zwischenmenschliche Kontakte nachweisbar sind. Die Ausprägung in Druckform, in Zeitungsform, in Fernsehform mag von der Technik und der Verbreitung her die Akzente verschieben. Aber Grundsatzfrage und Grundsatzproblematik bleiben dieselben: Wer bestimmt über die Hergabe, die Verbreitung und die Entgegennahme von Informationen, welche Spielregeln sollen bei diesen heute so kompliziert gewordenen Vorgängen gelten, wo liegen die wahren Ziele, und welche Funktion oder moderner: welchen Stellenwert mißt eine Gesellschaft dem Gesamtvorgang bei? „Das große Unrecht der Journalisten, daß sie nur von neuen Büchern sprechen, als wenn die Wahrheit jemals neu wäre", schreibt Montesquieu in seinen Lettres persanes. Damit ist ein Stichwort gefallen — Wahrheit das für die tagesaktuelle Auseinandersetzung um unsere heutigen Medien und ihre Bedeutung für die Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa einen nützlichen Bezugspunkt bietet. Vergleicht man das, was zur Zeit in West und Ost zur Rechtfertigung der eigenen Position und zur Verdächtigung der jeweils anderen informationspolitisch ins Feld geführt wird, so zeigt sich bereits: Hier wird fleißig aneinander vorbeigeredet, bewußt oder unbewußt. Da beschuldigen sich beide Seiten gegenseitig, über die Verhältnisse im jeweils anderen Lager lückenhaft zu berichten, die Regeln (welche?) objektiver Berichterstattung zu verletzen, bei Aufenthalts-und Arbeitsbedingungen selbst großzügig zu sein, während die Gegenseite kleinlich verfahre, hausgemachte Reisemöglichkeiten zwar zu eröffnen, aber eine Berichterstattung in den Heimatmedien bewirteter Journalisten zu vermissen. Es obwalte eine Vor-oder Nachzensur, Nachrichtenunterdrückung, Verleumdung statt Kritik, Spionage statt Recherche, Oberflächlichkeit statt Vertiefung, mißbräuchlicher Einsatz der Rechts-und Besitzverhältnisse der Medien — oder es werde ganz einfach gegen die Grundsätze des Anstandes und der Redlichkeit verstoßen. Für den Osten sind es . bestimmte Kräfte" im Westen, die verhindern, daß in den dortigen Medien die „sozialistischen Länder“ ausreichend und im östlichen Sinne zufriedenstellend gewürdigt werden. Im Westen wird beanstandet, daß die Staats-und Parteiapparate im Osten die westlichen Journalisten bzw. Medien zu gängeln oder in ihre Propaganda einzuspannen trachten und 1 von Land zu Land verschieden — über Einreisevisa, Arbeitsbedingungen usw.den Informationsertrag schmälern, normale Eigenrechert chen be-oder verhindern, kritische Information übelnehmen, Abschirmmaßnahmen überziehen und die ideologische Auseinanderset zung etwa bei den Themen Arbeitslosigkeit oder Streik forcieren. Derlei Argumentation geht sichtlich über eine Diskussion der „Arbeitsbedingungen in den Teilnehmerstaaten für Journalisten aus anderen Teilnehmerstaaten" hinaus — und sogar gründlich: Denn hier kommen politische Tatsachen und strukturelle Verhältnisse ins Spiel. Sie zu leugnen oder zu übersehen, wäre gerade in der jetzigen Phase einer selbstkritischen Zwischenprüfung der Europäischen Zusammenarbeit gefährlich. Zeigt sich doch in der Rückschau, daß in den sogenannten Korb III der Schlußakte mehr hineingepackt wurde, als es für eine vernunftbezogene Zustandsbeschreibung der informationspolitischen Landschaft in Gesamteuropa förderlich ist. So begrüßenswert die Suche nach einem Kompromiß in Helsinki gewesen sein mag — in dieser Form überdeckt er, daß auf diesem ebenso heiklen wie heißen Gebiet Funktion, Selbstverständnis und Rollenverteilung der Medien in den beiden Gesellschaftssystemen Europas nur bedingt, nur teilweise und in Existenzfragen überhaupt nicht miteinander vereinbar sind.

Der Korrespondent der sowjetischen Nachrichtenagentur TASS ist ein hervorragender, verläßlicher und pflichtbewußter Journalist und Ahgehöriger eines Ministeriums der UdSSR mit Diplomatenpaß, Ein Korrespondent der amerikanischen Nachrichtenagentur United Press International ist ein hervorragender, verläßlicher und pflichtbewußter Journalist und Arbeitnehmer einer auf Gewinnmaximierung bedachten Privatfirma mit 14 Tagen Kündigungsfrist. Zwei Welten — nicht nur im Sozialstatus.

Bei Korrespondenten und/oder Redakteuren elektronischer Medien besteht informationspolitisch ein zumindest ebenso großer Unterschied. Die Rechts-und Besitzkonstruktionen dieser Medien erscheinen zwar eher vergleichbar, etwa staatlich in Frankreich, der Sowjetunion oder der Schweiz, öffentlich-rechtlich in der Bundesrepublik, Italien oder Österreich. Der Primat von Staat und Partei gilt im Osten uneingeschränkt. Die neue Verfassung der Sowjetunion beispielsweise schafft hier für sowjetrussische Journalisten und Medien-macher ebenso eine Oberverpflichtung wie sie — in anderer Form, aber ähnlicher Wirkung — für alle anderen sozialistischen Staaten auch gilt. Die Fernhaltung vom Staat und von den Parteien ist bei den elektronischen Medien im Westen entweder berufstypisch oder sogar institutionell gewollt: Informations-oder Redakteursstatute verpflichten sämtliche Medien-Dienstnehmer, auch die Korrespondenten, zu selbsttätiger Wahrheitsfindung (etwa durch Gegenprüfung von amtlich gegebenen Informationen) und bewußt gewollter Nicht-Unterordnung unter den Willen von Partei und/oder Staat.

Es begegnen sich mit zwei Gesellschaftssystemen also auch zweierlei Autoritätsansprüche und zweierlei „Informationsphilosophien".

Daß dies nur teilweise mit den strukturellen Grundverhältnissen zu tun hat, läßt sich am Beispiel der Rundfunkanstalten deutlicher dartun als am Beispiel der Presse. Rundfunk ist hier wie dort nicht auf Gewinnoptimierung ausgerichtet und zeigt doch fundamentale Unterschiede in Programmauftrag und Programmausführung. Eine nüchterne Bewertung der informationspolitischen KSZE-Zwischenbilanz, die in West und Ost leider nicht frei ist von Polemik und Verdrehung, bedarf noch eines Hinweises auf die Elektronik: Wellen kennen keine Grenzen. Sie sind gleichsam zollfrei wie Gedanken. Seitdem man sich entschlossen hat, den Atherkrieg in der Negativität von Störsendern zu beenden und den „Wellensalat" europäisch zu ordnen — positive Folgen der KSZE —, ergeben sich zusätzliche Überschneidungen. Diese gelten nicht nur für sämtliche Wellenbereiche des Hörfunks (wo schließlich alle Sender eine Chance haben, sich in den gängigen Sprachen zu Wort zu melden), sondern auch für das Fernsehen, vor allem in gleichsprachigen Räumen, wie den beiden deutschen Staaten, oder in Bereichen historischer Gemeinsamkeiten, wie etwa zwischen Osterreich, der CSSR, Ungarn oder Jugoslawien. Die Funktion der Zusatzinformation oder Zusatzunterhaltung erhöht hier den Verantwortungsbereich der Programm-Macher und die Auswahlfreiheit der Empfänger. Beides ist nur positiv zu werten. Beides kann aber auch Empfindlichkeiten schüren. Sie müssen ihren Ursprung nicht unbedingt in der Ideologie oder in dem Kräftemessen der großen Blöcke haben. Wie über die Probleme der slowenischen Minderheit in Kärnten vom österreichischen Rundfunk einerseits und vom Jugoslawischen Rundfunk andererseits in all ihren jeweiligen Hörfunk-und Fernsehprogrammen berichtet wird, zeigt: Auch die Behandlung der Sprach-und Nationalitätenfragen spiegelt die Unterschiede in der informationspolitischen Gesamtszene.

„Wie heißt der Bundespräsident?" In dem Schweizer Bergtal kommt die Antwort der Volksschüler prompt: „Walter Scheel“. Die Dominanz des (naturgegeben aufwendigeren) Fernsehprogrammes eines großen Landes schlägt hier schon in (sicherlich nicht unbedenkliche) politische Qualität beim Informationsnehmer um. Daß kleinere Länder ihr Selbstbewußtsein in vielerlei Beziehung durch die elektronische Ausbreitung auf eine harte und neuartige Probe gestellt sehen, zeigen auch andere Beispiele. In den Niederlanden, wo nicht nur die ältere Generation den Hitler-Einfall nur schwer vergessen kann, nimmt die Verbreitung der deutschen Sprache — aktiv oder passiv — ständig zu und findet ihre Grenze genau an den Küstengroßstädten, wo auch die normalen Empfangsbedingungen für bundesrepublikanische Fernsehsender enden. In Brüssel sind über Kabel 14 Fernsehprogramme mehrheitlich der Normalfall. Folge: Der frankophone Einfluß geht sprachlich, kulturell und in der Mentalität faßbar zurück, der deutsche Kultureinfluß wächst überdurchschnittlich und selbst the British Way of Life verbreitet sich — allem Anschein nach auch eine Folge des Empfangs von BBC-Fernsehprogrammen. Medienpolitisch und verbreitungstechnisch spiegelt sich hier das Grundsatzproblem des Einflusses von großen — nationalen oder kulturellen — Einheiten auf kleinere wider. Daß es sich hier nicht um eine europäische Besonderheit handelt, zeigen etwa die keineswegs spannungsfreien Verhältnisse zwischen den USA und Kanada. Die allgegenwärtige Dominanz des Amerikanischen hat bei den französisch sprechenden Kanadiern im Zeichen der Bewahrung überschaubarer Lebensräume zu einer Art Selbstverteidigung geführt. Daß die „Französisierung" der Provinz Quebec überhaupt so geraten konnte, wird auch auf weit die Dauerpräsenz des Amerikanischen zurückgeführt, nicht zuletzt im Fernsehen.

Zunächst ganz unabhängig von Europa und KSZE bietet sich folgende Nutzanwendung an: Die Sogkräfte von groß und klein und die Abwehrkräfte von klein gegenüber groß schaffen naturgegebene Spannungsfelder. In diesen Feldern ergibt sich ein eigengesetzliches Informationsgefälle, das keineswegs unabänderlich erscheint, sondern wesentlich vom Bürgerwillen abhängt. Diese Verhältnisse gelten natürlich auch und nicht zuletzt für die Medienlandschaft Europas. Die Frage, warum etwa über Polen oder Ungarn, über die Tschechoslowakei oder Jugoslawien in den westeuropäischen Medien weniger und über Frankreich oder die Bundesrepublik, Großbritannien oder die Schweiz in östlichen Medien mehr berichtet wird, hängt sicherlich mit der genannten Konstellation zusammen Die Informationsbedürfnisse und Informationsinteressen schlagen hier durch. Daß sie sich nicht durchweg lenken und von Obrigkeiten nach ihrem Willen vorprogrammieren und steuern lassen, zählt zu den unbestrittenen Erkenntnissen moderner Kommunikationsforschung. Eine „Beschreibungskonferenz mit Erwartungshorizont''wie die KSZE vermag hier sicherlich keine Wunder zu wirken. Ihre Möglichkeiten, die gesellschaftlichen Entwicklungen in Europa zu beeinflussen, haben vielleicht manche Diplomaten überschätzt.

Zum besseren wechselseitigen Verständnis bedarf die „Informationsphilosophie" in ihre: unterschiedlichen Ausprägung noch weitere: Illustration. Spätestens im zweiten Semestei versuchen Lehrer junger Journalisten, der Wert von News an einem für Außenstehend: vielleicht etwas läppisch klingenden Beispie darzutun: „Hund-beißt Mann” — das ist keim Neuigkeit, aber: „Mann beißt Hund", das is eine.

Daran läßt sich aber mehr und auch politiscl Relevantes erläutern: Die Informationsgebun des Westens sucht das Besondere. Sie empfin det den Normalzustand als nur bedingt be richtenswert. Bei der Wahrheitsfindung wir dem mündigen Bürger die Chance der Selbst auswahl geboten: Informationsvielfalt al Informationssubstanz; Vergleich und Kritik in Frage stellen und Alternativen abfragen -und das Ganze in dem redlichen Bemühel dem möglichst nahe zu kommen, was ta sächlich ist (und nicht was sein soll). Da westlicher Journalismus bei diesem Strebe unvollkommen bleibt und durch außerjourne listische Einflüsse gebremst, ja manchmal ir Gegenteil verkehrt wird, ist nicht zu leugne: Die Quantität des Bemühens reicht noc nicht, um die Qualität der Wahrheitsfindun zu gewährleisten. Die offene Organisation de Medien im Westen macht diese nun einmi angreifbar. Kaum ein Thema erregt deshal die Gemüter so dauerhaft wie die Zielsetzung die Arbeitsweise und vor allem auch die Wi kung westlicher Medien in pluralistische Gesellschaften mit demokratisch kontrollie ter Machtverteilung. Die Uberschaubarke des Angebotes von Information wird durc den inneren Wettbewerb, etwa zwische staatlichen oder öffentlich rechtlichen Run funkanstalten und privatwirtschaftlich gefüh ten Zeitungen gefördert. Dazu kommt d mehr oder weniger ausgeprägte Neigung d Westeuropäer, sich dieser Vielfalt zu bedi nen also persönlich dafür zu bezahlen. Dabei sind die Bürger einiger Länder „fleißigere" Zeitungsleser als andere, und das Fernsehen liefert nicht nur in Brüssel tagtäglich eine wahre Informationswoge. Nimmt man die Zeitschriften und Bücher als zusätzliche Informationsquelle vor allem für Spezialisten, Experten oder auch Meinungsbildner hinzu, so erweisen sich Zugang und Angebot bei Information wie ein einziger medientechnischer Superlativ — die ungehinderte Auswahlmöglichkeit als ein wesentlicher Bestandteil freiheitlicher Lebensform dank frei gewählter Information. Bei dem Doppelangebot elektronischer und gedruckter Medien relativiert sich in größerem Zusammenhang der Einfluß der Zeitungen, Zeitschriften usw., die auf Gewinnmaximierung ausgerichtet, also auch auf Anzeigen angewiesen sind. Da vielerlei Informationskanäle zur Verfügung stehen, rückt die Beeinflussung durch irgendwelche Kräfte oder Kreise schon theoretisch in den Hintergrund. Praktisch erweist sich die gelebte Demokratie in westlichen Redaktionen gerade in neuerer Zeit als Immunisierung gegen subkutane, illegitime oder andere Faktoren, durch die der Auslesemechanismus unter den Kriterien von Objektivität und Wahrheitsfindung gestört werden könnte. Bismarcks Satz „Die Presse ist für mich Druckerschwärze auf Papier" ist zwar kalendarisch hundert Jahre alt, kaum solche Mißachtung des politisch verantwortlichen Journalismus zählt aber medienpolitisch fast schon zum Mittelalter. Wer sich die Diskussion im Westen über Freiheitsräume für Verleger, Journalisten, Rundfunkgremien im allgemeinen und jene über Objektivität, Ausgewogenheit und „innere Pressefreiheit“ im speziellen vor Augen hält, sich sieht hier vor einem Wandel der Entscheidungskriterien beim Entstehen, Verarbeiten und Verbreiten von politischer Information im weitesten Sinn, der sich einer statischen Betrachtung mehr und mehr entzieht.

Für Ostjournalisten im Westen ergibt das in der Theorie Arbeitsmöglichkeiten, wie sie aus Systemgründen in ihren kommunistischen Entsendestaaten nicht bestehen (können). In der Praxis allerdings sorgt das oft überstrapazierte System der Gegenseitigkeit bei den äußeren Arbeitsbedingungen, wie z. B.der Visa-Erteilung, für jene „Auge-um-Auge-Zahn-umZahn" -Methode, die schon in früheren Phasen den Fortschritt gehemmt, ja unmöglich ge-macht hat. Vom Informationsangebot und der Informationsmöglichkeit her gibt sich der

Westen im großen und ganzen auch für Ost-journalisten wie am „Tag der offenen Tür". Die Ostjournalisten wissen und nutzen das auch. Die Systemunterschiede aber verbieten schon hier den schematischen Vergleich oder gar eine sklavische Projektion auf die Medienverhältnisse im anderen Block.

Die Medienlandschaft im Osten ist ganz anders vermessen, geordnet und beleuchtet. Der Oberanspruch von Partei und Staat prägt sie. Er verpflichtet nicht nur jeden Bürger eines Ostblocklandes, sondern erst recht seine Medienmacher einschließlich der Journalisten. Die Anforderungen der Regierenden an die Medien unterliegen ihren eigenen Gesetzmäßigkeiten. Die Information steht am Ende eines Entscheidungsprozesses in den verantwortlichen Instanzen von Parteien und Staat. Der Prozeß selbst entzieht sich der Öffentlichkeit und wird im Osten meistens auch bewußt außerhalb der Berichterstattung gehalten. Das Selbstverständnis, mit dem die Vorentscheidungen in Partei und Staat in den politischen Ablauf eingebaut sind, rührt aus der Gesamt-ordnung kommunistischer Gesellschaften her. Die großen politischen Linien oder auch Veränderungen stehen am Ende eines als Demokratie bezeichneten und von den Betroffenen oder Beteiligten auch empfundenen Meinungsbildungsprozesses. Er selber und seine Systematik können und sollen Gegenstand von Veröffentlichungen sein. Diese stellen gleichsam auf das Endprodukt ab — gedanklich, konzeptiv, innenpolitisch und vor allem außenpolitisch. Und die Funktion der Journalisten wird im Osten als Teil dieser systemimmanenten Vorgangsweise empfunden; sie stehen nicht außerhalb der Verantwortlichkeit von Staat sondern -und Partei, inner halb, und sie sind damit deren Organe und nicht deren Kontrolleure. Daß in diesem vorgegebenen Rahmen im Osten vielfach ein hervorragender und seriöser -Journalismus be Handwerk trieben wird, der sein versteht und seinem Auftrag gerecht wird, ist nicht zu bestreiten. Der Einzeljournalist im Osten vermag sich durch seinen Leistungsstand oft ansehnliche Freiheitsräume für sein intellektuelles Selbstverständnis zu schaffen und zu sichern. Für kommunistische Länder verliert die Kontrolle der Information in ihrem System jede Problematik. Aus diesem Mechanismus entspringt überhaupt erst jener Bewegungsraum, der in jedem Einzelfall und im Grundsätzlichen präzise vorgegeben ist, etwa bei der Diskussion der neuen Verfassung der UdSSR. Kritik wird insofern eingeplant, als sie den von der Partei vorgegebenen Gesamtrahmen ausfüllt. Der eingeweihte Journalist kennt beide Markierungen genau und weiß sein Verhalten und seine Veröffentlichungen entsprechend zu gestalten.

Für Auslandsjournalisten im Osten zählt jedoch das Endprodukt, das verbindliche Kommunique als einzige Richtschnur. Recherche und Gegenrecherche ist unerwünscht oder im extremen Fall verdächtig. Die Geheimnisvorschriften fallen entsprechend aus, unterscheiden sich nur in Formulierungen und Praktizierungen von Land zu Land, deklarieren bestimmte Vorgänge, etwa Personalia oder Militaria, als journalistisch unzugänglich und/oder rechtfertigen eine Nachzensur. Derlei trifft dann auch die Arbeitsbedingungen einschließlich des Wohnens in Gettos für Ausländer oder der noch immer bestehenden Teilverbote persönlichen Direktkontakts zwischen Auslandsjournalisten und Einheimischen.

Das Exemplarische dieser Unterschiede ließe sich noch weiterführen, etwa auch die Auswahl, Ausbildung und berufliche Entwicklung von Journalisten in Ost und West. Da die beiden Mediensysteme hier wie dort nur in Randzonen deckungsgleich sind, bleiben sie in der politischen Substanz nicht fusionierbar. Das schließt nicht aus, daß erstklassige Journalisten oder hervorragende journalistische Leistungen grenzüberschreitende Wirkungen zeitigen. Diese Vorgänge mögen zunehmen, und die Arbeitsbedingungen für Journalisten bilden hier sicherlich eine wichtige technische Hilfe. Daß im Westen Journalisten normalerweise nicht Politik machen, sondern darüber berichten, und im Osten Journalisten Politik machen und gleichzeitig darüber berichten, braucht aber keinerlei Hemmung für eine Kooperation im Sinne der KSZE zu sein. Die Unterschiede setzen aber auch Grenzen. Dies zu leugnen oder wegzudiskutieren, käme einer gefährlichen Selbsttäuschung gleich. Im Westen empfinden sich die meisten Medienmacher als Reflektoren, als Durchlaufstationen, im Osten möchten viele etwas bewirken, also direkt in die Vorgänge eingreifen. Drücken sich die Unterschiede schon in der Tätigkeit der Nachrichtenagenturen aus, so erst recht in den Zeitungen oder den elektronischen Medien.

Unvergleichbares miteinander zu vergleichen kann hier nur in die Irre oder zu neuen Komplikationen führen. Um es nochmals zu verdeutlichen: Zusammenarbeit schließt diese Unterschiede nicht aus, man muß sie nur erkennen und respektieren. Dann relativieren sich auch die Schwierigkeiten und es erscheint müßig, große Rechnungen und Gegenrechnungen aufzumachen. Die einen beschweren sich über die Steuerung und Kontrolle von Informationen, über Propaganda, Bürokratie, Geheimdienste und Isolation, die anderen über Mißbrauch der Gastfreundschaft, überzogene Reisebedürfnisse, Disproportionen in der Darstellung einzelner Länder oder ganzer Blocks und machen den einzelnen Journalisten haftbar für die Tätigkeiten oder Unterlassungen seiner Heimatredaktion. „Kenne ich mein Verhältnis zu mir selbst und der Außenwelt, so heiß'ich's Wahrheit. Und so kann jeder seine eigene Wahrheit haben, und es ist doch immer dieselbige." Was Johann Wolfgang von Goethe in seinen „Maximen und Reflektionen" widerspiegelt, ist sicherlich nicht nur das Endprodukt im Denkvorgang eines Dichters. Er war schließlich auch Diplomat und Politiker. Die Aufklärung von damals zählt auch heute noch: Ringen um die Wahrheit — nicht nur ein philosophischer Vorgang — charakterisiert auch den Journalismus in den beiden Gesellschaftssystemen Europas. Ein Blick auf die Alltagsberichterstattung lehrt es. „Die" Wahrheit erscheint bestenfalls als Annäherungswert, in den meisten Fällen nicht als unbestrittene oder unbestreitbare Größe. Auch ist das Bemühen um die Wahrheitsfindung so unterschiedlich wie die Gesellschaftssysteme selber. Man braucht sich nur in Erinnerung zu rufen, was die Medien in West und in Ost aus konkreten, oft beide Seiten treffenden Vorgängen „machen", um zu erkennen, daß es allem Anschein nach — trotz Goethe — heutzutage mehrere Wahrheiten gibt. Nicht nur im Streit der Philosophen, sondern auch im Wettbewerb der Systeme. Wie man es mit der Wahrheit hält, wird zu einem Steuerungselement dieses Wettkampfes.

Der Korb III bleibt für Belgrad dennoch ein nützliches, ja unentbehrliches Behältnis. Auch sind die Vereinbarungen der KSZE von Helsinki arbeitstechnisch nützlich. Zur weiteren Entwicklung eines kooperativen Miteinander zwischen zwei unterschiedlichen Mediensystemen bedarf es aber zusätzlicher Elemente: 1.des Respekts vor der Medienordnung des anderen, 2.des Zu-und Eingeständnisses, daß mit den politisch nun einmal gegebenen Unterschieden bei realistischer Einschätzung eher zu leben ist als in einem Klima gegenseitiger Vorwürfe, 3.der Einsicht, daß die beste, wohlmeinendste und großzü-gigste Technik diese immanent politischen Unterschiede nicht zu überwinden vermag, 4.der Erkenntnis, daß trotz dieser gegensätzlichen, gegenläufigen oder jedenfalls nicht automatisch harmonisierenden Umstände eine Fülle zu tun bleibt, um die Medienlandschaft fruchtbarer werden zu lassen, etwa durch persönliche Kontakte, Reisemöglichkeiten, kostensenkende Kooperationen sowie Austausch von Informationen oder gedruckten sowie elektronischen Beiträgen. Bei aller Phantasie und Nutzbarmachung praktischer Erkenntnisse und bei allen wünschenswerten Beweisen guten Willens auf beiden Seiten — eines wird nicht weiterführen: die Medien und ihre Hervorbringungen im anderen Lager nur nach den Gesichtspunkten des eigenen zu werten. In Europa bestehen nun einmal zwei rivalisierende Gesellschaftssysteme, und es ist nicht nur fair, sondern auch professionelles Gebot, wenn diejenigen, die pflichtgemäß über sie zu berichten haben, bei ihrer Tätigkeit dieses — im Augenblick prinzipiell wohl nicht zu verändernden — Umstandes eingedenk sind.

Fussnoten

Weitere Inhalte

Klaus Emmerich, geb. 1928, Studium der Anglistik, Theaterwissenschaften, Zeitungswissenschaften an der Universität Wien, Volks-und Betriebswirtschaft an der Hochschule für Welthandel, Wien, und der Universität Bonn; seit 1949 Redakteur bei Zeitungen, Zeitschriften, Rundfunkanstalten im deutschsprachigen Raum; seit 1969 Korrespondent des Österreichischen Rundfunks für Deutschland und die Europäische Gemeinschaft.