Eine Erwiderung auf den Beitrag von Christoph Böhr
Kritik, „Lebenselixier“ kritischer Rationalisten, ist uns seit Erscheinen unserer Bände „Kritischer Rationalismus und Sozialdemokratie", I und II, in überreichem Maße zuteil geworden. Von der schallenden Ohrfeige — einige marxistische Kritiker bevorzugten diese Argumentationsform — über polemische Kritik bis zur inhaltlichen und sachlichen Auseinandersetzung — dazu möchten wir den Beitrag von Christoph Böhr rechnen — sind uns nunmehr alle Figuren der Rhetorik vertraut.
Vermutlich hat die für uns unerwartet große Resonanz, die unsere Bücher fanden, ausgehend von einer „freundlich-unverbindlichen Besprechung des eben genannten Sammelbandes durch den Spiegel" eigendynamisch immer weitere Stellungnahmen provoziert. Vielleicht war es das in diesem Artikel verwendete, reichlich pathetische Wort von der „Eröffnung einer neuen Phase in der Geschichte der Sozialdemokratie" das die Vermutung begründete, wir beabsichtigten die Monopolisierung des kritischen Rationalismus für eine Partei einen Monismus mit dem Ziele „Marxismus raus, Kritischer Rationalismus rein"
Auch Böhr fühlt sich zu einer ausführlichen Erörterung der Frage veranlaßt, „ob überhaupt eine Annäherung zwischen der kritisch-rationalen Philosophie und der Programmatik einer Partei sich denken läßt"
Dies alles sind selbstgestellte, keineswegs aber von uns aufgeworfene Fragen (mit denen man sich immerhin beschäftigen mag): Nicht umsonst haben wir den Titel „Kritischer Ra-tionalismus und SoziaJdemokratie’ (nicht etwa: in der SPD!) gewählt, nicht ohne Sinn lautet der Untertitel des zweiten Bandes „Diskussion und Kritik“ und mit Bedacht heißt es dort: „Der kritische Rationalismus ist keine politische Theorie in dem Sinne, daß sich aus ihm Anweisungen für politisches Handeln ableiten ließen. ... Der kritische Rationalist mus ist eine Methode für mehr Rationalität auch in der politischen Problemlösung, und er liefert keine Rezepte für politische Entscheidungen. Wer also nach einem Leitfaden für politisches Handeln oder nach einer neuen ideologischen Ersatzreligion sucht, wird mit dem kritischen Rationalismus wenig anfangen können."
Von ausgesprochen untergeordneter — allen-falls historischer — Bedeutung erscheint uns schließlich der Prioritätsstreit, wer zuerst und wann den kritischen Rationalismus rezipiert habe Tatsächlich verlaufen die Fronten der Auseinandersetzung anders: nämlich zwischen Vertretern sozialmetaphysischer Systeme (verschiedenster Herkunft) einerseits, skeptischen Sozialtechnikern (mit ganz unterschiedlichen Zielvorstellungen) andererseits. So setzt sich der gewiß konservative „Topitsch in strikten Gegensatz zu vielen seiner konservativen Freunde“ wenn er sich ge-gen Versuche wehrt, „mit Hilfe einer . ewigen Idee des Menschen'oder . menschlichen Wesensnatur'letztgültige Normen für unser moralisch-politisches Handeln zu gewinnen" Wie er, wenn auch wohl mit . anderen politischen Zielvorstellungen, setzen auch wir uns von Alternativ-Radikalismen ab — durch methodisch begründeten Zweifel an politischen Wahrheitsmonopolen und Heilslehren. Sehr viel mehr, das möchten wir noch einmal deutlich betonen, kann der Kritische Rationalismus als politische Philosophie nicht leisten, aber vielleicht ist das — mit soviel „Denktradition, die von den Konservativen als . abendländisch'umrissen wird" auf der einen Schulter und mit soviel eschatologischer Heilserwartung marxistischer Gesellschaftslehren auf der anderen — schon genug: Schritte in die Zukunft tun sich ohne Ballast leichter. Keineswegs aber sagt uns der Kritische Rationalismus, wohin wir diese Schritte lenken sollen: „Politische Inhalte und Werte müssen gesetzt werden. ... Deshalb können auch bei gleichem Vorverständnis unterschiedliche Wertungen und Zielsetzungen bei verschiedenen Personen (und Parteien) möglich sein." Auseinandersetzungen nach dem Muster „Mein Popper, Dein Popper", Rekurse auf Platon, Augustinus, W. v. Humboldt, Marx, Mao — oder auch auf Popper als Quellen philosophischer oder politischer „Wahrheiten" sind nicht nur peinlich, sondern tragen auch den gefährlichen Keim essentialistischen Rechtfertigungsdenkens in sich: Nicht was eine bestimmte Person gesagt hat, sondern ob das Behauptete falsch oder bestätigt ist, hat Bedeutung — eine Frage, die personenunabhängig ist.
Leider verfällt Böhr an einigen — dazu für seine Argumentation wichtigen — Stellen in eine solche Exegese der Werke Poppers, die er im Sinne einiger ad hoc eingeführter Axiome interpretiert.
I. Das Menschenbild
Anthropologisches Grundmuster des Kritischen Rationalismus sei ein skeptisches Menschenbild, das sich „auf die Möglichkeit unseres Wissens und Nicht-Wissens und auf den Grad der jeweiligen Gültigkeit, die unsere Erkenntnisse in Anspruch nehmen dürfen, [be-zieht, d. Verf. ]“ Diese Aussage betont — sicher zutreffend — unsere relative Unwissenheit, den bescheidenen Bestand gesicherten Wissens, über den die Menschheit verfügt. Sie ist aber einmal trivial, zum anderen sicher keine Grundlage für ein skeptisches Menschenbild. Denn sie bezeichnet einen Besitz, ein Verfügen, nicht aber ein Verhalten (etwa: ständiger Mißbrauch [unserer spärlichen] wissenschaftlichen Erkenntnisse zu inhumanen Zwecken). Ein Besitz — der von Wissen sowenig wie der von Äpfeln — kann nicht die Grundlage eines skeptischen (oder beliebigen) Menschenbildes sein, sondern nur ein Verhalten, etwa das Verfügen über diesen Besitz. Da inhumanes und unvernünftiges Verhalten — jede Zeitung informiert uns täglich darüber — offenbar häufig vorkommt, scheint uns der irrationale (wohl auch: kritische) Glaube an die Vernunft, die Einstellung, „die bereit ist, auf kritische Argumente zu hören" eher Grundlage eines optimistischen Menschenbildes zu-sein: Es setzt ein menschliches Verhalten voraus, das lernfähig (und -willig), kompromißbereit und Vernunftgründen zugänglich ist. Den „alten Adam“ vorausgesetzt, den zu bändigen ausschließliche Funktion staatlicher Gewalt sei 15), gelangt Böhr, in Verbindung mit einer normativen Politikkonzeption, die u. E. nur noch wenig mit der politischen Philosophie des Kritischen Rationalismus zu tun hat, zur Bestimmung eines Popperschen „Minimalstaates" 16), den erfunden zu haben Popper sicher überraschen wird. Politische Philosophie im Sinne des Kritischen Rationalismus sei nämlich, so führt Böhr axiomatisch ein, in-dem er sich zustimmend auf ein Zitat von Hermann Lübbe(!) stützt, „keine Theorie, die bloß sagt, ... was ist, ohne selber etwas zu wollen. Sie ist im Gegenteil Explikation und Begründung (sic!) eines politischen Willens, der seine Ziele und Grundsätze hat" Zwar zitiert er an anderer Stelle ebenfalls zustimmend, unsere Aussage (die der vorher zitierten von Lübbe geradezu widerspricht), die Bedeutung des Kritischen Rationalismus beziehe sich weniger auf die Inhalte der Politik, weder auf die Wertentscheidungen noch auf die politischen Vorschläge im einzelnen, sondern auf die Prozesse, in denen diese gewonnen, diskutiert und überprüft werden, leitet aber dennoch seine wichtigen Schlüsse aus eben diesen eingeführten Axiomen ab. So kommt er zu einigen Behauptungen über die Rolle der Politik und die Bedeutung des Staates, die eher ontologischem ORDO-Denken als dem Kritischen Rationalismus entstammen.
Während dem Wissenschaftler daran gelegen sein muß, das Risiko von Fehlern zu maximieren, will es der Politiker minimieren; jenem kommt es auf Falsifizierbarkeit seiner Theorien, diesem auf Realisierbarkeit seiner Ziele
II. Politik und Wissenschaft
an, jener ist an der Kenntnis von (z. B. sozialen) Gesetzmäßigkeiten interessiert, dieser setzt sie voraus. Dieses ganz anders gelagerte Interesse von Wissenschaftlern und Politikern deutet auch Böhr vage an greift aber offenbar unsere Unterscheidung von formaler, inhaltlicher und qualitativer Rationalität der Politik als Vehikel holistischer Veränderungskonzepte als Strategien der Immunisierung gegen Kritik und des Rechtfertigungsdenkens an. Tatsächlich formulieren diese Rationalitätskonzepte aber nur rein technischlogische Voraussetzungen der Realisierbarkeit politischer Ziele, nämlich Widerspruchsfreiheit, Konsistenz und intersubjektive Überprüfbarkeit In der Tat beinhalten diese Konzepte eine „Verwissenschaftlichung der Politik", insofern sie über die Möglichkeiten, Ziele zu erreichen, über das Wie, nicht aber das Wozu, Auskunft geben sollen, über die Ziele der Politik selbst ist damit überhaupt nichts gesagt, keineswegs, wie Böhr meint, verpflichtende Erkenntnis vorgeschrieben, „der alle einmütig nur noch zustimmen können“ Im Gegenteil, das Kritikpotential wird erhöht, indem nicht nur die jeweiligen Ziele, sondern auch Nebenwirkungen, die wiederum andere Ziele berühren, Gegenstand des „Gezänks der Parteien" werden können. Das kann nur anders sehen, wer entweder den armen Politikern außer der Zielformulierung und Entscheidung auch noch die Entwicklung eigener Inflations-, Außenhandels-, Geld-, Sozialisations-, Segregations-, ... -theorien aufbürden möchte oder eben der politischen Philosophie auch die „Explikation und Begründung eines politischen Willens" zumutet (was uns als kritischen Rationalisten ferne liegt).
III. Minimalstaat, Ordnungsdenken und Moral
Machtkontrolle und Machtbalance, beides zentrale Elemente in der politischen Philosophie des Kritischen Rationalismus, gerinnen durch die axiomatische Weichenstellung Bohrs (skeptisches Menschenbild und normative Politikkonzeption) zu dem reduzierten Gebilde „Minimalstaat“ und der kritikimmunisierenden Unterscheidung zwischen Ordnungs-und Zielpolitik, durch die, so Böhr, ordnungspolitische Rahmenstrukturen nicht als bloß formale Bedingungen abqualifiziert werden
Böhr scheut sich nicht, zur Untermauerung seiner Konzeption des Minimalstaates, in der die staatliche Gewalt immer — und ausschließlich — dem Freiheitserhalt der Bürger dient Popper durch ein Zitat für dieses „Ideal“ zu reklamieren und uns durch verkürztes und sinnentstellendes Zitieren in Gegensatz dazu zu setzen: Bei Böhr heißt es, wir sähen „in einer Politik der Gleichheit" die „sicherste politische Strategie zur Verteilung und damit Entschärfung von Macht", und schreibt selbst: „Demokratie und damit Machtkontrolle sieht Popper eben nicht durch eine Politik der Gleichheit gewährleistet, sondern durch eine Institutionalisierung von Kontrollmechanismen. In unserem Aufsatz ist aber ausführlich zu lesen: „Die sicherste politische Strategie zur Verteilung und damit Entschärfung von Macht liegt in einer Politik der Gleichheit, wenn man es für richtig hält, daß Machtentfaltung durch Ungleichheit von Einflußmöglichkeiten gestärkt wird. Analog zur Vorstellung, daß neue Ideen strenger Prüfung durch Argumente unterzogen werden sollen, sollten alte Institutionen ihre Existenz stets neu legitimieren müssen. Beides wäre ein aus der Sicht der Verteilung von Einflußchancen äußerst egalitäres Element. ... Ableitbar aus der politischen Philosophie des Kritischen Rationalismus ist also eine Politik für die Freiheit und soviel Gleichheit, daß die Freiheit erhalten werden kann. Eine Gleichheitspolitik aus dem Motiv der Gerechtigkeit ist möglich und von uns gewünscht, aber als Werfentscheidung aus dem Wissenschaftsgedanken des Kritischen Rationalismus nicht ableitbar." Der Textgehalt ist offenbar ein etwas anderer als der des bei Böhr zitierten Fragments.
Merkwürdig, ja widersprüchlich, scheint die unmittelbar auf diese Ausführungen Böhrs folgende Zurücknahme der Behauptung, alle politischen Probleme seien letzten Endes institutioneile Probleme: „Letzendlich ist es die Moral einer Gesellschaft, ihre überlieferten Sinnstiftungen und ihr Verständnis vom Menschen, die Demokratie zu sichern oder in Frage zu stellen. Es ist an dieser Stelle zu fragen, inwieweit Popper (dem kurz darauf Optimismus [1] bescheinigt wird, d. Verf.) hier nicht eine spezifisch englische Gedankenwelt unzulässig verallgemeinert." Derartiger Resignation vor Traditionen und „überlieferten Sinnstiftungen" liegt ein durchaus berechtigtes, von Böhr aber nicht weiter verfolgtes Unbehagen und Mißtrauen zugrunde. Es wird dabei aber übersehen, daß auch Traditionen und gewachsene Institutionen als „Hypothesen“, Vorschläge für Problemlösungen, entstanden sind, also rationalen Ursprungs sein können 34). Als „Problemlösungsverfahren" ungeeignet werden sie, wenn Ziele und Randbedingungen sich geändert ha-ben. Daher empfiehlt der Kritische Rationalismus, sie ausdrücklich als „Hypothesen“ aufzufassen und für den Fall ihres Scheiterns neue „Hypothesen" zu entwickeln: „Analog zur Vorstellung, daß neue Ideen strenger Prüfung durch Argumente unterzogen werden sollen, sollten alte Institutionen (ebenso: Traditionen, Sinnstiftungen, die Verf.) ihre Existenz ständig neu legitimieren müssen."
Der Kritische Rationalismus ist daher auch insofern „radikal", als Gewordenes und Bestehendes ebenso wie noch zu Gestaltendes der Bewährung unterworfen sind. Zwar ist Böhr darin zuzustimmen, daß der Kritische Rationalismus als politische Philosophie eine ordnungspolitische Schwerpunktsetzung vertritt 36), nicht jedoch in der ontologisierenden und „Ordnung” gegen Kritik immunisieren-den Unterscheidung zwischen Ordnungs-und Zielpolitik, die mehr sei als eine Frage der Prioritätensetzung auch „Ordnung" ist final, hat sich im Hinblick auf ein Ziel, Frei-heitssicherung nämlich, zu bewähren, ist da-mit aber auch der Kritik und Veränderung zugänglich; auch Ordnungspolitik ist Zielpoli-tik Keine Ordnung ist so gut, daß sie durch Reformen Freiheit nicht noch besser sichern könnte. Im Kern essentialistisches, bestimmte Bereich der Politik, die „ordnungspolitischen Rahmenstrukturen", von Kritik ausnehmendes ORDO-Denken gefährdet die Freiheit eher, als es sie schützt.
IV. Kritischer Rationalismus und politische Programme
Entgegen unserem Einwand — Böhr zitiert ihn —, daß Parteiprogramme nicht mit logischen Aussagesystemen vergleichbar seien, möchte er die Glaubhaftigkeit einer Annäherung durch Vergleich der „essentials sozialdemokratischer Programmatik mit den Grundzügen der Philosophie des Kritischen Rationalismus" ermitteln. Ein wenig fruchtbares Vorgehen aus verschiedenen Gründen: Politische Programme formulieren Ziele der politischen Praxis, Kritischer Rationalismus aber ist eine Metatheorie oder Methodologie der politischen Praxis; genau dies ist auch mit unserer, in diesem Text (S. 35) schon einmal herangezogenen Aussage — Böhr zitiert sie an anderer Stelle zustimmend — gemeint: „Die Bedeutung des Kritischen Rationalisimus bezieht sich insofern weniger auf die Inhalte der Politik, weder auf die Wertentscheidung noch auf die politischen Vorschläge im einzelnen, sondern auf die Prozesse, in denen diese gewonnen, diskutiert und überprüft werden." „Der Kritische Rationalismus grenzt nur gewisse extreme Ränder des politischen Spektrums aus, ist aber ansonsten von seiner Struktur her . unfähig', eine genuin kritisch-rationalistische Politik zu definieren. Es gibt im Gegenteil eine Vielzahl mit dem Kritischen Rationalismus kompatibler Politiken" So strapaziert, wie Böhr das möchte, geriete der Kritische Rationalismus zum Dogmatismus. Glücklicherweise — da politische Programme und philosophische Systeme auf anderen Ebenen angesiedelt sind — bleiben wir von Le-bensformen verschont nach der Maxime: „Koche, liebe, singe, putze (und mache praktische Politik) nach den Prinzipien des Kritischen Rationalismus!" Leichten Herzens bestätigen wir daher auch den „Verdacht" Böhrs (ohne daß es uns, wie es dort heißt auf „Revanche“ ankäme oder wir „Mißbrauch" mit dem Kritischen Rationalismus betrieben), daß wir, anknüpfend an die Tradition des Neukantianismus, den Kritischen Rationalismus durchaus als Alternative zum scheinbaren Theorievorsprung marxistischer Ansätze verstehen. „Das ist kein Vorwurf an die marxistischen Theoretiker, der Vorwurf geht an deren Gegner; denn deren mangelhafte publizistische Präsenz war für die einseitige Lastenverteilung in der Theoriediskussion verantwortlich." So befinden wir uns denn zum Schluß in vollständigem Einklang mit Böhr, wenn er schreibt, der Kritische Rationalismus sei eine Philosophie eines demokratischen Ordnungssystems und eine Metatheorie des politischen Handelns. „Um zu einer wirksamen Theorie politischen Handelns zu werden, bedarf er der Ergänzung durch konkrete politische Vorstellungen und Programme“ Wenn auch, wie gezeigt, unser und sein Weg — der seine führt ihn allerdings in einige Sackgassen und durch etliche offene Türen — zu dieser Aussage sich unterscheiden, so sind wir wieder mit ihm einig in der Hoffnung, daß „die Bemühungen um diese Ergänzung (...) in der Bundesrepublik mittlerweile eingesetzt“ haben