Seit einigen Jahren findet im Bereich der Sozialwissenschaften, insbesondere der Erziehungswissenschaft, ein Kulturkampf statt, der von Außenstehenden kaum bemerkt wird: Immer mehr marxistische . Wissenschaftler'betreiben unter dem Namen Wissenschaft massive sozialistische Propaganda. Das Vertrauen, das die Wissenschaft auch heute noch im Bewußtsein der Bevölkerung genießt, wird von diesen Strategen genutzt, um ihre politische Ware unter dem Etikett von Wahrheit und Objektivität zu verkaufen. Ich weiß, daß jetzt der Einwand kommt, es gäbe eben noch andere Wissenschaftsbegriffe — vielleicht sogar „weitere“ und „umfassendere"! Dieses Argument höre ich jeden Tag — garniert mit schönen Worten wie Toleranz und Pluralität. Aber genau das ist die Falle: In dem Augenblick nämlich, in dem man wertende Wissenschaften, d. h. Systeme mit bestimmten Zielen und Werten, als Wissenschaft anerkennt, kann sich jede politische Ideologie als „wahr" legitimieren. Ein politisches System aber, daß sich als wahr legitimiert — sei es aufgrund eines „Objektiven Geistes“ oder eines „Historischen Gesetzes" —, beugt sich keinem demokratischen Votum: Wie könnte sich auch jemand, der die Wahrheit besitzt, durch das Votum von Menschen mit „falschem Bewußtsein" beirren oder gar abwählen lassen?
Damit wird (nicht nur logisch!) deutlich, daß der Streit, was als Wissenschaft bezeichnet werden darf, selbst kein wissenschaftlicher ist, sondern ein eminent politischer. An der Universität Heidelberg erlebe ich es täglich, daß kommunistische Studenten jede Kritik an ihren „wissenschaftlichen" Arbeiten als „politische Zensur" ablehnen, als Kritik eines „bürgerlichen Wissenschaftlers" an „marxistischer Wissenschaft".
Die Tatsache, daß die Entscheidung darüber, was Wissenschaft ist — und damit u. U. darüber, ob politische Programme als Wissenschaft bezeichnet werden dürfen —, letztlich in der Hand des Richters liegt, ist vor kurzem offenkundig geworden. Der Baden-Württembergische Verwaltungsgerichtshof (VGH) hat entschieden, daß eine „parteiliche Wissenschaft" mit dem Artikel 5 des Grundgesetzes nicht vereinbar sei (Unispiegel der Universität Heidelberg, 8/75, S. 2). Geklagt hatte eine Lehramtskandidatin gegen einen Professor, der ihre Examensarbeit mit „mangelhaft“ bewertet hatte. Nach Ansicht der Kandidatin hatte der Professor Vorbehalte gegen eine marxistische Wissenschaft.
Das Urteil scheint zu zeigen, daß in unserer Gesellschaft eine parteiliche Wissenschaft keine Chance hat. Aber das ist ein verhängnisvoller Irrtum! Im Gegenteil: Ich vermute, daß bereits Tausende von Studenten in Berlin, Bremen, Frankfurt, Gießen oder Marburg für ihre politischen Elaborate wissenschaftliche Qualifikationen und wissenschaftliche Positionen erhalten haben und daß dieser Prozeß ungehindert weitergeht.
i Nein — die Anerkennung des wissenschaftlichen Pluralismus, genauer: die Anerkennung wertender Wissenschaftsbegriffe muß einer liberalen und demokratischen Gesellschaft zum Verhängnis werden. Durch dieses Einfallstor können marxistische „Wissenschaftler" ungehindert eindringen und von glaubwürdiger Position aus das „richtige Bewußtsein" vermitteln. Sozialistische Staaten sind nicht so to-lerant — oder kennt jemand einen „bürger-1 liehen" Wissenschaftler in einem sozialistischen Staat? Wir sollten uns den Dogmatismus sicher nicht zum Vorbild nehmen, aber wir sollten uns die Frage stellen, wie freiheitlich eine Demokratie sein darf, um dem Dogmatismus nicht letztlich zum Opfer zu fallen.
Die Situation ist schwierig genug — nicht nur deswegen, weil sich viele Studenten und junge Wissenschaftler (oder „Wissenschaftler") von kritisch-emanzipatorischen, neomarxistischen oder anderen Heilslehren so leicht begeistern lassen, sondern auch deswegen, weil „wissenschaftliche" Heilslehren eine alte Tradition besitzen. So werden in der geisteswissenschaftlichen Pädagogik schon seit jeher moralische und politische Forderungen erhoben und als Wissenschaft bezeichnet. Das Verfahren hierfür ist die sogenannte Hermeneutik: Sie erlaubt es, Erziehungsziele oder andere politische Ziele jeweils anders — aber immer mit dem Anspruch objektiver Gültigkeit — zu interpretieren. Geisteswissenschaftliche Pädagogen mögen es noch so entrüstet ablehnen: Durch die Etablierung eines wertenden Wissenschaftsbegriffes haben sie dem „wissenschaftlichen Sozialismus“ den Boden bereitetI So paradox es klingen mag: in Bezug auf die Wissenschaft, genauer: auf die Strategie, unter dem Namen Wissenschaft Politik zu betreiben, sitzen Geisteswissenschaftler und Marxisten in einem Boot. Beide Richtungen kämpfen gegen den logisch-empirischen Wissenschaftsbegriff des Kritischen Rationalismus; beide lehnen ihn als zu „eng“ ab, als „mechanisch", „formal", „blind gegenüber dem Sollen“, „naiv“, „verstümmelt", „ohnmächtig“ und „borniert“ (Baacke, Beck, Blankertz, Heinze, Huisken, Klafki, Mollenhauer, Nicklis, Schäfer, Schaller u. a.).
Im folgenden werde ich zeigen, daß jeder wertende Wissenschaftsbegriff zwangsläufig zum politischen Dogmatismus und damit zur Zerstörung der pluralistischen Demokratie führt. Ich werde mich dabei im wesentlichen auf die Erziehungswissenschaft beziehen. Hier gelingt es offenbar am leichtesten, Wissenschaftlichkeit vorzutäuschen und damit politischen Einfluß zu gewinnen.
Als erstes werde ich die Basis aufzeigen, auf der ich meine Schlüsse ziehe und meine Kritik ansetze. Sodann werde ich die raffinierte Strategie der geisteswissenschaftlichen, marxistischen und emanzipatorischen Erziehungswissenschaftler aufzeigen, unter dem Namen Wissenschaft politische Macht zu erlangen und zu erhalten. Anschließend möchte ich auf die Probleme hinweisen, die eine logisch-empirische (und damit wertfreie) Erziehungs. Wissenschaft in der heutigen Kulturkampfsituation mit sich bringt, insbesondere auf das Problem, sich nicht hinter pseudowissenschaftlichen Instanzen verstecken zu können, sondern in eigener Verantwortung argumentieren und handeln zu müssen. Zuletzt möchte ich das Ergebnis zusammenfassen und einige Gegenstrategien Vorschlägen.
Dementsprechend ist die Arbeit in fünf Teile gegliedert:
1. Wissenschaft und Erziehungswissenschaft 2. Geisteswissenschaftliche Erziehungswissenschaft 3. Marxistische Erziehungswissenschaft 4. Kritisch-emanzipatorische Erziehungswissenschaft 5. Wissenschaft und Demokratie
I. Wissenschaft und Erziehungswissenschaft
Um meine Behauptung, daß bestimmte Erziehungswissenschaften nichts anderes darstellen als politische Systeme im Gewand von Wissenschaft, beweisen zu können, werde ich zunächst die Begriffe Wissenschaft und Erziehungswissenschaft definieren. Ich darf mich dabei kurz fassen, da ich diese Begriffe an anderer Stelle schon ausführlich dargestellt habe. Außerdem existieren zum Begriff der Wissenschaft (im Sinne des Kritischen Rationalismus) zahlreiche hervorragende Darstellungen (Albert, Lenk, Popper, Stegmüller, Topitsch u. a.).
Um ein mögliches Mißverständnis zu vermeiden, sei noch einmal betont, daß man (selbstverständlich) die Basis meiner Beweisführung selbst in Frage stellen kann. Genau um diesen Punkt, d. h. um die politischen Konsequenzen eines „anderen Wissenschaftsbegriffes", wird es im letzten Abschnitt dieser Arbeit gehen.
1. Wissenschaft
Eine Wissenschaft besteht aus einem System von Theorien, wobei der Begriff der Theorie wiederum durch folgende Methode charakterisiert wird: Aufgrund (nicht als Folgel) von Daten und Beobachtungen werden Hypothesen aufgestellt, d. h. Ansätze, mit denen man einen Wirklichkeitsbereich zu erklären versucht. Die Hypothesen müssen in ihrer Gesamtheit widerspruchsfrei sein; dann können mit Hilfe logischer Regeln allgemeine und überprüfbare Sätze (oder Aussagen) aufgestellt werden.
Entscheidend ist, daß die Sätze einer Theorie eine doppelte Bedingung erfüllen müssen: Sie müssen logisch wahr sein, d. h. aus den Hypothesen deduziert werden können, und sie müssen empirisch überprüfbar sein, d. h. an den untersuchten Wirklichkeitsbereichen durch Experimente oder Beobachtungen nach-geprüft werden können. (Für formale, z. B. mathematische Theorien gilt nur das logische Kriterium; sie brauchen nicht unbedingt auf einen Wirklichkeitsbereich zuzutreffen.) Erweist sich ein Satz einer Theorie als falsch, so müssen die zugrunde liegenden Hypothesen abgeändert werden.
Darin besteht eine der wichtigsten Aufgaben des Wissenschaftlers: Er muß die Theorien stets aufs schärfste kritisieren, d. h., er muß versuchen, in ständiger Kommunikation mit anderen die aufgestellten Theorien zu falsifizieren. Hält eine Theorie der Falsifikation stand, so kann sie (nach den Worten Poppers) „weiterverwendet" werden.
Zu bemerken ist, daß die wissenschaftliche Methode für alle Wissenschaften zutrifft; sie ist keineswegs (wie gelegentlich behauptet wird) auf die Naturwissenschaften beschränkt. Das geht schon daraus hervor, daß bei der Beschreibung der wissenschaftlichen Methode an keiner Stelle auf einen speziellen Inhalt Bezug genommen wird. Tatsächlich werden ja im Bereich der Geschichte, der Psychologie, der Soziologie oder der Pädagogik durchaus nachprüfbare Aussagen gemacht. (Daß ein erheblicher Teil der geisteswissenschaftlichen, marxistischen oder kritisch-emanzipatorischen „Theorien" den Kriterien der Wissenschaftlichkeit nicht genügt, wird anschließend gezeigt.)
Zusammenfassend kann man sagen: Wissenschaftliche Aussagen sind allgemein und objektiv in dem Sinne, daß sie grundsätzlich logisch und (in nicht formalen Theorien) empirisch nachgeprüft werden können. Anhand der beiden Wahrheitskriterien erweisen sich die Aussagen als wahr oder falsch; falsche Aussagen führen zu einer Revision der zugrunde liegenden Ansätze.
Eine entscheidende Konsequenz aus dem skizzierten Wissenschaftsbegriff besteht in der Feststellung, daß Ziele nicht mit wissenschaftlichen Methoden abgeleitet werden können. Ziele sind persönliche Wertsetzungen (v. Cube, 1972), sie sind abhängig von der Person, die die betreffenden Forderungen aufstellt. Zu jeder Forderung lassen sich andere, z. B. entgegengesetzte Forderungen aufstellen. So läßt sich z. B. die Forderung, zum gehorsamen Menschen zu erziehen, ebenso aufstellen wie die Forderung, zum ungehorsamen Menschen zu erziehen.
Halten wir also fest: Ziele kann man begrüßen oder ablehnen, begründen oder legitimieren, man kann sie aber nicht beweisen oder widerlegen. Ziele sind immer subjektive Aussagen — auch wenn kleinere oder größere gesellschaftliche Gruppen dieselben Ziele vertreten: Letztlich bekennt sich jeder einzelne zu dieser oder jener Wertvorstellung.
Die Tatsache, daß Ziele keine wissenschaftlichen Aussagen darstellen, wird immer wieder negiert. Hier liegt ein zentraler Punkt der politischen Auseinandersetzung der Gegenwart. 2. Erziehungswissenschaft So unterschiedlich die Definitionen von Erziehung, Bildung, Ausbildung oder Unterricht im einzelnen sein mögen, gemeinsam ist allen, daß ein Lernender unter ständiger Korrektur zu einem gegebenen Zielverhalten gesteuert wird. Die ständige Korrektur ist deswegen erforderlich, weil der Adressat stets unberechenbaren äußeren und inneren Einflüssen unterliegt. Erziehung (Bildung, Ausbildung etc.) ist demnach ein Regelungsvorgang, der sich als Regelkreis darstellen ließe.
Wendet man die wissenschaftliche Methode, d. h. die Methode, auf logisch-empirische (und damit intersubjektive) Weise zu allgemeinen und überprüfbaren Aussagen zu gelangen, auf das zielorientierte System der Erziehung an, so ergeben sich — gegenüber anderen Wissenschaften — einige spezielle Probleme und Ergebnisse:
So haben wir bereits festgestellt, daß die Setzung von Erziehungszielen (oder Lehrzielen) außerhalb wissenschaftlicher Aussagemöglichkeiten liegt. Für eine Erziehungswissenschaft bleiben somit zwei mögliche Gegenstandsbereiche: Die Untersuchung gegebener Erziehungsziele (z. B. auf Widerspruchsfreiheit, Erreichbarkeit, Konsequenzen, historische Zusammenhänge) und die Optimierung der Zielerreichung nach den Kategorien Zeit, Ökonomie etc. (Die Untersuchung des Adressaten und seiner Umgebung gehört zu den Aufgabenbereichen der Psychologie und Soziologie). Gelegentlich werden beide Gegenstandsbereiche unter dem Begriff Erziehungswissenschaft subsumiert; die Analyse gegebener Erziehungsziele ist jedoch eine völlig andere Tätigkeit als die Entwicklung und Optimierung von Erziehungsstrategien und -techniken. Es ist daher zweckmäßig, im ersten Fall von Zielanalyse, im zweiten Fall von Erziehungswissenschaft zu sprechen. Nun zeigt sich sofort, daß die so definierte Erziehungswissenschaft drei Einzeldisziplinen umfaßt: Die Entwicklung und Optimierung von Lehrstrategien (Didaktik), die Untersuchung der Steuerungswirkung von Lehrmethoden (Methodik), die Untersuchung der SteuerungsWirkung von Medien (Mediendidaktik).
Die Entwicklung und Optimierung von Lehrstrategien hat — im Gegensatz zu anderen Sozialwissenschaften — konstruktiven Charakter. Strategische Aussagen haben immer die Form einer Implikation: Wenn dieses oder jenes Erziehungsziel von bestimmten Adressaten erreicht werden soll, dann ist diese oder jene Erziehungsstrategie wirksam oder sogar (relativ) optimal. Die Allgemeinheit strategischer Aussagen wird dabei durch die (inhaltsfreie) Angabe des Zielverhaltens garantiert, die Überprüfbarkeit durch die operationalisierte Form der Lehrziele. Besondere Probleme ergeben sich durch Randbedingungen, Nebenwirkungen, Störgrößen, Nichtwiederholbarkeit von Experimenten mit denselben u. a.
Eine Lehrstrategie kann immer nur durch einzelne Methoden (dozierende Methode, Gruppenarbeit, Rollenspiel etc.) und Medien (Sprache, Texte, Bilder, Filme, Modelle) realisiert werden. Um die Probleme einer wirksamen oder gar optimalen Durchführung von Lehrstrategien lösen zu können, ist es daher notwendig, die Lernsteuerung der einzelnen Methoden und Medien zu kennen. Die Ergebnisse liefert die Methodik als die Wissenschaft von der spezifischen Lernsteuerung der einzelnen Methoden und die Mediendidaktik als die Erforschung der spezifischen Steuerungsfunktionen technischer Medien. Fundamental ist in diesem die Zusammenhang Feststellung, daß auch in der Erziehungswissenschaft (bei aller Modifikation im einzelnen) allgemeine und logisch-empirisch überprüfbare Aussagen gemacht werden. Anhand dieser Feststellung sollen im folgenden die wichtigsten erziehungswissenschaftlichen Richtungen auf ihren wissenschaftlichen Gehalt hin überprüft werden.
II. Geisteswissenschaftliche Erziehungswissenschaft
Als erstes ist festzustellen, daß geisteswissenschaftliche Erziehungswissenschaftler durchweg von der Existenz einer objektiven Idee, eines objektiven Geistes, einer objektiven Vernunft oder eines „Allgemeinen" schlechthin ausgehen. Schleiermacher spricht von der „Idee des Guten", Litt von der „über alles Erfahrbare und alles Realisierbare hinausliegenden Idee". Für Dilthey und Spranger ist die Erziehung an den „Objektiven Geist" gebunden, für W. Flitner „an die Präsenz des wahren Geistes“ etc.
Charakteristisch für diese grundlegende Voraussetzung der geisteswissenschaftlichen Pädagogik ist folgende Formulierung von Ballauff (1970, S. 23): „Der objektive Geist gewinnt seine Objektivität aus jener normativen Geistigkeit, in der er mit den ewigen Werten, den überzeitlichen Normen der Geschichte, in Verbindung steht, ..."
Moderne Pädagogen benutzen weniger emphatische Ausdrücke. So existiert für Klafki (1976, S. 23) ein „Eigenständigkeitsprinzip, das im geschichtlichen Prozeß weiterentwickelt und unter sich wandelnden Bedingungen immer wieder neu ausgelegt und konkretisiert werden muß." (Wer legt aus? Wer konkretisiert was?). Für Lassahn (1974, S. 34) existiert ein „Allgemeines", das „überall enthalten ist" usw.
Das zweite Charakteristikum der geisteswissenschaftlichen Pädagogik ist die hermeneutische Methode. Sie besteht ursprünglich in der Kunst des Auslegens der Heiligen Schrift, wird heute aber als Methode angesehen zur Interpretation von Texten, Ereignissen oder — im vorliegenden Fall — der Erziehungswirklichkeit. Eine zentrale Rolle spielt dabei der Begriff des Verstehens. Durch das Verstehen vollzieht der Interpret „den schöpferischen Weg des Geistes" nach und kann ihn so „innerlich erfassen" (Bollnow).
Doch wie im einzelnen Hermeneutik auch definiert sein mag — entscheidend ist die Frage nach der Objektivität dieses Verfahrens; schließlich tritt es mit dem Anspruch auf, wissenschaftliche Methode zu sein und objektive Erkenntnis zu liefern.
Hier muß ich feststellen, daß zwar immer wieder die Behauptung von der Objektivität der Ergebnisse aufgestellt wird, daß aber die Beweisführung an keiner Stelle stichhaltig ist:
So spricht es sicher nicht für die Objektivität des hermeneutischen Verfahrens, daß der Interpret „den gemeinten Sinn einer fremden bzw. schon vergangenen Bekundung eines Gedankenganges in sich selbst mit seinem Fingerspitzengefühl wiederkennen und nach-konstruieren soll." (Betti, 1971, S. 20) Ebenso wenig stichhaltig wie das „Fingerspitzengefühl“ ist die „Dialektik des Auslegungsprozesses". Setzt doch gerade die Dialektik fundamentale Regeln der Logik außer Kraft. (Popper, 1975)
Der Mangel an Nachprüfbarkeit zieht zwangsläufig den elitären Charakter der Hermeneutik nach sich. So schreibt z. B. Betti (1971, S. 21): „Wenn es nun zutrifft, daß allein der Geist zum Geiste spricht, dann trifft es auch zu, daß nur ein Geist gleichen Niveaus und kongenialer Veranlagung Zugang zum redenden Geist hat und in der Lage ist, ihn in sinn-adäquater Weise zu verstehen". Eine entscheidende Konsequenz aus der dogmatischen Vorstellung eines objektiven Geistes einerseits und der hermeneutischen Methode der Interpretation andererseits liegt im Bereich der Erziehungsziele. Als Kybernetiker war es für mich schon immer eine Selbstverständlichkeit, daß es sich bei den Soll-Werten um Setzungen handelt, um Entscheidungen, die von einzelnen Menschen oder von gesellschaftlichen Gruppen getroffen werden. Es blieb mir daher zunächst „unverständlich", daß geisteswissenschaftliche Pädagogen vom „Erkennen", „Finden", „Identifizieren" etc. von Erziehungszielen sprechen. Im Zusammenhang mit den beiden Grundannahmen der Geisteswissenschaft, objektiver Geist und Hermeneutik, erhält diese Auffassung jedoch ihren Sinn: In der Idee des Wahren und Guten liegen die Ziele der Erziehung schon fest: Es gilt lediglich, sie durch die richtige Auslegung zu erkennen, zu finden, zu identifizieren.
Im gleichen Zusammenhang wird auch verständlich, warum geisteswissenschaftliche Pädagogen überzeugt sind, daß durch dauerhafte Diskussion zwangsläufig ein Konsens Zustandekommen muß: Der Konsens besteht ja (in deren Sicht) in einer „Erkenntnis", die es zu „erhellen" gilt oder zu „erschließen".
Doch welcher Begriffe und Wörter sich die geisteswissenschaftliche Erziehungswissenschaft auch bedienen mag, entscheidend ist, daß sie sich trotz dieser metaphysischen Vorstellungen und (subjektiven) Interpretationen als Wissenschaft bezeichnet.
Die hermeneutische Auslegung des objektiven Geistes erlaubt dem geisteswissenschaftlichen Pädagogen eine wechselnde Zielsetzung bei Aufrechterhaltung des wissenschaftlichen Anspruchs. So können die Eingeweihten und Kongenialen den objektiven Geist einmal so auslegen und einmal anders, einmal im Sinn einer bestehenden Gesellschaftsstruktur, einmal dagegen — immer haben sie die wissenschaftliche Legitimation auf ihrer Seite!
Tatsächlich wird in der geisteswissenschaftlichen Pädagogik von dieser geradezu genialen einer Strategie „wissenschaftlichen Zielsetzung" ausgiebig Gebrauch gemacht. Man sehe sich einmal die ganze Skala derart legitimierter christlicher, humanistischer, sittlicher, -tionaler, kritischer, emanzipatorischer und anderer Ziele der letzten Jahre und Jahrzehnte an!
Die unterschiedlichen Ziele zeigen allerdings auch, daß die Geisteswissenschaft — im Gegensatz zum Marxismus — keine eigenständige Kultur-oder Gesellschaftstheorie enthält. Das macht sie vom Aspekt politischer Macht her gesehen ungefährlich.
Um sich gegen den Vorwurf der Unwissenschaftlichkeit zu schützen, haben die geisteswissenschaftlichen Pädagogen folgende drei (beachtliche) Strategien entwickelt:
Die erste besteht darin, die Kritiker als inkompetent und unfähig abzutun. Das, was Kuhn (1971, S. 48) folgendermaßen ausdrückt: „Die Heilige Schrift kann, als göttlich inspirierte Schrift, nur richtig gelesen und ausgelegt werden von einem Leser, der selbst für die übernatürliche Erleuchtung empfänglich ist“, gilt im Grunde für die gesamte Hermeneutik. Nur der Eingeweihte kann Interpret werden im Sinne der wahren und eigentlichen Auslegung.
Die zweite Strategie besteht in der Abwertung der logisch-empirischen Methode für das Erzieherische überhaupt: Der Gegenstand der geisteswissenschaftlichen Pädagogik ist mit solchen Methoden grundsätzlich nicht „erfaßbar“, ja, wer so etwas versucht, entlarvt sich sogleich als Außenstehender, als jemand, der das Erzieherische gar nicht sieht. Die klarste Formulierung dieser Strategie hat Schaller (1961, S. 699), der sich heute zu den emanzipatorischen Pädagogen zählt, gefunden: „Wer also von der pädagogischen Wissenschaft eine eindeutige Terminologie erwartet, dem ist die Eigentümlichkeit des Erzieherischen verborgen geblieben”.
Die dritte Strategie hängt aufs engste mit der zweiten zusammen — die Abwertung der logisch-empirischen Wissenschaft überhaupt: Diese ist positivistisch, mechanisch oder technologisch; sie eignet sich bestenfalls für Naturwissenschaften, keinesfalls aber für Aussagen über den Menschen. Wendet man die wissenschaftliche Methode des Kritischen Rationalismus auf den Menschen an, so sind die Aussagen von vornherein „nicht angemessen", sie sind „verkürzt", „verstümmelt" oder ähnliches.
Zusammenfassend stelle ich fest, daß die geisteswissenschaftlichen Pädagogen ihre subjektiven und politischen Ziele als wissenschaftliche Erkenntnisse ausgeben, um sie dadurch glaubwürdig und verbindlich zu machen. Durch das Fehlen einer eigenständigen Gesellschaftstheorie blieb die geisteswissenschaftliche Pädagogik jedoch politisch ohne große Bedeutung. Die Anwendung derselben Strategie auf eine dogmatische . Gesellschaftstheorie“ wird dagegen zu einer höchst gefährlichen Waffe im Kampf um politische Macht.
III. Marxistische Erziehungswissenschaft
Der Marxismus bleibt unverständlich, wenn man nicht auf seine beiden Grundvoraussetzungen zurückgeht:
Die erste besteht in der Annahme einer historisch notwendigen Entwicklung zur klassenlosen Gesellschaft, einer Gesellschaft, in der es keine Herrschaft von Menschen über Menschen mehr gibt. Diesem „historischen Gesetz" wird von Marx selbst die Gültigkeit eines Naturgesetzes beigelegt. Dasselbe gilt im Grundsatz für sämtliche Marxisten. So schreibt z. B. Bloch (1971, S. 89), daß „Marxismus und objektive Wahrheit notwendig eins" seien. Im philosophischen Wörterbuch (Klaus/Buhr, 1972, S. 441) steht: „Das Prinzip der unbedingten Einheit von strengster wissenschaftlicher Objektivität und revolutionärer Parteilichkeit ist daher das grundlegende Prinzip der marxistisch-leninistischen Gesellschaftswissenschaften. "
Die zweite Voraussetzung des Marxismus besteht in der Annahme, daß die ökonomische Struktur der Gesellschaft, die Produktionsverhältnisse, den sozialen, politischen und geistigen Lebensprozeß bestimmen. Das gesellschaftliche Sein der Menschen bestimmt ihr Bewußtsein, sagt Marx, nicht umgekehrt.
Erst das Zusammenwirken beider Axiome macht die sozialistische „Theorie" der Gesellschaft verständlich: Der Weg zur klassenlosen Gesellschaft führt über die Aufhebung des Privateigentums, die Aufhebung der Entfremdung des Menschen durch die Arbeit in der kapitalistischen Produktion, der Auflösung aller „bürgerlichen" Herrschaftsstrukturen und Privilegien etc. Ob dabei der Weg zur klassenlosen Gesellschaft über die Revolution und die Diktatur des Proletariats führt oder über einen sukzessiven Abbau kapitalistischer und bürgerlicher Herrschafts-und Produktionsverhältnisse, ist eher eine Frage der Strategie. Zu dieser Frage gibt es denn auch sehr unterschiedliche Auffassungen unter den Marxisten — das Ziel ist jedoch für sämtliche Gruppen dasselbe.
Nun bemerken auch die Marxisten, daß in ihrer „Theorie" gewisse Widersprüche auftreten, z. B.der Widerspruch zwischen der angeblichen Zwangsläufigkeit des historischen Gesetzes und den Strategien und Maßnahmen, die (dennoch) zur Erfüllung dieses Gesetzes erforderlich sind. Marx spricht in diesem Zusammenhang von „Hebammendiensten", die der (klassenbewußte) Mensch zur Verwirklichung der klassenlosen Gesellschaft zu leisten habe. Solche immanenten Widersprüche sowie Diskrepanzen zwischen der sozialistischen Theorie und der sozialistischen Wirklichkeit werden mit einer besonderen Methode aufgehoben: mit der sogenannten Dialektik. Diese von Hegel ersonnene Methode erlaubt es mühelos, Widersprüche als „These" und „Antithese“ zu bezeichnen und in einer „Synthese" aufzulösen. Für die Einordnung in die Kategorie These bzw. Antithese bleibt dabei ein breiter Interpretationsspielraum. Popper hat in seiner scharfsinnigen Untersuchung „Was ist Dialektik?" (z. B. 1975) nachgewiesen, daß diese Methode grundlegende Regeln der Logik außer Kraft setzt und sich daher hervorragend zur Abschirmung von Kritik eignet. (Das weiß im übrigen jeder, der als schlichter Logiker schon einmal mit geschulten Dialektikern zu diskutieren hatte.) Um die dialektische Methode als „bürgerlicher“ Wissenschaftler voll zu begreifen, muß man wissen, daß es dem Marxismus weniger auf Wahrheit ankommt als auf die Veränderung der Gesellschaft. Der Satz von Marx, daß es nicht darauf ankomme, die Welt zu interpretieren, sondern sie zu verändern, ist durchaus wörtlich zu nehmen. Besonders klar formuliert Gamm (1974, S. 105): „Dabei würde nicht mehr primär über die Stringenz oder Logik der Forschung zu befinden, sondern zu fragen sein, wie die Einzeltheorien von erzieherischen Prozessen sich zu einem gesellschaftsverändernden Anspruch verbinden." Vergleicht man den Marxismus mit der Geisteswissenschaft, so liegt die fundamentale Gemeinsamkeit auf der Hand: Beide Richtungen gehen von einem als wissenschaftlich deklarierten Dogma aus, der Marxismus vom historischen Gesetz, die Geisteswissenschaft vom objektiven Geist; beide „Wissenschaften" bedienen sich einer Methode (Dialektik bzw. Hermeneutik), die eine logisch-empirische Überprüfung der Aussagen unmöglich macht. Im Unterschied zur Geisteswissenschaft ist der Marxismus jedoch wesentlich konkreter: Die Zielvorstellungen von einer herrschaftsfreien Gesellschaft und den in dieser Gesellschaft lebenden Menschen werden wenigstens einigermaßen deutlich beschrieben. Das Ziel der marxistischen Pädagogik ist letztlich der Mensch in der herrschaftsfreien Gesellschaft. Dieses Ziel ist nicht in einem freien Akt der Entscheidung von irgendwelchen Menschen oder politischen Gruppen gesetzt, es ist vielmehr die zwangsläufige Endstufe einer historischen Entwicklung. Selbst-verständlich erscheint unter diesem Aspekt schon der Ausdruck „Zielsetzung“ absurd; die Ziele sind (als Konsequenz eines Gesetzes) Bestandteil des wissenschaftlichen Sozialismus. Besonders anschaulich beschreibt Trotzki (1923, S. 187 ff.) den „neuen Menschen’ in der herrschaftsfreien Gesellschaft:
„Der Mensch wird schließlich ernsthaft daran gehen, mit sich selbst zu harmonieren. Er wird sich zur Aufgabe machen, in die Bewegung seiner eigenen Organe — bei der Arbeit, beim Gehen, beim Spiel — die höchste Klarheit, Zweckmäßigkeit, Ökonomie und damit Schönheit zu bringen. Er wird die halbbewußten und dann auch die unbewußten Prozesse in seinem eigenen Organismus beherrschen wollen — und in den notwendigen Grenzen sie der Kontrolle der Vernunft und des Willens unterwerfen. Das Leben, sogar das rein physiologische, wird kollektiv-experimentell werden. Das Menschengeschlecht, der erstarrte homo sapiens, wird in eine radikale Umgestaltung eintreten und — unter den eigenen Fingern — zum Objekt kompliziertester Methoden der künstlichen Auslese und psychologischen Trainings werden ... Der Mensch wird sich zum Ziel setzen, seine eigenen Gefühle zu beherrschen, die Instinkte auf die Höhe der Bewußtheit zu erheben, sie klar zu machen, eine Leistung des Willens in das Unterschwellige und Untergründige zu legen und sich gerade damit auf die höchste Stufe zu erheben — einen höheren gesellschaftlich-biologischen Typus zu schaffen, wenn man will — einen Übermenschen ... Der durchschnittliche Menschentyp wird sich auf das Niveau eines Aristoteles, Goethe, Marx erheben. Uber diese Gebirgskette werden die neuen Gipfel emporragen."
Marx selbst und Engels formulieren nicht ganz so überschwenglich. Ihnen geht es um den „vollseitig entwickelten Menschen“ (Marx, Das Kapital, 3. Band, MEW 25, S. 824), um „produktive Arbeit" und die Ausbildung „von Hirn und Hand“ (Manifest der Kommunistischen Partei, MEW 4, S. 481).
In der sozialistischen Wirklichkeit (der Sowjetunion und der DDR) werden allerdings ganz andere Erziehungsziele genannt: Da geht es um Fleiß und gutes Betragen, um Kollektivismus, Pflicht, Ehre und Gewissen, um Willenskraft, Ausdauer, Disziplin und Gehorsam (vgl. Bronfenbrenner, 1972).
Es erhebt sich die Frage, wie diese widersprüchlichen Forderungen der marxistischen Erziehung logisch (nicht dialektisch) erklärt werden können. Ich meine, daß sich diese scheinbaren Widersprüche sehr einfach erklären lassen, wenn man sich die folgenden drei Phasen marxistischer Erziehungsziele und -Strategien vor Augen hält.
1. Auflösung des bürgerlichen Wertsystems durch kritische und antiautoritäre Erziehung
Es ist nur selbstverständlich, daß eine Veränderung von Gesellschaft nur durch die Auflösung der tragenden Werte dieser Gesellschaft eingeleitet werden kann. Ich möchte damit nicht sagen, daß die antiautoritäre, die kritische und emanzipatorische Erziehung, die sich in der Bundesrepublik Mitte der 60er Jahre ausgebreitet hat, von vornherein als erste Phase einer marxistischen Erziehungsstrategie anzusehen ist — die erstarrten Formen autoritärer Erziehung und deren metaphysischer Legitimation widersprachen (und widersprechen) tatsächlich einer freiheitlich-demokratischen Gesellschaft —, ohne Zweifel jedoch wurde diese (liberale) Welle vor marxistischer Seite genutzt, um die bürgerlichen Werte schlechthin — auch die demokratischen — aufzuweichen und aufzulösen. Manche Erziehungswissenschaftler versuchen dies auch heute noch oder heute wieder. (Vgl. hierzu Brezinka, 1976, S. 95/96) 2. Durchsetzung marxistischer Ziele durch Erziehung zum disziplinierten Kämpfer gegen die bürgerliche Gesellschaft
Ebenso logisch ist, daß auf die Phase der Aufweichung die Phase der Formung im Dienste der neuen Wertgemeinschaft erfolgen muß. In diesem Stadium sind Kritik und antiautoritäres Verhalten nicht mehr erwünscht; es geht (wieder) um die bewährten Ideale von Pflicht und Disziplin, Gehorsam und Gewissen, speziell um Solidarität und Kollektivismus.'Die Bildungspläne in der Sowjetunion, in der DDR u. a. sozialistischen Staaten sprechen hier eine eindeutige Sprache. Aber auch in der Bundesrepublik sind marxistische Gruppen und Pädagogen in diese Phase eingetreten. Es wird dies allerdings nicht immer so klar ausgedrückt wie in der Roten Presse Korrespondenz Nr. 52 (zitiert nach Lutz von Werder, 1972, S. 14): „Revolutionäre Erziehung muß zum Klassenbewußtsein, zur Klassensolidarität, zur revolutionären Praxis führen, nicht zur Ich-Autonomie, nicht zum kritischen Bewußtsein.“
3. Verwirklichung des neuen Menschen in der klassenlosen Gesellschaft durch Erziehung zum harmonischen, friedlichen, voll-seitigen Menschen
In der dritten Phase schließlich kann dieser Zwang wieder aufgehoben werden — entsprechend der Auflösung der Diktatur des Proletariats, ja, entsprechend der Auflösung von Staat schlechthin. In der klassenlosen Gesellschaft erübrigt sich ja der Klassenkampf; das Fehlen jeder Unterdrückung führt zum harmonischen, friedlichen, vollseitig entwickelten Menschen schlechthin, wie er von Trotzki u. a. so schön beschrieben wird. (Auf den fundamentalen Irrtum, daß eine frustrationsfreie Erziehung auch zum nichtaggressiven, friedlichen Menschen führe, hat Lorenz eindringlich hingewiesen. Dies ist jedoch im Augenblick nicht das Thema).
Es bleibt noch zu bemerken, daß die marxistische Pädagogik sich einschließlich ihrer Ziele als Bestandteil des wissenschaftlichen Sozialismus und damit eben als Wissenschaft versteht. (Tatsache ist, daß die marxistischen Politiker die wissenschaftlichen Erkenntnisse der Strategieentwicklung sehr geschickt anzuwenden verstehen.)
Um sich gegen den Vorwurf der Unwissenschaftlichkeit zu schützen oder überhaupt gegen jede Art von Kritik, benutzen die Marxisten ganz ähnliche Strategien wie die Geistes-wissenschaftler: So läßt sich die Behauptung der geisteswissenschaftlichen Pädagogen, daß ein Laie eben keine Hermeneutik betreiben könne mit der Behauptung der Marxisten vergleichen, daß bürgerliche Kritiker in ihrem Klassenbewußtsein befangen seien. Jeder, der schon mit Marxisten diskutiert hat, weiß, daß die Diskussion sehr häufig personalisiert wird; dabei werden dem Gegner dann aufgrund seiner „Klassenzugehörigkeit" von vornherein bürgerliche oder kapitalistische Interessen unterstellt. Auf die Abschirmung von Kritik durch die dialektische Methode, d. h. hier durch die Aufhebung der Logik, habe ich schon hingewiesen. Mit der Geisteswissenschaft einig sind sich die Marxisten in der Abweisung der logisch-empirischen Forschungsmethode in ihrer Anwendung auf den Menschen und die Gesellschaft: Die empirischen Sozialwissenschaften sind dabei nicht nur dem Gegenstand „inadäquat", sie produzieren vielmehr zwangsläufig „bürgerliche Ideologie". Insbesondere wird die für die Erziehungswissenschaft bedeutungsvolle Konsequenz der Trennung von Zielsetzung und Zielerreichung als Verstümmelung von Wissenschaft und als Borniertheit angegriffen.
Nun muß ich meiner Kritik allerdings noch zwei Bemerkungen hinzufügen:
Zum einen möchte ich sagen, daß der Marxismus durchaus fruchtbare Gedanken enthält, die auf der adäquaten Ebene, nämlich auf der Ebene der persönlichen und politischen Über-zeugungen diskutiert werden sollten.
Zum zweiten muß man zugeben, daß die Kritik der Marxisten an der bürgerlichen Wissenschaft nicht unberechtigt ist, sofern sie sich auf die Geisteswissenschaft bezieht: Hier wird ja tatsächlich die „Wissenschaft" an bestimmte politische und gelegentlich sicher auch kapitalistische Ziele gebunden. Die Marxisten kritisieren dann allerdings denselben Fehler, den sie (mit anderer Zielsetzung) selbst begehen.
IV. Kritisch-emanzipatorische Erziehungswissenschaft
Die Kritische Theorie erweist sich in ihrem Kem als Synthese aus geisteswissenschaftlichen und marxistischen Vorstellungen.
Aus der Geisteswissenschaft stammt die Vorstellung von einem objektiven Geist, der auch als „substantielle Vernunft“ (Habermas), „objektiv gültige Vernünftigkeit" (Mollenhauer) oder „humane Vernunft“ (Löwisch) auftritt. Auch Habermas spricht von Vernunft in einem objektiven Sinne: „Wenn wir aber die kognitive Leistung und die kritische Kraft der Vernunft aus einer Selbstkonstituierung der Menschengattungen unter kontingenten (zufällig entstandenen, d. Red.) Naturbedingungen begreifen, dann ist es die Vernunft, die dem Interesse innewohnt." (1968, S. 3349)
Aus dem Marxismus übernimmt die Kritische Theorie die Vorstellung von einer historisch notwendigen Entwicklung der Gesellschaft. Diese ist zwar nicht (allein) an die ökonomischen Produktionsverhältnisse gebunden; sie trägt aber als Utopie wesentliche Züge der klassenlosen Gesellschaft. Das Ziel des „Bildungsprozesses der Menschengattung“ ist ähnlich wie bei den Marxisten der emanzipierte Mensch in einer herrschaftsfreien Gesellschaft. Freilich: Das Ziel dieser Emanzipation der Menschengattung bleibt ziemlich vage. Das ist wahrscheinlich auf die geisteswissenschaftliche Komponente, den objektiven Geist, zurückzuführen. Dieser wird ja nicht näher definiert, um den Interpretationsspielraum der Hermeneutiker nicht zu beschränken. Andererseits wird das Ziel des Bildungsprozesses der Menschengattung wenigstens in einigen Punkten konkretisiert. So werden in der Kritischen Theorie Emanzipation und herrschaftsfreie Kommunikation einhellig als Charakteristika der zukünftigen Gesellschaft angesehen; jede andere Art von Kommunikation ist nach Habermas . verzerrt“. Hinweise auf die Zielvorstellungen ergeben sich auch aus den Hindernissen, die der Selbstkonstituierung der Menschengattung angeblich im Wege stehen. Diese liegen nicht, wie bei Marx, im Privateigentum, sondern vorwiegend in den Institutionen der Gesellschaft, im „gesellschaftlichen Apparat“ (Löwisch, S. 41/42). Emanzipation wird damit speziell zu einer „Befreiung von in Institutionen verfestigter Herrschaft" (Lassahn, S. 136). Daraus ergibt sich für die Schule die Forderung nach herrschaftsfreier Kommunikation zwischen Lehrern und Schülern, nach gleichberechtigter Diskussion, nach konkreter politischer Mitbestimmung etc.
Der Weg zur Emanzipation führt über Kritik und Reflexion. Diese führt zur Erkenntnis des geschichtlichen Prozesses und damit zwangsläufig zum emanzipatorischen Interesse. Der Reflektierende wird sozusagen in den Strom des großen historischen Emanzipationsprozesses der Menschengattung eingesogen. (Selbstverständlich gilt dies nur für eine Reflexionselite — der Positivist bringt es höchstens zum „technischen Interesse".)
Die Methode der Kritischen Theorie ist entsprechend ihrer geisteswissenschaftlichen und marxistischen Komponente eine hermeneutisch-dialektische. Jedenfalls nimmt die Kritische Theorie für diese Methode und die damit durchgeführte Reflexion den Begriff der Wissenschaftlichkeit in Anspruch. So schreibt Habermas: „... einerseits müssen sich im Rahmen dialektischer Theorie selbst die kategorialen Mittel, die sonst bloß analytische Geltung beanspruchen, in der Erfahrung ausweisen; andererseits wird aber diese Erfahrung nicht mit kontrollierter Beobachtung identifiziert, so daß ein Gedanke, auch ohne der strengen Falsifikation wenigstens indirekt fähig zu sein, wissenschaftliche Legitimation behalten kann.“ (1974, S. 161)
Habermas sagt im sogenannten Positivismus-streit, er stehe im Rücken des Positivismus.
Gut, aber was macht er dort? Er macht Aussagen über seine Visionen vom Bildungsprozeß der Menschengattung, von herrschaftsfreier Kommunikation und anderen Ergebnissen seiner Reflexion. Man mag diese Gedanken großartig finden oder „erregend" (Lassahn, S. 143) — aber nein: Weder Habermas noch andere kritische Theoretiker verzichten darauf, ihre metaphysischen Gedanken als Wissenschaft zu deklarieren.
Charakteristisch für die kritisch-emanzipatorische Erziehungswissenschaft ist die Bindung an das sogenannte emanzipatorische Interesse.
So schreibt beispielsweise Mollenhauer (1973, S. 10): „Für die Erziehungswissenschaft konstitutiv ist das Prinzip, das besagt, daß Erziehung und Bildung ihren Zweck in der Mündigkeit des Subjekts haben; dem korrespondiert, daß das erkenntnisleitende Interesse der Erziehungswissenschaft das Interesse an Emanzipation ist.“
Für Gamm ist das Ziel der kritisch-emanzipatorischen Pädagogik die „herrschaftsfreie Kommunikation“; für Löwisch die „humane Vernunft"; für Klafki ist das „Selbst-und Mitbestimmungsprinzip das positive Korrelat des Emanzipationsprinzips". Ähnliche Formulierungen finden sich bei Blankertz, Schäfer, Schaller u. a. kritisch-emanzipatorischen Pädagogen. Zusammenfassend stelle ich fest, daß die so-genannte kritisch-emanzipatorische Erziehungswissenschaft keinen einzigen nachprüfbaren Satz enthält, daß sie mit vagen Zielvorstellungen operiert und diese auch noch hermeneutisch interpretiert.
Unnötig zu sagen, daß die kritisch-emanzipatorische Erziehungswissenschaft trotz aller metaphysischer Spekulation den Anspruch auf die Bezeichnung Wissenschaft erhebt.
Die besondere Bedeutung für die politische Situation in der Bundesrepublik Deutschland besteht darin, daß die kritisch-emanzipatorische Theorie (mit der daran anknüpfenden Emanzipationspädagogik) ein geradezu ideales trojanisches Pferd für den Marxismus darstellt. Schließlich enthält die Kritische Theorie die zentrale Vorstellung des Marxismus, nämlich dje historisch notwendige Entwicklung zur herrschaftsfreien Gesellschaft (oder herrschaftsfreien Kommunikation). Die in der Bundesrepublik weniger beliebte Theorie von der ökonomischen Basis und der damit verbundenen Abschaffung des Privateigentums etc. enthält die Kritische Theorie nicht; sie macht vielmehr die (emanzipationsfeindlichen) gesellschaftlichen Institutionen und Zwänge zum Sündenbock. So konnte sich die Kritische Theorie rasch ausbreiten und viele Jünger gewinnen.
Tatsächlich haben sich die Marxisten diese Sachlage längst zunutze gemacht. Sie schlossen sich der kritisch-emanzipatorischen Theorie und -Pädagogik an, um in ihrem Namen den ideologischen Boden zu bereiten. M. E. ist es nur eine Frage der Zeit, wann die marxistischen „kritischen Theoretiker" auch ihr zweites Dogma mit allen Konsequenzen in die Theorie einbringen und die Kritische Theorie damit endgültig zur marxistischen „umfunktionieren".
V. Wissenschaft und Demokratie
Jeder Bürger, insbesondere jeder Politiker, sollte folgende drei Sätze samt ihrem Beweis zur Kenntnis nehmen:
1. Sämtliche dogmatischen Systeme — seien es metaphysische oder pseudowissenschaftliche — stehen im Widerspruch zum logisch-empirischen Wissenschaftsbegriff des Kritischen Rationalismus
Der Beweis ergibt sich für metaphysische Systeme daraus, daß die Behauptungen (Aussagen über Gott, über Sittengesetze o. ä.) allgemeine Gültigkeit beanspruchen, grundsätzlich aber nicht überprüfbar sind. Damit widersprechen diese Aussagen den Kriterien der Wissenschaftlichkeit. Tatsächlich handelt es sich um subjektive Vorstellungen, die in der Form allgemeingültiger Aussagen auftreten.
Für pseudowissenschaftliche Systeme (Historische Gesetze, Wissenschaftlicher Sozialismus etc.) ergibt sich der Beweis aus dem zugrundeliegenden wertenden Wissenschaftsbegriff: In dem Augenblick nämlich, in dem die Wissenschaft an Wertungen gebunden wird, werden subjektive Vorstellungen mit dem Anspruch objektiver Gültigkeit ausgestattet. Grundsätzlich können auf diese Weise sämtliche Wertungen, und damit auch gegensätzliche, als wissenschaftlich wahr deklariert werden. Dies steht in eklatantem Widerspruch zur Logik.
2. Sämtliche dogmatischen Systeme stehen im Widerspruch zur Demokratie; m. a. W.: Jedes dogmatische System ist notwendig totalitär
Demokratie ist unter anderem dadurch gekennzeichnet, daß die Regierung durch das Volk (direkt oder indirekt) gewählt oder abgewählt werden kann. Letzte Instanz der Legitimation der Regierung ist somit das souveräne Volk, d. h. jeder einzelne in seiner persönlichen und freien Entscheidung.
Für dogmatische Systeme trifft dies nicht zu: Hier legitimiert sich die Macht oder der Anspruch auf Macht nicht durch die Entscheidung mündiger Bürger, sondern durch metaphysische oder pseudowissenschaftliche, d. h. aber in jedem Falle absolut gesetzte Instanzen. Der Anpsruch, durch absolut gesetzte Instanzen legitimiert zu sein, führt zwangsläufig zur Ablehnung anderer Meinungen und damit zur Ablehnung demokratischer Entscheidungen. Stimmt das Votum eines Bürgers nicht mit der Forderung der Dogmatiker überein, wird er mit der Zensur „falsches Bewußtsein“ entmündigt. Es ist mir unverständlich, wie jemand mit logischem Denkvermögen einen wissenschaftlichen Sozialismus oder demokratischen Kommunismus für möglich halten kann. Ein Marxist wird sich doch niemals einem demokratischen Votum beugen!
Aus den beiden Sätzen folgt zwangsläufig ein weiterer:
3. Nur der Wissenschaftsbegriff des Kritischen Rationalismus ist mit einer freiheitlichen Demokratie vereinbar, mit dem Pluralismus der Werte und Ziele, mit der Freiheit der Meinungen und der Entfaltung der Persönlichkeit.
Nur der wertfreie Wissenschaftsbegriff des Kritischen Rationalismus verbürgt die Möglichkeit unterschiedlicher Wertungen, verbürgt Auseinandersetzung im politischen Bereich, Argumentation und Abstimmung. Das bedeutet gewiß nicht, daß der Kritische Rationalismus die Probleme einer demokratischen Gesellschaft automatisch zu lösen vermag; das bedeutet lediglich, daß der Kritische Rationalismus eine notwendige Voraussetzung für die Demokratie darstellt.
Freilich gilt dies nur für den Kritischen Rationalismus im Sinne einer wertfreien Wissenschaft und der daraus folgenden Subjektivität der Wertsetzung. Wenn sich der Sozialismus im Namen des Kritischen Rationalismus eine moralisch-sittliche Legitimation verschafft, so stellt dies wiederum eine Vorspiegelung falscher Tatsachen dar. (Vgl. Lührs u. a. (Hrsg.): Kritischer Rationalismus und Sozialdemokratie, 1975). Die Erkenntnis, daß nur der Wissenschaftsbegriff des Kritischen Rationalismus mit der Demokratie vereinbar ist, muß m. E. zu zwei Konsequenzen führen: zur Abwehr jedes dogmatischen Systems (insbesondere zur Abwehr eines sogenannten wissenschaftlichen Emanzipationismus oder wissenschaftlichen Sozialismus) und zum Versuch, die Grundwerte der freiheitlichen Demokratie ohne Rückgriff auf dogmatische und pseudowissenschaftliche Instanzen zu legitimieren.
Zur Abwehr pseudowissenschaftlicher Systeme kann der Wissenschaftler (als Demokrat) mindestens zwei Maßnahmen ergreifen: a) Er kann mit Hilfe unseres geltenden Rechts pseudowissenschaftliche Ansprüche ablehnen. Erste Urteile dieser Art liegen bereits vor. (Das Vorgehen funktioniert freilich nur bei nichtmarxistischen Richtern.) b) Er kann pseudowissenschaftliche Systeme und Ideologien aufdecken und zum Aufbau einer logisch-empirischen Wissenschaft beitragen. Der Versuch, die Grundwerte unserer Demokratie ohne metaphysische Instanz zu legitimieren, stößt auf erhebliche Schwierigkeiten: Schließlich sieht sich ja gerade der Kritische Rationalismus gezwungen, die Ziele und Werte aus dem wissenschaftlichen Aussagesystem auszuklammern. Mit anderen Worten: Der Kritische Rationalismus führt zwangsläufig zur Erkenntnis, daß die Wissenschaft ein Instrument ist, das für die verschiedensten politischen Ziele eingesetzt werden kann.
Zur Legitimation der Ziele selbst bleibt ihm somit „nur" das persönliche Bekenntnis. Das erscheint wenig — ich meine jedoch, daß dies die höchstmögliche Legitimation darstellt: Sie erfordert den vollen Einsatz der persönlichen Entscheidung und Verantwortung.
Die Erziehungswissenschaft muß versuchen, das schwierige Problem zu lösen, die Grund-werte zu internalisieren, ohne sie zu dogmatisieren. Zugleich muß sie den Menschen zur persönlichen Entscheidung und Verantwortung befähigen. Dies scheint mir eine vorrangige und dringende Aufgabe der politischen Bildung zu sein. Literatur Ballauff, Th.: Skeptische Didaktik, Heidelberg 1970.
Betti, E.! Problematik einer allgemeinen Auslegungslehre als Methode der Erziehungswissenschaft, in: Warnach, V. (Hrsg.): Hermeneutik als Weg heutiger Wissenschaft, Salzburg 1971. Blankertz, H.: Theorien und Modelle der Didaktik, München 1969.
Bloch, E.: Parteilichkeit in Wissenschaft und Welt, in: Pädagögica, Frankfurt 1971.
Brezinka, W.: Erziehung und Kulturrevolution, München 1976. "
Cube, F. v.: Grundsätzliche Probleme des Curriculums: Zielsetzung und Zielerreichung. In:
Lernziele und Stoffauswahl im politischen Unterricht, Schriftenreihe der Bundeszentrale für politische Bildung, Heft 93, 1972.
Cube, F. v.: Schule zwischen Gott und Marx, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, Beilage zur Wochenzeitung „Das Parlament“ B 25/74.
Cube, F. v.: Erziehungswissenschaft — Möglichkeiten, Grenzen, politischer Mißbrauch, Stuttgart 1977.
Gamm, H. J.: Einführung in das Studium der Erziehungswissenschaft, München 1974. Habermas. J.: Erkenntnis und Interesse, Frankfurt 1968/73.
Habermas, J.: Gegen einen positivistisch halbierten Rationalismus, in: Adorno, Th. W. u. a.:
Der Positivismusstreit in der deutschen Soziologie, Darmstadt 1972/74.
Klafki, W.: Aspekte kritisch-konstruktiver Erziehungswissenschaft, Weinheim 1976. -Klaus, G. /Buhr, M. (Hrsg.): Philosophisches Wörterbuch, Band I und II, Berlin 1972.
Kuhn, H.: Hermeneutik und Ontologie, in: Warnack, V. (Hrsg.): Hermeneutik als Weg heutiger Wissenschaft, Salzburg 1971.
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Lührs u. a. (Hrsg.): Kritischer Rationalismus und Sozialdemokratie, Bad Godesberg 1975. Marx, K.: Das Kapital, 3. Bd. MEW 25.
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Popper, K. R.: Die Logik der Sozialwissenschaften, in: Adorno, Th. W. u. a.: Der Positivismus-streit in der deutschen Soziologie, Darmstadt 1972.
Popper, K. R.: Was ist Dialektik?, in: Lührs u. a. (Hrsg.): Kritischer Rationalismus und Sozialdemokratie, Bad Godesberg 1975.
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Trotzki, L. D.: Die Verwandlung der Menschen in Übermenschen, in: Iring Fetscher: Der Marxismus, München 1973.
Werder, L. v.: Von der antiautoritären zur proletarischen Erziehung, Frankfurt 1972.