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Das interamerikanische Verhältnis seit dem Amtsantritt Carters | APuZ 33-34/1977 | bpb.de

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APuZ 33-34/1977 Carter und der amerikanische Kongreß Die ersten sechs Monate Das interamerikanische Verhältnis seit dem Amtsantritt Carters John F. Kennedy und die Kuba-Krise 1962. Zur Revision und Bestandsaufnahme der Ereignisse vor 15 Jahren Artikel 1

Das interamerikanische Verhältnis seit dem Amtsantritt Carters

Wolf Grabendorff

/ 23 Minuten zu lesen

I. Was erwartet Lateinamerika?

Abbildung 1

Die bisherige Lateinamerikapolitik der Regierung Carter hat zu heftigen und für die USA zum Teil unerwarteten Reaktionen in ganz Lateinamerika geführt. Allerdings ist die aktuelle Spannung zwischen Lateinamerika und den USA nicht allein auf den Präsidentenwechsel und die Änderungen außen-politischer Prioritäten der USA zurückzuführen. Vielmehr sind latente, seit langem erkennbare Konflikte zwischen Lateinamerika und den USA durch den spezifischen außen-politischen Stil des neuen US-Präsidenten akzentuiert und verschärft worden. Das gilt insbesondere für die Beziehungen zwischen den USA und den autoritären Militärregimen Lateinamerikas, die heute die politische Richtung auf dem Subkontinent bestimmen.

Die neue US-Regierung hat bei ihrem Versuch, das Profil der USA gegenüber der Dritten Welt zu verbessern, auch neue Initiativen in Richtung Lateinamerika unternommen, nachdem Carter bereits im Wahlkampf von einer „relativen Priorität" Lateinamerikas gesprochen hatte. Die Regierungen Nixon und Ford dagegen hatten die Politik gegenüber Lateinamerika weitgehend bestimmten US-Wirtschaftsinteressen überlassen.

Um die zum Teil sehr heftigen und auch sehr widersprüchlichen Reaktionen Lateinamerikas auf die Initiativen Carters in den Fragen der Menschenrechte, der Nonproliferation und des Rüstungsexports zu verstehen, ist es wichtig, den unterschiedlichen Erwartungshorizont der Lateinamerikaner gegenüber der Politik des neuen amerikanischen Präsidenten zu verdeutlichen.

Die in den letzten Jahren konsolidierten rechtskonservativen Militärregime in Lateinamerika reagieren aufgrund ihrer engen Verflechtung mit Wirtschaftsund Sicherheitsinteressen der USA in dieser Region besonders empfindlich auf Veränderungen innerhalb der US-Politik. Die demokratischen Politiker Lateinamerikas wissen daher, daß gerade wegen dieser Empfindlichkeit der Militärs eine Demokratisierung in Lateinamerika nur vorstellbar wäre, wenn die Prioritäten der US-Politik aufgrund eines politischen Richtungswechsels in den USA verändert würden.

Diese beiden unterschiedlichen, Ausgangspositionen innerhalb Lateinamerikas haben den Erwartungshorizont gegenüber dem von Präsident Carter eingeleiteten Wechsel geprägt. Neben diesem ideologischen Unterschied besteht insofern auch ein regionaler, als der Norden Lateinamerikas (Mexiko, Costa Rica, Kolumbien, Venezuela) noch relativ gut funktionierende, mehr oder weniger demokratische Regierungssysteme besitzt, während die übrigen Länder Südamerikas von Militärregimen unterschiedlichen „Härtegrades" regiert werden. Diese doppelte Interessendivergenz innerhalb der Region macht eine Regionalpo-litik für Lateinamerika so außerordentlich schwierig. Nicht zuletzt aus diesem Grund will die Regierung Carter keine neue „Lateinamerika-Politik" initiieren, sondern die interamerikanischen Beziehungen stärker bilateral gestalten.

Soweit die politische Ausrichtung der Regierung Carter bereits zu erkennen ist, kompliziert sie in ihrer Ambivalenz für die Latein-amerikaner zusätzlich den politischen Umgang mit den USA. Denn einerseits sind sich die La teinamerikaner durchaus bewußt, daß demokratische Administrationen in den USA immer stärker zum Interventionismus in Lateinamerika neigten, als dies bei republikanischen Administrationen der Fall war. Zum anderen ist der populistische Stil von Präsident Carter ihnen vertraut und zugleich suspekt. Die Erfahrungen verschiedener lateinamerikanischer Länder mit ihren eigenen populistischen Regimen haben diesem politischen Stil das Image eines vielversprechenden, es allen Interessengruppen recht machen wollenden, aber im Endeffekt wenig erfolgreichen Herrschaftssystems verliehen. Vor diesem Erfahrungshintergrund neigen vornehmlich die reformistisch orientierten Eliten in Lateinamerika — trotz ihrer Hoffnung auf innenpolitische Veränderungen, die durch Carters Politik ausgelöst werden könnten — zur Skepsis.

Bei den um die Erhaltung des innenpolitischen Status quo bemühten Militärregierungen und den sie unterstützenden politischen Gruppen beruht die Skepsis gegenüber der Regierung Carter auf anderen Grundlagen. Sie befürchten vor allem, daß die USA das in den letzten Jahren in zahlreichen lateinamerikanischen Staaten so erfolgreich aufgebaute System einer . Doktrin der nationalen Sicherheit“ schwächen könnten. Ihr Wille zur Bewahrung der eigenen Gesellschaftsordnung hat in nahezu allen Fällen zwangsläufig in die Diktatur geführt, und die herrschenden Militärs sind sehr besorgt, daß die USA nicht länger willens sein könnten, ihren Kampf um interne Stabilität zu unterstützen. Denn die mangelnde Absicherung eines Regimes durch die USA hat interne politische Gegner oft ermuntert, die Beseitigung dieses Regimes voranzutreiben. In der Vergangenheit galt dies inbesondere für sogenannte Linksregime, doch sehen sich nun die herrschenden Rechts-regime der Gefahr ausgesetzt, daß sich derselbe Mechanismus aufgrund der . moralistischen Politik" Carters auch gegen sie richten könnte.

Außerdem befürchten sie, daß das liberale Establishment in den USA zunehmend Einfluß auf die Lateinamerikapolitik Carters gewinnt, weil der . Linowitz-Report'eine ausschlaggebende Rolle für die Vorbereitung der Politik Carters gegenüber Lateinamerika gespielt hat. Im Gegensatz zu den unter den republikanischen Administrationen stark wirtschaftlich geprägten Interessen an politischer Stabilität, als Voraussetzung für ein gutes Investitionsklima, will die neue Politik der USA der kurzfristigen innenpolitischen Stabilität dieser Länder keinen gleich großen Stellenwert beimessen und eher auf die reformistischnationalistische Linie christdemokratischer und sozialdemokratischer Provenienz in Lateinamerika eingehen. Ein deutliches Zeichen dafür sind auch die relativ engen Kontakte demokratischer Politiker Lateinamerikas zu Carter. So hat noch vor dem Amtsantritt Carters ein Treffen mit dem chilenischen Ex-Präsidenten Frei stattgefunden; Präsident Perez von Venezuela hat besonders herzliche Glückwünsche zum Regierungsantritt übersandt; Präsident Portillo von Mexiko hat bereits bei seinem ersten Staatsbesuch ein gutes Verhältnis zu Carter gefunden, und der brasilianische Ex-Präsident Goulart hatte sich vor seinem Tod brieflich mit der Bitte an Carter gewandt, er möge zur Re-Demokratisierung Lateinamerikas beitragen. Die kürzlichen Besuche führender chilenischer Politiker sowohl der Christdemokraten wie der Unidad Populär in Washington haben diesen neuen Trend der US-Politik gegenüber den lateinamerikanischen Militärregimen unterstrichen. Der kurzfristigen, militärisch gesicherten innenpolitischen Stabilität soll nach den Vorstellungen des „Linowitz-Reports" das Konzept einer langfristigen — zumindest in Ansätzen demokratisch legitimierten — Ordnung gegenübergestellt werden. Die Durchsetzung einer solchen Ordnung würde aber in der Politik der meisten lateinamerikanischen Länder zwangsläufig eine Phase erheblicher Instabilität mit sich bringen und damit das ganze von den USA bisher geförderte Konzept der militärischen Regierungsformen in Frage stellen.

Aus der Sicht der Militärregime birgt die Lateinamerika-Politik Carters zusätzlich eine außenpolitische Gefahr. Da die lateinamerikanischen Militärs sowohl Liberalismus nach innen als auch eine Detente-Politik nach außen für Schwächeerscheinungen des Westens halten empfinden sie Carters Politik als Gefährdung ihrer antikommunistischen Ideologie, mit der sie die Verfolgung jeglicher innenpolitischer Gegner rechtfertigen. Gerade weil der ideologische Pluralismus der Militärs innenpolitisch als staatsgefährdend gilt und ihnen außenpolitisch zumindest langfristig einen wesentlichen Teil ihrer Legitimitätsbasis rauben könnte, sehen sie sich selbst nach Jahrzehnten pro-amerikanischer Orientierung jetzt aus Selbsterhaltungsgründen in eine nahezu antiamerikanische Rolle gedrängt Außerdem darf der Wille, gegen die USA zu opponieren und sich punktuell gegen sie durchzusetzen, auch bei konservativ-autoritären Regimen nicht unterschätzt werden. Diese Haltung ist über alle ideologischen Grenzen hinweg wesentlicher Bestandteil lateinamerikanischen Selbstbewußtseins.

Den lateinamerikanischen Militärs blieben nach einer eventuellen „Abkoppelung" von den USA freilich nur wenige Optionen außen-politischer Diversifizierung. Gemäß ihrer jeweiligen Interessenlage könnten sie eine stärkere Anlehnung an die Dritte Welt suchen oder eine Verbindung mit dem weißen Afrika anstrengen, das sich, ähnlich wie die Militär-regierungen in Brasilien, Argentinien, Uruguay und Chile, als letzter Hort eines bedingungslosen Anti-Kommunismus versteht.

In diesem außenpolitischen Kontext fühlen sich die‘„harten“ Militärregime in Lateinamerika durch die globale Menschenrechtspolitik Carters besonders angegriffen, weil sie mit kommunistischen Diktaturen quasi auf eine Stufe gestellt werden. Diese Politik wurde sowohl von den lateinamerikanischen Militärregimen als auch von den Ostblockstaaten in erstaunlicher Übereinstimmung als Einmischung in innere Angelegenheiten zurückgewiesen. So hat aufgrund der globalen Menschenrechtspolitik Carters das Selbstverständnis dieser lateinamerikanischen Regierungen, eine Bastion westlicher Zivilisation zu sein, stark gelitten.

Im Gegensatz zu den Militärregimen haben die bereits erwähnten demokratischen Staaten im Norden Lateinamerikas die Initiativen der Regierung Carter ausdrücklich begrüßt. Der bisher gegenüber der US-Politik eher kritische Präsident Venezuelas, Carlos Andres Perez, ging sogar so weit, die Vereinten Nationen aufzufordern, „weltweite Inspektionen“ zur Kontrolle von Menschenrechtsverletzungen einzuführen und die Nonproliferationspolitik der Regierung Carter als wichtigen Schritt für die friedliche Entwicklung Lateinamerikas zu loben. Diese ungewöhnlich deutliche Identifikation mit den neuen Prioritäten in Washington dürfte nicht zuletzt auf die Hoffnung dieser demokratischen Regierungen zurückzuführen sein, ihre eigene politische Priorität in einer von Militärregimen beherrschten Region wahren zu können. .

Die unterschiedlichen und gegensätzlichen Erwartungen und Befürchtungen Lateinamerikas in bezug auf die neuen Lateinamerika-Initiativen werden unabhängig von eventuellen Kurskorrekturen Carters zu erheblichen Frustrationen und Konflikten in den US-Lateinamerika-Beziehungen führen.

II. Bilaterale Probleme

Bereits die ersten außenpolitischen Aktionen Carters haben erkennen lassen, daß er in dem Gesamtverhältnis zu Lateinamerika drei bilateralen Problemkomplexen besondere Priorität einräumt Zwei dieser Probleme — die Frage des Panama-Kanals und die der Normalisierung der Beziehungen zu Kuba — haben eine lange Vorgeschichte und stellen seit Jahren eine schier unüberwindliche Hürde für die Verbesserung der Beziehungen zwischen den USA und seinen südlichen Nachbarn dar. In den letzten Jahren hat eine starke Solidarisierung weiter Teile Lateinamerikas dazu beigetragen, daß eine Lösung dieser beiden Probleme nicht weiterhin ausgeklammert bzw. verschoben werden kann. Das dritte bilaterale Problem liegt in der zunehmenden Bedeutung Brasiliens in der internationalen Politik und hat sich durch die Auseinandersetzung um den deutsch-brasilianischen Nuklear-Vertrag zugespitzt

Obwohl Carter diese Probleme bilateral zu regeln versucht, ist ihr besonderes Gewicht innerhalb der US-Außenpolitik nur durch ihre Verknüpfung mit regionalen bzw. teilweise globalen politischen Prioritäten zu erklären.

Panama Die Problematik des Panama-Kanals war bereits während des US-Wahlkampfes zu einer wesentlichen außenpolitischen Streitfrage geworden und hatte Carter den emotionalen Gehalt dieses Problems für weite Bereiche der US-Wählerschaft erkennen lassen. Zusätzliche Dringlichkeit erhielten die sich seit 1964 hin-schleppenden Kanalverhandlungen durch die Befürchtung der USA, daß Panama die Geduld verlieren könnte und dann mit Guerilla-Aktionen am Kanal gerechnet werden müßte.

Die Regierung Carter ist sehr bemüht, zum nächstmöglichen Termin einen neuen Vertrag mit Panama abzuschließen. Dieser soll nach den Vorstellungen der USA die Auflösung der bisherigen Kanalzone und die Über-gabe des größten Teils ihres jetzigen Territoriums an Panama innerhalb von drei Jahren beinhalten. Für den verbleibenden Rest der jetzigen Kanalzone wollen die USA einen Militärbasenvertrag mit Panama abschließen, dessen Laufzeit noch umstritten ist. Panama will auf keinen Fall einen formellen Verteidigungspakt mit den USA abschließen und ihnen die Militärbasen auch nicht länger als bis zum Ende dieses Jahrhunderts überlassen. Von Seiten des Pentagon wird dagegen eine Laufzeit von mindestens 40 Jahren angestrebt. Den eigentlichen Kanalbetrieb soll ein neuer Kanalbetriebs-Vertrag von etwa 20 Jahren Laufzeit sicherstellen. Im Verlauf dieser Zeit soll Panama sukzessive stärker an der Verantwortung für den Kanalbetrieb beteiligt werden. Offen ist weiterhin, in welcher Form nach dem Auslaufen dieses Vertrages die Neutralität des Kanals garantiert werden soll. Unabhängig von den wirtschaftlichen und militärischen Konsequenzen, die eine Neuregelung für die USA mit sich bringen wird, dürfte die Anerkennung der Souveränität Panamas über die bisherige Kanalzone und die Neuregelung des Kanalvertrags nicht nur von Lateinamerika, sondern auch von der Dritten Welt insgesamt der Carter-Regierung als außerordentlich positiv angerechnet werden.

Kuba Das Problem Kuba läßt sich aufgrund seiner weltpolitischen Implikationen nicht so glatt lösen. Carter ist sich durchaus bewußt, welche umfangreichen Folgeprobleme jede Wiederannäherung der beiden Staaten für die globalen außenpolitischen Ziele der USA mit sich bringen wird. Gleichzeitig bleibt die Reintegration Kubas in die westliche Hemisphäre ein Prüfstein für die US-Außenpolitik gegenüber Lateinamerika.

Es besteht kein Zweifel daran, daß beide Seiten an einer Wiederannäherung interessiert sind, aber ebenso wie Castro hat auch Carter erkennen lassen, daß er nicht gewillt ist, einen allzu hohen politischen Preis dafür zu zahlen. Die Regierung Carter hält die Zeit für reif, das sozialistische Regime — fast 20 Jahre nach der kubanischen Revolution — in der westlichen Hemisphäre zu akzeptieren, ähnlich wie die USA sich etwa 20 Jahre nach der — unter damaligen Umständen ebenso radikalen — mexikanischen Revolution mit Mexiko arrangiert hatten. Einige Berater Carters, zu denen auch der UN-Botschafter Young zu zählen ist, tendieren dahin, Kuba eine stabilisierende Rolle innerhalb der Dritten Welt zu-zuerkennen, in der Hoffnung, daß sich dadurch auch die Bereitwilligkeit Kubas zur Kooperation mit dem Westen verstärkt. Eine solche Politik würde eine zunehmende wirtschaftliche Bindung Kubas an die USA zur Folge haben, wodurch gleichzeitig die Abhängigkeit Kubas von der Sowjetunion verringert und die Stabilität in der Karibik insgesamt erhöht würde. Aufgrund der doppelten IdentitätKubas als Land der Dritten Welt und als Mitglied des sozialistischen Lagers stehen einer solchen Politik Carters freilich zahlreiche weltpolitische Imponderabilien entgegen. Nicht nur im Hinblick auf die Rolle, die Kuba heute in Afrika spielt, wird die Sowjetunion versucht sein, eine Wiederannäherung zwischen Kuba und den USA hinauszuzögern.

Die Regierung Carter hat sich auf eine lange und mühevolle Verhandlungszeit und eine Politik der kleinen Schritte eingestellt. Auf Seiten der USA liegen die Hauptschwierigkeiten für eine Normalisierung der Beziehungen in der Anerkennung eines sozialistischen Systems in der westlichen Hemisphäre, in den innenpolitischen Rückwirkungen durch die große Zahl von Exil-Kubanern in den USA, in der Regelung der Schadenersatzansprüche der US-Firmen wegen der Verstaatlichung ihres Besitzes auf Kuba nach der Revolution und in der Zukunft der US-Militärbasis in Guan-tänamo.

Kuba dagegen sieht große Probleme wirtschaftlicher und psychologischer Natur auf sich zukommen, vor allem, weil durch eine verstärkte Kommunikation mit dem Westen eine Bedrohung des eigenen Systems langfristig nicht ausgeschlossen werden kann. Außerdem ist Kuba nicht gewillt, spezifische Wohlverhaltenserklärungen, insbesondere hinsichtlich seines Engagements in Afrika abzugeben. Dagegen haben die jüngsten Verhandlungen gezeigt, daß Kuba in allen Fragen, die nicht seinen internationalen Status betreffen, sehr flexibel und kooperationswillig ist. Kubas einzigartige Stellung im Koordinatensystem des Ost-West-und Nord-Süd-Konflikts erforderte — und das hat die Regierung Carter offensichtlich erkannt —, eine Annäherung der gegenseitigen Standpunkte. Innenpolitische Probleme und außenpolitische Rücksichtnahmen auf beiden Seiten dürften jedoch die Wiederaufnahme voller diplomatischer Beziehungen noch länger hinauszögern. Brasilien Das bilaterale Problem Brasilien stellt sich unter gänzlich anderen Vorzeichen. Während Kissinger noch versucht hatte, dem Groß-machtanspruch Brasiliens durch ein spezielles Konsultationsabkommen zwischen beiden Ländern zumindest formell gerecht zu werden, hat Carter im Zusammenhang mit der Nonproliferationsdebatte nicht gezögert, sehr deutlich auf die Schwachstellen der brasilianischen Entwicklung seit 1964 hinzuweisen. Brasilien hat mit gewissem Recht die Lateinamerikapolitik der Carter-Regierung als völlige Kehrtwendung empfunden, da Kissinger Brasilien immer als Stabilitätspartner der USA in Lateinamerika bezeichnet hatte. Mit seiner Politik hat Carter zunächst zur stärkeren Kohäsion des brasilianischen Systems beigetragen. Denn wenn der Opposition in Brasilien die US-Kritik an der Militärregierung einerseits auch willkommen war, so ist sie doch andererseits nicht willens, eine US-Einmischung — nicht nur in Fragen der technologischen Unabhängigkeit, sondern auch bezüglich der von ihr selbst angeprangerten Menschenrechtsverletzungen — hinzunehmen. Insofern kann das autoritäre Militärregime Brasiliens für seine derzeitige, in einigen Bereichen geradezu antiamerikanische Politik mit partieller Unterstützung auch durch die Opposition rechnen. Brasilien will sich als Nation nicht von der Carter-Regierung maßregeln lassen, und da der Wunsch nach Großmachtstatus alle innenpolitischen Differenzen überdeckt, dürfte das Verhältnis Brasilien — USA vermutlich auf lange Sicht belastet bleiben. Die Brasilianer hoffen darauf, daß sie in Europa — insbesondere in der Bundesrepublik — die technologische und finanzielle Unterstützung erhalten, die ihnen von den USA zur Zeit verwehrt wird. Aus der dritten Welt erwarten sie sich politische und moralische Unterstützung in ihrem Kampf gegen eine Politik der Einmischung von seifen der USA.

Im Falle Brasiliens scheint der hohe moralische Anspruch der Politik Carters sowohl hinsichtlich der Nonproliferation als auch der Menschenrechte vorläufig eher zur Stabilisierung eines zumindest umstrittenen Regimes als zur Durchsetzung politisch wünschenswerter Prinzipien beigetragen zu haben. Aufgrund der bedeutenden internationalen Position Brasiliens könnten den USA hier langfristig nicht nur ganz erhebliche bilaterale, sondern auch multilaterale außenpolitische Probleme entstehen, sofern die Politik der Regierung Carter nicht langfristig auch auf das brasilianische Militärregime „destabilisierend" wirkt.

III. Multilaterale Probleme

Trotz der Absicht Präsident Carters, alle anstehenden Probleme mit den lateinamerikanischen Staaten aufgrund der jeweiligen Situation bilateral auszuhandeln, läßt sich deutlich erkennen, welche Fragen in einem multilateralen Rahmen die Auseinandersetzung zwischen den USA und Lateinamerika in den nächsten Jahren bestimmen werden. Im Vordergrund dürften dabei vier Problemkreise stehen, von denen zwei ständige Konflikte zwischen den USA und ihren südlichen Nachbarn hervorgerufen haben: die Wirtschaftsbeziehungen und der Rüstungsexport, überschattet werden diese beiden Probleme von zwei politischen Grundsätzen, die die Carter-Administration weltweit durchsetzen möchte, die aber in Lateinamerika aufgrund der aktuellen Lage besonders brisant sind: das Problem der Menschenrechte und das der Non-Proliferation. Obwohl nicht alle Staaten der Region von diesen beiden Problemkreisen behoffen sind, wird die außenpolitische Aktivi-tät Carters in diesen Bereichen als Schlüssel für seine Haltung gegenüber Lateinamerika insgesamt angesehen. Das läßt sich sehr leicht daraus erklären, daß beide Fragen auf das engste zwei geheiligte Prinzipien Lateinamerikas tangieren: das der staatlichen Souveränität und das der Nichteinmischung.

Sollten die USA in den beiden bereits angeschnittenen Fragen — den Menschenrechten und der Nonproliferation — ihren Vorstellungen zusätzlich Nachdruck verleihen, könnte in Lateinamerika leicht die ungewöhnliche Situation entstehen, daß nicht mehr — wie bisher — nur die progressiven und reformistischen politischen Gruppen und Regierungen den Interventionskurs der USA anprangern, sondern daß diese Haltung nun auch von den konservativen und autoritären Gruppen und Regierungen übernommen wird. Ein gutes Beispiel dafür ist die Zahl jener Regierungen, die aufgrund der US-Vorwürfe über Menschenrechtsverletzungen bereits auf US-Militärhilfe verzichtet haben: Chile, Uruguay, Argentinien, Brasilien, Guatemala, El Salvador, Nicaragua. Weil sich bei diesen Fragestellungen eine relativ starke Homogenität zwischen den militärisch regierten Ländern Lateinamerikas feststellen läßt, ist nicht auszuschließen, daß diese Politik Carters — von Ausnahmen abgesehen — zunächst eher zu einer Festigung der autoritären Strukturen in Lateinamerika beitragen wird als zu ihrer Auflockerung.

Menschenrechte Bereits die erste Phase der weltweiten Kampagne Carters für die Menschenrechte hat gezeigt, daß die außenpolitische Instrumentalisierung dieses Konzepts zu großen Schwierigkeiten führt. Denn trotz der häufig verkündeten Unteilbarkeit der Menschenrechte wird die Anprangerung von Verstößen gegenüber dem Ostblock anders gehandhabt als gegenüber der Dritten Welt, insbesondere gegenüber Lateinamerika. Eine weitere Differenzierung haben die USA mit Rücksicht auf ihre Interessen in strategisch und wirtschaftlich besonders wichtigen Staaten angekündigt. In Lateinamerika wird daher häufig vermutet, bei dieser Menschenrechtsdiskussion handele es sich nicht etwa um ein moralisches Anliegen — das in Anbetracht des US-Verhaltens in Vietnam ohnehin äußerst fragwürdig sei —, sondern vielmehr um ein zusätzliches Druckmittel, mit dem die USA außenpolitisch ihren Aktionsspielraum erweitern wollten.

Dieser lateinamerikanischen Interpretation von Carters Initiativen entspricht, zumindest partiell, das „Dreiklassensystem", nach dem die lateinamerikanischen Staaten aufgrund ihrer Behandlung der Menschenrechte in Washington informell eingestuft worden sind. Dieses System spiegelt das demokratische Nord-Süd-Gefälle in Lateinamerika sehr deutlich wider: Zur ersten Klasse gehören Venezuela und Costa Rica, wo Verletzungen der Menschenrechte so gut wie unbekannt sind; in die dritte Klasse werden Argentinien, Uruguay und Chile eingruppiert, deren konstante und institutionalisierte Menschenrechsverletzungen offenkundig sind. Alle übrigen Länder des Subkontinents werden der Klasse zwei zugerechnet, also gelegentlicher Menschenrechtsverletzungen beschuldigt.

Die politischen Absichten der Carter-Regierung gehen dahin, möglichst viele Länder vor dem „Absinken" von Klasse zwei nach Klasse drei zu bewahren und einige Länder zum Aufstieg von Klasse zwei nach Klasse eins zu bewegen. Langfristig ist dabei in Aussicht genommen, bei allen Beziehungen nicht nur wie bisher bei der Militär-und Auslandshilfe, das Wohlverhalten in der Menschen-rechtsfrage miteinzubeziehen, um dadurch Anreize für einen innenpolitischen Kurswechsel in der Menschenrechtsfrage und damit eine Umgruppierung in eine höhere Klasse zu schaffen. Dieses bisher zwar nicht explizite, aber doch in Ansätzen erkennbare Klassifizierungssystem hat eine Welle der Ablehnung in beinahe allen Staaten Lateinamerikas, die nicht zur Klasse eins gerechnet werden, hervorgerufen und zu einer Solidarisierung der gegen die USA geführt. Für die eigentlich Betroffenen, die in manchen lateinamerikanischen Ländern bis zur physischen Vernichtung verfolgten Gegen-Eliten, dürfte sich vorläufig keine wesentliche Verbesserung ihrer Situation durch die amerikanischen Initiativen ergeben, wenn auch in einigen Ländern eine gewisse Verbesserung der Menschenrechtssituation bereits spürbar geworden ist. Die demonstrative Unterschrift Carters unter die Menschenrechts-Konvention der OAS, die zwar seit 1969 schon von zwölf Staaten unterzeichnet, aber bisher nur von Kolumbien und Costa Rica ratifiziert worden ist, soll dazu beitragen, ein effektives interamerikanisches Instrument zur Wahrung der Menschenrechte zu schaffen. Weitere konkrete Verbesserungen sind in zwei Vorschlägen der „Linowitz Commission" enthalten: demnach sollten die US-Botschaften angewiesen werden, politische Flüchtlinge ohne Rücksicht auf ihre ideologische Einstellung aufzunehmen, und außerdem sollte die Immigration für politische Flüchtlinge in die USA erheblich erleichtert werden. Aber die Verwirklichung dieser beiden Vorschläge dürfte auf erheblichen innenpolitischen Widerstand in den USA stoßen, weil aufgrund der jetzigen politischen Situation die Einwanderung „linker" Lateinamerikaner rasch zunehmen würde.

Die bisherige Menschenrechtsinitiativen Carters in bezug auf Lateinamerika lassen erkennen, daß sie in Form und Inhalt auf so starken und eindeutigen Widerstand gestoßen sind, daß zumindest bei den starken Regimen — und dazu gehört sicherlich Brasilien — und bei den strategisch wichtigen Ländern — und dazu muß Argentinien gerechnet werden — kein direkter und kurzfristiger Erfolg in dieser Frage erwartet werden kann. Die innenpolitisch außerordentlich schwachen und in ihrer Bedeutung für die USA zumindest zur Zeit marginalen Länder wie Uruguay und Chile werden aber zumindest mittelfristig dem US-Druck in dieser Frage kaum standhalten können. Dieser Druck dürfte sich insofern noch erheblich verschärfen, als die Carter-Regierung auch im multilateralen Rahmen, insbesondere bei der Weltbank und der Interamerikanischen Entwicklungsbank, ihre Zustimmung zur Kreditvergabe von der Einhaltung der Menschenrechte abhängig machen wird.

Nonproliferation Das Engagement der Regierung Carter in Fragen der Nichtverbreitung von Atomwaffen und ihr Eintreten für ein Moratorium beim Export von Anreicherungs-und Wiederaufbereitungsanlagen muß, obwohl zur Zeit direkt nur Brasilien betroffen ist, auch als multilaterales Problem für die USA gegenüber Lateinamerika verstanden werden; und zwar einmal, weil Argentinien sicherlich mit Rücksicht auf regionale Balancevorstellungen schon bald auch eigene Forderungen nach nuklearem Status anmelden würde, zum zweiten, weil mittelfristig Chile, und später auch Peru, sich zu Schwellenmächten entwickeln dürften. Die Politik Carters zielt darauf ab, durch technologische eine „Sperre“ eine Weiterverbreitung auszuschließen und in dieser Frage politischen Druck sowohl auf Lieferländer die als auch auf die Empfängerstaaten, insbesondere auf Nichtmitglieder des NV-Vertra-ges — wie Brasilien und Argentinien —, auszuüben. Ähnlich wie in der Menschen-rechtsfrage hat diese Politik zu einer zumindest verbalen Solidarisierung in Lateinamerika geführt; sie hat somit nicht, wie ursprünglich erwartet, bei den übrigen Ländern eine wisse Befriedigung darüber ausgelöst, daß Brasilien nicht durch „nukleare Unabhängigkeit" noch zusätzliches Gewicht erlangt.

Die Ablehnung der Initiativen Carters in der Nuklearfrage erfolgte aber nicht nur unter dem Aspekt des regionalen politischen Gleichgewichts, sondern ist auch Ausdruck für die Suche nach verstärkter Unabhängigkeit im Energiebereich. Aus lateinamerikanischer Sicht ist daher Carters Absicht, Brasilien die Nukleartechnologie teilweise vorzuenthal-ten, gleichzeitig der Versuch, eine aufstrebende politische Macht im internationalen System zu diskriminieren und Lateinamerika insgesamt weiterhin in technologischer Abhängigkeit zu halten. Demgegenüber wird die Politik der Bundesrepublik, im Rahmen des deutsch-brasilianischenNuklearvertrages massiven Technologietransfer zu leisten, in Lateinamerika weitgehend anerkannt. Insofern liegen die Hauptschwierigkeiten einer Verständigung in Fragen der Nonproliferation zwischen den USA und Lateinamerika darin, daß beide Seiten völlig unterschiedliche Aspekte des Problems betonen und die jeweils andere Problematik als sekundär ansehen.

Die von der Regierung Carter eingeleiteten Maßnahmen zur verstärkten Kontrolle der Verbreitung von Nukleartechnologie in Lateinamerika haben relativ geringe Aussichten auf Erfolg, sofern es den USA nicht gelingt, durch politischen Druck auf die Lieferländer einen massiven Technologietransfer zu unterbinden. Auch ihr Vorschlag einer Regionalisierung nuklearer Ver-und Entsorgung geht an dem Hauptargument der Brasilianer für den Aufbau einer kompletten Nuklearindustrie vorbei: Sie hoffen, dadurch ihre Abhängigkeit abbauen und ihre nationale Entscheidungsfähigkeit in bezug auf die technologische Entwicklung erhöhen zu können. Demgegenüber sind die USA der Meinung, daß Länder mit nachgewiesenen Uranvorkommen wie Brasilien keinen kompletten Nuklearkreislauf einschließlich der Wiederaufbereitungsund Anreicherungsanlagen als Instrument wirtschaftlicher und politischer Unabhängigkeit benötigen.

Die Regierung Carter hat immer wieder darauf hingewiesen, daß sie der Frage der Nonproliferation innerhalb der Gesamtbeziehungen zur Dritten Welt eine außerordentlich hohe Priorität einräumen wird. Es ist daher nicht auszuschließen, daß sie nicht nur politischen Druck auf die Lieferstaaten — wie in diesem Falle auf die Bundesrepublik —, sondern zusätzlich auch wirtschaftlichen Druck auf die Empfängerstaaten — wie Brasilien — ausüben wird. Obwohl Brasilien aufgrund seiner hohen Auslandsverschuldung sehr verwundbar ist, hat eine solche Politik nur bedingte Aussichten auf Erfolg. Einmal werden die Wirtschaftsinteressen der USA — zumindest soweit es sich um privatwirtschaftliche Interessen handelt — kaum den Nonproliferationsvorstellungen Carters unterzuordnen sein, und zweitens würde die Ausübung wirtschaftlichen Drucks einen starken politischen Einigungseffekt in dem jeweils betroffenen Land zur Folge haben. Ähnlich wie bei der Menschenrechtsproblematik, ist der moralische Anspruch Carters in der Nonproliferationsfrage auf starken Wider-35 stand innerhalb Lateinamerikas gestoßen, weil auch in diesem Falle den USA unterstellt wird, die moralischen Absichten würden in Wirklichkeit als Deckmantel für wirtschaftliche und machtpolitische Interessen benutzt.

Rüstungsexport Sehr kritisch werden aus lateinamerikanischer Sicht auch die Bemühungen der Regierung Carter um die Einschränkung des Waffentransfers in die Dritte Welt gewertet. Die Auffassung der neuen amerikanischen Regierung, daß in Lateinamerika aufgrund nicht vorhandener externer Sicherheitsgefährdung modernste waffentechnische Ausrüstungen nicht erforderlich seien, wird als Angriff auf die eigene Souveränität gesehen. Dabei wird in Lateinamerika kaum berücksichtigt, daß es sich hierbei nicht nur um Carter-Initiativen handelt, sondern auch um Regelungen, die der Kongreß — wie im Falle des . International Security and Arms Export Control Act“ von 1976 — schon vor dem Präsidentenwechsel getroffen hatte.

Die lateinamerikanischen Länder haben immer dann, wenn die USA ihre spezifischen Waffenwünsche abgelehnt haben, sich in Europa Ersatz gesucht. Dieser bequeme Ausweg soll nach den Vorstellungen der Carter-Regierung in Zukunft durch politischen Druck der USA auf andere Lieferstaaten erschwert werden. Ob sich freilich ein solcher Druck auch auf Frankreich oder gar die Sowjetunion ausüben lassen wird, ist mehr als zweifelhaft, zumal deren Anteil an den Waffenlieferungen nach Lateinamerika in den letzten Jahren erheblich gestiegen ist. Hinzu kommt, daß auch die Einschränkung der US-Militärhilfe zumindest für die großen Staaten Lateinamerikas keinen wesentlichen Verlust darstellt, denn verschiedenen lateinamerikanischen Ländern ist es offensichtlich leicht gefallen, auf diese Militär-hilfe zu verzichten, nachdem die USA Wohl-verhalten in der Menschenrechtsfrage daran gekoppelt hatten.

Inwieweit überhaupt in militärisch beherrschten Staaten — wie in Lateinamerika — eine außengesteuerte Beschränkung im Rüstungssektor erreichbar ist, muß schon deswegen in Frage gestellt werden, weil alle diese Militärregime die Ausstattung mit modernen Waffensystemen weniger unter verteidigungspolitischen Gesichtspunkten sehen, sondern sie vielmehr zum Statussymbol erheben. Und da sie über die uneingeschränkte Macht verfügen, die noch so bescheidenen Mittel ihres Landes für Rüstungsausgaben einzusetzen, dürfte das Bemühen der USA, den Rüstungsexport nach Lateinamerika zu beschränken, kaum Erfolge zeitigen.

Die größeren Länder haben ohnehin in den Jahren letzten erhebliche Fortschritte im Aufbau eigener Rüstungsindustrien gemacht, so daß ihre Abhängigkeit von amerikanischen Lieferungen erheblich abgenommen hat. Darüber hinaus macht die zunehmende Koproduktion von Rüstungsgütern zwischen US-Privatfirmen und lateinamerikanischen Staats-unternehmen die beabsichtigten Rüstungsexportkontrollen der Regierung Carter weitgehend unwirksam.

Ein neues außenpolitisches Moment könnte sich durch die zunehmende Instabilität in Westund Süd-Afrika ergeben. Die dadurch eventuell notwendig werdenden Verteidigungsanstrengungen im Raum des Südatlantiks könnten es den beiden potentesten Militär-mächten Südamerikas — Brasilien und Argentinien — ermöglichen, erheblichen Druck dahingehend auf die USA auszuüben, sie in Zukunft eher mit mehr anstatt mit weniger Waffen zu versorgen. Die jüngsten Entwicklungen in Kuba und Angola werden als deutliche außenpolitische Bedrohungsfaktoren verstanden, die bei den bisher innengerichteten lateinamerikanischen Militärregimen völlig neue Sicherheitsbedürfnisse auslösen dürften. Ob diese Bedürfnisse allerdings in einer immer wieder diskutierten SATO (South Atlantic Treaty Organization) unter Einschluß bzw. Kooperation der USA befriedigt werden könnten, erscheint unter den derzeitigen politischen Konstellationen sehr fraglich.

Neue Weltwirtschaftsordnung Neben diesen aktuellen politischen Auseinandersetzungen spielt der traditionelle Konflikt zwischen den USA und Lateinamerika in allen Fragen der Wirtschaftsbeziehungen weiterhin eine entscheidende Rolle. Die andauernde Konfrontation in allen Problembereichen der neuen Weltwirtschaftsordnung hängt nicht zuletzt damit zusammen, daß Lateinamerika — zumindest in Hinsicht — von den USA immer mehr als Teil der Dritten Welt gesehen wird und sich selbst auch so einordnet.

Da Carter keine regionalspezifischen Lösungen für diese Wirtschaftsprobleme anstrebt, sondern globale Neuregelungen der Beziehungen zwischen Industrie-und Entwicklungsländern unterstützt, erhoffen sich die Lateiname-B rikaner davon auch Vorteile für die eigene wirtschaftliche Entwicklung.

Generell stimmen die Lateinamerikaner der erklärten Absicht Carters zu, die Kapitalströme in die Dritte Welt zunehmend zu multilateralisieren, weil sie sich davon geringere Abhängigkeiten als bei bilateralen Krediten versprechen. Diese Hoffnung wird allerdings dadurch getrübt, daß Carter — wie bereits erwähnt — auch bei der Kreditvergabe durch internationale Finanzinstitute ein politisches Junktim mit der Menschenrechtsfrage herstellen will. Auch die von Carter unterstützte Preisstabilisierung für Rohstoffe kommt den Forderungen zahlreicher lateinamerikanischer Staaten entgegen. Besonders interessiert ist Lateinamerika an der angekündigten Liberalisierung des gesamten Systems der US-Zoll-präferenzen, weil die USA auch weiterhin für die meisten lateinamerikanischen Länder der Haupthandelspartner bleiben dürfte.

Mit Besorgnis wird hingegen die enge Beziehung Carters und seiner wichtigsten außenpolitischen Berater zur „Trilateral Commission“ gesehen, weil die Lateinamerikaner in dieser Organisation einen direkten außenpolitischen Einfluß der multinationalen Unternehmen zu erkennen glauben und deshalb ihre Hoffnung auf eine stärkere Kontrolle dieser souveränitätsbedrohenden Unternehmen durch die Industrieländer schwindet.

Die Auseinandersetzungen zwischen den USA und Lateinamerika im wirtschaftlichen Bereich sind in die allgemeine Nord-Süd-De-batte verlagert worden und beginnen damit zweifellos für die direkten interamerikanischen Beziehungen an Schärfe zu verlieren. Die Neue Weltwirtschaftsordnung ist daher nicht im gleichen Maße wie Menschenrechte, Rüstungsbeschränkung und Nonproliferation zum neuen Streitpunkt in den US-Lateinamerika-Beziehungen geworden.

IV. Ende der „special relationship"?

Obwohl bereits seit Jahren in den USA ebenso wie in Lateinamerika das Bewußtsein zugenommen hat, daß von einer „Community of interests" zwischen Nord-und Süd-Amerika kaum mehr die Rede sein kann, hat der gegenwärtige Stand der hemisphärischen Beziehungen über die traditionellen Konflikte hinaus ein bisher nicht gekanntes Tief erreicht. Es könnte daher durchaus sein, daß die Regierung Carter aufgrund ihrer offenen Diplomatie auch bereit ist, das Ende der „special relationship“ anzuerkennen. Die Gründe dafür lägen auf der Hand: Einmal sind die zumeist militärisch-autoritären Regime Lateinamerikas, die einen militanten Antikommunismus als Legitimationsbasis für ihr System interner Repression brauchen, in der Tat keine sehr annehmbaren Partner für die USA unter einer Regierung Carter. Zum zweiten sind die strategischen Interessen der USA in Lateinamerika aufgrund der waffentechnischen Entwicklung ständig zurückgegangen: sie sind heute minimal. Zum dritten ist damit zu rechnen, daß bei den wirtschaftlichen Interessen der USA, die weiterhin vor allem mit Rücksicht auf die Rohstoffsicherung eine erhebliche Rolle spielen, im Zuge einer Neuen Weltwirtschaftsordnung andere Prioritäten gesetzt werden und somit nur noch ein relativ geringer Spielraum für regionale Sonderabkommen bestehen dürfte.

Aus lateinamerikanischer Sicht — bzw. aus der Sicht der herrschenden Militärregime — ist weder das politische System der USA (aufgrund des ausgeprägten Liberalismus nach innen) noch deren wirtschaftlicher Standard (aufgrund des Massenkonsums) oder ihre außenpolitischen Prinzipien (aufgrund der Detente mit den sozialistischen Ländern) attraktiv oder gar nachahmenswert. Ihre wirtschaftlichen Ansprüche glauben die Lateinamerikaner ohnehin besser gemeinsam mit den übrigen Forderungen der Dritten Welt im Nord-Süd-Dialog durchsetzen zu können. Auch bezweifeln die Führungsmächte Lateinamerikas schon lange nicht mehr, daß eine Stärkung der eigenen Position im internationalen System eher gegen als mit den USA zu erreichen ist.

Der interessanteste Aspekt dieser zumindest in Ansätzen erkennbaren Entwicklung (deren Abschluß freilich noch einige Zeit auf sich warten lassen dürfte) liegt darin, daß die ursprünglich von linken und reformistischen Regimen Lateinamerikas erwartete Emanzipation von den USA jetzt von autoritären, zumeist rechts-konservativen Regierungen — unter freilich anderen Vorzeichen — verwirklicht zu werden scheint. Diese Tatsache läßt sich einerseits auf die Politik des „benign neglect" der vergangenen Administration und andererseits auf die jahrelange Förderung der Militärregime durch die USA in Lateinamerika zurückführen. Die USA sehen sich dadurch in der schwierigen Position, daß sie — anders als bei den ehemaligen linken Regierungen — Sanktionsmechanismen oder gar Maßnahmen zur internen Destabilisierung gegen die autoritären Militärregierungen kaum anwenden können, um eine mögliche anti-amerikanische Entwicklung zu verhindern. Die Politik der Regierung Carter, die externe nicht mehr inter Sicherheit der USA mit der -nen Stabilität der herrschenden Militärregime in Lateinamerika gleichzusetzen, könnte jedoch noch bestehende Oppositionsgruppen trotz ihrer Unterstützung der Militärs in „nationalen Fragen" ermutigen, innenpolitisch gegen sie vorzugehen. Da die herrschenden Militärs mit einer solchen Entwicklung rechnen, dürfte es aber in den meisten Regimen zunächst eher zu einer Verhärtung als zu einer Liberalisierung kommen. Eine solche Entwicklung würde dann wahrscheinlich die Regierung Carter dazu zwingen, sich noch stärker von diesen Regimen in Lateinamerika zu distanzieren, und damit das Ende der „special relationship" beschleunigen.

Obwohl eine deutlichere Abwendung von den USA den Lateinamerikanern außenpolitisch relativ geringe Vorteile einbringen dürfte, wird jede Verringerung des US-Einflusses weithin bereits als Erfolg gesehen, so daß die Mehrheit der lateinamerikanischen Staaten in Anbetracht der aus ihrer Sicht negativen Folgen der „Einmischungspolitik" der Regierung Carter gern auf eine „special relationship" zu den USA verzichten werden. Die USA werden deshalb, nicht zuletzt auch aufgrund ihrer eigenen Politik, zwar zunächst in vielen Staaten Lateinamerikas mit „stabilen" innenpolitischen Verhältnissen rechnen können, aber durch die Politik Carters wesentlich labilere außenpolitische Verhältnisse in Lateinamerika in Kauf nehmen müssen.

Fussnoten

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