Erwartungen
Die Erwartungen der Amerikaner vor Amtsantritt der Carter-Regierung lassen sich nur im Zusammenhang mit den Erschütterungen der Nixon-und Ford-Jahre verstehen. Doch erscheinen die von Carter erweckten Hoffnungen im Rahmen der amerikanischen politischen Traditionen wiederum auch nicht als außergewöhnlich: Schon bald nach der Gründung der Republik entstand das sich in von den Verfassungsvätern eigentlich unerwünschten Parteien niederschlagende Gegner-prinzip der amerikanischen Politik, welches die neue Regierung immer als Retter des Landes von den Sünden der Gegenpartei erscheinen läßt. Zur Zeit von Carters Amtsantritt sahen diese Sünden außergewöhnlich groß aus, so daß sich die Hoffnungen auf „Erlösung“ dementsprechend steigerten und die Enttäuschungen proportional ausfallen dürften. Dieser Aufsatz soll eine Bestandsaufnahme des ersten halben Jahres der Regierung Carter sein. Hier sollen besonders die Auseinandersetzungen mit dem Kongreß über innenpolitische Programme hervorgehoben werden, soweit dies in Hinsicht auf ihre enge Verknüpfung mit außenpolitischen Faktoren möglich ist.
Im Juni des Wahljahres 1976, kurz vor den entscheidenden demokratischen Vorwahlen im Staate Ohio, erschien der meteorisch zum Favoriten aufgestiegene Erdnußfarmer aus Georgia den meisten Amerikanern als ein Rätsel. Einem Korrespondenten der New York Times schien dies ein sorgsam gezüchtetes Rätsel zu sein Der Entwurf von Carters Wahlprogramm hatte besonderen politischen keiner Einsicht bedurft. Wie alle demokratischen Kandidaten spielte er eine Variante des Themas „anders als bisher" in einem -Wahl kampf, den die Demokraten angesichts der vorhergehenden Skandale nicht verlieren konnten. Das Geheimnis von Carters Erfolg lag in seiner Fähigkeit, mit minimaler Festlegung auf positive Programme „anders“ zu sein: weder liberal noch konservativ, weder Rassist noch religiöser Fanatiker, nicht der Bürokratie Washingtons verpflichtet, aber auch nicht der typisch „bornierte“ Südstaatler, im ganzen aber hauptsächlich „nicht wie die anderen" 2). Obwohl diese negative Definition die Mehrheit der Wähler befriedigte, ließ sich selbst für einen so geschickten Kandidaten wie Carter die Festsetzung bestimmter Prioritäten auf die Dauer nicht vermeiden. Diese zeichneten sich schon vor seiner Nominierung durch den demokratischen Parteikonvent ab.
Überwindung der den Vorrang hatte die von Republikanern verursachten wirtschaftlichen Flaute durch Zusammenarbeit der staatlichen und privaten Sektoren. Als „Outsider" konnte Carter sich von den Unzulänglichkeiten des den Demokraten beherrschten 94. Kongresses absetzen, der offensichtlich am Stand der Dinge nicht ganz schuldlos war. Obwohl er Intensivierung der die Arbeitsbeschaffung durch staatliche Vorhaben versprach, ließ er keinen Zweifel, daß sich die erwünschte Reduzierung der Arbeitslosenzahl auf 4, 5 °/o nur durch die volle Auslastung des Privatsektors erreichen lassen würde Carter verstand es, scheinbar unvereinbare Gegensätze wie Inflationsbekämpfung und Wirtschaftsstimulierung, Haushaltsausgleich und Befriedigung der sozialen und militärischen Belange der Nation miteinander zu vereinbaren.
Die Widersprüchlichkeit von im Wahlkampf geäußerten Plänen stören Politiker selten. Der erfolgreiche Kandidat weiß die Widersprüchlichkeit seiner Versprechen vor der skeptischen Gesellschaft zu verschleiern. Carter* schaffte es, weil er sich als schlichter, leistungsfähiger Manager gab, dessen Brillanz und Sparsamkeit die offensichtliche Diskrepanz von Einkommen und Unkosten, Forderungen und Möglichkeiten, Ideal und Wirklichkeit überwinden werde. Hatte nicht schon Alexander Hamilton als „die wahre Prüfung einer guten Regierung"...... ihre Fähigkeit und Neigung zu administrativer Wirkungskraft" bezeichnet? Für den Durchschnittsamerikaner gibt es kein eindrucksvolleres Vorbild als das des „self-made" Geschäftsmannes, der durch Willenskraft und Organisationsfähigkeit den Nachteil seines „Außenseitertums" und den Widerstand von Interessengruppen überwindet. Diese seine Fähigkeiten versprach Carter in den Dienst des Volkes zu stellen, um so die Bürokratie Washingtons in seinen Bann zu zwingen und das scheinbar Unmögliche zu vollbringen. Carters Versprechen, die langjährige, auf Kosten der Legislative wachsende Machtanmaßung der Exekutive zu beendigen, wird sich schwerlich halten lassen, da nur die ständige Herausforderung des schwerfälligen amerikanischen Kongresses durch die Exekutive die Durchsetzung seines eigenen Regierungsprogramms möglich machen kann.
Das Verhältnis von Präsident und Kongreß
Kurz vor Carters Wahl veröffentlichte die angesehene „Brookings Institution" einen Band, der sich mit den nationalen Prioritäten der nächsten zehn Jahre befaßte. Der das Verhältnis von Kongreß und Präsident untersuchende Beitrag kam zu einem überraschend optimistischen Schluß: „Die Aussicht auf Zusammenarbeit der Regierungsgewalten — solange Präsident und Kongreßmehrheit der gleichen Partei angehören — sind so gut, daß sich kein heute lebender Mensch auf bessere entsinnen kann, und sie werden im Laufe der weiteren Homogenisierung der Parteien noch besser werden. Verantwortliche Parteiregierung unter Leitung des Präsidenten als Parteiführer wird möglich sein, nicht nur zu Zeiten außerordentlicher Mehrheiten, wie derjenigen, die das , New Deal'und die , Great Society'hervorbrachten, sondern auf kontinuierlicher Basis. Man muß bis ins 19. Jahrhundert zurückgehen, um dies von der einen oder der anderen Partei sagen zu können." Dieser Optimismus des Autors wurde besonders durch die „Watergate" folgenden internen Reformen des Kongresses erweckt. Doch stellte er die Frage, ob die neuen, vom Kongreß zum Zweck der Konfrontierung eines Präsidenten der Gegenpartei geschaffenen Mittel nicht auch eine Neigung zur Konfrontierung eines Präsidenten der eigenen Partei nähren würden. Das Verhältnis von Präsident und Kon-greß während der ersten sechs Monate der Carter-Regierung scheint diesen Gedanken des Autors zu bestätigen. Inwieweit hat sich nun die Zusammenarbeit dieser beiden Regierungsgewalten anders gestaltet, als von den Verfassungsvätern vorgesehen?
Der Entwurf des die Exekutive bestimmenden Artikels der amerikanischen Verfassung machte den „Gründern der Nation" viel zu schaffen. „Es schien, im weitesten Sinne des Wortes, das schwierigste der zu lösenden Probleme zu sein.“ Eine Exekutive war zu schaffen, die stark genug war, die gerechte Anwendung der Gesetze des Bundes im ganzen Lande durchzusetzen, ohne jedoch die Vorrechte der anderen Regierungsgewalten und die föderalistischen Prinzipien der Republik zu verletzen. Es zeigte sich, daß die Gründer eine starke Exekutive weniger fürchten, als man auf Grund ihrer Erfahrungen als Untertanen des englischen Königs annehmen konnte Die von den Mitgliedern der verfassunggebenden Versammlung vorgesehene indirekte Wahl der Präsidenten wird weithin kritisiert Die endgültige Abschaffung des Wahlmännerkollegiums, welches seine vorgesehenc Funktion sowieso nicht erfüllt, wird von Präsident Carter und anderen Demokraten ernsthaft betrieben.
Bemühten sich die Verfasser um die Schaffung einer starken Exekutive, so war ihnen gleich-zeitig auch am Gleichgewicht der Kräfte gelegen, die sie durch gegenseitige Machteinschränkung der drei Regierungsgewalten („checks and balances") zu erreichen suchten. Das Verhältnis von Präsident und Kongreß wurde durch die Entwicklung des von den Gründern nicht vorgesehenen Zweiparteiensystems kompliziert, da dem Präsidenten damit auch die weitere Rolle des Parteiführers zufiel. Als Parteiführer mußte sich der Präsident mit der Rolle seiner Parteigenossen als Mitglieder einer verfassungsmäßig ihm ebenbürtigen Regierungsgewalt abfinden. Die Mitglieder des amerikanischen Kongresses sahen es von Anfang an als ihre Pflicht, vor allem die regionalen Interessen ihrer Wähler zu vertreten, so daß Parteitreue zu einem untergeordneten Prinzip wurde. So kam es in der amerikanischen Geschichte eigentlich selten vor, daß ein Präsident, dessen Partei die Mehrheit im Kongreß besaß, sich auf diese in der Durchsetzung seines legislativen Programms unbedingt verlassen konnte. Im Verlauf der letzten Jahrzehnte lassen sich nur wenige Jahre enger und erfolgreicher Zusammenarbeit von Präsident und Mehrheitspartei anführen. Diese Jahre werden als beispielgebend im Sinne wirklich erneuernder und dynamischer Gesetzgebung bezeichnet Doch liegt die Hoffnung auf Bewältigung der enormen in der Zusammenarbeit eben des der Kongreß-Mehrheit. mit Der große Wahlsieg der Demokraten in den Kongreßwahlen schien Präsident Carter eine Mehrheit zur Verfügung zu stellen. Trotz der internen Reform-maßnahmen des Kongresses stellen sich einer solchen Zusammenarbeit aber weithin institutionelle Hindernisse entgegen. Diese müssen unter Berücksichtigung des Einflusses der Persönlichkeit des Präsidenten erörtert werden, bevor die bisher von und dem 95. Kongreß geleistete Arbeit gewertet werden kann.
„Das den Charakter des Präsidentenamtes umreißende Schlüsselwort ist . Einheit': Einheit der Wählerschaft, Einheit der Repräsentation, Einheit der Mitgliedschaft, Einheit der Autorität.“ Der Kongreß andererseits rekrutiert sich aus 485 verschiedenen Wählerschaften, von denen 435 alle zwei Jahre die Mitglieder des Repräsentantenhauses wählen, während in weiteren 50 — den Einzelstaaten — alle zwei Jahre ein Drittel der 100 Senatoren gewählt wird. Dabei vertritt jeder Repräsentant und jeder Senator einen unterschiedlichen Interessenbereich. „Das den Charakter des Kongresses umreißende Schlüsselwort ist . Mannigfaltigkeit': Mannigfaltigkeit der Wählerschaft, Mannigfaltigkeit der Repräsentation, Mannigfaltigkeit der Mitgliedschaft, Mannigfaltigkeit der Autorität."
Die Mannigfaltigkeit der Interessen und die zeitraubende Notwendigkeit, Kompromisse zu erarbeiten, führten zu der institutionellen Schwerfälligkeit des Kongresses, die es den Präsidenten ermöglichte, ihre von der Verfassung nur vage definierte Macht zu erweitern. Dabei führten nationale Notstände verschiedentlich zu sprunghaftem Machtzuwachs, dem der Kongreß ohne weiteres zustimmen mußte. Im Verlauf des 19. Jahrhunderts waren es besonders die Präsidenten Jackson, Polk und Lincoln, die den Machtbereich ihres Amtes durch Ausnutzung von Krisensituationen erweiterten Besonders Lincolns Ausübung von nur im Kriegszustand zulässigen Maßnahmen — ohne das'ein solcher bestand — und ihre nachträgliche Legalisierung durch den Kongreß verwandelten das Präsidentenamt Zwar wehrte sich der Kongreß und versuchte besonders zu Zeiten schwacher Amtsinhaber, die Machtanmaßung der Präsidenten zurück-zuschrauben. Der Anteil des Kongresses an der Regierungsgewalt steigerte sich besonders, wenn die Mehrheitspartei in Schwerpunkten der Politik einig war und von starken Persönlichkeiten im Kongreß dominiert wurde. Solche Einigkeit ergab sich jedoch nur selten; der absoluten Dominierung der Kammern durch starke Persönlichkeiten — wie die Sprecher des Repräsentantenhauses Senats Cannon und Reed sowie Führer der -majorität wie Aldrich — wurde Anfang des 20. Jahrhunderts ein Ende bereitet Ob-wohl das persönliche Prestige von Politikern wie seinerzeit der Texaner Sam Rayburn und Lyndon B. Johnson sowie der jetzigen Leiter der Mehrheiten im Repräsentantenhaus und im Senat, „Chip" O'Neill und Robert Byrd, sich in beträchtlichen legislativen Einfluß ummünzen läßt, wurde die aktuelle Macht der Kongreßleitung durch die Kollektivierung des Systems der Ausschußpostenverteilung beschränkt. Gleichzeitig wurde die Rolle der Komiteevorsitzenden gestärkt. Anstatt jedoch die von den Reformern vorgesehene Verbesserung der legislativen Leistung zu erreichen, erschwerte die größere Machtzersplitterung in den Kammern des Kongresses die Durchsetzung von innenpolitischen Regierungsprogrammen. Nur wenn es dem Präsidenten möglich war, die Repräsentanten der Mehrheitspartei auf eine Linie zu verpflichten, wurde die Politik des Weißen Hauses unverändert durchgesetzt. Doch zeigt der amerikanische Kongreß im ganzen wenig Neigung zu solch in Europa nicht seltener Parteidisziplin. Daher schlugen die Versuche von Wilson, F. D. Roosevelt und Truman — trotz beträchtlicher innenpolitischer Erfolge, die sich durch besondere Umstände erklären lassen —, dem Kongreß ihren Willen aufzuzwingen, auf die Dauer fehl. Die Machtanmaßung der Präsidenten erstreckte sich deshalb vornehmlich auf das Gebiet der Außenpolitik. Die Beschleunigung des Tempos der internationalen Beziehungen und der Aufstieg Amerikas zur Weltmacht zwangen die Präsidenten, über ihre verfassungsmäßigen Funktionen hinausgehende Initiativen zu ergreifen, denen der Kongreß, und in Zweifelsfällen auch der Verfassungsgerichtshof, schwerlich widersprechen konnten. Der Weg nach Vietnam und Watergate war offen.
Machte also die Entwicklung der amerikanischen Verfassung unter dem Zwang geschichtlicher Vorgänge den Machtzuwachs des Präsidentenamtes gegenüber der Legislative zumindest in der Außenpolitik unvermeidbar, so richtete sich der Grad der Ausnutzung dieser Entwicklung je nach der im Weißen Hause residierenden Persönlichkeit. Die Persönlichkeit der Präsidenten steht jetzt, angesichts der durch Nixon offenbar gewordenen Gefahren, mehr im Brennpunkt des öffentlichen Interesses als je zuvor. Die von James David Barber schon 1972 vorgelegte Theorie einer Typologie des persönlichen Charakters der amerikanischen Präsidenten ist nicht nur historisch interessant, sondern läßt auch vorsichtige Schlüsse über das zu erwartende politische Verhalten von neugewählten Inhabern des hohen Amtes zu Die geballte institutioneile Macht des Präsidentenamtes und die oft prekären Persönlichkeitsfaktoren der Amtsinhaber ergeben eine explosive Mischung. Eine Untersuchung dieses Verhältnisses war lange angebracht. Barber schuf ein Schema, in das er die Präsidenten je nach ihren Eigenschaften einordnete. Persönlich zieht er den „aktiv-positiven" Typ des Präsidenten (z. B. F. D. Roosevelt, J. F. Kennedy) den anderen Typen vor Die von Barber entwickelten Grundlinien (aktives oder passives Verhalten im Amt, positive oder negative Einstellung zum Amt) und die sich daraus ergebenden Kombinationen ermöglichen eine Reihe von Verhaltenspsychogram-men. Diese lassen — unter Berücksichtigung anderer Faktoren wie der institutionellen „Schwerkraft" des Amtes und der Wirkung von „pressure groups", den Medien und den Mythen der Geschichte — einen Ausblick auf die Zukunft zu.
Dem Kongreß, der sich selbst durch die Über-eignung verschiedener seiner Vorrechte auf den Präsidenten im Laufe vieler Jahre zunehmend entmachtete, fiel es schwer, seine Ansprüche wieder geltend zu machen. Durch Skandale im eigenen Lager angeschlagen und wie üblich durch Interessenpolitik gespalten, eröffneten Nixons kollossale Fehler dem schwächlichen demokratischen Kongreß dann doch die Möglichkeit, einen Grad des öffentlichten Ansehens zurückzugewinnen, die gröbsten Machterweiterungen der Präsidenten zu beschneiden und interne Reformen einzuleiten. Ob diese jedoch die Stellung des Kongresses auf die Dauer gefestigt haben, muß sich zeigen. Nach verfassungsgeschichtlicher Theorie fließt die Macht derjenigen Regierungsgewalt zu, die sie unter gebenen Umständen benötigt Die außergewöhnlichen Probleme dieser Generation — Energiekrise, Inflation, chronische Arbeitslosigkeit, Ost-West-wie Nord-Süd-Konflikt, vielerorts schwelende Kriegszustände — drängen die Macht auf die Seite des Präsidenten. Carters „aktivpositive“ Persönlichkeit verstärkt diesen Trend. Die Gegenwaffe des Kongresses bleibt seine Schwerfälligkeit und interessenhörige Mannigfaltigkeit. Zusammenarbeit von Exekutive und Legislative ist deshalb nur bedingt möglich und auch, zum Wohle der ver-fassungsmäßigen Integrität, zeitweise unerwünscht. Wie will Carter den Widerspruch von Gewaltenteilung und Aufgabenbewältigung überwinden? Wie sehen die Resultate aus?
Die Exekutive unter Carter
Als der 94. Kongreß am 2. Oktober 1976 seine Arbeit einstellte, um seine Mitglieder zum Wahlkampf nach Hause zu entlassen, waren die Anfang 1975 ausgesprochenen legislativen Erwartungen der Demokraten — trotz großer Überlegenheit in beiden “ Kammern — nur unvollkommen erfüllt. Dank Präsident Fords erfolgreicher Vetopolitik auf der einen und der Unwilligkeit des Kongresses, dem republikanischen Präsidenten im Wahljahr die Durchsetzung seiner Prioritäten zu gestatten, auf der anderen Seite, machten weder die wichtigeren politischen, sozialen und wirtschaftlichen Programme des Kongresses noch die des Präsidenten nennenswerte Fortschritte. Der Präsidentschaftskandidat Carter machte die Kritik dieses unproduktiven Stillstandes zu einem Grundpfeiler seines Wahlpro-gramms und versprach, als Präsident Abhilfe zu schaffen. Indem er seine Kampagne hauptsächlich auf die schon von F. D. Roosevelt erfolgreich eingespannte Wahlkoalition der Demokraten des Südens und des industriellen Nordostens, der Gewerkschaften, Minoritäten und Liberalen konzentrierte, gelang ihm der — wenn auch knappe — Wahlsieg. Dabei pochte er immerzu auf seine Unabhängigkeit von der Bürokratie Washingtons und versprach mehr, als er halten konnte. Diese Versprechen wurden schon im März des Wahljahres „traurige Lügen" genannt Es wurde Carter vorgeworfen, daß für ihn Stil vor Substanz komme und die Mittel den Zweck heiligten. Der von Steven Brill vorgenommene Vergleich von Carters Verhalten in den Wahl-kämpfen von 1970 und 1976 versucht diese These zu untermauern.
In seiner 1970 gegen die Städte, Bürokraten und Spezialinteressen gerichteten Kampagne für den Gouverneursposten von Georgia gab sich Carter als konservativer Demokrat und erhielt demgemäß nur 7 °/o der schwarzen Stimmen in der Stichwahl der demokratischen Vorwahlen Er scheute keine Mittel, inklusive der Charakterisierung seines Gegners als „ultraliberal" und „Humphrey-freundlich", während er sich selbst nicht von radikalen Rassisten wie George Wallace und Lester Maddox absetzte, sondern „stolz" war, den letzteren, „der das innerste Wesen der demokratischen Partei" verkörpere, als Kandidat für den Vizegouverneursposten zur Seite zu haben Als Gouverneur setzte Carter jedoch Programme durch, die die Minoritäten Georgias wie nie zuvor förderten. Diese Wandlung Carters interpretierte Brill jedoch nicht als Ausdruck seiner politischen Überzeugung, sondern als politischen Opportunismus. Demnach zielte Carter, der in Georgia 1974 nicht wiedergewählt werden konnte, schon seit spätestens September 1972 auf das Präsidentenamt Nachdem er den Gouverneursposten als konservativer Demokrat gewonnen hatte, benutzte er das neugewonnene Amt, um sich zum Führer des „Neuen Südens", des transformierten, industrialisierten, ja progressiven Sonnengürtels der Vereinigten Staaten zu machen. Es drängt sich die Frage auf, ob Carter eine ähnliche Verschiebung der Prioritäten während seines Präsidentenamtes vornimmt, um seine Wiederwahl 1980 sicherzustellen — diesmal jedoch in umgekehrter Richtung, da er die siegreiche Wahlkoalition von 1976 sowieso nicht befriedigen kann.
Im Wahlkampf mit Ford berief sich Carter auf seine in Georgia gemachten Erfahrungen und versprach, die dort erfolgreich durchgeführ-ten Reformen auf die nationale Bühne xu übertragen. Obwohl sich Carters Behauptungen über das in Georgia Geleistete nach Brills Ansicht bei genauer Hinsicht als, gelinde gesagt, bestreitbar herausgestellt haben, dienten sie als Schablone für den Stil und das Programm des Präsidentschaftskandidaten und, nach der Wahl, des Amtsinhabers So versprach er auch auf nationaler Ebene eine drastische Reduzierung der Bürokratie bei steigender Effizienz, Ausgleichung des Staatshaushalts, Reform des Wohlfahrtswesens und Steuersystems, umwälzende Änderungen im Gesundheitswesen inklusive einer nationalen Krankenversicherung, ein zielstrebiges Umweltschutz-und Energieprogramm, Handwaffenkontrolle, Durchsetzung der Kartellgesetzgebung, Stärkung der Bundesaufsichtsbehörden („regulatory agencies"), Aufhebung der die Gewerkschaften in ihrer Organisationstätigkeit behindernden Gesetzgebung, Nicht-fortsetzung des B-l-Bomber-Programms, Amnestie der Vietnamkriegsdienstverweigerer — immer geschickt die Wünsche bestimmter Gruppen in Rechnung stellend. Die Unbestimmtheit („fuzziness") von Carters Programm wurde weithin kritisiert. Am Wahltag herrschte so viel Verwirrung, daß ihm die im Sommer sicher erscheinende Wahl fast verloren ging.
Carters Wahl des von F. D. Roosevelt gegründeten Kurorts Warm Springs in Georgia als Ausgangspunkt seiner Reise nach Washington sollte den Ton der Carter-Regierung setzen. Wie schwach es jedoch schon am Antrittstag um das Vertrauen in Carters Fähigkeit stand, ein zweites . New Deal" zu schaffen, ergibt sich aus der Reaktion der New Republic, die an Warm Springs als Roosevelts Sterbeort — und nicht Ausgangspunkt seiner Reformen — erinnerte und die Besetzung des Carter-Kabinetts abwertend mit der des Vorbilds verglich Obwohl er sich im Weißen Hause mit engen Freunden aus Georgia umgab und auch Minoritäten und Frauen berücksichtigte, wählte Carter doch für die wichtigsten Kabinettsposten erfahrene und langjährig mit Washington vertraute Staats-diener. Den sich sogleich regenden Befürchtungen, daß sich deshalb in Washington nicht viel ändern werde — „business as usual" —, suchte Carter durch einen entschieden energischen und demonstrativ demokratischen Stil zu begegnen. Angefangen mit dem weithin beachteten Antrittsspaziergang am 20. Januar über die persönlichen Besuche in den Ministerien und „auf dem Lande" bis zur informellen Garderobe und Manier sollte überall der Eindruck frischen Windes erweckt werden. Auch die Ernennung eines konservativen Südstaatlers — Griffin Bell — zum Attorney General wie die des radikalen Schwanen Andrew Young zum UNO-Botschafter diente mehr dem Stil als der Substanz seiner Politik. Er bot den Gegnern beider Männer die Stirn und hoffte, daß ihm sein politischer Mut überall hoch angerechnet würde. Doch schneidet in diesem „Ausgleich* die konservative Seite besser ab: Young hat keinen nachhaltigen Einfluß auf die amerikanische Außenpolitik; diese wird durch das nationale Interesse bestimmt. Bells Gegenwart wirkt sich dagegen täglich auf die Anwendung der Gesetze des Landes aus. Für viele liberale Wähler bleibt die Frage, inwieweit die Befriedigung von Spezialinteressen notwendig und unvermeidbar ist und inwieweit Carters Bereitschaft, die Einhaltung seiner Wahlversprechen zu verschieben oder sogar zu vergessen, eine Besorgnis erregende Labilität oder auch tiefsitzende konservative Instinkte widerspiegelt. Es wird auch befürchtet, daß Carters sorgfältig in die Watte südstaatlichen Charms verpackter „innerer Stahl" zur Durchsetzung verdrehter Prioritäten benutzt werden wird. Nur eine unparteiische Untersuchung der bisher geleisteten Arbeit der Carter-Regierung in Zusammenarbeit oder auch im Konflikt mit dem demokratischen Kongreß läßt vorsichtige Antworten auf diese Fragen zu.
Von Anfang an wurde bezweifelt, ob Carter das Ausmaß der Bürokratie schmälern könne Kaum eine Woche im Amt, versuchte der Präsident, die Abrüstungsgespräche mit der Sowjetunion in Gang zu bringen, ohne dabei den notwendigen Takt zu wahren. Gleichzeitig leitete er seine „Menschenrechtsoffensive" ein — zuversichtlich, daß diese Fragen getrennt erörtert werden können. Gleichzeitig unternahm er auch die ersten Schritte, um den Kongreß von der Durchführbarkeit seiner innenpolitischen Programme zu überzeugen. Hatten Kommentatoren ein Jahr vorher „Jimmy wer" gefragt, so fragten sie nun „Jimmy wie?" 25). Wie sollte Carter die angestrebte Einigung der Nation vornehmen, ohne die verschiedenen im Wahlkampf erweckten Hoffnungen zu enttäuschen? Schon sein erster Akt als Präsident, die Amnestie der Vietnam-kriegsdienstverweigerer, zwang ihn, die Ehrgefühle der Veteranen dieses Krieges und ihrer Angehörigen zu verletzen. Das den Amtsantritt begleitende allgemeine Hochgefühl und der Stil des versöhnenden Landesvaters schwächten die Erbitterung, beseitigten sie aber nicht. Die negative Nachwirkung der Aktion wurde auf das Konto »Offenheit“ des Regimes verbucht. Auf dieses Konto kam auch der Plan, die Kabinettssitzungen der Presse zugänglich zu machen und die Minister nach englischer Sitte periodisch einer Fragestunde im Kongreß zu unterwerfen. Carter mußte schnell lernen, daß derartige kosmetische Reformen sich nicht mit der Realität der amerikanischen Politik verbinden lassen. Auch sein Versuch, die „Kennedy-Mystique" durch die Ernennung von Theodore Sorensen als Chef der Central Intelligence Agency hervorzuzaubern, schlug fehl.
Die ersten Wochen der Carter-Regierung, obwohl hauptsächlich der Pflege des Stils gewidmet, wurden auch zur Einleitung der ersten legislativen Schritte zur Reorganisation der Bundesregierung, zur Einführung eines Energieprogramms und zur Stimulierung der Wirtschaft benutzt. Außenpolitisch setzte Vizepräsident Mondales blitzartige Weltreise den Ton und stellte den Versuch dar, die Bundesgenossen mit den Zielen der Regierung Carter vertraut zu machen. Doch schon vor Ablauf eines Monats bewölkte sich der Himmel über dem Parlament. Carter mußte einige Fehler in seiner Haltung dem Kongreß gegenüber zugeben und Besserung versprechen. Dabei handelte es sich nicht nur um Formfehler, sondern um tiefliegende politische Streitfragen. Der Korrespondent der New York Times sah richtig voraus, daß Carter den Kongreß sozialpolitisch wahrscheinlich um weniger bitten würde, als die Mehrzahl seiner Mitglieder zu geben bereit sind, während das Verhältnis außenpolitisch umgekehrt aussehen dürfte Auf die Alternative hinweisend, die ihm im Falle einer Nichterfüllung seiner Forderungen zur Verfügung stehe, nämlich sich direkt ans Volk zu wenden, versuchte Carter von Anfang an, den Kongreß zur Durchführung seiner Politik zu zwingen; die herkömmliche Abstimmung von gegenseitig annehmbaren Pro-grammen durch Kompromisse schien ihm anfangs nicht zu liegen.
Zweifellos gelang es Carter mit seiner Schlichtheit, eine neue Stimmung in Washington und auch in der Weite des Landes zu schaffen Doch befriedigte der Umfang der von ihm vorgelegten sozialpolitischen Programme die meisten seiner Wähler nicht. Carters Bemühen, seinen „Langsamgang“ auf diesem Gebiet durch energische Betreibung außenpolitischer Initiativen auszugleichen, wogen dies Zukurzkommen nicht auf. So sah die politische Bilanz nach 80 Tagen im Amt letztlich unbefriedigend aus. James Reston, der erfahrene Kommentator der New York Times, betrachtete Carters Rezept „nett zu jedermann, doch abhängig von niemand" zwar als das zum politischen Erfolg in Amerika sicherste, doch überraschte ihn des Präsidenten gleichzeitige Herausforderung aller gültigen Bedingungen der Innenpolitik, ja sogar der Weltpolitik Demnach bestehen für Carter zwischen Republikanern und Demokraten, Liberalen und Konservativen, der kommunistischen und der kapitalistischen Welt, den reichen industriellen Nationen des Nordens und den armen agrarischen Nationen des Südens keine unvermeidbaren Konflikte Carters Zuversicht, das Vertrauen der sich widersprechenden Interessen gewinnen zu können, wird durch die bisherige Entwicklung in Zweifel gezogen; vielmehr mußte er lernen, daß nicht einmal der Verlust von Vertrauen auf der einen Seite, wie z. B.der Gewerkschaften, notwendigerweise einen Zuwachs auf der anderen, z. B.der Geschäftswelt, mit sich bringt.
Als Carters Führung nach hundert Tagen mit dem von ihm nachgeeiferten Vorbild der „First Hundred Days“ von F. D. Roosevelt verglichen wurde, fiel der Vergleich nicht schmeichelnd aus Doch konnte er sich mit der 16 Jahre vorher für John F. Kennedy noch schlechter ausfallenden Zensur trösten: Der hatte nach hundert Tagen nur das Schweinebucht-Fiasko aufzuweisen Daß Carters Betonung des Stils über die Substanz nicht Zufall, sondern Mittelpunkt einer groß-angelegten Vorbereitung auf die Wiederwahl 1980 ist, wurde durch die Veröffentlichung des Carter im Dezember unterbreiteten Patrick-Caddell-Memorandums verdeutlicht, welches den politischen Stil zum Allheilmittel erhob und die rechtzeitige Entlarvung und Abschätzung möglicher politischer Feinde im eigenen Lager (E. Kennedy, McGovern, Udall, Jerry Brown) nahelegte Anfang Mai 1977 ging der „honeymoon" der Regierung Carter zu Ende: Das linksliberale Lager der Demokratischen Partei unter Senator McGovern ging zum Angriff auf das sozialpolitische und wirtschaftliche Programm des Präsidenten über. Am 12. Mai setzte sich der Präsident auf einer Pressekonferenz mit seinen Kritikern auseinander. Die Betonung des Stils sei notwendig, meinte er, um seine politische Basis zu erweitern, da diese ja bekanntlich nur zu einer Mehrheit von ein paar Millionen Stimmen gereicht habe; ein Stil, der Offenheit und die ehrliche Zugabe von Fehlern einschließe, sei außerdem ein Mittel, um das zur Führung der Nation unerläßliche Vertrauen des Volkes zu gewinnen. Dieser „nicht künstliche" Stil gehöre zur seiner Politik Substanz und werde gute Resultate bringen. Dabei mache er sich weder über die Kritik der oft unzufriedenen Liberalen noch über seine Unfähigkeit, die Gewerkschaften bislang zu befriedigen, unnötige Sorgen.
Gerade von seiner Europareise zurückgekehrt, die ihm eine gute Presse gebracht hatte, gab sich Carter mit unverwüstlichem Optimismus und schien entschlossen, den eingeschlagenen Weg fortzusetzen Die Weigerung Carters, den politischen Realitäten Rechnung zu tragen, brachte ihn Ende Mai auf Kollisionskurs mit dem Kongreß. Während die Presse und Kritiker wie McGovern und Gerald Ford die Diskrepanz in der Planung und Ausführung seiner Programme kritisierten, lasen ihm die in der Öffentlichkeit re-spektvoll gegenübertretenden demokratischen Führer des Kongresses privat die Leviten Obwohl die Demokraten einen offenen Streit vermeiden wollten, zeigten sie sich in entscheidenden Dingen recht unnachgiebig. Der demokratische Kongreß bestand auf Ausgaben, die vom Präsidenten als inflationistisch angesehen wurden und ihn zur Vetoandrohung veranlaßten Ausschußabstimmungen, die das Energieprogramm des Präsidenten in Frage stellten, führten zu bitteren gegenseitigen Beschuldigungen überraschend war hier nicht nur, daß sich der Kongreß dem Präsidenten widersetzte, sondern daß sich zu diesem Zweck Politiker zusammentaten, die gewöhnlich nicht miteinander auskommen. Carters Unerfahrenheit in Washington und seine bewußte Herausforderung politischer Konventionen schien ihn eine verläßliche Mehrheit im Kongreß gekostet zu haben
sein Streit den Demokraten im Obwohl mit Kongreß hauptsächlich durch seine unerwartet konservative Wirtschaftsund Finanzpolitik verursacht wurde, stand ihm Geschäftswelt nach wie vor mißtrauisch gegenüber Trotz aller Bemühungen gelang es dem Präsidenten bislang nicht, Wall Street von der Ernsthaftigkeit seiner antiinflationistischen Wirtschaftspolitik zu überzeugen. Carter weiß, wie wichtig das Vertrauen des Unternehmertums für die Finanzierung aller kostspieligen Programme ist, da ohne das Vertrauen der Investoren das notwendige Steueraufkommen vorhanden einfach nicht sein wird. Daher versuchte er seine verschwenderischen demokratischen Parteigenossen im Kongreß durch die Androhung des Vetos in Schach zu halten, während er gleichzeitig seine Machtstellung benutzte, die von McGovern 1972 vor den Kopf gestoßene Geschäftswelt von der Nützlichkeit einer Zu-sammenarbeit mit den Demokraten zu überzeugen
Da der Präsident und die Demokraten im Kongreß in künftigen Wahlen zusammen der Kritik der Opposition ausgesetzt sind — zum ersten Male seit langen Jahren können die Republikaner ihr Feuer auf beide richten—, bahnte sich Anfang Juni ein Kompromiß zwischen Carter und seinen Parteigenossen an Doch erledigt sich damit das grundsätzliche Problem Carters mit dem verfassungsmäßig und — nach Nixon — auch politisch unabhängig gesinnten amerikanischen Kongreß nicht. Da Carter keine ideologische Richtung vertritt, steht ihm im Kongreß auch kein verläßlicher ideologischer Block zur Verfügung Carters ideologische Ungebundenheit sollte jedoch nicht als Ziellosigkeit verstanden werden; vielmehr scheint ihr der zielstrebige Bau einer neuen Koalition zugrunde zu liegen. Die genauen Umrisse des Carterschen Schemas sind noch unbekannt, über den Erfolg oder den Fehlschlag seiner politischen Pläne wird sich erst in einigen Jahren urteilen lassen. Doch deutet sich die Richtung der neuen Politik in den Einzelheiten des legislativen Programms der Regierung Carter an. Diese können jedoch nur im Rahmen des legislativen Bereichs erörtert werden. Wie sieht der „neue" Kongreß, der 95.der amerikanischen Geschichte, aus?
Die Arena der Gesetzgebung: der „neue" Kongreß
Für den Zyniker gibt es am „Capitol Hill“ Washington nie etwas wirklich Neues; zwar zeigen sich neue Gesichter, doch am System ändert sich nicht viel, da die wichtigen Posten von langjährig ansässigen und erfahrenen Politikern innegehalten werden. Diese Politiker gestalten mit Hilfe der ebenso auf Seniorität bedachten Bürokraten des „Civil Service" und der Veteranen des sehr empfindlichen Pressekorps die „Landschaft“ Washingtons und sind weder von einem neuen Präsidenten noch von seinen Ministern und Helfern sehr beeindruckt: Sie haben schon zu viele kommen und gehen gesehen. Daran wurde Präsident Carter erst vor kurzem deutlich erinnert Langjähriger Aufenthalt in Washington rüstet besonders die Mitglieder des Kongresses mit allerlei Vorteilen aus Traditionsgemäß fällt den „incumbents" (Amtsinhabern) die Wiederwahl leicht. Dies war 1976 besonders im Repräsentantenhaus der Fall, da nur 13 von Hunderten der sich einer Wiederwahl stellenden Repräsentanten geschlagen wurden, während diesmal überraschenderweise ein Drittel der ihre Wiederwahl suchenden Senatoren von Neuankömmlingen aus ihren Posten verdrängt wurden In der Regel setzen sich also neue Richtungen im Kongreß nur langsam durch. Wenn sich auch dieses dampfwalzenartige Kontinuum der legislativen Maschinerie nicht abstreiten läßt — ja, wenn sich darin sogar eine gewisse verfassungsmäßig geplante Bremse gegen unüberlegte Neuerungen abzeichnet —, so ist ein schon vom 94. Kongreß angefachter, nun mit größerer Stärke vom „Capitol Hill" wehender frischer Wind zu spüren. Neues und Altes im Kongreß soll hier kurz skizziert werden.
Da die 67 neuen Mitglieder des Repräsentantenhauses und die 18 neuen Senatoren jünger sind als die ausgeschiedenen, verschob sich das Durchschnittsalter des Kongresses weiter nach unten von 51 auf 48 Jahre Jünger, unabhängiger und auf der demokratischen Seite nach der Wahl eines Präsidenten der eigenen Partei mit einem gewissen Sendungsbewußtsein versehen, macht sich der 95. Kongreß an die Arbeit, neue Führer zu wählen und die Ausschüsse zu besetzen. Der Sieg des verhältnismäßig konservativen Senators Robert C. Byrd über den liberalen Recken Hubert Humphrey, der in letzter Minute aufgab, verweist auf den praktischen politischen Sinn der Senatoren und die dort zu erwartende Politik. Die wie erwartet ausgefallene Wahl von Thomas P. O'Neill als Sprecher des Repräsentantenhauses führte einen Mann an die Spitze, der die Tradition ehrt: O’Neill lebt nach dem Motto „if you want to get along, go along“ („mitkommen heißt mitmachen")
Gleichzeitig wurden aber auch Pläne für interne Reformen gemacht und neue, straffere Verhaltensmaßregeln („ethics Codes") für die Mitglieder getroffen: Die Nachwehen der Watergate-Affäre, die Präsident Carter zum Erlaß strenger Verhaltensmaßregeln für die Angestellten der Exekutive veranlaßten, und die große Anzahl der in den letzten Jahren krimineller Vergehen angeschuldigten Mitglieder des Kongresses ließen auch hier die Einführung und Überwachung von ethischen Maximen als dringend notwendig erscheinen Das Mißtrauen der Öffentlichkeit hat jedoch Ausmaße erreicht, die eine Minderung durch die vorgesehenen Maßnahmen kaum erwarten läßt. Die Durchsetzung einer 29prozentigen Diätenerhöhung kurz nach Jahresbeginn und ihre Bestätigung durch das Repräsentanten-haus nach vielerlei politischen Manövern half hier nicht, obwohl die neuen „ethics Codes“ das Einkommen der Mitglieder des Kongresses aus anderen Quellen stark beschränkt haben
Der neue „Ethics Code“ des Repräsentanten-hauses wurde am 2. März 1977 mit überwältigender Mehrheit angenommen. Seine Bedingungen begrenzen nicht nur das über die Diäten hinausgehende Einkommen auf 15 Prozent der Diäten, sondern führte auch weitere strenge Regeln über die Veröffentlichung der persönlichen Finanzen der Mitglieder und ihrer Angehörigen, etwaige Interessenkonflikte usw. ein Der Senat folgte am 1. April mit einem ähnlichen „Ethics Code“, ging jedoch hinsichtlich des persönlichen Verhaltens der Senatoren noch über die vom Haus erlassenen Vorschriften hinaus Obwohl erfahrene Beobachter der Szene auch von diesen Regeln keine Wunder erwarten, dürfte der klare Wortlaut der von beiden Kammern erlassenen Verhaltensmaßregeln zur „Sanierung“ der durch Watergate und weitere — beide Parteien betreffende — Enthüllungen angeschlagenen amerikanischen Politik beitragen.
Die schon 1974 begonnene und 1977 fortgesetzte Reorganisation der Ausschüsse erleichtert es neugewählten Kongreßmitgliedern, Ausschußposten zu erhalten und sich wirkungsvoller für ihre Wähler einzusetzen; gleichzeitig verschob sich das „Gleichgewicht der Kräfte" „Es ist einer kleinen Anzahl von . Senioren'nicht länger möglich, im Namen ihrer Kollegen geheime Verabredungen zu treffen, noch können Ausschußvorsitzende es sich erlauben, ausgedehnte Ferien zu machen, anstatt ihnen nicht schmackhafte Gesetze zur Beratung vorzulegen."
Wahlreformgesetzgebung
Die Machtstellung der „Senioren“ beruht auf ihrer Fähigkeit, die Finanzierung ihrer Wiederwahl immer wieder mit Hilfe von Interessengruppen sicherzustellen. Die größere Unabhängigkeit der jüngeren Mitglieder des Kongresses von der Führerschaft muß deshalb auch im Zusammenhang mit der Wahlreformgesetzgebung erörtert werden. Urft ihre Wiederwahl ohne Abhängigkeit von Privatspenden sicherstellen zu können, müssen die auf ihre Unabhängigkeit bedachten Kongreßmitglieder die Finanzierung der Kongreßwahlen durch öffentliche Gelder erreichen. Die 1976 zum ersten Male durchgeführte öffentliche Finanzierung der Präsidentschaftswahlen hat sich bewährt. Die zur Zeit dieser Reform vorgeschlagene öffentlich? Wahlkampffinanzie-rung für alle Bundesämter stößt jedoch auf Widerstand. Den Befürwortern der öffentlichen Finanzierung von Kongreßwahlen, die auf den Druck, der Interessengruppen hinweisen, antworten die Gegner, indem sie die durch diese Reform erwartete „Bereinigung“ der Politik, als eine Illusion bezeichnen
Präsident Carter schloß die öffentliche Finanzierung von Kongreßwahlen in sein am 22. März vorgelegtes Wahlreformprogramm ein, welches außerdem die Vereinfachung des Registrierungsverfahrens für Bundeswahlen („sameday registration"), Direktwahl des Präsidenten, die Erlaubnis für Bundesangestellte, am Wahlkampf teilzunehmen, und Modifizierung der Finanzierung der Präsidentschaftswahlen vorschlug Trotz hartnäckigen Widerstandes machte das die öffentliche Finanzierung der Kongreßwahlen betreffende Gesetz im Senat anfangs gute Fortschritte, und auch im Repräsentantenhaus wurden keine unüberwindlichen Schwierigkeiten erwartet. Inzwischen hat sich das Tempo des Fortschritts jedoch verlangsamt, und es fragt sich, ob diese Reform noch bis zur nächsten Kongreßwahl im Jahre 1978 durchgesetzt werden kann
Eine Vereinfachung des Wahlregistrierungsverfahrens würde besonders den von den Demokraten angesprochenen Bevölkerungsschichten zugute kommen. Deshalb sind für die Annahme dieser Reform schwere Kämpfe mit den Republikanern zu erwarten Da jedoch kein Politiker sich öffentlich gegen die Steigerung der in Amerika ohnehin erschreckend niedrigen Wahlbeteiligung aussprechen kann, erheben die Gegner der Vereinfachung des Re-gistrierungsverfahrens andere Einwände, wie z. B. die Möglichkeit der Wahlfälschung. Doch haben die Befürworter der Maßnahme auch dafür Antworten bereit
Präsident Carter hat ein persönliches Interesse an der Abschaffung der Wahlmännerkollegien und der Einführung der Direktwahl des Präsidenten, da das indirekte System ihn trotz einer Stimmenmehrheit von zwei Millionen fast die Wahl gekostet hätte. Das Wahlmännerkollegium wurde in die Verfassung eingebaut, um „Amerika von den einfachen Leuten zu retten" Dieses System schreibt dem Gewinner der Mehrheitsstimmen eines Einzel-staates die Gesamtzahl der Wahlmänner dieses Staates zu, so daß die richtige Kombination von Einzelstaaten den Sieg eines in der Gesamtstimmenzahl unterlegenen Präsidentschaftskandidaten bedeuten kann. Doch weisen die Gegner der Abschaffung darauf hin, daß dieses System auf der anderen Seite den mit hauchdünnen Mehrheiten gewählten Präsidenten oft psychologisch wichtige solide Mehrheiten im Wahlmännerkollegium verschafft und sich auch sonst im Laufe der amerikanischen Geschichte im allgemeinen bewährt habe Dieser Teil des Wahlreformprogramms kommt im Kongreß nur langsam vorwärts und die Durchsetzung des notwendigen Verfassungszusatzes vor 1980 ist fraglich
Die „Emanzipation" der Angestellten des öffentlichen Dienstes stellt ebenfalls ein politisch brisantes Thema dar. Die Anzahl der Bürger, die durch den „Hatch Act“ von 1939 weder kandidieren noch sich am Wahlkampf beteiligen dürfen, hat sich seitdem von 950 000 auf 2, 8 Millionen erhöht Da diese Staats-diener fast durchgehend gewerkschaftlich organisiert sind, erwarten sich die Demokraten von ihrer Beteiligung am Wahlkampf große Vorteile, vom Interesse der „Labor Lobby“ ganz zu schweigen. Die Opposition zu dieser Maßnahme beschränkt sich nicht nur auf die erwartungsgemäß erbitterten Republikaner, sondern sie erstreckt sich auch auf viele andere, die „Druck von oben“ und unlautere Parteinahme von Mitgliedern des öffentlichen Dienstes befürchten 64). Das klare Votum des Repräsentantenhauses für die Abschaffung des „Hatch Act“ am 7. Juni (244 : 164) wird allgemein als ein Sieg der Gewerkschaften gewertet 65). Zwar dürfte dieser Teil von Carters Programm im Senat auf größere Schwierigkeiten stoßen, doch sind die Aussichten auf endgültige Verabschiedung nicht hoffnungslos 66). Die von Präsident Carter vorgeschlagene Modifizierung der öffentlichen Finanzierung der Präsidentschaftswahlen, die eine größere Beteiligung der Einzelwähler am Wahlkampf ermöglichen soll und die Erhöhung der den Kandidaten zukommenden Beträge vorsieht, ist weniger kontrovers.
Lobbygesetzgebung und Ämterpatronage
Obwohl sich das Ausmaß und die Wirkung dieser Wahlreformgesetzgebung auf den Kongreß noch nicht abschätzen läßt, dürfte sie zur Erneuerung des Kongresses beitragen. Doch enthalten die von Carter vorgeschlagenen Reformen auch „realpolitische“ Elemente, die nach Parteipolitik krassester Art schmekken und von der Bürgerlobby „Common Cau-se" heftig bekämpft werden. Der „alte“ Kongreß regt sich auch im Kampf um die Lobby-Gesetzgebung und im Streit um Carters Behandlung der Ämterpatronage. Beim Streit um die Lobby-Gesetzgebung handelt es sich nicht nur um die Bekanntgabe der Identität und die Kontrolle der im Kongreß tätigen Lobbyisten, sondern auch um die Ausdehnung des Gesetzes auf die Exekutive, wo die Ausgabe von außerordentlichen Summen durch unkontrollierte Lobbies beeinflußt wird Der schleppende Fortgang dieses Gesetzes macht den Einfluß der Lobbies auf die sie selbst betreffenden Vorlagen deutlich. Die Sache kompliziert sich, da nicht nur die Lobbies von Spezialinteressen, sondern auch die das öffentliche Interesse vertretenden Organisationen wie „Common Cause“, die „American Civil Liberties Union“, der „Sierra Club“ usw. als Lobbies eingestuft werden und durch das Gesetz in ihrer Arbeit behindert werden würden. Der Konflikt von „neu" und „alt“ im amerikanischen Kongreß offenbart sich besonders in der langwierigen und „skandalgeladenen“ Untersuchung der Korea-Lobby. Kongreß-Neulinge beschweren sich, daß die Erhebungen zu langsam durchgeführt werden; ihnen scheint die Sache das Licht der Öffentlichkeit zu scheuen, da prominente Kongreßmitglieder beider Parteien mit dem immer breitere Kreise ziehenden Skandal in Verbindung gebracht werden Daher geht die Carter-Regierung hier vorsichtig vor; das Endresultat läßt sich noch nicht ablesen Carters Behandlung der Ämterpatronage hat unter den siegreichen Demokraten viel Unwillen hervorgerufen Die Kongreßmitglieder der siegreichen Partei beklagen sich, weil „ihr" Präsident ihre Ersuchen ignoriert. Ohne die Möglichkeit, einflußreiche Gruppen ihrer Heimatstaaten auf sich zu verpflichten, verliert die Politik für viele ihren Sinn, da so ihre Wiederwahl in Frage gestellt ist. So mußte Carter sich einige Lektionen die traditionelle Einflußpolitik erteilen lassen, da der im Kongreß erregte Unwillen seine eigenen legislativen Programme, gefährdete. Die im Kongreß zirkulierenden „Schreckensgeschichten" über die unempfängliche Haltung der Carter-Regierung zermürbte die ohnehin lokkere Parteidisziplin, so daß die demokratischen Parteimitglieder zunehmend ihren eigenen Weg gehen
Ein Beispiel hartnäckiger Patronatspolitik gab der Senat kürzlich selber, als er nach vierjährigem Verzug ein Gesetz zur Schaffung von 148 neuen Bundesrichterstellen verabschiedete, welches es dem demokratischen Präsidenten ermöglichte, sie mit demokratischen Kandidaten zu besetzen. Obwohl Präsident Carter während des Wahlkampfes versprochen hatte, daß für die Ernennung die Qualifikation und Verdienste des Kandidaten ausschlaggebend sein würden, scheint er diesem Prinzip nur im Falle der Besetzung der 35 neuen Appellationsrichterstellen folgen zu wollen; die restlichen 113 Bezirksrichterstellen werden damit zu Pfründen der zuständigen Senatoren
Der „neue“ 95. Kongreß ist also durch eine Mischung von reformerischen Impulsen und hartnäckiger Traditionsgebundenheit gekennzeichnet, die sich in internen Streitigkeiten und einem größeren Verlangen nach Unabhängigkeitausdrückt. Dieser Unabhängigkeitsdrang beschränkt sich nicht nur auf die Neulinge. Vielmehr stellt er eine allgemeine Charakteristik dar, die Präsident Carter mehr politischen Takt, als er bisher gezeigt hat, abverlangt. Da sich die Vertretung unabhängiger Ansichten von Seiten der Kongreßmitglieder auch auf die Außenpolitik erstreckt, wird auch auf diesem Gebiet das Verhältnis der Regierungsgewalten zueinander noch weiter kompliziert Bisher verfolgte Carter in seiner Kongreßpolitik einen Wechselkurs. Nach Mahnungen der demokratischen Führer scheint er kompromißbereiter zu werden. Doch dann scheut er sich wiederum nicht, in der B-l-Bom-berfrage den Fehdehandschuh in die Arena zu werfen. Einzelfälle von Kompromiß und Konfrontation sollen im Anschluß an die Untersuchung der fast allen Fragen zugrunde liegenden Finanzpolitik Carters behandelt werden.
Carter, der Kongreß und der Staatshaushalt
Präsident Carter scheint nach wie vor fest entschlossen, den Staatshaushalt bis 1981 auszugleichen. Die Verwirklichung dieses Plans vertraute er seinem Freund Bert Lance, Bankier aus Georgia, an, den er zum Direktor des „Office of Management and Budget" der Bundesregierung machte. Bis 1974 war der Kongreß auf die von diesem Büro zur Verfügung gestellten Ziffern angewiesen, um seine Entscheidung über den Staatshaushalt zu treffen. Obwohl die Verfassung amerikanische die Regulierung der Staatsausgaben fest in die Zuständigkeit des Kongresses legt, standen ihm Mittel, den Vorschlägen die notwendigen der Exekutive mit einem umfassenden eigenen Programm zu begegnen, nicht zur Verfügung. Gegenvorschläge zu Einzelposten des von der Regierung vorgelegten Staatshaushalts wurden von den zuständigen Ausschüssen erarbeitet, doch fehlte eben ein zentrales Planungsamt. Dies wurde 1974 durch die Schaffung des „Congressional Budget Of7 fice“ geändert, das unter die Aufsicht von gleichzeitig geschaffenen Haushaltsausschüssen des Kongresses gestellt wurde. Dieses Büro versieht die Mitglieder des Kongresses mit Informationen, die ihnen eine unabhängige Urteilsbildung und die Ergreifung von Initiativen in Haushaltsfragen erleichtern.
Der Etat für das Haushaltsjahr 1978 wurde noch von Präsident Ford vorgelegt, man erwartete, daß sein Nachfolger von seinem Recht, Änderungen vorzunehmen, ausgiebig Gebrauch würde. Ausgaben, als machen „Höhere sein Vorgänger gewünscht hatte, besonders auf dem Gebiet der Sozialfürsorge“, wurden von der New York Times vorhergesagt Doch regten sich schon jetzt Zweifel, ob Carter seinen Plan der Ausgleichung des Bundeshaushalts innerhalb von vier Jahren mit der Durchführung der von ihm versprochenen Programme vereinbaren könne. Carters Berater erhofften, durch die Einführung der „zero-base" -Etatpla-nung für 1979 und die weiteren Jahre Einsparungen zu ermöglichen, die bei zufriedenstellendem wirtschaftlichem Wachstum zur Erreichung des versprochenen Ziels führen würden Der von Carter vorgelegte abgeänderte Staatshaushalt für 1978 belief sich auf 19, 4 Milliarden Dollar mehr als der von Ford geplante, wobei Mehrausgaben besonders für Arbeitsplatzbeschaffung und Wirtschaftsstimulierung, aber nicht für größere neue Sozialprogramme vorgesehen waren Das Fehlen von neuen Sozialprogrammen läßt sich nicht auf Zeitdruck und die schon stattgefundene Festlegung der Ausgaben erklären, da auch für das zweite fiskalische Jahr der Carter-Regierung Gelder für solche neuen Programme nicht bereitgestellt worden sind Der Präsident wertet die Inflationsfurcht der Bevölkerung höher als den Wunsch nach Verwirklichung neuer, durch Defizite finanzierter Programme. Während Carter gleich nach seinem Amtsantritt einen allgemeinen Steuerrabatt von 50 Dollar pro Steuerzahler verlangt hatte, um die Wirtschaft zu stimulieren, ließ er sich diesen Plan bald ausreden, da er die Über-zeugung gewann, daß sich die Wirtschaft auch ohne den Nachlaß erhole Der am 16. Mai 1977 verabschiedete vorläufige Etat für 1978 liegt um 1, 2 Milliarden Dollar höher als Carters Vorlage, wobei die Steigerung von Seiten des Kongresses zumeist zugunsten der militärischen Ausgaben stattfand. Ob der Vorteil der unabhängigen kongressionellen Gesamtübersicht des Etats die strukturellen und politischen Nachteile des Systems auf die Dauer aufwiegen wird — der Einfluß der einzelnen für die Ausgaben zuständigen Ausschüsse und ihrer Vorsitzenden wurde vermindert—, muß sich noch zeigen. Jedenfalls steht schön fest, daß die Termin-und Kompetenzkonflikte, die die unabhängige Gesamthaushaltsplanung des Kongresses mit sich bringt, eine Belastung darstellt, die zu weiteren Änderungen des Systems führen kann
Nach sechsmonatiger Amtszeit scheint Carters Entschlossenheit, den Etat bis 1981 auszugleichen -— allen Zweiflern zum Trotz —, nicht nur unerschütteft, sondern sogar intensiver zu sein Da die Carter-Regierung gezwungen war, das Defizit für 1978 um 13 Milliarden Dollar über den von Ford projektierten Stand hinaus zu 'erhöhen, und da diese Tatsache die Geschäftswelt, besonders die Börse, stark beunruhigt hat, wird das folgende Haushaltsjahr als kritisches Testjahr der Carterschen Etatpolitik betrachtet Carter ist sich der ihm bevorstehenden Prüfung bewußt. Die von allen Abteilungen der Bundesregierung verlangte „zero-base" -Etatplanung stört die Bürokratie und stößt auf heftige Kritik
Der zweite Grundpfeiler der Carterschen Finanzpolitik ist die Steuerreform. „Unsere Steuerstruktur ist eine Schande und muß reformiert werden”, entschied Jiinmy Carter im Schlußwort seiner dritten Fernsehdebatte mit Präsident Ford am 22. Oktober 1976 in Williamsburg Steuerreform ist schon lange ein beliebtes Schlagwort der amerikanischen Politik. Steuerreduzierung und Vereinfachung des Systems sprechen den Wähler an, doch stehen der Durchführung ohne Verlust von Regierungseinkommen große Schwierigkeiten entgegen. Schon am 23. Mai 1977 wurde der erste Teil von Carters Steuerreformprogramm, der „Tax Reduction and Simplification Act of 1977" verabschiedet. Im Laufe von 28 Monaten soll sich die vorgesehene Steuerermäßigung auf 34, 2 Milliarden Dollar belaufen, die besonders Steuerzahlern mit niedrigem und mittlerem Einkommen zugute kommen soll. Gleichzeitig vereinfacht das Gesetz die Steuererklärung für die Mehrzahl der Steuerzahler. Gegen Carters Willen setzte der Kongreß gleichzeitig eine Steuerbegünstigung für Unternehmer durch, die neue Arbeitskräfte einstellen. Fernerhin wurde wirtschaftlich notleidenden Einzelstaaten und Städten Hilfe gewährt
Carter betrachtete die Verabschiedung dieses Gesetzes nur als den ersten Schritt auf dem Weg zu der versprochenen grundlegenden Reform des Steuersystems. Durch die verhältnismäßig schnelle Bewältigung des ersten Schrittes ermutigt, entschloß sich der Präsident, den Fahrplan für die Abfertigung des weiteren Steuerreformprogramms vorzuverlegen. Es wird angenommen, daß Carters Entschluß, die Generalüberholung des Steuersystems schon so kurz nach seinem Amtsantritt anzuschneiden, mit der Notwendigkeit, die zur Energieeinsparung unvermeidbaren Sondersteuern baldmöglichst durch den Kongreß zu schleusen, zusammenhängt Sollte es möglich sein, die von den Unternehmern gewünschten Steuererleichterungen — wie z. B.
die Abschaffung der zweifachen Besteuerung der Dividenden — durchzusetzen und so das Vertrauen der Geschäftswelt zu gewinnen, werden die steuerpolitischen Sparmaßnahmen auf dem Energiesektor, so heißt es, auf weniger Widerstand treffen Reduzierung der Unternehmersteuern stellt für die Liberalen im Kongreß ein äußerst brisantes Thema dar, da sie um die Fundierung der ohnehin nicht ausreichenden Sozialprogramme besorgt sind.
Obwohl Präsident Carter noch auf seiner Pressekonferenz vom 11. Mai 1977 seiner Hoffnung Ausdruck gab, die Reduzierung des Staatseinkommens durch Steuerermäßigungen zu vermeiden, schien er sich bereits einen Monat später damit abzufinden, seine Berater sagten einen Ausgleich der Verluste durch die zu erwartenden erhöhten Investierungen der Geschäftswelt voraus
Der Secretary of the Treasury, W. Michael Blumenthal, stellte drei Ziele der Steuerreformen Carters heraus: „Größere Gerechtigkeit, Vereinfachung des Systems, größerer Anreiz zur Kapitalbildung.“ Die Unternehmer machen sich Sorgen über Pläne des „Treasury Department", wonach die auf einem Gebiet erlittenen Verluste auf einem anderen wieder ausgeglichen werden sollen; die Regierung stellt jedoch derartige Pläne in Abrede Die Gewerkschaften stellten bald fest, daß sich auch nach Fords Weggang in Washington nicht viel geändert hatte. Nach Ansicht von Gewerkschaftsführern „hofiert“ Carter den „busi-nessman" und findet sich mit hohen Arbeitslosenzahlen ab. George Meany, der langjährige Präsident der „American Federation of Labor", kommentierte, daß Fords Wirtschaftsberater Alan Greenspan nach wie vor, aber unter dem neuen Namen von Charlie Schultze (Carters Chef des „Council of Economic Advisors"), in Washington die Festung halte Kritisierten die Gewerkschaften Carters Steuerprogramm schon vor Verabschiedung des „Tax Reduction and Simplification Act" im Mai, so sahen sie auch in seinen Einzelheiten und den weiteren Plänen keinen Grund für mehr Optimismus Auch um die nicht mit der Steuerreform zusammenhängenden legislativen Prioritäten der Gewerkschaften sah es zeitweise sehr schlecht aus. Doch bahnen sich in letzter Zeit einige Kompromisse an
Carters eigentlich konservatives Steuerprogramm, der Grundstein seiner Wirtschaftspolitik, beruht auf seiner philosophischen Einstellung und auch auf neugewonnenen Einsichten über die Realität der Kongreß-Politik.
Die immer noch recht mächtigen Vorsitzenden der entscheidenden Ausschüsse, Senator Long („Senate Finance Committee“) und der Abgeordnete Ullmann („House Ways and Means Committee"), sind seine Lehrmeister Aus politischen Gründen wurde den Beziehern von mittleren Einkommen eine Ermäßigung der Steuern in Aussicht gestellt Doch sieht es um eine Bereinigung des Mißverhältnisses von Ausgaben und Einkommen durch die Steuerreform bisher noch recht zweifelhaft aus.
Carter und die „pork-barrel" -Gesetzgebung
Die „pork barrel“ -Gesetzgebung, die Verabschiedung von Gesetzen, die bestimmten Bundesstaaten Vorteile bringen, stellt einen wichtigen Bestandteil der traditionellen amerikanischen Politik dar. Diese Praxis erstreckt sich über alle Ebenen der amerikanischen Politik. Im Kongreß handelt es sich meistens um Projekte, die die Ausgabe von Bundesgeldern zugunsten einzelstaatlicher Bedürfnisse betreffen. Doch erreichen einige dieser Vorhaben Ausmaße, die weit über die Interessen einzelner Staaten hinausgehen und das wirtschaftliche Wohlergehen des ganzen Landes, ja sogar die nationale Sicherheit betreffen. Hier sollen nur zwei hervorragende Beispiele erörtert werden. Gleich zu Anfang seiner Amtszeit mußte sich Präsident Carter mit der Finanzierung einer Anzahl von Wasserbauvorhaben befassen, deren Fertigstellung zahlreichen Kongreßmitgliedern aus verschiedenen Staaten dringend am Herzen lag. Gegen die Fertigstellung dieser Vorhaben lagen etatmäßige und umweltschutzbedingte Bedenken vor. Die Teton-Staudammkatastrophe, der im vergangenen Jahr elf Menschen zum Opfer fielen und Präsident Carters eigene Erfahrungen mit unnötigen Staudämmen in Georgia bestärken seine Opposition Statt sich der sogleich lautstark vorgetragenen Einwände des Kongresses gegen die von ihm vorgeschlagenen Sparmaß-nahmen zu beugen, ging Carter zum Angriff über und erhöhte die Anzahl der in Frage gestellten Projekte von 19 auf 30. Damit hob ein geradezu klassischer Konflikt an, der eventuell durch einen Kompromiß beendet werden sollte. Präsident Carter benutzte die Gelegenheit, als umweltschutzbedachter und von der Washingtoner Kamarilla unabhängiger Präsident zu erscheinen, während die Kongreßmitglieder sich unverblümt für die Interessen ihres Heimatstaates einsetzten. Auf Carters Vetoandrohung antwortete der Sprecher des Repräsentantenhauses, O'Neill, daß Carter die Unterstützung des Kongresses benötige und daß weder Kennedy noch Johnson die Veto-waffe gegen einen demokratischen Kongreß benutzt hätten, und daß der Kongreß das Veto eines demokratischen Präsidenten selbst nur äußerst ungern überstimmt sähe Trotz O’Neills Rat an alle, die Konfrontierung zu vermeiden und das bisher in Zusammenarbeit Geschaffene zu schätzen, spitze sich die Lage immer mehr zu Als sich herausstellte, daß in der Gesetzesvorlage Staatsgelder für 53 weitere Projekte vorgesehen waren, die die Steuerzahler in künftigen Haushaltsjahren weitere 5 Milliarden US-Dollar kosten konnten, schien der Zusammenstoß unvermeidlich Zwar verlor Carter die entscheidende Abstimmung im Haus (194 : 218), doch konnte er die Niederlage als einen Sieg betrachten, da die Befürworter der Wasserbauvorhaben die Zweidrittelmehrheit zur Uberstimmung seines Vetos nicht erreich-ten Der Senat lernte schnell, besonders da durchsickerte, daß die jetzt zurückgestellten Vorhaben zu einem späteren Zeitpunkt wieder eingebracht werden können Obwohl der die Gesetzgebung im Senat vorwärts-treibende Senator John C. Stennis einen „Handel" mit dem Präsidenten abstritt, sieht es auf allen Fronten nach Kompromiß aus Die Demokraten vermeiden das Veto; Carter spart fürs erste wenigstens einen Teil der ursprünglich vorgesehenen Ausgaben. Unwillen in den betroffenen Staaten wird zwar nicht vermieden, jedoch durch die Hoffnung auf Wiederherstellung der abgesagten Vorhaben gedämpft.
Ging es bei den Wasserbauvorhaben um unverfälschte „pork barrel" -Politik, so läßt sich die Erörterung des B-l-Bomber-Programms unter dieser Rubrik nur mit Vorbehalten verantworten. Hier ergänzten sich Stil und Substanz von Carters Politik in einem unnachahmlichen Manöver von äußerster Tragweite. Auf dem Spiel standen fast 200 000 Arbeitsplätze in wahlpolitisch kritischen Staaten, Milliardenausgaben, die die Ausgleichung des Bundeshaushalts gefährdeten, Kernfragen der Abrüstung und Außenpolitik, ja, es wurde sogar gesagt, die Zukunft der amerikanischen Luftwaffe. Konnte Carter dem vereinten Druck dieser Interessen widerstehen?
Schon im Wahlkampf hatte sich Carter gegen die Einführung dieses Superbombers geäußert, der die 25 Jahre alte B-52 ersetzen sollte Nach mehr als sechsjähriger Vorent-Wicklung — die Anfänge des Programms lassen sich sogar bis 1962 zurückverfolgen — lagen 1977 die ersten großen Ausgabenposten für das volle B-l-Programm vor Amerikanische Planer waren sich der Schwierigkeiten bewußt, die die steil steigenden Kosten der technologisch hochgezüchteten, bemannten strategischen Bomber mit sich brachten. Aus Haushaltsgründen mußte mit einer Verringerung der Anzahl der einsatzfähigen Bomber gerechnet werden, sollte der qualitative Vorsprung gewahrt bleiben. Doch, so kommentierte eine Gruppe von Fachleuten, „kommt der Punkt, an dem der Tausch von Quantität für Qualität unvorteilhaft sein mag" Unbemannte Waffen von Typ der „cruise missiles" boten sich seit langem als Alternative an und wurden auch von Fachleuten befürwortet Für Präsident Carter muß besonders die von der „Brookings Institution" 1976 errechnete Einsparung von 10 bis 15 Milliarden US-Dollar im Laufe der nächsten zehn Jahre attraktiv gewesen sein Carters Ablehnung des B-l-Bomber-Programms wurde deshalb zu Beginn seiner Amtszeit mit Bestimmtheit erwartet Doch dann machte sich die „pork barrel" -Politik bemerkbar.
Rockwell International Inc., der Hersteller des Bombers, ließ wissen, daß insgesamt 192 000 Arbeitsplätze in über 47 Staaten (5200 Firmen) von der Durchführung des Programms abhängen Da schon im Entwicklungsstadium drei Milliarden Dollar investiert wurden und der im Vergleich zur B-52 schnellere, kleinere, aber trotzdem tragfähigere und vielseitigere B-l-Bomber vielerorts als für die amerikanische Sicherheit unerläßlich betrachtet wurde, schienen strategische Rücksichten die innenpolitischen Vorteile des Programms noch zu verstärken Doch als der Tag der Entscheidung sich näherte, gab sich Carter unentschieden. Er traf sich mit den Befürwortern und den Gegnern des Programms und hörte sich ihre Argumente an Nun wurden die wirtschaftlichen Konsequenzen einer Absage des B-l-Bomber-Programms immer mehr in den Vordergrund der Debatte gebracht Außerdem bedrängten die Befürworter des Bombers den Präsidenten, nicht an seiner in der Hitze des Wahlkampfes und ohne fachmännische Beratung abgegebenen Erklärung zum Nachteil der nationalen Sicherheit festzuhalten. Die Gegner wiesen andererseits auf die „verdrehten Prioritäten" dieser Mischung von „pork barrel“ und Wettrüstungspolitik hin Doch schien die praktische Politik kaum einen anderen Ausweg als zumindest die teilweise Finanzierung dieses „teuersten Arbeitsbeschaffungsprojekts seit dem Bau der großen Pyramiden Ägyptens" zuzulassen, um unter anderem 30 000 Arbeitsplätze in Los Angeles zu retten und den mächtigen Block der Kongreßmitglieder, deren Interessen auf dem Spiel standen, zufriedenzustellen
Am Tag vor Carters Entscheidung erlitten die Gegner des Bombers im Repräsentantenhaus eine Niederlage, da das Geld zum Bau von fünf Exemplaren nach heftiger Debatte mit einer Mehrheit von 342 : 178 bewilligt wurde. Carters Zustimmung und die Fortführung des Programms schien unausbleiblich Dann ließ Carter seine eigene „Bombe" fallen: Die sorgfältig genährten Hoffnungen der Befürworter dieser Waffe wurden jäh zerstört. Die vom Fernsehen übertragene Pressekonferenz diente Carter als Bühne. Sein Auftreten war eindrucksvoll und der Effekt durchschlagend. Carter erschien als der allen Interessengruppen wiederstehende, verantwortungsbewußte Präsident, der vernünftige Etatplanung und Inflationsbekämpfung vor private Interessen stellt und dem zu erwartenden Sturm der Entrüstung mutig in die Augen schaut. Stil und Substanz seiner Politik vereinigten sich in einem Meisterstück; „public relations" und Staatskunst ergänzten einander. Hier meldete sich „der richtige Jimmy Carter" Eine Entscheidung hatte getroffen werden müssen. In dieser so überaus wichtigen Frage, in der überzeugende Argumente von beiden Seiten vorgetragen wurden, wäre eine Kompromißlösung allgemein annehmbar gewesen. Hier zeigte Carter seinen „inneren Stahl". Er verliert nicht gerne und liebt Kompromisse nicht, wenn er sich auch hier und da dazu zwingen läßt. Doch ist der Kampf um den B-l noch nicht vorüber. Schon am nächsten Tage weigerte sich das Repräsentantenhaus, die zum Bau von fünf Bombern bereitgestellten Gelder zu streichen Doch werden sich Carters Gegner im Kongreß mit dieser Niederlage abfinden müssen, da mit einer Fortführung des Programms wohl vorläufig nicht gerechnet werden kann. Für den Carter-Beobachter stellt die B-l-Affäre ein interessantes Modell dar, aus dem sich weitere Schritte ablesen lassen.
Die bisher vom 95. Kongreß verabschiedeten und vom Präsidenten unterzeichneten bzw. in Kürze erwarteten Gesetze standen alle unter dem Zeichen der antiinflationistischen Politik Carters. Zwar bestand der Kongreß verschiedentlich auf Mehrausgaben und stellte Carters Etatpläne in Frage, doch verstand es der Präsident, die Ausgaben so niedrig zu halten, daß sich viele seiner Wähler enttäuscht fühlten. Der . Public Works Act“, das Steuerermäßigungsgesetz, und die . Omnibus Farm — Food Bill“, um nur die wichtigsten herauszugreifen, stopften nur die Löcher einer sich langsam erholenden Wirtschaft. Ernsthafte Abhilfe des vielerorts andauernden Notstandes brachten sie nicht, auch deuten sich diesbezügliche durchschlagendere Pläne der Carter-Regierung nicht an. Vielleicht werden ihn die New Yorker Unruhen und Plünderungen anläßlich des Stromausfalls Mitte Juli sich eines Besseren besinnen lassen. Bisher hat sich Carter durch Wahlversprechen offenbar nur insoweit gebunden gefühlt, als ihre Erfüllung dem Allgemeininteresse heute, seinen Zukunftsplänen und seiner Wiederwahl nicht entgegenstehen.
Minoritäten und Gewerkschaften
Der knappe Wahlsieg Carters machte klar, wie wichtig die überwältigende Parteinahme der Minoritäten und Gewerkschaften für ihn gewesen war. In einem „offenenBrief" zum Amtsantritt des Präsidenten mahnte der schwarze Dichter James Baldwin: . Zu viele von uns sind im Gefängnis, mein Freund; zu viele von uns hungern, zu viele von uns finden keine offenen Türen Baldwin kritisierte Lage die der Minoritäten und die Ungerechtigkeiten, unter denen sie nach wie vor leiden, in schärfster Weise. Aber er drückte auch die Größe der Hoffnungen indem er gehegten aus, schloß: „Ehrenhalber muß ich hinzufügen, daß ich schreibe, weil ich unser Land liebe: Und, solange ich lebe, sind Sie der einzige Präsident, dem ich geschrieben hätte." Schon nach wenigen Wochen machte sich Enttäuschung breit. Nur ein Mitglied der Minoritäten war ins Kabinett berufen worden, während die Ernennung des Südstaatlers Griffin Bell als Attorney General als ein bedenkliches Omen betrachtet wurde Wenn auch die Carter-Regierung Anstalten zu machen schien, die Bürgerrechtsabteilung des Justizministeriums zu stärken, wurde es doch zunehmend klar, daß Rassengleichheit auf dem Wege wirtschaftlicher Gleichheit erreicht werden muß; der Rechtsweg stellt nur einen bescheidenen Teil der Antwort dar
den Carters Entschlossenheit, Staatshaushalt baldmöglichst auszugleichen, schien eine Beseitigung der Armut mit Hilfe von Regierungsprogrammen für die nähere Zukunft in Frage zu stellen. Aber selbst die Versuche der Carter-Regierung, die Beachtung der bestehenden „Civil Rights" -Gesetzgebung zu erzwingen, stieß im 95. Kongreß auf Schwierigkeiten. Als die Regierung Anfang Juni die Bundesunterstützung unzureichend integrierter Schulbezirke vom Schüleraustausch per Schulbus („busing") abhängig machen wollte, zeigte der Kongreß schnell seine Farben Innerhalb weniger Wochen hatten das Repräsentantenhaus und der Senat die betreffende „Labor, Health, Education and Welfare" -Gesetzvorlage mit Zusatzklauseln versehen, die derartige Maßnahmen ausdrücklich verboten Damit wurde die Erzwingung der Schulintegrierung wieder ausschließlich den Gerichten überlassen; dies dürfte, so äußerten sich besorgt die Redakteure der New York Times, einen kostspieligen und langwierigen Rechtsstreit mit der Hoffnung auf nur vereinzelte Erfolge notwendig machen 123). Kein Wunder also, daß sich die Vorstandsvorsitzende der „National Association for the Advance-ment of Colored People“ (NAACP) sehr kritisch über die bisherige Minoritätenpolitik des Kongresses und der Regierung Carter äußerte. In ihrer Ansprache vor der Jahresversammlung dieser Organisation beklagte sich Margaret Bush Wilson über Präsident Carters Streben, den Staatshaushalt — koste es, was es wolle — auszugleichen, da dies den Interessen der Schwarzen des Landes zuwiderlaufe. Weder seine zögernde Unterstützung der „Humphrey-Hawkins“ -Vollbeschäftigungs- gesetzesvorlage noch seine Einstellung zur Wohnungsbaupolitik lasse auf richtige Prioritäten schließen, da er in beiden Fällen die Not des Volkes der Haushaltsausgleichung unterordne. Da Carter erst sechs Monate im Amt sei, setzte Mr. Wilson auf einer späteren Pressekonferenz hinzu, zwinge sie sich noch eine gewisse Zurückhaltung auf, erinnerte aber daran, daß es eben die Millionen Bewohner rattenverseuchter Miethäuser gewesen waren, die Carter seinen Wahlsieg brachten Die Erbitterung der Schwarzen wird noch durch ihre Entfremdung von ihren ältesten Bundesgenossen im Bürgerrechtskampf, den Gewerkschaften, intensiviert. Diese schon seit geraumer Zeit bestehende Entfremdung wurde durch zwei im Sinne der Gewerkschaften getroffenen Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichtshofs herbeigeführt, die das Senioritätssystem der Gewerkschaften auf Kosten der Minoritäten und Frauen schützen Der gewerkschaftliche Sachbearbei123) ter der NAACP scheute sich darum auch nicht, die Gewerkschaften als Feinde der Minoritäten zu bezeichnen, und der neugewählte „Executive Director" der Organisation betonte, daß Politik, Pläne und Programme der Carter-Regierung kritisch geprüft würden Den Gewerkschaften ist die kritische Reaktion der Minoritäten zwar peinlich, doch kamen ihnen die gewerkschaftsfreundlichen Gerichtsentscheidungen nach einer Reihe von Mißerfolgen und Enttäuschungen sehr gelegen. Wie die Minoritäten so wurden auch die gewerkschaftlich organisierten Arbeiter Amerikas bisher nicht für ihre Unterstützung Carters ausreichend belohnt. Vielmehr erlitten sie schon im März durch eine Kongreßentscheidung eine empfindliche Niederlage, da es ihnen unmöglich war, die „Common-site Picket Bill" durchzusetzen, die ihnen das Aufstellen von Streikposten gegen alle an einem Bauvorhaben beteiligten Unternehmer im Streitfälle mit nur einem ermöglicht hätte Auch die weiteren, bisher vorliegenden sozial-und wirtschaftspolitischen Maßnahmen der Carter-Regierung bleiben hinter den Erwartungen der Gewerkschaften zurück. Doch scheinen die bitteren Klagen nicht ganz unbeachtet von Weißen Haus geblieben zu sein, da sich im Juli eine Wiederannäherung von Präsident Carter und den Gewerkschaften feststellen läßt. Ob Carter die Erwartungen der Gewerkschaften befriedigen kann, muß sich noch zeigen. Letztlich wurden 71, 3% der von den Gewerkschaften unterstützten Kandidaten im November gewählt. Entsprechend groß sind ihre Ansprüche
Sozialpolitik
„Noch gibt es Armut inmitten des Reichtums . . . Ich sehe ein Amerika, in dem jeder Mann und jede Frau, die arbeiten können, Arbeit haben, und in dem diejenigen, die nicht arbeiten können, ein anständiges Auskommen haben .. — So sprach Jimmy Carter, als er die Umrisse seiner Sozialpolitik im Juni 1976 im Wahlkampf vorstellte. Er versprach eine neue Epoche „ehrlicher, mitfühlender und verständnisvoller Regierungstätigkeit", die besonders die sozialen Ungerechtigkeiten tilgen solle. Ob Arbeitslosigkeit, Altersfürsorge, Krankenversicherung oder Erziehungsbeihilfe — Carter versprach überall zu helfen. Besonders die Reform des entwürdigenden Wohlfahrtssystems lag ihm am Herzen; seine Wahlkampfrede stellten die Erneuerung dieses Systems im Laufe des ersten Amtsjahres immer wieder in Aussicht
über die Ziele der Wohlfahrtspolitik gibt es unter den Politikern wenig Streit. Ein Programm, welches die Behebung der Not und die Verwirklichung eines würdigen Daseins für alle zum Mittelpunkt hat, ohne jedoch die Arbeitsfähigen von der Arbeit abzuhalten, findet überall Anklang. Kommt es jedoch zur Finanzierung und Durchführung eines solchen Programms, so ergeben sich schnell Zwistigkeiten. Im Wahlkampf schien Carter der Einführung der „negativen Einkommenssteuer" zuzuneigen, die die Abschaffung der Vielzahl von wirkungslosen Einzelprogrammen durch Zusammenfassung aller Zuschüsse in einer Zahlung pro Empfänger ermöglichen sollte Doch mußte der Präsident bald einsehen, wie schwierig und langwierig die Einführung einer solchen Reform sein würde. Als er Anfang Mai die Prinzipien seiner Wohlfahrtspolitik vorlegte, die in bezug auf Erfüllungstermin und Umfang weit hinter den Erwartungen der Betroffenen zurückblieben, zog er die Kritik seiner liberalen Parteigenossen auf sich Carters Entschlossenheit, die Kosten der Wohlfahrt nicht zu erhöhen, was die Festsetzung der Zahlungen unterhalb des offiziell definierten Pegelstandes der Armut nötig machte, führte ihn auf Kollisionskurs mit dem Gewissen Amerikas. Der vorgesehene Arbeitszwang für Arbeitsfähige und die allgemein strenger ausfallende Auslese der Bedürftigen sollen die Einsparungen bringen für eine großzügigere Behandlung der wirklich Bedürftigen — ohne Erhöhung der Gesamtkosten Zwar wird selbst von den verantwortlichen Kabinettsmitgliedern der Carter-Regierung vor einer Überschätzung der durch eine strenge Regulierung zu erwartenden Einsparnisse gewarnt, doch der Präsident will an seiner antiinflationistischen Sozialpolitik festhalten Das im August im Kongreß erwartete Wohlfahrtsprogramm der Carter-Regierung stützt sich auf politische, philosophische und etatbedingte Faktoren, enthält aber auch irrationale Vorurteile; alle Faktoren erwarten eine strenge Prüfung durch die Gesetzgeber Wenn auch Präsident Carters „Nüchternheit" von seinen Kritikern als kaltblütige politische Kalkulation interpretiert wird („die Armen wählen sowieso demokratisch!"), lassen sich die Realitäten Amerikas, die den Präsidenten bewegen, nicht so leicht von der Hand weisen. Selbst wenn sich der Präsident wider Erwarten entschließen sollte, auf die Gefahr einer weiter steigenden Inflation hin vom Haushaltsausgleich abzusehen und die notwendigen Gelder bereitzustellen, stehen der ausreichenden Finanzierung einer wirklich modernen Sozialpolitik die individualistischen Traditionen und Werte der amerikani23 sehen Gesellschaft entgegen. Der Durchschnittsamerikaner und der ihn vertretende amerikanische Kongreß sind einfach nicht bereit, die notwendigen Steuergelder aufzubringen.
Dies zeigt sich auch im Rahmen der Diskussion über das wachsende Defizite aufweisende „Social Security System", d. h. die von F. D. Roosevelt in den dreißiger Jahren eingeführte Bundesaltersversorgung. Dieses bisher ausschließlich durch Lohnabzüge und Unternehmerbeiträge finanzierte Rentensystem, welches nach europäischen Maßstäben sowieso unzureichend ist, war von Anfang an nur als Zuschuß zum individuell Ersparten oder auf Privatversicherung beruhendem Alters-einkommen der Amerikaner gedacht. Das so-genannte „intergenerational System", in dem die ältere Generation von den Einzahlungen der jüngeren Generation zehrt und weit mehr bezieht als sie eingezahlt hat, ist dem an das Privatversicherungsprinzip gewöhnten Amerikaner immer noch fremd. Die bisher von Arbeitnehmern und Arbeitgebern zu gleichen Teilen getragenen, wegen der volkswirtschaftlichen Misere der vergangenen Jahre aber knapper als erwartet ausgefallenen Einzahlungen reichen nicht aus, die steigenden Defizite zu decken.
Anfang Mai schlug Carter daher die Revision des Systems vor, die die Erhöhung des Arbeitnehmerbeitrags, eine verhältnismäßig größere Belastung der Arbeitgeber und teilweise Deckung der Defizite durch Beiträge aus dem allgemeinen Steuereinkommen der Bundesregierung vorschlug Die nun sogleich ansetzende Diskussion zeigte nicht nur, wie unvollkommen die Öffentlichkeit über den modus operandi dieser Sozialversicherung informiert ist, sondern auch, wie schwierig es sein wird, die Finanzierung des Systems sicherzustellen. Präsident Carter sah sich gezwungen, Zuschüsse aus der Staatskasse und die Erhöhung des Unternehmerbeitrags vorzuschlagen, da er dem amerikanischen Arbeitnehmer den zur ausreichenden Fundierung benötigten und in anderen Ländern weitaus höheren Lohnabzug einfach nicht zumuten kann. Dem amerikanischen Arbeiter scheint der noch unter 6 °/0 liegende Abzug schon jetzt als zu hoch. Die großen Gewerkschaften unterstützen Carters Plan, da er die Arbeiter weniger als die Unternehmer belastet und das System zu sanieren sucht In der Geschäftswelt trifft Carters Plan auf scharfe Kritik. Man befürchtet, daß die erhöhten Unternehmer-beiträge das ohnehin unzureichende Investierungskapital weiter beschränken werden und daß die Benachteiligung der privaten Versicherungsindustrie den von ihr abhängigen Kapitalmarkt weiter beeinträchtigen wird Pressehinweise auf gleichartige Probleme in anderen Ländern bringen wenig Trost. Das Verlangen nach sozialer Sicherheit und die Bereitschaft, die geforderten Opfer zu bringen, sind in Amerika ungleichmäßig entwickelt. Von konservativer Seite wird gehofft, daß die „Schröpfung" der Staatskasse, um das „Social Security System" -zu sanieren, genug Ärger bringen und deshalb auch die Anwendung des gleichen Prinzips auf weitere Sozialversicherungen verhindern wird Da der Kongreß sich in diesem Jahr noch mit Carters Energieprogramm und der Reform des Wohlfahrts-und Steuersystems befassen soll, wird sein „Social Security " -Plan wohl kaum auf die Agenda kommen
Steht es also nicht so gut um die Wohlfahrt und Altersversorgung in Amerika, so sehen die Aussichten auf eine nationale Kranken-Versicherung und Stabilisierung der Krankenhauskosten noch schlechter aus. Die stetig steigenden Krankenhauskosten werden für die allgemein außerordentlich große Inflationsrate der Gesundheitspflegekosten verantwortlich gemacht. Präsident Carter und seine Berater waren sich von Anfang an klar, daß ohne ihre Kontrolle eine bundesweite Krankenversicherung nicht durchführbar ist Als Carter vor dem im Mai tagenden Nationalkonvent der „United Automobile Workers" noch einmal seine Entschlossenheit betonte, ein durchführbares nationales Kran-senversicherungssystem stufenweise in Betrieb zu setzen", erntete er zwar begeisterten Beifall, war jedoch gezwungen, gleichzeitig auf seine Haushaltspläne hinzuweisen und um Maßhalten zu bitten: „Wir können es uns nicht erlauben, alles zu tun." Wenn er auch auf die Unterstützung der liberalen Kongreßmitglieder zählen kann, so wird diese doch reichlich durch den Einfluß der mächtigen „American Medical Association" und ihre Freunde innerhalb und außerhalb des Kongresses ausgewogen Außerdem läßt sich nicht abstreiten, daß eben ein großer Teil des Kostenzuwachses im Gesundheitssektor auf der Anschaffung teurer Apparate beruht und mit unvermeidbaren Lohnerhöhungen verbunden ist Auch auf dem Gebiet der Erziehungspolitik, welches hier nicht weiter erörtert werden soll, scheinen Haushaltsrücksichten die Einführung neuer Programme durch die Regierung Carter zu verhindern
Carters Sozialpolitik ist in der Sackgasse unzureichender Steuereinkommen steckengeblieben. Solange Inflation und Wirtschaftswachstum sich’ gegenseitig aufheben, kann — selbst unter der Führung eines „Supermanagers" wie Carter — mit ausreichendem Mehr-einkommen zur Erweiterung der Sozialprogramme ohne Haushaltsdefizite nicht gerechnet werden. Substantive Einkommensteuererhöhung, Einführung einer Mehrwertsteuer und dergleichen sind politisch vollkommen ausgeschlossen. Es bleibt nur die Hoffnung auf das Energieprogramm Carters und die hier erwarteten Sondersteuern, die nicht nur die Sozialpolitik beflügeln, sondern den Lebensstil, die Umwelt, ja, das Gewissen der Menschen beeinflussen sollen. Alles hängt von der Lösung der Energiefrage ab. Daher also Carters „Kriegserklärung".
Energiepolitik
Statt einer Stunde oder einen Tag brauchte Jimmy Carter eine ganze Woche, um die Energiekrise zum „Energiekrieg" zu erheben. In der Woche vom 17. bis zum 24. April 1977 versuchte der Präsident, seinen Landsleuten mit Hilfe eines „Medien-Blitzes" klarzumachen, daß dieser Krieg nur zu Hause gewonnen werden kann und daß es ein Kampf sein wird, in dem jeder Opfer bringen muß. Schon im Frühstadium des Wahlkampfes hatte er das Thema „Energiekrise" aufgegriffen: „Unsere nationale Energiepolitik ist zu simplizistisch. Sie ist nicht auf den Verbraucher zugeschnitten, sondern von und zugunsten der großen Erdölgesellschaften entworfen, und Präsident Ford ist ihr Sprecher. Sie heißt: . Treibt die Olpreise hoch, so schnell wie möglich und so hoch wie möglich. ’ Das ist alles." So ging es weiter, von Ansprache zu Ansprache, mit Variationen, aber immer wieder die Dringlichkeit der Frage betonend. Nach Amtsantritt stellte die Regierung Carter ein über 100 Seiten umfangreiches, 113 Punkte behandelndes Energieprogramm auf Zum Planen und Vollstrecken seiner Ideen holte Carter sich den Republikaner James Schlesinger, der schon unter Nixon und Ford im Verteidigungsministerium und anderen hohen Positionen gedient hatte und sich des Rufes eines zähen Kämpfers erfreute. Die beiden Männer verstanden sich vom ersten Augenblick an, und was von ihnen in der Woche zum 24. April der Nation vorgelegt wurde, war beiden bitterer Ernst. Die Einzelheiten des Programms brauchen hier nicht wiedergegeben zu werden, doch müssen die bisherigen Fortschritte und Fehlzündungen der Carterschen Energie-politik kurz skizziert werden, da sich daraus die weiteren Aussichten der Regierung Carter am besten ablesen lassen.
Zuerst mußte ein Energieministerium geschaffen werden, um die vielen mit Energiefragen befaßten Bundesinstanzen unter einem Dach zu vereinen. Da man diese allgemein als wünschenswert betrachtete administrative Maßnahme von der Substanz der Energiepolitik trennte, lief die entsprechende Gesetzgebung ziemlich reibungslos durch den Kongreß. Beide Kammern verabschiedeten bis Anfang Juni nur geringfügig voneinander abweichende Vorlagen, die sich von Carters Vorschlag nur durch Schwächung der preisregulierenden Funktion des Energieministers unterschieden. Da die Kammern sich über die Machtspanne und Funktionen des zu schaffenden Energie-ministeriums grundsätzlich einig waren stand der Ernennung von James Schlesinger als Energieminister nichts mehr im Wege.
Mit Carters substantivem Energieprogramm sieht es jedoch anders aus: Kaum waren die Einzelheiten bekanntgegeben, so fragten sich die Eingeweihten, wie das Tauschgeschäft wohl aussehen wird? Von allen Ecken des Landes kamen Beschwerden und die verschiedensten Spezialinteressen klagten im voraus über die von ihnen erwarteten Benachteiligungen. Die Regierung bestritt die
Unterstellung der Republikaner, daß die durch Energieverbrauchersteuern eingenommenen Summen für Wohlfahrtsund andere Regierungsprogramme vorgesehen seien und versprach, die ohnehin nicht umfangreichen Summen durch Steuernachlässe an die Steuerzahler zurückzuerstatten Die radikale Kritik verwarf das Programm Carters vor allem, da es davor zurückscheue, die Struktur der Erdölindustrie zu verändern, die „Automobilkultur" Amerikas unberührt lasse und höhere Profite für die Energieerzeuger auf Kosten der Verbraucher,, besonders der Armen, garantiere. Statt der Axt benutze Carter nach Ansicht seiner Kritiker schlaffe Halb-maßnahmen, um den Knoten der sich widersprechenden Ansprüche zu lösen Von konservativer Seite wurde ihm unter anderem vorgeworfen, seine Maßnahmen liefen auf Subvention der OPEC-Länder hinaus; auch seine Weigerung, die Naturgaspreise freizugeben, stieß auf Entrüstung.
Kaum hat das Programm den zuständigen Kongreßausschüssen vorgelegen, da zeigte sich, daß ungefähr ein Drittel seiner wichtigsten Bestandteile substantiell geändert oder ganz abgelehnt werden dürften Die Benzinsteuer wurde entschieden abgelehnt; die geplante Besteuerung der großen benzinvergeudenden Wagen wurde stark reduziert, die Idee, Kleinwagen steuerlich zu begünstigen, wurde verworfen, der Plan, die „schnellen Brüter" auszuschalten, machte nicht die erwünschten Fortschritte, und die zur Umstellung der Industrie auf Kohle vorgesehenen Sondersteuern dürften Kompromisse nötig machen. Carter mußte die Erfolglosigkeit seines „Medienblitzkrieges" bald einsehen; die Opferbereitschaft der Öffentlichkeit schien nicht erhöht. Vielmehr wurde der Kongreß durch die Lobbyisten und die Furcht der Wähler vor Unkosten und Unbequemlichkeiten in die entgegengesetzte Richtung gedrängt Carter sah sich gezwungen, einen anderen Ton anzuschlagen, da ein neuer Lebensstil und ein neues Wertesystem nicht über Nacht herbeigeführt werden können. Ein . Erschöpfungskrieg" deutete sich an, der nur mit Hilfe des Kongresses gewonnen werden kann
Obwohl Carters „Ehergiezar" James Schlesinger die zur Durchführung des Programms notwendigen außergewöhnlichen Qualitäten des Managers besitzt, geht ihm die Fähgikeit, es auf der Straße und im Kongreß an den Mann zu bringen, ab. Zwar kennt er seine Schwächen und bekennt seine Arroganz: „Ich kann dumme Fragen nicht ausstehen ..." 157), doch sind es eben die „dummen Fragen“, die der Lösung des Energieproblems im Wege stehen: Anfang Juni war die Hälfte der amerikanischen Bevölkerung noch nicht einmal über Amerikas Abhängigkeit von importiertem Ol informiert Die massive Propaganda der Erdölgesellschaften, die die Bevorzugung von Konservierungsmaßnahmen über den Produktionszuwachs von seiten der Carter-Regierung beklagen, hilft hier nicht Da die verschiedensten Interessengruppen aus manchmal sehr ungleichen Gründen das Energie-programm der Regierung bekämpfen und Carter selbst seine Lehre im Fach „Kongreßmanagement" noch nicht abgeschlossen hat, sieht es um die Durchsetzung eines Wirklich wirkungsvollen Programms bisher fraglich aus Sollten die Amerikaner unter Carters Ansporn lernen, daß sie mit Weit weniger Energieverbrauch — wie die Deutschen und Schweden — produktiv und konkurrenzfähig bleiben können, dürfte es zur Sanierung ihrer Energiewirtschaft noch nicht zu spät sein 161). Sonst stehen nicht nur die Eckpfeiler des legislativen Programms der Carter-Regierung, sondern die Rolle Amerikas als Führer der freien Weitaus dem Spiel 162).
Ausblick
Außenpolitisch stechen Carters Menschenrechts-Offensive und die damit verbundene Verschlechterung des Verhältnisses zur Sowjetunion heraus. Carters menschenrechtliche Initiativen mögen zwar den Opfern bisher wenig geholfen haben, doch haben sie seiner Beliebtheit in Amerika nicht geschadet 163). Wenn sich dadurch auch das Verhältnis zu alten Freunden wie Brasilien und Chile getrübt hat, so zahlt sich die ständige Anprangerung noch nicht nur in innenpolitischer Münze, sondern auch in der Befriedigung tief-empfundener Wünsche aus. Der Missions-drang der Amerikaner ist nach wie vor stark, und in dem Baptisten Georgias schlummert unter dem Manager der Missionar. Zwar streitet man sich, ob Carters missionarischer Eifer den „unamerikanischen" Schuldgefühlen seiner südstaatlichen Heimat oder der von ihm adoptierten puritanischen »Unschuld* der »Yankee" -Tradition des Nordens entspringt Jedenfalls beeinflussen dieser Eifer und das Bewußtsein, im Recht zu sein, den politischen Stil Carters.
Da die Substanz seiner Politik durch den Rahmen der geschichtlichen Möglichkeiten begrenzt ist und auch unter anderen Präsidenten nicht viel anders aussehen dürfte, eben ist der Stil so wichtig, um sie bis zur Grenze des Möglichen zu dehnen. Doch fragten sich schon die Redakteure des Wall Street Journal bei der »Halbjahresbilanz'der Regierung Carter: »Während Substanz allein keinen erfolgreichen Politiker schaffen wird, bezweifeln wir sehr, ob Stil allein es tun wird. Bald werden die Leute fragen „Ja, warum hat er sich um das mächtigste Amt im Lande beworben? Zu welchem Zweck will er es benutzen? 1“ Ist Carter ein »Rockefeller-Republikaner', ein Demokrat vom Schlage Franklin D. Roosevelts, Woodrow Wilsons, Grover Clevelands oder Harry Trumans, oder hat er einen eigenen Typ des Demokraten geschaffen? Schon zu Jahresbeginn hörte sich Carter wie ein Republikaner an, berichtete Time Magazi ne. Heute handelt er nicht nur wie ein Repu. blikaner, sagen andere, sondern er freut sich über ihre Unterstützung Obwohl Carter selbst das Andenken von F. D. Roosevelt heraufzubeschwören sucht, sich in der Außenpolitik wie ein zweiter Woodrow Wilson gibt und Harry Trumans Motto »the buck stops here" (etwa »von hier aus kann nichts mehr nach oben weitergereicht werden“) gern zitiert, sehen erfahrene Beobachter in politische ihm mehr den konservativen Demokraten Grover Cleveland Ist es eine Politik des Optimismus oder Politik eine der Illusionen, die der Mann aus Georgia betreibt? Läßt er sich als Opportunist im Strom der amerikanischen Politik nach rechts treiben oder setzt er einen neuen Kurs für die Nation?“
Der Kurs Amerikas wurde durch seine Geschichte, Traditionen und — in der Neuzeit — seine Stellung als Weltmacht fixiert. Selbst wenn er die Macht dazu hätte, würde Carter von der Konstellation, die den Kurs bestimmt, nicht abweichen. Als unideologischer Mann der Mitte ist er zwar bereit, die Substanz seiner Politik auf einzelnen Gebieten drastisch zu verändern, doch nur solange dies die ihm durch die Geschichte vermittelte Marschrichtung der Nation nicht verschiebt.