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Genügen drei Parteien? Ein Essay | APuZ 31/1977 | bpb.de

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APuZ 31/1977 Artikel 1 Zum Problem der autonomen Kleinräume. Zweierlei Staatsstrukturen in der freien Welt Der Staatsdenker Artur Mahraun (1890-1950) Genügen drei Parteien? Ein Essay Zersplitterung und Polarisierung. Kleine Parteien im Weimarer Mehrparteiensystem

Genügen drei Parteien? Ein Essay

Christian Graf von Krockow

/ 17 Minuten zu lesen

Zusammenfassung

Das Parteiensystem der Bundesrepublik Deutschland hat sich bisher bewährt; es hat Zersplitterung und Extremismus verhindert und durchweg handlungsfähige Regierungen ermöglicht. Das programmatische Spektrum der Parteien erweist sich allerdings als bedenklich schmal. Vor allem ist es die Frage, ob ein Parteiensystem, das mit seinem Rechts-Mitte-Links-Schema in seinen Grundzügen dem 19. Jahrhundert entstammt, auf Konflikte eingerichtet ist, wie sie etwa die Stichworte Wachstum, Umweltschutz, Atomenergie bezeichnen. Der von der Meinungsforschung registrierte Vertrauensschwund gegenüber allen Parteien zeichnet sich nicht zufällig ab. Gelingt es den Parteien nicht, die neuen Herausforderungen produktiv aufzuarbeiten, so wäre eine Legitimationskrise kaum vermeidbar, die letztlich das parlamentarische System insgesamt treffen müßte.

Es war einmal ein Student in Köln, der sich in seinem Philosophieexamen über Kants „kategorischen Imperativ" prüfen lassen wollte. Das Gespräch kam allerdings bald ins Stokken, und so fragte der Prüfer schließlich: „Was halten Sie eigentlich — ganz persönlich — von einer solchen Ethik der rigorosen Pflichterfüllung?" Darauf der Student: „Ich selbst? Oh — ich bin eigentlich immer janz jut damit jefahren."

Zu Kants „preußischem" Ideal paßt diese rheinländische Antwort wie die Faust aufs Auge. Wenn wir indessen vom Parteiensystem der Bundesrepublik sprechen, könnten wir dann nicht mit Recht und mit Nachdruck sagen: Wir sind ganz gut damit gefahren? In der Tat: Unser Parteiensystem aus CDU/CSU, SPD und FDP hat — abgestützt durch die Fünf-Prozent-Klausel des geltenden Wahlrechts — einerseits eine Parteienzersplitterung überwunden und zuverlässig verhindert, wie sie als Schreckgespenst der Weimarer Republik in Erinnerung ist und wie sie auch viele unserer europäischen Nachbarn plagt. Andererseits wurden in der Regel klare Mehrheitsverhältnisse geschaffen und damit stabile und handlungsfähige Regierungen möglich gemacht. Sofern es Schwierigkeiten gab — wie jüngst in Niedersachsen und im Saarland oder 1972 in Bonn —, wurden sie durch Koalitionsumbildungen oder durch Neuwahlen aus dem Wege geräumt.

Daß allerdings die kleine FDP zwischen den beiden großen Parteien fast immer das Zünglein an der Waage bildet, mag zwar viele Leute ärgern. Aber gerade dieses „Zünglein" kann helfen, „Patt“ -Situationen zu überwinden — wie soeben in Saarbrücken — oder Minderheitsregierungen in Mehrheitskoalitionen zu verwandeln — wie in Hannover. Weil das Gesamtsystem offenbar so gut funktioniert, sind auch die Forderungen mehr und mehr verstummt, die noch in den sechziger Jahren lautstark vorgetragen wurden: daß wir nämlich unser Wahlverfahren nach dem britischen Muster des relativen Mehrheitswahlrechts ändern sollten, um zu einem Zweiparteiensystem zu gelangen, in dem regelmäßig eine handlungsfähige Mehrheit und eine starke, geschlossene Opposition einander gegenüberstehen. Inzwischen jedoch produzieren die Wahlen in Großbritannien Regierungen ohne zuverlässige Mehrheitsbasis und eine ziemlich zusammengewürfelte, uneinige Opposition. Kurzum: Wir sind mit dem, was wir haben, gut bedient; wir scheinen in der besten aller denkbaren Welten zu leben.

Ist das wirklich so? Franz Josef Strauß dürfte die Frage verneinen — und nicht nur er. Zunächst einmal funktioniert die ganze Sache ja nur dann, wenn das „Zünglein an der Waage" nicht irgendwo klemmt. Aber eben dies scheint nach allen bisherigen Erfahrungen — vor allem auf der Bundesebene — zumeist der Fall zu sein. Siebzehn Jahre lang — von den Anfängen der Bundesrepublik im Jahre 1949 bis 1966 — klemmte es hartnäckig „rechts". Und nach der Ubergangsphase der „Großen Koalition“ klemmt es seit 1969 offenbar „links". Genau darum faßten Strauß und die Landesgruppe der CSU ja im November des letzten Jahres ihren berühmt-berüchtigten Kreuther Beschluß: im Bundestag eine selbständige Fraktion zu bilden. Am Horizont tauchte damit statt des bisherigen Drei-ein bundesweites Vierparteiensystem herauf; das Fernziel war, mit der SPD-FDP-Koalition eine gleichgewichtige Gegenkoalition konkurrieren zu lassen.

Inzwischen ist das gemeinsame Dach von CDU und CSU noch einmal repariert und die Erweiterung unseres Parteiensystems — zumindest bis auf weiteres — vertagt worden. Doch das Problem, das Strauß aufgeworfen hat — übrigens nicht erst seit der für die Unionsparteien erfolgreichen und gleichwohl im praktischen Ergebnis verlorenen Bundestagswahl 1976 —, ist damit ja keineswegs aus der Welt geschafft. Es handelt sich auch nicht bloß darum, daß die FDP störrisch statt nach beiden Seiten hin offen ist, sondern um den Sachzwang, dem sie unter dem Druck der öffentlichen Meinung, ihrer Mitglieder und Wähler unterliegt: Der Wechsel stellt für sie allemal ein heikles, unter Umständen sogar ein lebensgefährliches Manöver dar: 1969 verlor sie einen großen Teil ihrer traditionellen Anhängerschaft und geriet in bedrohliche Nähe des Fünf-Prozent-Failbeils; ein abermaliger Wechsel in der Gegenrichtung könnte den Kopf kosten. Eine Koalition indessen, die ihren Vorrat an programmatischer Gemein-33 samkeit mehr und mehr aufgebraucht hat und dennoch sich nicht zu trennen vermag, kann leicht zur Unbeweglichkeit führen und sich am Ende zu weitgehender Handlungsunfähigkeit verurteilt sehen. In den sechziger Jahren bahnte sich das schon einmal an. Nur der Kraftakt der Großen Koalition, eigentlich das Signal eines Staatsnotstandes, konnte das Regierungsschiff wieder in freies Fahrwasser bringen. Aber der Preis war das Auftreten einer heftigen außerparlamentarischen Opposition, die zum Teil ins Antiparlamentarische abglitt. Dürfen wir sicher sein, daß sich dies nicht wiederholen wird, womöglich dann im Zeichen einer noch weitaus schwerwiegenderen Krise als der der sechziger Jahre? Hinter den Problemen, welche die November-revolte der CSU-Landesgruppe aufgeworfen oder, genauer gesagt, sichtbar gemacht hat, tauchen freilich zwei Fragen von noch ganz anderem Zuschnitt auf als diejenigen, die die Möglichkeit oder Unmöglichkeit von Koalitionswechseln betreffen.

Die erste kritische Frage betrifft die programmatische Spannweite unserer Parteien. Um den Sachverhalt in ein Bild zu bringen: Unser Wappentier, der Adler, erweist sich — jedenfalls im internationalen Vergleich — als arg gerupft; seine'Flügel sind so gestutzt, daß es sich um einen ziemlich lahmen Vogel handelt, der kaum mehr zu kühnem Flug sich in die Lüfte schwingen kann. Anders und ohne dies zweifelhafte Bild ausgedrückt: Alle unsere etablierten Parteien drängeln und streiten sich um den offenbar vergoldeten Platz in der „Mitte". „Wir wollen die Mitte sein!", rufen die einen. „Aber wir stehen schon dort!", behaupten die anderen. Eindeutig konservative und eindeutig „linke“ Positionen sind kaum gefragt; sie scheinen etwas Peinliches, beinahe Obszönes an sich zu haben. Zumindest werden sie mehr vertuscht als selbstbewußt vertreten. Das mag mit der Ausgangs-und Konfrontationssituation der Bundesrepublik zu tun haben, mit dem Mißkredit, in den Konservative durch den Faschismus und Sozialisten durch die von der Sowjetunion geprägten Regime geraten sind. Aber die Folge ist, daß es nur selten klare Alternativen gibt. Die Programme und Wahlplattformen der Parteien verschwimmen ineinander, und Wechselseitige Beschimpfungen oder rüde Entweder-Oder-Parolen in den Wahlkämpfen ändern an diesem Tatbestand nichts, sondern übertünchen ihn bloß.

Gottlob, mögen viele meinen, gottlob macht uns der politische Extremismus höchstens als kriminelle Randerscheinung, nicht aber im etablierten Parteiensystem zu schaffen; glücklicherweise fallen Faschismus und Kommunismus hierzulande kaum ins Gewicht. Doch abgesehen davon, daß „rechts" und „links" nicht ohne weiteres mit „Extremismus" in dem bei uns üblichen Sinne gleichzusetzen sind und konservativ und sozialistisch nicht mit faschistisch und kommunistisch — daß man dies in der Bundesrepublik immer wieder sagen muß, ist womöglich selbst schon ein Kennzeichen ihrer Situation —: abgesehen davon hat alles seinen Preis. Der Kampf um Alternativen, die eindeutige programmatische Profilierung und Auseinandersetzung ist ein Merkmal politischer Freiheit, ja mehr noch: sie ist ein Fundament der parlamentarischen Demokratie, das ihr auf längere Sicht erst Festigkeit verleiht, sie glaubwürdig macht und zur Zukunft hin offen hält. Daher ist die Tatsache, die uns immer wieder erstaunt und entrüstet: daß nämlich unsere Nachbarn mit alter parlamentarisch-demokratischer Tradition, vordergründig weit häufiger und stärker krisengeschüttelt als wir, hartnäckig und mißtrauisch nach der Substanz der Freiheit in Deutschland fragen, weder Zufall noch bloßes Überbleibsel finsterer Erinnerungen, sondern durchaus folgerichtig.

Dabei gibt es, natürlich, „Rechte" wie „Linke“, Konservative und Sozialisten bei uns wie anderswo. Nur kommen sie im bestehenden Parteiensystem mit seinem schmalen Spektrum nicht recht zum Zuge. So rumoren sie teils innerhalb der Parteien — vor allem innerhalb der beiden großen —, teils außerhalb, aber sozusagen unfroh — „frustriert", um es mode-gerecht auszudrücken — und damit immer in der doppelten Gefahr entweder von Resignation und zynischer Anpassung oder des Abgleitens ins Bornierte und Sektiererische. Das bleibt gegenüber dem parteipolitisch durchgesetzten und befestigten Extremismus noch immer das kleinere Übel, mag mancher einwenden. Vielleicht ist das so. Nur eben, um es zu wiederholen: Flügelparteien, die für klare programmatische Alternativen eintreten, sind mit Extremismus und Radikalismus im negativen Sinne dieser Begriffe nicht ohne weiteres in einen Topf zu werfen. Und wenn die etablierten Parteien sämtlich zur Mitte drängen und Alternativen mehr vermeiden und vertuschen als sichtbar machen, dann kann sich langfristig ein gefährliches Defizit ergeben.

Der Bundestagswahlkampf 1976 wirkte in dieser Hinsicht wie ein negatives Lehrstück.

Zwar erfand die Opposition ihre griffige Parole: „Freiheit statt/oder Sozialismus". Aber weil dies eine bloße Stimmungsparole blieb, weil nicht im einzelnen belegt und deutlich gemacht wurde, was in der praktischen Politik die Konsequenz im Unterschied zur Politik der Regierungskoalition sein sollte, darum blieb dieses Heils-und Unheilsgemälde im Grunde im Un-und Vorpolitischen stecken. Bei SPD und FDP sah es freilich nicht besser aus. Einerseits versuchte man — eher schwächlich — zu kontern: „Von Freiheit verstehen wir mehr! ’’ Andererseits blieb es alles in allem bei einer Art von Konzernbilanz für Kleinaktionäre: Krisenmanagement in schwieriger Zeit, insgesamt erfolgreich, zumal im internationalen Vergleich, noch immer einige Gewinne statt roter Zahlen. Doch ist das genug? Ist das Gemeinwesen nur eine Art von Superkonzern und der Bürger bloß eine besondere Art von Couponschneider, der mehr oder weniger große Dividenden einstreicht? Anders gefragt: Blieb nicht auch dies weithin im Un-und Vorpolitischen stekken — und zukunftsblind in der Verteidigung des Erreichten? Kaum zufällig geriet die sozialliberale Koalition so sehr in die Defensive, kaum zufällig verirrte sich Willy Brandt in der Wahlnacht in die Sprache später Wehrmachtberichte, als er von der bestandenen „schweren Abwehrschlacht“ sprach.

Ein Wahlkampf ist sicher zum Teil — und durchaus legitim — ein Sympathie-und Vertrauenswettbewerb der Spitzenkandidaten. Er kann also gewiß nicht nur, aber er sollte doch auch sein: ein Dialog der Parteien und Politiker mit dem Bürger über die Probleme und Perspektiven des Kommenden. Wie sehr es daran gefehlt hat, wird deutlich, wenn man einige der Themen nennt, von denen wenig oder gar nicht die Rede war: Geht es in erster Linie darum, das wirtschaftliche Wachstum so rasch und so stark wie möglich wieder in Gang zu bringen und es um beinahe jeden Preis in Gang zu halten? Oder kommt es darauf an, Wirtschaft und Gesellschaft so umzubauen, daß dieses Wachstum ohne gefährliche Rückwirkungen begrenzt werden und begrenzt bleiben kann? Wie sieht es mit der künftigen Energiepolitik aus? Soll sie sich vorrangig um die Erschließung neuer Energiequellen — einschließlich der Kernenergie — bemühen oder kommt es darauf an, erst einmal alle Reserven von Sparmöglichkeiten auszuschöpfen? Wie stellen wir uns zu den Forderungen, mit denen die Völker der Dritten Welt uns konfrontieren? Geht es um deren Abwehr oder um die Herstellung einer Solidarität, die freilich ohne spürbare Opfer nicht zu haben ist? Und so weiter: Man könnte die Liste der Zukunftsthemen, von denen kaum etwas zu hören war, noch um einiges verlängern.

Manche oder viele, auch und gerade die soge-nannten Fachleute, werden wahrscheinlich abwinken: Das sind alles sehr schwierige, sehr komplizierte Fragen; mit einem holzschnittartigen Entweder-Oder ist es schwerlich getan. Und die Propagandaexperten fugen eilig hinzu: Dies sind nun einmal keine Themen für den Wahlkampf. Da die Menschen sind, wie sie sind, interessiert sie nicht eine ungewisse Zukunft, sondern das Naheliegende, Handfeste — oder die reißerische Parole, mit der man sich ohne viel Nachdenken identifizieren kann, um Freund und Feind zu sortieren. Ist das wirklich so? Und falls es so ist, falls tatsächlich das von allen bis zum Überdruß beschworene Bild vom mündigen Bürger sich als Trugbild erweist, über das die Eingeweihten nicht einmal mehr lächeln: Welche Zukunftschancen kann man dann der parlamentarischen Demokratie und dem sie tragenden Parteiensystem noch einräumen? Erinnern wir uns: Die Rechnung wurde nur wenige Wochen nach der Bundestagswahl drastisch genug nachgereicht, in der plötzlichen und bitteren Konfrontation von Bürgern mit der Staatsgewalt — Stichwort Brokdorf. Man macht es sich zu einfach, wenn man sagt: Da war Irrationales im Spiel, mehr aufgestaute Angst als Sachverstand und abgewogenes Urteil — und die „Chaoten“, die Gewalttäter, nutzten ihre Chance. Gewiß taten sie das. Aber diese Chance fiel ihnen nur zu, weil eine Vertrauenslücke zwischen Staatsgewalt und Bürgern entstanden war, die sich demagogisch und gewalttätig ausbeuten ließ.

Wo es an Wissen und Urteilsfähigkeit fehlt, wo Angst sich deshalb aufstaut und aggressiv entlädt, da zeigt sich der Mangel an Aufklärung, die. zu leisten eben die Sache der Politiker und der Parteien in ihrer öffentlichen und kontroversen Diskussion hätte sein müssen.

Jahre bevor die Bewegung der Bürgerinitiativen so machtvoll sich entwickelte, hat ein berühmter Staatsrechtslehrer, Emst Forsthoff, formuliert: „Der Dilettantismus, mit dem in Bürgerversammlungen die großen Fragen der Wirtschafts-und Sozialpolitik behandelt zu werden pflegen und auch nur behandelt werden können, ist rührend und steril zugleich.

Wenn die Staatsbürger je länger je weniger daran Gefallen finden, so darf man daraus folgern, daß sie inzwischen gelernt haben, die Grenzen ihrer Zuständigkeit zu erkennen. Sie verhalten sich systemgerecht, wenn sie sich demagogischer Verführung zur Unsachlichkeitverschließen. ” Aber wenn das wirklich der Weisheit letzter Schluß und einzig . systemgerecht" ist — worüber soll man sich dann eigentlich noch wundern? Dann muß und dann wird sich die aufgestaute Angst eben gegen das . System'wenden und Aggressivität produzieren. Dann wird die Legitimitätsgrundlage der parlamentarischen Demokratie zunehmend brüchiger werden, und gegen das bestehende Parteien-system wird sich früher oder später eine Anti-Parteien-Partei Bahn brechen. Das wäre eine höchst gefährliche Entwicklung, die uns unversehens in den Krisensog der Weimarer Republik reißen könnte. Aber es wäre jedenfalls kein blindes Naturereignis, sondern eindeutig die Folge eines Versagens der traditionellen Parteien vor ihrer Aufgabe.

Aus diesen Überlegungen ergibt sich zugleich die zweite kritische Frage, die hier diskutiert werden soll: Genügen unsere Parteien, nicht nur ihrer Zahl und programmatischen Spannweite nach, sondern in ihrer Struktur, eigentlich noch den Problemstellungen der Gegenwart und der Zukunft? Können sie den Alternativen, um die es geht, überhaupt angemessen Ausdruck geben? Oder stehen sie womöglich verquer zu ihnen?

Vielleicht waren der Verlauf und der schale Nachgeschmack des letzten Bundestagswahlkampfes nicht zufällig, sondern von tieferen Ursachen bestimmt. Vielleicht war es den Parteien gar nicht möglich, ohne in Zerreißproben zu geraten, die Zukunftsfragen des Wachstums, der Energiepolitik und so weiter angemessen zu diskutieren und programmatisch zu formulieren, weil die Fronten nicht zwischen ihnen verlaufen, sondern sie selbst durchziehen.

Unser traditionelles Parteiensystem mit seinem Rechts-Mitte-Links-Schema entstammt ja — trotz aller Veränderungen, die es im einzelnen vollzogen oder durchlitten hat — in seinen Grundzügen dem 19. Jahrhundert. Das bedeutet, sehr verkürzt und vereinfacht ausgedrückt, es entsprang einer Stände-und später einer Klassengesellschaft, in der zunächst die politische Macht gegen die politische Ohnmacht, dann der Besitz gegen den Nicht-besitz und entsprechend jeweils ein konservatives gegen ein progressives Heerlager stand. Dabei wurden die progressiven Kräfte anfangs vom Bürgertum repräsentiert und danach vor allem von der Arbeiterbewegung, die sich in der sozialdemokratischen Partei und in den Gewerkschaften organisierte. Das Bürgertum dagegen wanderte — gerade in Deutschland — mehr und mehr ins konservative Lager ab und suchte Anlehnung beim alten Obrigkeitsstaat; es flüchtete in die „machtgeschützte Innerlichkeit“, wie Thomas Mann dies treffend bezeichnete.

Man kann keineswegs pauschal sagen, daß das Rechts-Mitte-Links-Schema veraltet ist. Viele und wichtige Fragen, um die politisch gestritten wird, haben damit zu tun: Fragen der Steuer-, Wirtschafts-und Sozialpolitik, die Auseinandersetzungen um die Mitbestimmung und anderes mehr. Dem entspricht im großen und ganzen — bei allen Überschneidungen, die es im einzelnen selbstverständlich gibt — unser Parteiensystem von der CDU/CSU über die FDP zur SPD. Und deshalb hat, wieder im großen und ganzen, dieses Parteiensystem sich bisher auch bewährt, während alle die Parteien der Nachkriegszeit auf der Strecke blieben, die andere, speziellere Gesichtspunkte ins Zentrum rückten, wie Bayernpartei, Deutsche Partei, Gesamtdeutsche Volkspartei, Zentrum oder die Vertriebenen-partei Gesamtdeutscher Block/BHE.

Aber die Frage ist eben, ob angesichts neuartiger und zentraler Zukunftsprobleme weiterhin genügen kann, was bisher angemessen war. Einmal mehr war es Franz Josef Strauß, der schon vor Jahren für einen paradoxen Sachverhalt die paradoxe Formel fand, als er sagte, heute bedeute „konservativ sein, an der Spitze des Fortschritts zu marschieren". „Fortschritt" heißt hier offensichtlich, in radikaler Abkehr von allen älteren konservativen Vorstellungen: rasche und stetige industrielle Entwicklung, Wirtschaftswachstum. Nimmt man gewissermaßen in einer gedanklichen Versuchsanordnung diese Definition einmal hin und mißt an ihr Freund und Feind, so sieht man im Handumdrehen die seltsamsten Verbindungen und Fronten entstehen:

Dem CSU-Vorsitzenden treten führende Wirtschaftspolitiker nicht nur der FDP, sondern auch der SPD zur Seite, zum Beispiel der jetzige Arbeits-und Sozialminister Herbert Ehrenberg, der — 1976 — „fröhliches Konsumieren“ forderte und formulierte: „Wir müssen aufhören, Askese als etwas Gutes zu betrachten." Es wäre interessant zu erfahren, was wohl ein SPD-„Linker“ wie Jochen Steffen zu solchen Sätzen seines Genossen zu sagen hat — wenig Gutes, so steht zu vermuten. Tatsächlich hat sich ja auch in der Frage der Kernkraftwerke die schleswig-holsteinische SPD nicht nur gegen die Landesregierung und deren Ministerpräsidenten Stoltenberg gestellt, sondern — eben damit — zugleich gegen die von ihr selbst getragene Bundesregierung. Es handelt sich indessen nicht nur, nicht einmal in erster Linie um Personen oder Teil-gruppierungen innerhalb der Parteien. Es geht vielmehr in den Wirtschaftsfragen um gesellschaftliche Fronten. Für eine entschiedene Politik des wirtschaftlichen Wachstums tritt, natürlich, die gesamte Industrie ein, weil hier ihre Lebensinteressen im Kern berührt werden. Aber genau das gleiche gilt für die Gewerkschaften; sie sitzen mit ihrem traditionellen Gegenspieler im selben Boot. Und das ist absolut folgerichtig: Nur bei einem kräftigen und dauerhaften Wirtschaftswachstum kann die Arbeitslosigkeit beseitigt, kann die Vollbeschäftigung gesichert werden — und ist es möglich, daß die Realeinkommen der Arbeitnehmer wie in der Vergangenheit, so auch in der Zukunft fühlbar gesteigert werden. Daher erscheinen den Gewerkschaften alle Versuche, weiterem Wachstum einen Riegel vorzuschieben, als in Wahrheit reaktionäre Luxus-produkte und abscheuliche Salonphilosophien der schon Arrivierten. So gesehen, können Ehrenberg und die Gewerkschaften, indem sie einerseits Strauß zur Seite treten, andererseits doch herkömmlich „linke" Positionen für sich in Anspruch nehmen. Die merkwürdige Allianz bisheriger Gegner wird übrigens schlagend deutlich, wenn man sieht, wie einerseits Wirtschaftsverbände und industrielle Großunternehmen mit allen Mitteln der Werbung, etwa in Anzeigenserien, für eine positive Einstellung zum Wirtschaftswachstum und für zügigen Ausbau der Kernenergie eintreten, während gleichzeitig — zum selben ZweckI — gewerkschaftliche Kundgebungen und Demonstrationen stattfinden, die gegen die Kritiker der Energiepolitik und die mit ihnen verbundenen Bürgerinitiativen Front machen.

Das andere Lager nimmt sich nicht weniger seltsam und buntscheckig aus. Carl Amery, der gemeinhin als verdächtiger „Linksintellektueller" gilt, aber seine paradoxe Lage mit der paradoxen Formel vom „radikalen Konservativen" umschreibt, hat jüngst formuliert:

„Entweder das Industriesystem bricht vor dem Ökosystem oder das Ökosystem bricht vor dem Industriesystem zusammen." Amerys radikale — radikal konservative — Schlußfolgerung lautet: „Die Logik des überlebens erfordert deshalb die raschest mögliche Zerstörung des Industriesystems, und zwar um fast jeden Preis.“ Dem Linksintellektuellen gesellt sich der sehr weit „rechts“ stehende CDU-Abgeordnete Herbert Gruhl bei, dessen Standpunkt schon im Titel seines Bestsellers deutlich wird: „Ein Planet wird geplündert — Die Schreckensbilanz unserer Politik". Anders, differenzierter sieht die Position Erhard Epplers aus. Doch auch er, der als ein Repräsentant des „linken" Flügels der SPD gilt, bekennt sich als Konservativer — als ein . Wertkonservativer", wie er es nennt.

Erst recht buntscheckig nimmt sich die Masse derer aus, die neue Industrieansiedlungen und Kraftwerksbauten so erbittert bekämpfen. Bedächtige Bauern und Naturschützer alter Art geraten in ein Bündnis mit Kommunisten, „Chaoten" und sogenannten „Polit-Rockern". Nicht nur Pastoren, sondern weite kirchliche Kreise — besonders der evangelischen Kirche — spielen ebenso eine Rolle wie Lehrer, Studenten und Schüler. Insgesamt handelt es sich ganz überwiegend um Angehörige oder Abkömmlinge der Mittelschichten und dabei überwiegend wiederum um Angehörige der mittleren und der jüngeren Generation. Es ist sehr schwer, das Gesamtpotential dieser Bewegung zuverlässig abzuschätzen. Aus Meinungsumfragen könnte man — mit allen Vorbehalten — auf etwa 40 bis 45 Prozent der Bevölkerung schließen. Aber das Mobilisierungspotential könnte durchaus noch weiter reichen; schließlich leben wir — entgegen den orthodox marxistischen und allen sonstigen, dem 19. Jahrhundert entstammenden Vorstellungen von der „Klassengesellschaft" — in einer wesentlich und der Tendenz nach immer stärker von den Mittelschichten geprägten Gesellschaft.

Kehren wir nun nach diesen Überlegungen zum Parteiensystem zurück, so erkennen wir dessen vertrackte Lage. Es spiegelt, wie schon gesagt, in seinen Grundzügen die Fronten, die der Klassengesellschaft eben des 19. Jahrhunderts entstammen. Darum haben bisher, obgleich aus unterschiedlichen Motiven und mit unterschiedlichen Zielsetzungen, alle Parteien sich zu einer Politik der raschen industriellen Entwicklung und des möglichst starken wirtschaftlichen Wachstums bekannt. Das gleiche gilt für die etablierten Großverbände, vorab der Wirtschaft und der Gewerkschaften. Aber die Probleme, die jetzt aufgetaucht sind und denen in der Zukunft vermutlich schicksalhafte Bedeutung zukommen wird, sehen anders aus; sie lassen sich in die überkommenen Formationen und Fronten nicht einordnen. Daher ist es wirklich kein Zufall, schon gar nicht der zufällige Mangel eines Wahlkampfes, daß die Frageh der Wachstumsbegrenzung und der Energieentwicklung bisher in der parteipolitischen Diskussion und Konfliktstrategie kaum eine Rolle gespielt haben, daß man ihnen weithin mit Verlegenheit, ja Ratlosigkeit begegnet: Man fürchtet offenbar — oft gewiß mehr vorbewußt als bewußt —, daß diese Fragen die Parteien mit Zerreißung bedrohen könnten, wenn sie ernsthaft angepackt würden.

Das gilt für alle Parteien, ganz besonders für die beiden großen Volksparteien. Die CDU/CSU ist nach der einen Seite hin der Industrie, nicht zuletzt auch der Großindustrie, eng verbunden; nach der anderen Seite hin ist sie jedoch die Partei der breiten, häufig wirtschaftsfernen Mittelschichten. Der SPD ergeht es nicht besser, ganz im Gegenteil. Sie ist traditionsbestimmt die Partei der industriellen Arbeitnehmerschaft, mit den Gewerkschaften eng verbunden, ja personell weithin verflochten. Aber in den letzten Jahren — besonders seit 1969 — hat eine weitgehende Umschichtung ihrer Mitglieder-und Anhängerschaft stattgefunden-. Beamte und Angestellte, Akademiker, Studenten und Intellektuelle — das heißt, gerade diejenigen Schichten, die sich in der kritischen Bürger-bewegung gegen forciertes Wachstum und Kraftwerksbau besonders engagieren — spielen in der SPD eine zunehmend bedeutsame, vielfach schon dominierende Rolle. Daher würde eigentlich jede entschiedene Stellungnahme entweder die eine oder die andere Seite nachhaltig verprellen; in letzter Konsequenz könnte der Partei sogar eine Spaltung drohen.

Um zusammenzufassen und Mißverständnisse — jedenfalls nach Möglichkeit — zu vermindern: Es geht hier keineswegs um ein Plädoyer gegen unser etabliertes Parteiensystem. Es war nicht ironisch gemeint, als es am Anfang hieß: Wir sind damit gut gefahren. Und es wäre leichtfertig, töricht, ja gemeingefährlich, es für Unerprobtes wegzuwerfen. Erst recht soll nicht in unguter deutscher Tradition die parlamentarische Demokratie herabgesetzt werden. Nach einem bekannten Wort Winston Churchills mag sie das schlechteste aller denkbaren Systeme sein — ausgenommen jedoch alle anderen. Es ist und es bleibt ein Fundament unserer Freiheit. Ohnehin würde jedes andere System mit den gleichen Problemen konfrontiert werden; nur würde im Zweifelsfall kein anderes gestatten, sie mit vergleichbarer Offenheit kritisch zu diskutieren. Wenn aber unsere politische Ordnung von der Uberzeugungskraft gerade der kritischen Diskussion lebt, die in ihr geführt werden kann, dann kommt es darauf an, dieser Diskussion auch und gerade dort nicht auszuweichen, wo sie sich als unbequem erweist. Innerhalb unserer Verfassungsordnung sind die Parteien zwar nicht allein, aber doch in besonderer und zentraler Stellung die Träger der politischen Diskussion und des politischen Entscheidungsprozesses. Mit ihrer Integrationskraft und Funktionsfähigkeit steht und fällt deshalb die Integrationskraft und Funktionsfähigkeit der parlamentarischen Demokratie insgesamt. Wo immer also die Parteien ausweichen, vertuschen, beschwichtigen, beschwören sie die Gefahr herauf, daß die heimlich-unheimlich aufgestauten Probleme an ihnen vorbei sich zerstörerisch Bahn brechen. Wo man dagegen den Problemen sich mutig stellt, so heikel sie immer sein mögen, auch dann, wenn man vorerst keine einfachen und einhelligen Lösungen, sondern selbst nur kontroverse Diskussion anzubieten hat, da kann man den Gefahren auch begegnen und sie am Ende bannen. Darum ist, was vordergründig als Parteienkritik erscheinen mag, eigentlich aus kritischer Solidarität als ein Appell an die Parteien gemeint. Es kommt für sie heute entscheidend darauf an, daß sie nicht in alten Schablonen verharren, sondern den Blick auf die Zukunft richten.

Vor bald schon anderthalb Jahrhunderten schrieb der große Franzose Alexis de Tocqueville in seinem berühmten Buch „Uber die Demokratie in Amerika": „Die christlichen Völker scheinen mir heute ein erschreckendes Schauspiel zu bieten; die Bewegung, die sie davonträgt, ist schon zu stark, als daß man sie aufhalten könnte; doch sie ist noch nicht so reißend, daß man daran verzweifeln müßte, sie zu lenken: Die christlichen Völker halten ihr Schicksal in ihren Händen, aber bald wird es ihnen entgleiten . . . Aber daran denken wir kaum. Vom einem rasch fließenden Strom dahingetrieben, heften wir den Blick hartnäckig auf einige Trümmer, die man noch am Ufer wahrnimmt, während die Strömung uns mit sich führt und rücklings dem Abgrund zuträgt.“

Fussnoten

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Christian Graf von Krockow, geb. 1927, 1961— 1969 Professor für Politikwissenschaft in Göttingen, Saarbrücken und Frankfurt a. M., seither freier Wissenschaftler und Publizist. Letzte Buchveröffentlichung: Reform als politisches Prinzip, München (Serie Piper) 1976.