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Energiepolitik — Dialog mit dem Bürger? | APuZ 27/1977 | bpb.de

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APuZ 27/1977 Wunschdenken contra Naturgesetze Energiepolitik — Dialog mit dem Bürger? Entsorgung in der Industriegesellschaft

Energiepolitik — Dialog mit dem Bürger?

Horst Zilleßen

/ 21 Minuten zu lesen

Zusammenfassung

Der Versuch der Bundesregierung, über die Voraussetzungen und Ziele der Energiepolitik in einen Dialog mit dem Bürger einzutreten, hat ein zwiespältiges Echo ausgelöst. Einerseits ist von vielen Bürgern — insbesondere von solchen, die sich in Bürgerinitiativen engagiert haben — begrüßt worden, daß dieses gesellschaftlich so wichtige Feld der Energiepolitik nun ausführlich in der Öffentlichkeit diskutiert wird. Andererseits befürchten gerade die Vertreter von Bürgerinitiativen, daß der Dialog zur Audienz absinkt, wenn er nicht zu mehr Beteiligung des Bürgers an der Willensbildung über gesellschaftlich verbindliche Entscheidungen führt. Die heftigen Auseinandersetzungen über die Energiepolitik haben deutlich gemacht, daß die Forderung nach neuen Formen der politischen Willensbildung mit immer größerem Nachdruck gestellt wird. Die mit der industriellen Zivilisation einhergehenden Risiken werden inzwischen von vielen Bürgern als lebensbedrohend erkannt, und es wachsen die Zweifel an der Fähigkeit der tradierten Institutionen und Verfahren, die gestellten und zu erwartenden Herausforderungen zu meistern. Zugleich regt sich auch zunehmend Widerstand gegen bürokratische Bevormundung wie gegen die übermächtige Parteien-abhängigkeit und Interessengebundenheit des Staatswesens. Viele derjenigen, die durch die Fehlentwicklungen und Unerträglichkeiten aufgrund staatlicher und privatwirtschaftlicher Problembewältigung betroffen sind, verlangen nach neuen Verfahren für die Vermittlung von gesellschaftlichen Bedürfnissen und politischer Zuständigkeit. Damit ist nicht die tragende politische Rolle der Parteien zur Disposition gestellt. Es geht vielmehr um Formen der Willensbildung, die ergänzend zu den Parteien und gleichsam als deren kritisches Korrektiv wirksam zu werden vermögen. Auch die Bürgerinitiativen sind auf dieser Linie zu sehen. Ihr Engagement zielt auf die zeitgemäße Weiterentwicklung der repräsentativen Demokratie — nicht auf deren Abschaffung. Der Entscheidungsprozeß im Energiebereich kann zum Testfall werden für die Wandlungs-und damit auch Lebensfähigkeit dieser Demokratie.

I. „Dialog mit dem Bürger" oder Beteiligung des Bürgers?

Nach den heftigen und zum Teil gewaltsamen Auseinandersetzungen um den Bau von Kernkraftwerken in der Bundesrepublik ist die Bundesregierung in verstärktem Maße bestrebt, ihre Energiepolitik dem Dialog mit dem Bürger auszusetzen. Sie versucht auf diese Weise, eine Entwicklung einzuholen, die ihr davonzulaufen droht Noch vor zwei oder drei Jahren wäre wohl niemand auf die Idee gekommen, das Zusammenspiel zwischen den zuständigen Ministerien und Behörden sowie den Energieversorgungsunternehmen zu durchbrechen und den Bürger unmittelbar in die energiepolitische Diskussion einzubeziehen. Hier ist inzwischen offenbar eine Entwicklung registriert worden, die als alarmierend gewertet wird, weil sie ein politisch brisantes Maß der Entfremdung zwischen eben jenem „Bürger" und den von diesem gewählten Politikern anzeigt.

Diese Entfremdung muß insbesondere eine Partei wie die SPD beunruhigen, die in ihrem Orientierungsrahmen (OR) für die Jahre 1975 — 1985 festgestellt hat, daß derjenige, der die Probleme unserer Gesellschaft lösen will, die Fremdbestimmung überwinden und die gesellschaftlichen Lebensverhältnisse soweit wie möglich der freien Selbstbestimmung der in Gesellschaft zusammenlebenden Menschen unterwerfen muß (OR, S. 15). Gerade die energiepolitischen Entscheidungen haben aber viele Bürger als Fremdbestimmung erlebt — und zwar um so mehr, je größer sie die Gefahren für Gesundheit, Umwelt und Klima einschätzten, welche mit der Energieproduktion verbunden sind. Sie sahen hier ihre biologischen und ökologischen Lebensverhältnisse bedroht, ohne daß sie Art und Umfang der Bedrohung beeinflussen konnten.

Es entsprach wohl dem im Orientierungsrahmen gesetzten Ziel der Selbstbestimmung, als die Regierung angesichts des immer heftiger werdenden Widerstands gegen die Kernenergie den „Dialog mit dem Bürger" begann.

Aber ob sie damit wirklich mehr Selbstbestimmung erreichen wird oder überhaupt will, erscheint zumindest fraglich. Die SPD jedenfalls hatte schon im Orientierungsrahmen dann, wenn sie für die Ausbau der Institutionen des Rechtsstaates und der parlamentarischen Demokratie eintrat, um „mehr Selbstbestimmung aller Bürger zu ermöglichen“ (OR, S. 18), die Frage nach dem Wie unter der Überschrift „Die Vertrauensarbeit der Partei" beantwortet.

Daß mehr Selbstbestimmung in einer Demokratie beim Mitbestimmen beginnt und also rechtlicher, institutioneller und organisatorischer Voraussetzungen bedarf, tritt hier völlig zurück gegenüber der fürsorgenden Rolle der Partei. Die Intensivierung ihrer Vertrauensarbeit zur Verbesserung der Bedürfnisermittlung steht im Vordergrund, nicht die Mitbestimmung, die Beteiligung des Bürgers an den Entscheidungsprozessen, die die Befriedigung der individuellen und gesellschaftlichen Bedürfnisse regeln.

Damit ist aber im Kern das Problem bezeichnet, das gegenwärtig alle Parteien beschäftigen muß. Der zunehmende Widerstand vieler Bürger gegen politische und bürokratische Entscheidungen richtet sich letztlich gegen das Selbstverständnis der politischen Parteien, die ihre Rolle als „staatstragende" Parteien so vervollkommnet haben, daß die Formulierung „Dialog mit dem Bürger" ihren Audienzcharakter kaum verbergen kann. Wenn aber Selbstbestimmung das entscheidende Ziel bleiben soll, müssen sich die Parteien kritisch fragen, wieweit es ihnen noch gelingt, Dolmetscher des Bürgerwillens zu sein. Anders formuliert: ob sie nicht das notwendige Maß an Bürgernähe dadurch verloren haben, daß sie sich zu sehr auf die Interessenartikulation durch die Verbände verlassen und dabei übersehen haben, daß sich die Verbandsinteressen immer mehr gegenüber den tatsächlichen Interessen der Bevölkerung verselbständigt hatten. Die Vermittlung der vielfältigen Bürgerinteressen mit der politischen Zuständigkeit — das ist heute zum Problem geworden. Dialog mit dem Bürger bedeutet daher mehr Beteiligung des Bürgers an der Willensbildung, die zu gesellschaftlich verbindlichen Entscheidungen führt Dabei stellt sich schließlich auch die Frage, wer gemeint ist, wenn vom „Bürger" die Rede ist: sicher nicht nur die „Spitzen der Gesellschaft", die Tonangebenden im wirtschaftlichen und kulturellen Bereich, nicht nur die Planer, Bürokraten und Funktionäre, die Aufgestiegenen und die Aufsteigenden, nicht nur die Macher und Zyniker, für die nur der gilt, der sich behaupten, sich durchsetzen kann, der weiß, „was Sache ist“, und für die nur das von Wert ist, was einen Preis hat, sondern auch die „Spinner", die Moralisten, die , „Naturapostel“, die Besorgten, die Ängstlichen, die Schwärmer, die Ästheten, die Denkmalschützer, der sogenannte „kleine Mann“, der Bürger also, dem die Politiker oft nur noch in ihren Wahlkämpfen begegnen und der . ihnen offenbar um so unbekannter ist, je häufiger sie sich auf ihn berufen. Wie anders ist es zu erklären, daß in den Wahlkämpfen das Thema „Umweltschutz“ kaum eine Rolle spielte, aber alle Umfragen seit 1971 belegen, daß Umweltschutz von 80 — 90 °/o der Bevölkerung mit einer hohen politischen Priorität belegt wird und nur für ein Viertel der Bevölkerung die Umweltpolitik bei der Gefährdung des Arbeitsplatzes enden muß?

II. Begründungen für die Beteiligungsforderung

Wenn nun unter der Zielsetzung, dem Bürger mehr Selbstbestimmung zu ermöglichen, das Dialog-Angebot der Regierung in eine Beteiligungsforderung umgemünzt wird, dann stellt sich in unserer vorwiegend als Parteienstaat ausgebildeten Demokratie die Frage nach den Gründen für eine solche Forderung. Als erstes ist hier die zunehmende Reichweite politischer Entscheidungen zu erwähnen. Sie hat dazu geführt, daß Maßnahmen der Staatsverwaltung immer tiefer in den privaten und sozialen Bereich hineingreifen. Die Notwendigkeit solcher Eingriffe ist ebensowenig zu bezweifeln wie der Gewinn etwa an sozialer Sicherheit durch staatliche Daseinsvorsorge, die damit auch die Grundlage für einen privaten Freiheitsspielraum gewährt. Es sollte aber auch nicht übersehen werden, daß die Vorteile dieser Daseinsvorsorge inzwischen als selbstverständlich angesehen, die Nachteile in Gestalt wachsender Bürokratisierung dagegen immer drückender empfunden werden. Zudem hat die staatliche Verwaltung mit wachsenden Zuständigkeiten offenbar eine teilweise mit Arroganz gepaarte „Bevormundungsmentalität" mit entsprechender Praxis entwickelt, die insbesondere von sozial schwachen Gruppen oft als Symptom für Unfreiheit und Unterdrückung gewertet wird.

Die mit den wachsenden Zuständigkeiten der Politik einhergehende Bürokratisierung trägt nun nicht nur zur allseits beklagten Staatsverdrossenheit bei, sondern weist auch objektive Mängel auf. Mit dem Maß der Bürokratisierung, Zentralisierung und Hierarchisierung einer Organisation wächst die Tendenz, wichtige Nebenfolgen von Entscheidungen zu übersehen. Die tatsächliche Vielzahl und Vielfalt der entscheidungsrelevanten Daten und Fakten kann nicht hinreichend geltend gemacht werden — ebensowenig die unsere Gesellschaftsordnung kennzeichnende Unterschiedlichkeit der Wertorientierungen. Die bürokratische Verwaltung neigt dazu, die gesellschaftliche Komplexität so zu reduzieren, daß ihre Entscheidung in ihrem Verlauf wie ihrem Ergebnis oft die organisierte Phantasielosigkeit darstellen.

Die oft hoffnungslose Abhängigkeit des einzelnen von bürokratischen Entscheidungen, die sich in vielerlei Formularen und Vorschriften, Geboten und Verboten dokumentieren, ist aber nur die eine Seite der soeben beschriebenen Entwicklung. Der Machtzuwachs der Verwaltung hat diese zum bevorzugten Adressaten eines gut organisierten Verbands-einflusses werden lassen. Die gleichen Bedingungen, die den einzelnen in der Regel zur Einflußlosigkeit verurteilen, begünstigen daher auf der anderen Seite eine wirksame Einflußnahme der Interessenverbände. Sie verfügen über die organisatorischen Voraussetzungen für einen reibungslosen Umgang mit Formularen und Vorschriften und sind darüber hinaus auch finanziell in der Lage, sich gegenüber Geboten und Verboten ihr Recht (oder das, was sie dafür halten) zu erstreiten.

Die Folge ist, daß das „Gemeinwohl" im Ausgleich der stärksten Interessen gesucht wird. Diese aber werden nach dem Maß der organisatorischen und finanziellen Möglichkeiten überwiegend von den wirtschaftlich orientierten Großgruppen vertreten. Bei der Durchsetzung von Interessen über die Bürokratie sind also stets solche Gruppen benachteiligt, die ein allgemeines Interesse wie etwa das des Umweltschutzes oder der Bildung vertreten. Denn je allgemeiner ein Interesse ist, um so geringer sind bekanntlich sein Organisationsgrad und damit auch seine Durchsetzungskraft. Es bleibt zwar die Chance, daß sich die politischen Parteien der von den Verbänden vernachlässigten Interessen annehmen. Aber die Entwicklung der Parteien zu Volksparteien zwingt die Parteiführung dazu, um der Geschlossenheit und der Aktionsfähigkeit willen bestimmte Interessen zurückzudrängen, solange sie nicht ein auf dem Markt der politischen Meinungen anerkanntes Thema betreffen. Anerkannt freilich wird dort offenbar nur das, was entweder den materiellen Wohlstand berührt oder in anderer Weise als unmittelbar lebenswichtig angesehen wird. Langfristig sich verschärfende und also auch zu lösende Probleme wie z. B. das des Umweltschutzes drohen durch die Maschen dieses Systems der Problembewältigung zu fallen.

Dieses System ist gekennzeichnet durch das geschäftsordnungsmäßig geregelte Zusammenspiel von Verwaltung und Verbänden einerseits und der wachsenden Zuständigkeit der Parteien andererseits — nicht zuletzt aufgrund einer wechselseitigen Durchdringung von Parteien, Verwaltung und Verbänden. Die Bedeutung der Parteien für die demokratische Ordnung soll hier nicht bestritten werden. Aber die tendenzielle Allzuständigkeit der Parteien ist im Blick auf die grundlegenden demokratischen Prinzipien deshalb problematisch, weil es den Parteien nicht hinreichend gelingt, den Willen der Bevölkerung zu erfassen und zu kanalisieren Einmal läßt die innerparteiliche Demokratie zu wünschen übrig, deren konsequenter Ausbau daher auch im OR (S. 40) nachdrücklich gefordert wird; zum anderen gelingt auf der kommunalen Ebene jene Kanalisierung nicht — wegen der vertikalen Gliederung der Parteien, der Einflußlosigkeit bzw. Überforderung der Gemeindeparlamente und der Verschiebung der Entscheidungsebene; was schließlich die Parteien dem Wähler in Wahlkämpfen an Selbstdarstellung anbieten, ist nicht nur wegen des Ausmaßes der Verschwendung öffentlicher Gelder eine Zumutung, sondern nicht zuletzt auch deshalb, weil hier gerade nicht anhand klarer Alternativen politische Willensbildung betrieben wird, sondern werbepsychologisch angereichert die Verdummung des Wählers

Umfragen zeigen, daß die hier nur kurz skizzierte Entwicklung von vielen Bürgern schon seit geraumer Zeit als problematisch empfunden wird. In einer Infas-Repräsentativerhebung im Jahr 1971 beklagten 68 % der Befragten die übermächtige Parteienabhängigkeit und 67 °/o die übermächtige Interessenabhängigkeit des Staatswesens, und in einer Befragung desselben Instituts aus dem Jahr 1973 sprechen sich 63 °/o der Bundesbürger für eine unmittelbare Beteiligung an politischen Entscheidungen aus

Nimmt man etwa noch eine Emnid-Untersuchung aus dem Jahr 1974 hinzu, nach welcher nur 4 °/o der Bevölkerung den Informationen von Politikern in Fragen der Umweltverträglichkeit von Energieträgern Glauben schenken (3 °/o glaubten den Sprechern der Industrie), dann kommt hier ein gefährliches Unbehagen an der Funktionsfähigkeit unserer politischen Ordnung zum Ausdruck. Viele stellen sich offensichtlich die Frage, ob der Verwaltungs-, Verbände-und Parteienstaat in seiner jetzigen Form noch den gesellschaftlichen Anforderungen an die Politik gewachsen ist. Die Interdependenz und die Komplexität der modernen Zivilisation sowie die existenziellen Auswirkungen politischer Entscheidungen setzen ein Maß an Information und Kommunikation voraus, das das repräsentative System offenbar nicht geleistet hat.

Die mit der industriellen Zivilisation einhergehenden Risiken werden inzwischen von vielen Bürgern als lebensbedrohend erkannt, und die gegenüber den Wachstumsfragen offenkundige politische Vernachlässigung dieser Risiken verstärkt ihre Zweifel an der Fähigkeit der tradierten Institutionen und Verfahren, die gestellten und zu erwartenden Herausforderungen zu meistern. Jene scheinen insbesondere durch die Langfristigkeit der hier zu berücksichtigenden Perspektiven an die Grenze ihrer politischen Leistungsfä-2 higkeit geführt zu werden — auch wenn zuzugestehen ist, daß weder die politischen Parteien noch die bisherigen Entscheidungsverfahren diese Grenze schon erreicht haben. Es kann also vermutet werden, daß die Bürgerinitiativen mehr anzeigen als ein aktuelles Versagen der politischen Parteien. Politische Entscheidungen gewinnen angesichts ihrer Reichweite sowie der ökologischen Bedrohung unserer Zivilisation eine neue Dimension. Deshalb geht es um neue Verfahren für die Vermittlung von gesellschaftlichen Bedürfnissen und politischer Zuständigkeit, um neue Wege des Dialogs mit dem Bürger, d. h.seiner Reintegration in den Prozeß politischer Willensbildung und Entscheidung.

III. Beteiligung des Bürgers außerhalb der Parteien

Die in der Begründung für die Beteiligung enthaltene Diagnose unseres politischen Systems mag mancher für übertrieben pessimistisch halten. Aber auch ein solches Urteil sollte nicht dazu verführen, sich den mit den Bürgerinitiativen gestellten kritischen Anfragen an das Selbstverständnis und den politischen Stellenwert der Parteien zu entziehen. Jedenfalls wird es auf absehbare Zeit den Parteien vermutlich nicht gelingen, das sich in den Bürgerinitiativen äußernde politische Engagement völlig zu vereinnahmen. Zwar wird es immer wieder Positionswechsel zwischen Bürgerinitiativen und Parteien geben, und es werden weiterhin Mitglieder der Parteien in Bürgerinitiativen mitarbeiten, aber gegenwärtig ist das auf Erfahrung gegründete Mißtrauen vieler Vertreter von Bürgerinitiativen gegen die Verfilzungen von Parteien, Wirtschaftsverbänden und Verwaltung noch so groß, daß ihnen ein parteipolitisches Engagement nicht als Alternative erscheint. Was z. B.der von einer Stadtsanierung betroffene Bürger im Umgang mit Politikern und den meist parteipolitisch orientierten Vertretern der Stadtverwaltung erlebt, legt ihm oft die Vermutung nahe, die Partei sei entweder eine Organisation für die öffentliche Förderung privater Karrieren oder eine Agentur für die Durchsetzung von Verbandsinteressen.

Jenseits dieses Mißtrauens bleibt aber die Frage, ob eine Vereinnahmung der Bürgerinitiativen gesamtpolitisch sinnvoll wäre. Gegenwärtig muß es wohl vor allem darum gehen, das Kontrollpotential an der Basis zu verstärken, mehr Impulse und Innovationen »von unten“ zu ermöglichen. Basis ist hier nicht nur im Sinne von Parteibasis zu verstehen. Deren Einbeziehung sollte zwar auch intensiviert werden, nicht nur wegen der innerparteilichen Demokratie, sondern auch um das Reservoir an politischen Führungskräften zu vergrößern. Hier ist Basis aber breiter gemeint Viele politisch engagierte Bürger gehen ja u. a.deshalb nicht in die Parteien, weil sie das Maß an verpflichtender Inanspruchnahme fürchten, das damit notwendig verbunden ist. Je unterschiedlicher die Bereiche sind, in die die Politik heute eingreift, um so unterschiedlicher können auch die Positionen sein, die der einzelne gegenüber parteipolitischen Entscheidungen einnimmt Daher scheut mancher die Einlinigkeit eines parteipolitischen Engagements, die aus dem ingroup/out-group-Denken sich ergebende Identifikation mit der eigenen Gruppe, durch die er mehr oder weniger unbewußt — also ohne daß er sich dagegen wehren kann — einen Teil seiner Kritikfähigkeit einbüßen könnte. Auf das hier vorhandene kritische Potential sollte eine Gesellschaft aber nicht verzichten, sondern auch außerhalb der Parteien nach Wegen suchen, um es politisch wirksam werden zu lassen.

Die Bedeutung der Kontrollfunktion von innerparteilichen und außerparteilichen Basis-gruppen wächst mit dem Zwang zur zentralisierten Entscheidung. Jede politische und ökonomische Konzentration führt letztlich dazu, daß eine immer größere Entscheidungsbefugnis über immer mehr Menschen bei immer weniger Entscheidungsträgern konzentriert wird. So zeichnet sich denn heute schon eine Entwicklung ab, die man karikierend so beschreiben kann, daß man die Menschen in drei Klassen einteilt: die Klasse der wenigen, die dafür sorgen, daß etwas geschieht, die Klasse der vielen, die zuschauen, wie etwas geschieht, und die Klasse der überwältigenden Mehrheit, die keine Ahnung hat, was überhaupt geschehen ist. Worum es heute gehen muß, ist freilich nicht die Partizipation aller an allen Entscheidungen oder gar die Abschaffung der Parteien. Die Hoffnung auf eine selbstbewußte politische Beteiligung der gesamten Bevölkerung ist — ganz abgesehen von der praktischen Unmöglichkeit — wenig realistisch. Worauf es vor allem ankommt, ist die Offenheit des politischen Systems für eine unterschiedliche Bereitschaft der Bürger zu politischem Engagement.

Durch diese Offenheit könnte der wachsende Basisdruck für die notwendige Weiterentwicklung der politischen Ordnung genutzt werden. Der Dialog mit dem Bürger trüge dann zur Anpassung unseres politischen Systems an die gesellschaftliche Entwicklung bei, er würde das System verändern, ohne es zu zerstören. Die Konservativen, die das Wort „Systemveränderung“ in jeder Form am liebsten auf einen politischen Index setzen wollen, sollten bei dem Konservativen Edmund Burke nachlesen: Ein Staat, dem alle Mittel zur Veränderung fehlen, entbehrt die Mittel zu seiner Erhaltung.

Thesen über Bürgerinitiativen als Beteiligungsform

1) Das Engagement der Bürgerinitiativen zielt in seiner politischen Ausrichtung auf die Verbesserung, die zeitgemäße Weiterentwicklung der repräsentativen Demokratie — nicht auf deren Abschaffung. Die Demokratie profitiert davon in zweifacher Weise: mit der Anpassung der Entscheidungsstrukturen an die gesellschaftliche Entwicklung steigt die Reaktionsfähigkeit des politischen Systems in bezug auf Bedürfnisse der Bevölkerung; mit den in Bürgerinitiativen sich vollziehenden Lernprozessen wächst die Bereitschaft zum Konflikt und die Fähigkeit zu gemeinsamen Konfliktlösungen, die Demokratie gewinnt eine breitere Basis im Bewußtsein der Bürger.

2) Bei den demokratischen Entscheidungsstrukturen muß zwischen dem Bereich der Willensbildung und dem der Entscheidungsfindung unterschieden werden. Die verfassungsmäßigen Aktivitäten der Bürgerinitiativen konzentrieren sich auf den Bereich der Willensbildung, an welcher die Parteien nach Art. 21 GG mitwirken, bei der sie aber kein Monopol besitzen. Bürgerinitiativen artikulieren in diesem Bereich private und soziale Interessen, die weder durch den etablierten Verbandspluralismus, noch durch die Verwaltung, noch durch die Parteien hinreichend zur Geltung gebracht werden. Hier sind Bürgerinitiativen genau so viel oder so wenig politisch verantwortlich wie jeder Interessenverband, der im Rahmen des geltenden Pluralismuskonzepts eine politische Entscheidung zu seinen Gunsten zu beeinflussen versucht. Daß Bürgerinitiativen sich „höchste Autorität in allen Lebensfragen unserer Gesellschaft” anmaßen (Heinz-Oskar Vetter) ist eine Schelte, die nach Verleumdung klingt mit der Absicht, einen lästigen Kritiker und Konkurrenten bloß-zustellen. 3) Die Aktivitäten der Bürgerinitiativen sind — wie empirische Untersuchungen mehrfach bestätigt haben — in ihrer überwiegenden Mehrheit gemeinwohlorientiert. Ihre Aktionen werden zwar meist durch ein individuelles Betroffensein von Mißständen in ihrer sozialen oder natürlichen Umwelt oder von Planungsvorhaben ausgelöst, aber die von ihnen vertretenen Interessen sind in der Regel soge-nannte Inklusivinteressen, deren Verwirklichung also nicht nur den Bürgerinitiativen selbst, sondern auch der Allgemeinheit zugute kommt. Nur einem verschwindend kleinen Teil der Bürgerinitiativen geht es um die „Verteidigung ihrer privaten Idylle" (Vetter). 4) Wenn Bürgerinitiativen eine Problem thematisieren, das (noch) nicht die Zustimmung der Mehrheit finden kann, sollte man ihnen nicht von vornherein vorwerfen, individuelle oder partikulare Interessen auf Kosten des Gemeinwohls zu verfolgen. Die Politiker sollten vielmehr bedenken, daß gerade dann die Bürgerinitiativen ihre verläßlichsten Partner sein könnten. Politik in ihrem eigentlichen Sinn der verantwortlichen Zukunftsgestaltung muß ja davon ausgehen, daß in der breiten Bevölkerung die Beharrungstendenzen üblicherweise größer sind, als die Mandatsträger hinnehmen können oder sollten. Politik kann sich also nicht darauf beschränken, stets nur den Willen der Mehrheit zu vollziehen, sondern sie muß auch-Impulse geben, Ziele entwickeln und präsentieren, ohne sicher zu sein, dafür kurzfristig eine Mehrheit gewinnen zu können. Insbesondere bei unpopulären und nur langfristig zu erreichenden Zielsetzungen können die von Bürgerinitiativen angeregten Willensbildungsprozesse mit dazu beitragen, daß die jenen Zielen entsprechenden politischen Entscheidungen Zustimmung in der Bevölkerung finden. 5) Die Einflußnahme der Bürgerinitiativen auf die Mandatsträger und die Verwaltung bewegt sich in der Regel im Rahmen der Formen, die der repräsentativen Demokratie gemäß sind. Gewiß kann mit der Willensbildung auch ein unmittelbarer Einfluß auf die Entscheidung versucht werden, und es würde dem geltenden Pluralismuskonzept total widersprechen, schon den Versuch einer solchen Einflußnahme zu disqualifizieren. Aber letztlich kann die Entscheidung den beauf-fragten Amts-und Mandatsträgem nicht abgenommen werden. Eine Bürgerinitiative oder ein Interessenverband, die solches anstreben oder gar bei der Verfolgung ihrer Ziele Gewalt anwenden, verletzen die ihnen verfassungsmäßig gesetzten Grenzen.

6) Die grundsätzliche Kritik an den Bürgerinitiativen kommt von zwei Seiten; die eine wirft ihnen vor, daß sie das politische System verändern, die anderen, daß sie es stabilisieren würden. Beide Vorwürfe sind richtig, aber ich halte keinen als Vorwurf für berechtigt. Die Notwendigkeit der Veränderung ist bereits hinreichend begründet. Derjenige, dem die in dieser Richtung von den Bürgerinitiativen eingeleiteten Schritte zu langsam oder zu klein erscheinen, sollte sich fragen, ob es unter den gegebenen Bedingungen realistisch und vor allem ob es sozial zumutbar ist, das System als Ganzes überwinden zu wollen. Mit den Bürgerinitiativen ist der notwendigen Veränderung des Systems jedenfalls mehr gedient als mit der bloß intellektuellen Vermittlung von Einsichten in Systemzwänge. Der missionarische Eifer der Systemüberwinder, der schrittweise Erfolge bei der Veränderung als systemstabilisierend verdammt, erreicht nur diejenigen, die schon revolutionär infiziert sind — und dazu gehören ihrer konkreten Zielsetzung und ihrer sozialen Zusammensetzung nach sicher nicht die Bürgerinitiativen.

7) Wenn Bürgerinitiativen einerseits zur Veränderung der politischen Ordnung beitragen, so dienen sie andererseits in der Tat auch der Systemstabilisierung. Dies gilt nicht nur im Hinblick auf ihre Funktion als Frühwarnsysteme für politische und soziale Defizite und Fehlentwicklungen. Es betrifft auch die generelle Zustimmung zum demokratischen Staat. Der einzelne erlebt heute den Staat bestenfalls als anonyme Verwaltung, oft aber auch als bürokratische Bevormundung, und er gewinnt den Eindruck, daß er ohnmächtig einem undurchschaubaren Geschehen ausgeliefert ist. Seine Zustimmung zu diesem Staat gewährt er vor allem aus der Erwartung, daß seine wirtschaftlichen Leistungsanforderungän erfüllt werden, nicht weil er in diesem Staat die Möglichkeit erkennt, auf die Gestaltung seiner Lebensbedingungen verbindlich einzuwirken. Bürgerinitiativen können aufgrund ihrer besonderen Arbeitsbedingungen (sachliche, zeitliche, räumliche Begrenzung) den Beteiligten das Gefühl der Ohnmacht nehmen und öffentlich nachweisen, daß im demokratischen Staat der Einsatz und die Initiative einzelner durchaus Problemlösungen zu erreichen vermögen. Wer konkret erfahren hat, was demokratische Freiheit bedeutet, der löst seine Loyalitätszusage von dem reinen Nutzenkalkül und ist mehr als andere bereit, die staatliche Autorität auch in wirtschaftlich schwierigen Zeiten anzuerkennen. Daher wächst mit den Bürgerinitiativen das Potential derjenigen, die im demokratischen Staat mehr erblicken als eine Versorgungsanstalt mit Pensionszusagen. 8) Die Gefahr, daß Bürgerinitiativen durch radikale Gruppen unterwandert werden, ist aufgrund der bisherigen Erfahrung äußerst gering. Die soziale Zusammensetzung der Bürgerinitiativen spricht ebenso dagegen wie ihre meist sehr begrenzte Zielsetzung. Die radikalen Gruppen sind nur dann ungerufen an der Seite der Bürgerinitiativen, wenn deren Aktionen einen Dramatisierungsgrad erreicht haben (d. h. in der Regel durch kapitale politische Fehler der Verantwortlichen dazu provoziert worden sind), der die Initiative in eine Massenbewegung Umschlägen läßt. Erst dieser Massencharakter, der der Logik der Bürgerinitiativen im strengen Sinn widerspricht, bietet jenen Gruppen eine Agitationsbasis in den Bürgerinitiativen. Dieser Extremfall kann keinesfalls dazu herangezogen werden, den Bürgerinitiativen die demokratische Legitimation abzusprechen. 9) Die Glaubwürdigkeit der Bürgerinitiativen beruht letztlich darauf, daß sie unter oft großen persönlichen Opfern und ohne Aussicht auf materiellen Gewinn für das eintreten, was sie in ihrem sowie im Interesse des Gemeinwesens für richtig und notwendig halten. Der Vorfall in Bergkamen, Westfalen, wo sich eine Bürgerinitiative ihre Aktivität gleichsam abkaufen lassen wollte, hat sicher dem Ruf der Bürgerinitiativen geschadet. Aber bevor nun generell ihre Glaubwürdigkeit angezweifeit wird, sollte folgendes berücksichtigt werden. Erstens: Die Affäre von Bergkamen belastet nicht nur die Bürgerinitiativen, sondern zumindest in gleichem Maß das beteiligte Unternehmen. Die angebotenen „Entschädigungssummen" sind ja letztlich Bestechungsoder Schweigegelder. Daß sie an Privatpersonen gezahlt werden sollen, ist zwar besonders problematisch, aber was unterscheidet eigentlich diese Art der Bestechung von derjenigen, bei welcher einem Gemeinderat die Zustimmung zu einer Industrieansiedlung dadurch abgekauft wird, daß das Unternehmen sich zur Finanzierung eines kommunalen Schwimmbads oder Jugendheims verpflichtet?

Zweitens: Der Vorfall von Bergkamen ist der erste dieser Art, der bekanntgeworden ist, und es wird am Ort des Geschehens hereits darüber nachgedacht, „ob das Unternehmen, das die Brügerinitiative ... so schnell zum Verschwinden brachte, nicht auch an ihrer Entstehung beteiligt war ... “ Bekannt ist aber auch, daß es ähnliche Bestechungsversuche schon häufiger gegeben hat, die betroffenen Bürgerinitiativen ihnen aber bisher stets widerstanden haben. Es ist wohl nicht davon auszugehen, daß sich diese Haltung in Zukunft grundlegend ändern wird.

Drittens: Es gibt in der Bundesrepublik zur Zeit mehrere tausend Bürgerinitiativen. Allein der Bundesverband Bürgerinitiativen Umweltschutz (BBU), dem längst nicht alle Umweltinitiativen angehören, gibt 300 000 Mitglieder an. Unter diesen Umständen wird man zu dem Schluß kommen müssen, daß — sowenig die grundsätzliche Glaubwürdigkeit der Parteien aufgrund von Korruptionsfällen einzelner Parteimitglieder in Frage gestellt werden kann — auch jener Vorfall von Bergkamen nicht die Bürgerinitiativen unglaubwürdig macht, die diesen Namen wirklich verdienen.

IV. Folgerungen für den Entscheidungsprozeß im Energiebereich

Entscheidungen mit so weitreichenden Konsequenzen, zumal solchen, die von den Bürgern als bedrohlich empfunden werden, müssen in allen ihren Voraussetzungen, Bedingungen und Auswirkungen ausreichend diskutiert und für den Bürger in ihren Folgen durchschaubar gemacht werden. Wenn solche Entscheidungen zudem noch in die Lebensgewohnheiten der Bevölkerung eingreifen (Energieeinsparung, rationellere Energieverwendung), sind sie auf Dauer wohl nur durch eine intensive Beteiligung des Bürgers erfolgreich durchzusetzen. Das bedeutet:

1) Der „Dialog mit dem Bürger“ bedarf vor allem der Ehrlichkeit, was nicht nur heißt, die Wahrheit zu sagen, sondern auch, nichts Wesentliches zu verschweigen. Wenn z. B. heute über Alternativenergien diskutiert wird, sollte nicht ungesagt bleiben, daß hier in der Vergangenheit gravierende Fehler gemacht worden sind, daß etwa die Forschungspolitik die Sonnenenergie bis in die jüngste Vergangenheit klar vernachlässigt hat. Ehrlichkeit im Eingestehen eigener Fehler trägt sicher mehr zur Wiederherstellung eines Vertrauensverhältnisses bei als die vollmundige Proklamation einer „progressiven Energiepolitik" die heute oder morgen nur nachholt, was sie gestern und vorgestern versäumt hat.

2) Das ohnehin angeschlagene Vertrauen des Bürgers in die Redlichkeit und Verantwortlichkeit der Politiker wird weiter demoliert durch so fatale Aktionen wie die des „Informationskreises Kernenergie“ — unter führender Beteiligung der Abgeordneten Flämig (SPD) und Lenzer (CDU). In einer breit angelegten Werbeaktion für die Kernenergie wenden sie sich an alle Pfarrer und Pastorinnen in der Bundesrepublik, u. a. mit der „Information“, daß die mit der Kernenergie verbundenen Risiken nicht größer seien als andere, denen wir uns täglich freiwillig aussetzen. Von dieser Verharmlosung des Problems sollten sich die Regierung und insbesondere die SPD — angesichts der völlig anderen Problembehandlung in ihrem „Diskussionsleitfaden Energie" — eindeutig distanzieren. Diese und ähnliche Informationsstrategien der Industrie weisen darauf hin, daß bei dem Dialog mit dem Bürger das Problem der Chancengleichheit gelöst werden muß. Wie die zitierte Emnid-Umfrage aus dem Jahr 1974 zeigt, müssen neue Wege beschritten werden: Zusammenschlüsse von Bürgerinitiativen und Umweltschutzverbände sollten in ihren Bemühungen in der Energiediskussion materiell unterstützt werden. Da sie eine öffentliche Funktion erfüllen, sollten sie auch öffentlich gefördert werden, um die Gleichberechtigung der Dialog-Partner sicherzustellen.

4) Eine solche Unterstützung würde die genannten Organisationen und Verbände auch in die Lage versetzen, den vom Bundesforschungsminister angestrebten „kritischen öffentlichen Dialog mit dem Bürger“ über die Ziele und die Prioritäten der Energieiorschung sachgerecht zu führen. Obwohl mit der Forschungsförderung entscheidende Weichen gestellt werden für die Zukunft unserer Gesellschaft, bleiben die Ziele der Forschungspolitik weithin außerhalb der politischen Diskussion. Die Parteien sollten sich nicht scheuen, öffentlich die gesellschaftlichen und politischen Perspektiven zu benennen, die in alternativen Forschungszielen enthalten sind, und sie sollten die verschiedenen Organisationen im Bereich des Natur-und Umweltschutzes in dem Versuch unterstützen, sich mit diesen Zielen kompetent auseinanderzusetzen. 5) Der Dialog mit dem Bürger über die Ziele der Energiepolitik der Bundesregierung kann nur dann sinnvoll sein, wenn die Kritiker dieser Politik nicht mit „Droh-Prognosen mund-tot gemacht werden und Katastrophenpläne praktisch nur durch Diebstahl ans Licht geraten" Anstatt das Ausgehen der Lichter oder den Verlust der Arbeitsplätze zu beschwören, sollten die Politiker dem Bürger genau sagen, wieviel Kraftwerksleistung in der Bundesrepublik installiert ist, eingeschlossen die Kraftwerke der Städte, der Industrie und der Bundesbahn. Daß Kraftwerks-planung betrieben wird, ohne daß die tatsächlich vorhandene Kraftwerksleistung in der Bundesrepublik mit dem gegenwärtigen und dem zukünftigen Bedarf verglichen werden kann, ist ein politischer Skandal. Es wäre auch an der Zeit, daß die interessierte Öffentlichkeit genauer über den Zusammenhang von Energiepolitik und Arbeitsplatzsicherung informiert wird, anstatt ihr mit unbewiesenen Behauptungen Angst einzujagen. 6) Angesichts der gesellschaftlichen Auswirkungen der Energieproduktion ist eine vorausschauende Planung von Standorten sowie eine politisch verantwortete Standortvorsorge unerläßlich für eine verantwortliche Energie-politik. Die bisherige Praxis, nach welcher die Energieversorgungsunternehmen die Standortplanung durchführen, die nur noch akzeptiert oder abgelehnt werden kann, führt zu einer problematischen Bevorzugung energiewirtschaftlicher und betriebswirtschaftlicher Aspekte auf Kosten von Erfordernissen der Ökologie oder der Raumordnung. 7) Die für die Errichtung und den Betrieb von Kraftwerken vorgesehenen Genehmigungsverfahren sollten im Sinne des Dialogs mit dem Bürger ausgestaltet werden. Einen konkreten Ansatz dazu bietet der „Wiedenfelser Entwurf". Er sieht vor, daß jeder der Verfahrens-partner — Betreiber, Behörden, Organisationen betroffener Bürger — unter den ihm wichtig erscheinenden Gesichtspunkten einen Gutachter auswählt, dem ein gemeinsam erarbeiteter Fragenkatalog vorgegeben wird. Die unabhängig voneinander erstellten Parallelgutachten, deren Kosten der Betreiber tragen soll, werden dann in einem öffentlichen Anhörungsverfahren zur Diskussion gestellt. Ziel dieses Verfahrens ist es, die mit der geplanten Anlage verbundenen Vorteile und Risiken öffentlich und gleichzeitig rational abzuwägen und die Entscheidung darüber zustimmungsfähig zu machen. 8) Für die im Genehmigungsverfahren vorgesehene „öffentliche Bekanntmachung", d. h. auch für die Offenlegung und Interpretation der zu genehmigenden Planung müssen neue Formen entwickelt werden. Bisher erfolgte die „öffentliche Bekanntmachung" meist mittels Kleindruck-Anzeigen in den Tageszeitungen. Hier ist ein gezieltes Engagement der Parteien erforderlich, um die mit der geplanten Anlage verbundenen Konflikte und Kontroversen in die öffentliche Diskussion zu bringen, anstatt wie bisher danach zu trachten, die Planung möglichst reibungslos über die Bühne zu bringen. Bürgernähe kann hier darin konkret werden, daß die Parteien zur Offenlegung von Konflikten beitragen und nicht zu deren Verschleierung. 9) Die rechtlichen Möglichkeiten der von einer Kraftwerksgenehmigung betroffenen Bürger können durch die Einführung der Verbandsklage wesentlich erhöht werden. 10) Der Dialog mit dem Bürger sollte von keiner Seite damit begonnen werden, daß sie der anderen deren Emotionen zum Vorwurf macht. So notwendig in den allfälligen Auseinandersetzungen sachliche Kompetenz ist, so wenig kann doch andererseits davon abgesehen werden, daß mit den Fragen der Energie im allgemeinen und der Kernenergie im besonderen sowohl Hoffnungen, Erwartungen und Wünsche als auch Befürchtungen, Sorgen und Ängste, also Gefühle verbunden sind. Hier ist die Logik der reinen Sachlichkeit die Logik des Unmenschlichen — und darauf kann sich eine verantwortliche Politik nicht einlassen.

Fussnoten

Fußnoten

  1. J. Habermas, L. von Friedeburg u. a., Student und Politik, Neuwied 1969, S. 31:'„Die Parteien sind Instrumente der Willensbildung, aber nicht in der Hand des Volkes, sondern derer, die den Parteiapparat beherrschen.'

  2. Hanns-Georg Helwerth, Wolfgang Niess, Rolf Sülzer, Bettina Wieselmann und Michael Zeiß kommen in ihrer Analyse des Bundestagswahlkampfes 1976 zu dem. Schluß, daß dieser Wahlkampf einen „Sieg des Stylings über den konfliktreichen Prozeß der demokratischen Willensbildung" gebracht hat; in: Wahlkampf und politische Bildung, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, B 9/77 vom 5. 3. 1977, S. 20.

  3. Vgl. Peter C. Mayer-Tasch, Die Bürgerinitiativbewegung, Hamburg 1976, S. 27 sowie Stuttgarter Zeitung vom 12. 7. 1973.

  4. Manfred Linz in der NDR-Sendung „Auf ein Wort" am 2. Mai 1977.

  5. So Hans Maithöfer in einem Interview in: DER SPIEGEL, Nr. 14, 31. Jahrgang, Hamburg 1977, S. 52.

  6. So Harro H. Müller in: Deutsches Allgemeines Sonntagsblatt vom 27. März 1977.

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Horst Zilleßen, Dr. rer. pol., geboren 1938 in Jüchen/Kreis Grevenbroich; Studium der Politischen Wissenschaft, Wirtschaftswissenschaft und Geschichte in Köln; 1963— 1969 wissenschaftlicher Mitarbeiter im Sozialethischen Ausschuß der Evangelischen Kirche im Rheinland, Velbert; seit 1970 Leiter des Sozialwissenschaftlichen Instituts der evangelischen Kirchen in Deutschland, Bochum. Veröffentlichungen u. a.: Dialektische Theologie und Politik. Eine Studie zur politischen Ethik Karl Barths, Berlin 1970; Protestantismus und politische Form. Eine Untersuchung über das protestantische Verfassungsverständnis, Gütersloh 1971; Lebensqualität — Zur inhaltlichen Bestimmung einer aktuellen politischen Forderung, Wuppertal und Paderborn 1973 (gemeinsam mit H. D. Engelhardt, K. E. Wenke und H. Westmüller); Bürgerinitiativen im repräsentativen Regierungssystem, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, B 12/74; Forschungspolitik und gesellschaftliche Entwicklung, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, B 27/76 (gemeinsam mit M. Bartelt, K. Kaiser, K. E. Wenke und H. Westmüller).