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Das indische Dilemma | APuZ 26/1977 | bpb.de

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APuZ 26/1977 Artikel 1 Zwei Jahre „Demokratisches Kambodscha" Das indische Dilemma Die Kurden -Nation ohne Land

Das indische Dilemma

Prodosh Aich

/ 37 Minuten zu lesen

Zusammenfassung

Die politischen Ereignisse in Indien, über die in den deutschen Medien — wie anderswo auch — zumeist nur auf Personen bezogen berichtet wird, erscheinen widersprüchlich. Diese Widersprüchlichkeit läßt eine systematische Einordnung nicht zu; es fehlt der Bezugsrahmen. In diesem Beitrag wird versucht, durch die Darstellung zweier sozialer Institutionen und deren geschichtlicher Entwicklung einen solchen Bezugsrahmen zu schaffen. Bei der geschichtlichen Analyse fällt auf, daß die indische Gesellschaft seit Jahrtausenden mit einer Grundstruktur lebt, die sich durch krasse soziale Ungleichheit auszeichnet. Dabei hatte Indien immer einen hohen Stand an Produktivität. Selbst spektakuläre Ereignisse wie Einwanderungen, Ausplünderungen und zwei über Jahrhunderts andauernde Fremdherrschaften unterschiedlicher Qualität haben zu keiner grundlegenden Veränderung im System der sozialen Gliederung geführt. Es hat auch keinen Versuch gegeben, die krassen sozialen Gegensätze zu verändern. Das soziale Gliederungssystem ist das Kastensystem. Es ist weder von der frühen Fremdherrschaft der islamischen Eroberer, noch von den europäischen Kolonisatoren, noch nach der politischen Unabhängigkeit Indiens angetastet worden. Eine Analyse des Kastensystems zeigt, daß eine grundlegende Veränderung der sozialen Ungleichheit ohne die Aufhebung des Kastensystems nicht denkbar ist.

Vorbemerkung

TABELLE 1:

Die Berichterstattung in den Medien, nicht nur die über Indien, orientiert sich am aktuellen Geschehen. Nicht alle Ereignisse werden berichtet, sondern nur die berichtenswerten. Ein Ereignis ist dann berichtenswert, wenn der Berichterstatter glaubt, daß es für die Konsumenten der jeweiligen Medien von Interesse sein könnte. Ein Auswahl treffen müssen heißt stets, über das Geschehen unvollständig zu berichten. Die Kontinuität eines Prozesses wird nicht mehr erkennbar, deshalb müssen dem Konsumenten die berichteten Ereignisse oft als widersprüchlich erscheinen. Hinzu kommt noch, daß die aktuellen Probleme oft auf Personen bezogen dargestellt werden. Wertungen kommen bewußt oder unbewußt hinzu; aus der Darstellung des Geschehens werden so Meinungen. Diese Vorgehensweise ist sicherlich dann legitim, wenn gleichzeitig über die Interessenlage dieser Personen im Zusammenhang berichtet wird. Dies scheint aber selten zu gelingen.

Es wäre wenig sinnvoll, sich hier mit veröffentlichten Meinungen auseinanderzusetzen. Das Ziel des Verfassers ist vielmehr, jene Rah-menbedingungen zu beschreiben, die Voraussetzung dafür sind, die aktuellen Ereignisse einordnen zu können,. Dafür ist die Beschreibung des geschichtlichen Wirkungszusammenhangs notwendig. Dieser umfangreiche Anspruch muß eingeschränkt werden. Hier soll nicht die Geschichte schlechthin beschrieben werden, sondern die geschichtliche Entwicklung zweier gesellschaftlicher Einrichtungen. Wie sieht die gesellschaftliche Gliederung heute aus und wie ist sie so geworden? Auf welchem Weg ist eine Veränderung der gesellschaftlichen Position heute möglich und wann und wie hat sich dieser Weg eröffnet? Gelingt die genaue Beschreibung dieser beiden Stränge, so könnte das eine Grundlage sein, die gegenwärtigen Verhältnisse in Indien zu verstehen. Bei einer solchen Betrachtungsweise sind Fragen, wie mächtig einzelne Personen sind, kaum noch relevant. Bis März 1977 waren die Fragen: „Wie mächtig ist Frau Gandhi?" und: „Wird ihr Sohn der nächste Ministerpräsident?" wichtig. Solche Fragen greifen aber unter historischer Perspektive viel zu kurz.

Zur sozialen Gliederung der indischen Gesellschaft

TABELLE 2:

Schon die ältesten Überlieferungen beschreiben die indische Gesellschaft als eine hierarchisch gegliederte. Die Frage, ob es in der vor-geschichtlichen Zeit eine nicht gegliederte Ge-sellschaft gegeben hat, ist für unsere Betrachtung unwichtig. Bedeutsam ist, daß auch schon in dieser sehr frühen Zeit die gesellschaftliche Gliederung genauso wie heute noch geordnet und legitimiert war: Ein System von Kasten, in denen jeder durch diesseitige und jenseitige Begründungen seinen Platz zugewiesen erhielt.

Die sich mit dem Kastensystem beschäftigenden Gelehrten vertreten hinsichtlich seines Entstehens unterschiedliche Auffassungen

Zwei konträre Meinungen sollen kurz beschrieben werden. Die eine bezweifelt, daß das ursprüngliche Gliederungssystem der Gesellschaft ein „Kastensystem" gewesen ist. Es sei vielmehr ein System des „Varna" gewesen (wörtlich übersetzt: Farbe). Die Einwanderung der Arier in Indien wird allseitig als Tatsache akzeptiert. Die Arier sollen eine dreistufige Ordnung mitgebracht haben und die wesentlich dunkelhäutigere Urbevölkerung von ihnen als viertes Glied in das System eingefügt worden sein. Diese Erklärung könnte eine spekulative Rekonstruktion des Ursprungs sein, basierend auf gegenwärtigen Erscheinungsformen. Auch im Indien der Gegenwart zählt eine helle Hautfarbe viel. Tatsächlich findet man unter den vergleichsweise dunkelhäutigeren Südindern in den oberen Kasten mehr hellhäutige als in den unteren Kasten. Das aber kann ebenso gut mit den konkreten Lebensbedingungen Zusammenhängen. Selbst wenn die Hautfarbe und die ge21 sellschaftliche Position eine Beziehung in der Kastenordnung aufweist, so ist kaum denkbar, daß sich die Hierarchie allein auf die Hautfarbe gründete und auf sonst nichts. Das hätte für die Legitimation der Hierarchie über Jahrtausende kaum ausgereicht.

Die zweite Erklärung ist einleuchtender: Danach war die antike indische Gesellschaft in vier Kasten eingeteilt. Das Gliederungsschema ist materiell faßbar begründet. Den 1. Rang nahmen die Brahmanen ein. Ihnen obliegen die Aufgaben im Bereich der Religion, der Philosophie und der Wissenschaft. Ihnen im Rang untergeordnet sind die Kshatriyas, die staatliche Aufgaben zu erfüllen haben: Aufrechterhaltung von Gesetz und Ordnung, Verteidigung, Kriegsführung. Den 3. Rang nahmen die Vaishas ein. Sie waren für den Bereich der Produktion und des Handels zuständig. Der 4. und letzten Kaste, den Sudras, waren die Dienstleistungsberufe vorbehalten 2).

Die Plausibilität dieser Erklärung des Systems besteht darin, daß bei einer Verteilung der Aufgaben alle Bedarfsbereiche der damaligen Gesellschaft abgedeckt werden konnten, überliefert ist auch die folgende Legende, die das Rationale der Kasteneinteilung veranschaulicht. Die Brahmanen werden darin als Kopf des Menschen, die Kshatriyas als die Arme, die Vaishas als der Rumpf und die Sudras als die Beine dargestellt. Diese Veranschaulichung sollte wohl signalisieren, daß alle diese Teile das Ganze ausmachen und bei Fehlen eines Teiles das Ganze nicht funktionieren würde. Aus der Antike und späteren Epochen sind Beispiele überliefert worden, wonach ein Auf-und Abstieg in diesem System möglich war; die Zugehörigkeit zu einer Kaste war also nicht von Geburt her bestimmt, sondern wurde erst nach Ergreifung eines Berufes festgelegt. Diese überlieferten Beispiele erklären einerseits, wie aus einem viergliedrigen System das heute tausendgliedrige System der Subkasten werden konnte. Andererseits können die überlieferten Beispiele auch als Zwang zur Rechtfertigung seitens der oberen Kasten gedeutet werden. Die Angehörigen der unteren Kasten waren immer die große Mehrheit. Theoretische Aufstiegsmöglichkeiten hielten das System der Ungleichheit im Gleichgewicht. Nach diesen Überlegungen hätte das Kasten-system ein Klassensystem im Sinne von Marx werden können, wenn es nicht einige Besonderheiten aufweisen würde. Die rituellen, religiösen und weltanschaulichen Aspekte sind für die Gliederung gleichgewichtig wie der Berufsstand. Die zweite Besonderheit des Kastensystems bestand und besteht darin, daß die strenge rituelle Trennung zwischen den Kasten eine Heirat zwischen Angehörigen verschiedener Kasten unterbindet. Diese Endogamie ist bis heute die Regel. Trotz der Differenzierung innerhalb der Hauptkasten in Subkasten wird durch die allein den Brahmanen vorbehaltene Auslegung des Erlaubten und des nicht Erlaubten das System immer noch intakt gehalten.

Die Verknüpfung zwischen sozialer Gliederung und Weltanschauung Nach der religiösen Vorstellung der Hindus besteht der Sinn des Lebens darin, über Geburt und Wiedergeburt entsprechend der in einem Leben gesammelten Verdienste mit dem Ziel aufzusteigen, sich mit dem allmächtigen Gott zu vereinen. Allein die als Brahmanen geborenen befinden sich in der letzten irdischen Phase. Dieser spiralenähnliche Verlauf war kein automatischer. Auf-undAbstiege waren dabei möglich. Sie sind abhängig von den Aktivitäten des einzelnen in seiner jeweiligen Lebensphase. Erfüllt er alle seine Pflichten, wie sie durch die Position seiner Kaste oder Subkaste bestimmt sind, kann er sogar bestimmte Phasen überspringen. Erfüllt er sie nicht, kann er zurückfallen. Für die Bestimmung der Kastenpflichten und Kastenrechte waren selbstverständlich die Gelehrten zuständig, die Brahmanen. Man könnte es ein fast perfektes System nennen, um die Verteilung der gesellschaftlichen Positionen der herrschenden Situation anzupassen. Diese Verbindung aus Diesseitigem und Jenseitigem ist nicht der einzige wichtige Unterschied zu einem nur diesseitig orientierten Klassensystem. Die höchste und einflußreichste Kaste gründete ihre Stellung nämlich nicht auf den Besitz materieller Güter, sondern lediglich auf den Intellekt. Die Brahmanen besaßen in der idealtypischen Einteilung keinerlei Grundbesitz. Das ursprüngliche Produktionsmittel, der Boden, war ganz im Besitz der 2. Kaste, der Kshatriyas.

Die Allianz zwischen diesen beiden Kasten dürfte einerseits den Kshatriyas die Rechtfertigung für ihren Besitz geliefert, andererseits den Brahmanen ein sehr privilegiertes Leben gesichert haben — auch ohne Grundbesitz. Im Konfliktfall zwischen den beiden Kasten dürften die Brahmanen den kürzeren gezogen haben. Im allgemeinen waren aber die Kshatriyas auf die Brahmanen zwingend angewiesen, um Macht und Herrschaft gegenüber der überwältigenden Mehrheit von Vaishas und Sudras zu legitimieren. Diese beiden unteren Kasten mußten die Lebensmittel — im weitesten Sinne des Wortes — zumindest in jenem Überfluß produzieren, damit die Brahmanen und die Kshatriyas standesgemäß leben konnten. In der überlieferten Geschichte Indiens wird nicht ein Fall berichtet, wonach sich Angehörige der unteren Kasten dieser Macht, Herrschaft und Besitz so ungleich verteilenden Ordnung widersetzt hätten. Die Herrschaft hatte über die Definition der Aufgaben für die unteren Kasten und Subkasten ein hervorragendes Instrument in der Hand, jeder sichtbar werdenden Unzufriedenheit die Spitze abzubrechen. Dazu dürfte sie sich einer zusätzlichen Differenzierung in der Hierarchie bedient haben.

Materielle Reichtümer haben auch in der antiken indischen Gesellschaft, bei aller Ausrichtung auf ein jenseitiges Ziel, eine herausragende Rolle gespielt. Die regionalen Dynastien haben zahlreiche Kriege gegeneinander geführt. Es hat mächtige und weniger mächtige Könige gegeben An diesen Auseinandersetzungen um Macht und Besitz hatten die unteren Kasten nur mittelbaren Anteil. Vom Besitzstand der einzelnen Könige und Fürsten hingen auch ihre Lebensverhältnisse ab. Auf die Stellung der Kasten zueinander hatten diese kriegerischen Auseinandersetzungen keine Wirkung. Wahrscheinlich ist, daß innerhalb der Kasten Veränderungen stattgefunden haben. Diese innerindischen Kriege verhinderten nicht, daß sich an den Höfen große Reichtümer ansammelten. Bekanntlich fühlte sich Alexander der Große wegen dieser legendenumwobenen Reichtümer gedrängt, seine Beutezüge bis nach Indien auszudehnen. Indien hatte jedoch Glück, denn Alexanders Kräfte reichten nicht aus, den Plan in die Tat umzusetzen. Der Zusammenhang zwischen wirtschaftlicher Produktivität und den Beute-zügen soll hier nicht weiter vertieft werden

Einflüsse auf die soziale Gliederung während der islamischen Herrschaft

TABELLE 3:

Etwa um das 8. Jahrhundert findet in der indischen Geschichte eine bedeutsame Zäsur statt. Zwischen dem 8. und 11. Jahrhundert wurde Indien wiederholt Opfer der Raubzüge aus Mittelasien kommender Heere, die in unregelmäßiger Regelmäßigkeit über den Khaiberpaß, den einzig möglichen Einfallweg kamen. Die bis dahin nur Beute machenden Fremden entschlossen sich, das Land zu erobern und eine islamische Fremdherrschaft in Indien zu errichten. Die erste Fremdherrschaft währte bis zur Kolonisation durch die europäischen Mächte, also bis zum 17. Jahrhundert.

Aus den Berichten über Indiens Geschichte wissen wir recht genau, wann wer was erbeutete. Es läßt sich daraus schließen, daß zumindest das nordwestliche Gebiet Indiens, das immer wieder Opfer der Beutezüge wurde, in der Lage gewesen sein muß, neue Reichtümer anzusammeln, die zu erbeuten sich lohnte. Wir wissen weiter, daß die damalige indische Gesellschaft einen hohen technologischen Standard hatte und die strategische Kunst der Kriegsführung ein Wissenschaftszweig war.

Das führt folgerichtig zu der Frage, warum eine solche Gesellschaft sich nicht gegen die fremden Eindringlinge zur Wehr setzte. Die weite Entfernung und die Unwegsamkeit setzten den eindringenden Heeren zahlenmäßig eine Grenze. Außerdem kamen sie immer wieder über denselben Paß. Diese wichtige Frage haben die Geschichtsforscher nie gestellt. Dem Verfasser scheint die Erklärung für dieses Phänomen in der damaligen Sozialstruktur zu liegen. Für diese Annahme spricht auch die Legitimationsformel des Kastenwesens.

Die einzelnen hinduistischen Dynastien haben in Kämpfen gegeneinander immer wieder ihre Fähigkeit zur Verteidigung ihres Besitzstandes und zur Kriegsführung unter Beweis gestellt. Sie hätten also an sich fähig sein müssen, die Beutezüge eindringender Fremder zu stoppen. Bei Unterlegenheit einer einzelnen Dynastie hätten sie gemeinsam gegen die Fremden kämpfen können. Vielleicht sind gerade diese innerindischen Auseinandersetzungen ein weiterer Grund dafür, warum es den Fremden so leicht fiel, das Gebiet auszurauben. Die Ausplünderung schwächte den davon Betroffenen, was wiederum für die Nachbarn von Vorteil sein konnte. In dieser Zeit scheint eine bewußte Politik des Teilens und Herrschens nicht notwendig gewesen zu sein. Die indischen Herrscher teilten und schwächten sich selbst. Zu einer neuen Situation kam es im 11. Jahrhundert. Angeregt von den Berichten über die erfolgreichen Beutezüge in Indien entschlossen sich aus Mittelasien kommende Ausplünderer, das Land zu besetzen und den Nutzen der entwickelten Produktionskraft auszubeuten. Die geringe Verteidigungsbereitschaft muß auf sie ermutigend gewirkt haben. Daß die hier vorgelegte Theorie der Realität entsprochen haben kann, wird noch wahrscheinlicher, wenn der Zustand nach der Etablierung der ersten Fremdherrschaft vorgestellt wird. Aus den bereits erwähnten Schwierigkeiten können die Eroberer von ihrer Zahl her nicht stark gewesen sein. Bei den einzelnen indischen Feudalherrschern und deren brahmanischen Ratgebern dürfte es diesmal keinen Zweifel daran gegeben haben, daß die islamischen Fremdlinge nicht die Absicht hatten, das Land wieder zu verlassen. Selbst in dieser Situation war die indische Gesellschaft trotz ihres hohen technologischen Entwicklungsstandes nicht in der Lage, die Besetzer aus dem Land zu werfen. Die geschichtlichen Überlieferungen enden mit der Feststellung, daß dies nicht möglich war. Das Warum wird uns nicht berichtet. Es gibt keine Hinweise darauf, daß zu dieser Zeit die Produktivität stagniert hätte. Die europäische Suche nach einem Seeweg nach Indien weist eher auf das Gegenteil hin.

So sind wir wieder auf legitime Spekulationen angewiesen, um die fehlenden Glieder in den überlieferten Berichten logisch und plausibel zu schließen

Die Errichtung der fremden Herrschaft erfolgte nicht in einem Zug. über Jahrhunderte andauernde Auseinandersetzungen werden überliefert. Die hinduistische Kultur und das soziale Gliederungssystem hatten jedoch die Moslemherrschaft unverändert überdauert.

Das Kastensystem als soziales Gliederungssystem nutzt jeder Herrschaft Es ist kaum vorstellbar, daß die einheimischen Herrscher nicht versucht haben, die eigene militärische Macht zu maximalisieren. Das Kastensystem muß dafür aber eine unüberwindbare Schranke gewesen sein. Rekrutiert werden konnte für die Aufgabe der Verteidigung nur aus einer Kaste, aus der Kaste der Kshatriyas. Sie besaß auch allen Grund und Boden. Die Art der gesellschaftlichen Beziehung der Kastenangehörigen untereinander und zu den Angehörigen anderer Kasten ist streng geregelt. Hinzu kommt der jenseitige Bezug, der jenseitige Belohnung bei Verdiensten und jenseitige (und diesseitige) Bestrafung bei ritueller Verfehlung in Aussicht stellt. Das muß es selbst in einer Krisensituation unmöglich gemacht haben, die Rolle der Kasten und ihrer Angehörigen umzuinterpretieren oder neu zu definieren. Selbst wenn mit Unterstützung der über das Geistige bestimmenden Kaste der Brahmanen ein solcher Versuch unternommen worden wäre, hätte er keine Chance auf Erfolg gehabt. Die Angehörigen der unteren Kasten hätten in einem solchen rigiden System nicht in die Kaste der Soldaten aufgenommen werden können.

Die berufliche Reglementierung der Kasten und Subkasten muß als unüberwindbare Barriere für die Rekrutierung von Soldaten gewirkt haben. Das Kastensystem muß es also den feudalen Herrschern von damals faktisch unmöglich gemacht haben, die Zahl der für sie Kämpfenden zu erhöhen.

Es ist deshalb wahrscheinlich, daß der Versuch, aus unteren Kasten zu rekrutieren, erst gar nicht unternommen worden ist. Für die herrschenden Dynastien muß der Gedanke näher gelegen haben, sich mit den fremden Herrschern zu arrangieren. Auf jeden Fall muß ihnen das ‘sich arrangieren’ weniger gefährlich erschienen sein, als das feste Gefüge der sozialen Gliederung zu lockern.

Auch heute ist das Kastenwesen nicht abgeschafft. Seine Existenz wird schlicht verdrängt. Durch Gesetz verboten wurde lediglich, jemanden aufgrund seiner Kastenzugehörigkeit zu diskriminieren. Wir werden noch durch empirisches Material nachweisen, wie sozialwirksam das Kastenwesen heute noch ist. An dieser Stelle soll vorerst nur die Analyse eines der scharfsinnigsten Denker des heutigen Indien zitiert werden. Er kommt aus einer ganz anderen Perspektive zu derselben Ansicht wie Nirad sagt: der C. Verfasser. Chaudhuri „Ich möchte das Kastensystem als Ganzes als eine soziale Organisation bezeichnen, die zur Ordnung, Stabilität und Regulation von Konkurrenz beiträgt. Diese Anmerkung möchte ich mit einem Rat an die ausländischen Reformer der Hindugesellschaft und ihrer Imitatoren unter den Hindus schließen: Lassen Sie ihre Zunge und ihren Federhalter weg vom Kastensystem. Wenn ich befürchten müßte, daß das Kastensystem in Indien durch dieses Gerede Gefahr liefe, zerstört zu werden, würde ich hinzufügen: Pulverisieren Sie bitte nicht eine Gesellschaft zu formlosen Staub, die über keine andere Kraft der Kohäsion verfügt. Aber, da gar keine Gefahr für das Kastenwesen besteht, sage ich nur: Machen Sie sich nicht selbst zum Narren." * Eine Merkwürdigkeit des Kastensystems muß begriffen werden, um die damalige und auch die heutige Situation in Indien überhaupt begreifen zu können. Das Kastensystem hält die hinduistische Gesellschaft zusammen. Es verhindert gleichzeitig, daß sich in dieser Gesellschaft so etwas wie Solidarität entwickeln kann. Auch innerhalb der geschlossenen Gesellschaft der Subkaste gibt es für den einzelnen Angehörigen unterschiedliche Möglichkeiten, sich Verdienste für das Jenseits zu erwerben. Solche Verdienste können nicht für die gesamte Kaste, für die Subkaste oder gar für die Familie mit erworben werden. Sie sind nur dem einzelnen Individuum in Aussicht gestellt. Strenge rituelle Einhaltung der Kastenpflichten muß daher für wichtiger gehalten werden als Solidarität untereinander, um gemeinsam Nachteile zu verhindern. So gesehen ist das Kastensystem wohl der genialste Entwurf, eine Gesellschaft mit sehr ungleicher Verteilung zu befrieden.

Die islamischen Eroberer waren auf zuverlässige einheimische Verbündete angewiesen; dafür bot sich als Weg, die aus dem Kastenverband wegen ritueller Verfehlung Verstoßenen zu konvertieren. Diese Konvertierung erfolgte ohne jede Gewalt, vielmehr auf einer sehr differenzierten Grundlage. Für die Verrichtung einfacher Verwaltungstätigkeit waren die Konvertierten aus den untersten Kasten oder aus jenen Gruppen, die aus dem Kasten-system ausgestoßen waren, geeignet. Für die Wahrnehmung 4er komplizierten Verwaltungsausgaben mußten sie erst qualifiziert werden, und zwar in einem ihnen fremden politischen und kulturellen System. Je anspruchsvoller die Verwaltungsaufgabe, um so qualifizierter hatte die Ausbildung zu sein. Konvertierte aus den höheren Kasten gab es nur vereinzelt. Aber selbst zur Zeit der imperialen Herrschaft der Moguls war eine breitangelegte Konvertierung nicht notwendige Voraussetzung für die Stabilität der Herrschaft. Das Arrangement mit den hinduistischen Herrschern war der Regelfall. Deshalb blieb die Sozialstruktur nahezu unangetastet.

In den von den fremden Herrschern angebotenen Qualifikationsmöglichkeiten sahen nicht nur die Konvertierten, sondern zunehmend auch Hindus Aufstiegschancen im Hinblick auf den Erwerb materieller Güter. Die Chance zum Aufstieg ergab sich also außerhalb des Kastensystems.

Damit wurde erstmals die soziale Stellung des einzelnen nicht mehr ausschließlich von der Position seiner Kaste bestimmt, sondern seine Ausbildung in einem fremden System kam als zweites Kriterium hinzu. Das produzierte naturgemäß Widersprüche, die während der englischen Kolonialzeit noch stärker hervortraten.

Die besondere Qualität der zweiten Fremdherrschaft

TABELLE 4:

Die zweite Fremdherrschaft, die koloniale Herrschaft, war qualitativ etwas ganz anderes als die erste Fremdherrschaft über Indien. Die erste war eine Herrschaft von Fremden, die die Bevölkerung ausbeutete, Reichtümer akkumulierte, diese aber im Lande beließ. Die koloniale Herrschaft hingegen eroberte das Land, beutete es aus, blieb im Land aber nur mit ihrer Verwaltung präsent. Der akkumulierte Reichtum wurde in die Mutterländer verbracht.

Vasco da Gama entdeckte den Seeweg nach Indien 1497— 98. Von dieser Zeit an bis zum 18. Jahrhundert führten Europas Mächte einen Zweifrontenkrieg um das Handelsmonopol mit Indien. Die waren ersten europäischen die Eroberer auf indischem Boden. Sie hatten sich gegen die wie sie katholischen Franzosen zu wehren. Ihnen folgten die protestantischen Niederländer und Engländer. Die Engländer blieben Sieger.

Die Erwähnung der Tatsache, daß es kathoilische und protestantische Kolonisatoren gab, scheint deshalb angebracht, weil europäische und indische Gelehrte gern darüber spekulieren, wie wohl die Geschichte Indiens verlaufen wäre, wenn die katholischen Kolonisatoren die Sieger geblieben wären. Kein geringerer als Humayun Kabir der bekannte indische Dichter und Philosoph, lange Zeit auch indischer Erziehungsminister, schreibt dazu: „Die Portugiesen versuchten, in Indien ein Imperium aufzubauen, und, weil sie große Bekehrer waren, die Menschen in ihren Territorien zu christianisieren. Gerade ihre Aggressivität ließ sie dabei scheitern. Und als die portugiesische Macht in Europa geschwächt wurde, verloren sie auch ihre dominierende Position in Asien. Der Einfluß ihrer Politik der Bekehrung zum Christentum hat jedoch Zeichen hinterlassen, die heute noch an der Westküste Indiens zu finden sind.“ In seinem Buch , Asian Drama'hebt Gunnar Myrdal das besondere Anliegen der katholischen Kolonisatoren, der Spanier und Portugiesen, hervor: „Im Gegensatz zu den protestantischen Mächten, den Niederländern und den Engländern, die später auf der Szene erschienen, hatten sie (die Spanier und die Portugiesen) von Anfang an eine geplante Erziehungspolitik. . . . Der Staat und die zivilen Autoritäten erkennen die Vorrangigkeit der Kirche auf diesem Feld an und ihre Pflicht, diese Arbeit zu fördern und zu unterstützen. Päpstliche Bullen definieren vom Beginn der kolonialen Ära des 16. Jahrhunderts an die geographische Sphäre des Einflusses, in denen diese beiden katholischen Mächte angewiesen wurden, ihre Aktivitäten zu verstärken und die Heiden zum christlichen Glauben zu bekehren. Wichtig ist, daß diese Pflicht interpretiert wurde als zur Erziehung der Menschen notwendig — eine Politik, die kaum notwendig erschienen wäre, wenn politische Macht oder kommerzielle und fiskalische Ausbeutung das Hauptziel gewesen wären.“ Myrdal vertritt weiter die Ansicht, daß die protestantischen Kolonisatoren nicht an der Verbreitung der Erziehung und an der Verbreitung des Christentums, sondern nur an ihrem Geschäft interessiert gewesen seien. Er berichtet über häufige Auseinandersetzungen zwischen den Kaufleuten und den protestantischen Missionaren; daß die Missionare ohne viel Hilfe von den Kolonisatoren, ja sogar oft gegen deren erklärten Willen die Aufgabe der Verbreitung der Erziehung durchzusetzen versuchten. „Tatsächlich konnten die Missionare, die den Drang fühlten und entsprechend handelten, bestenfalls auf wohlwollendes Abseitsstehen der politisthen Autoritäten hoffen. Oft wurden diese Aktivitäten als etwas Anstößiges oder politisch Gefährliches angesehen, dem Einhalt geboten werden müßte."

Die Portugiesen befanden sich in Indien auf fremden Boden. Wie schon vor ihnen die islamischen Eroberer suchten sie durch die Heranziehung einheimischer Kräfte das eroberte Gebiet zu konsolidieren. Diese Kräfte mußten in der portugiesischen Sprache im allgemeinen und in der Sprache der Kaufleute im besonderen unterwiesen werden. Erst dann waren sie im Interesse der neuen Herrscher verwertbar. Die Portugiesen brachten zudem die europäische Erfahrung mit, daß eroberte Gebiete über den Weg der Glaubensbekehrung ihrer Menschen am leichtesten unter Kontrolle zu halten sind — eine Erfahrung, die die islamischen Eroberer nicht mit nach Indien gebracht hatten.

Deshalb war ihr Eifer auch klein gewesen, die Bevölkerung zum Islam zu bekehren.

Die späteren protestantischen Kolonisatoren brauchten auf die Missionierung keinen großen Wert zu legen. Der frühe Kapitalismus hatte im Laufe von zwei bis drei Jahrhunderten qualitative Veränderungen erfahren. Er war in eine schon mehr pragmatische und rationale Phase eingetreten. Die Engländer hatten aus der Erfahrung der Portugiesen gelernt, daß Übereifer in der Missionierung nicht nur Geld kostete. Insofern erwiesen sie sich als die besseren Analytiker der konkreten Situation. Sie fanden heraus, daß die hinduistische Aristokratie und Bourgeoisie gegen die islamische Vorherrschaft eingesetzt werden konnte.

Die erste Phase der britischen Kolonisation in Indien wird nicht durch Handel, sondern durch Raub charakterisiert. Percival Griffith, ein hoher Kolonialbeamter, belegt, daß während der Periode 1750 bis 1800 England einen jährlichen Plünderungs-und Raubgewinn von 100 bis 150 Millionen Goldpfund aus Indien herausgeholt hat. Um die Größe dieser Summe richtig einschätzen zu können, ist es notwendig zu wissen, daß um 1770 das britische Volkseinkommen nur 125 Millionen Pfund betrug Bereits in dieser Phase des Raubkolonialismus hatten die Engländer den Vorteil erkannt, den das Wissen über Kultur und Mentalität eines unterworfenen Volkes brachte. Die East Indian Company stellte deshalb auch Orientalisten in ihre Dienste, die sich jedoch nicht in allen Punkten mit den Ausbeutungsmethoden und -zielen identifizierten. So ergaben sich häufig konträre Einschätzungen über die konkrete Situation. Beide'Seiten waren aber in der fremden Umgebung zu Kompromissen gezwungen. Die Orientalisten als Angestellte der Kolonisatoren verdienten zu gut, um aus der gegensätzlichen Auffassung Konsequenzen zu ziehen. Umgekehrt waren die Kolonisatoren auf die Mitarbeit dieser Leute angewiesen. Die Orientalisten forderten ein auf dem tradierten System aufbauendes Erziehungswesen. Die hinduistischen Fürsten und die Missionare forderten den Zugang von Indern zur westlichen Erziehung. So gerieten die Missionare in Konflikt mit der Kolonialverwaltung.

Gunnar Myrdal schreibt dazu « „Ihr Interesse die Masse zu erziehen, war bemerkenswert, berücksichtigt man, wie wenig die Kirche in ihren Heimatländern unternahm, um diese Aufgabe zu erfüllen."

Bemerkenswert ist ferner, daß auch der indische Gelehrte Humayun Kabir zu keinem anderen Ergebnis als Gunnar Myrdal kommt. „Einige Versuche wurden im dritten Viertel des 18. Jahrhunderts unternommen, um Schulen nach dem Modell von Europa zu errichten. Es waren in vielen Fällen Versuche von Missionaren und aufgrund von privater Initiative, wenn auch der Staat einige Maßnahmen ergriffen hat, um die englische Erziehung in den darauf folgenden Dekaden des Jahrhunderts einzuführen."

Nach Beendigung der Raub-und Plünderungsphase wurde 1835 endgültig entschieden, ein Erziehungssystem nach englischem Muster aufzubauen. Die Gründe, warum die privilegierten Hindus Wert auf die englische Erziehung legten, begründet Margaret Cormack: „Zu Beginn war der neue westliche Gott willkommen, weil das hinduistische Indien sich auf dem niedrigsten Stand der Ebbe befand. Sanskrit wurde als veraltet verschrien, degenerierter Hinduismus als Aberglaube betrachtet. Indien schien nicht in der Lage zu sein, aus dem desorganisierten Chaos herauszukommen und suchte nach neuen Winden. Möglicherweise konnten die westlichen Winde Indien zu einer Säuberung verhelfen."

Ein Vorkämpfer für die Einführung des englischen Erziehungssystems in Indien war Lord Macaulay. Indische Gelehrte waren damals und sind noch heute voller Lob über Macaulays Beitrag zur Erziehung in Indien. Humayun Kabir schreibt „Er formulierte eine definitive Erziehungspolitik, die das Ziel hatte, westliche Lebensart in Indien einzuführen. Macaulay war überzeugt, daß westliche politische Ideen, basierend auf konstitutioneller Regierungsform, Rechtsstaatlichkeit und individueller Freiheit, Werte waren, die in Indien nicht nur eingeführt werden sollten, sondern auch konnten." Weiter schreibt Kabir: „Er (Macaulay) hoffte, daß im Laufe der Zeit die sozialen, moralischen und politischen Ideen Europas in Indien reproduziert werden und in Indien eine Situation schaffen würden, um das britische Joch abzuschütteln."

Macaulay meinte jedoch durchaus nicht das, was seine Bewunderer meinten glauben zu können. 1835 hat Macaulay die Leitlinie seiner erziehungspolitischen Konzeption so darge12) legt: „Wir müssen im Augenblick alles tun, um eine Klasse zu formieren, die Vermittler werden könnte zwischen uns und den Millionen von Menschen, über die wir herrschen; eine Klasse von Personen, Inder in Blut und Farbe, aber englisch im Geschmack, in den Meinungen, in den Moralvorstellungen und im Intellekt."

Die positive Deutung der Pläne von Macauley ist also unverständlich, da seine Pläne darauf abzielten, die Inder vollständig zu entwurzeln. Verständlich ist, daß Macaulay als Engländer dieses Ziel verfolgte. Daß indische Gelehrte und Politiker die Absichten Macaulays nicht erkennen können, ist bezeichnend für die Bewußtseinslage der indischen Gelehrten und Politiker.

Die erziehungspolitischen Diskussionen vermitteln allein noch kein klares Bild über die den Erziehungsinstitutionen zugedachte Rolle im Gesamtplan. Denn die Durchsetzung der gefällten Entscheidungen war von Finanzmitteln abhängig, über die die Träger der Erziehungsinstitutionen nicht selbst verfügten. In seinem Buch . Entdeckung Indiens'beschreibt Nehru eindrucksvoll, wie die Dorfgemeinschaft, die während der islamischen Fremdherrschaft Träger der hinduistischen Tradition geblieben war, als Folge der Kolonialpolitik zerstört wurde. Die wirtschaftlich fast autarke Dorfgemeinschaft paßte nicht in die Konzeption des neuen Kapitalismus. Die Basis dieser Dorfgemeinschaft, das dörfliche Gewerbe, mußte verschwinden. Ähnlich wie den Dorfgemeinschaften erging es der gesamten indischen Wirtschaft. Zahlreiche Untersuchungen belegen, daß die wirtschaftliche Entwicklung Indiens im und 18. Jahrhundert wesentlich fortgeschrittener war als die Englands 17). Es ist wahrscheinlich, daß die industrielle Revolution in England ohne die Auspowerung Indiens nicht stattgefunden hätte. Die These von Max Weber, daß der protestantische Calvinismus der Motor der industriellen Revolution in Europa gewesen sei, ist deshalb unscharf. Eine industrielle Revolution hätte in Indien ebenso stattfinden können, wenn es nicht in seiner Entwicklung gewaltsam gestoppt worden wäre: „Im 18. Jahrhundert hatte Indien einen hohen Entwicklungsstand der vorindustriellen Entwicklungsphase erreicht. Die Landwirtschaft war genügend entwickelt, um eine relativ große Zahl nicht-landwirtschaftlicher Arbeiter ernähren zu können. Es gab hochqualifizierte Eisen-, Stahl-und Textilhandwerker, Schiffsbauer und Metallhandwerker. Indien erzeugte nicht nur Fertiggüter für den eigenen Bedarf, sondern auch für den Export. Sein wirtschaftlicher Reichtum wurde seit Jahrhunderten von Bank-kaufleuten und Fürsten kontrolliert, die den Uberschuß der Produktion in bezug auf den Konsum in Form gehorteter Gold-und Silber-schätze abschöpften. Dieser Reichtum war also genügend konzentriert, um eine potentielle Quelle für Investitionsgelder zu bilden. Die Vorräte Indiens an hochwertiger Kohle und an Eisen lagen recht nahe beieinander. Warum hat diese Kombination ganz offensichtlich günstiger Umstände nicht zu einer bestimmten wirtschaftlichen Entwicklung geführt, die es vermocht hätte, in einem immer schnelleren Rhythmus einen wirklichen Fortschritt zu erzielen? Trotz der Komplexität und der Anomalie der Situation ist die Antwort einfach. Die kolonialen Verhältnisse haben die wirtschaftliche Entwicklung Indiens in bestimmter Hinsicht an untergeordnete Stelle gerückt und in anderer Hinsicht verhindert."

Wie zielbewußt und systematisch dies geschah, mag die folgende Beschreibung deutlich machen. Die Kolonisatoren waren zahlenmäßig nicht stark. Deshalb bemühten sie sich, die eigene Macht auf die feste Grundlage der traditionellen Herrschaftsstruktur zu stützen. Durch eine Mischung aus Diplomatie, Bestechung, Drohung und Gewalt etablierten sie ihre Herrschaft. D. A. Low geht in einer Analyse der Frage nach, wie es möglich war, daß eine so geringe Zahl von Menschen Millionen anderer unter Kontrolle halten konnte Er findet in seiner Analyse ein differenziertes Instrumentarium, mit dessen Hilfe sich die britischen Herrscher-in Ostafrika etablieren konnten. Genau dieselbe Analyse dürfte auch für Indien gültig sein.

„Die Vertreter der Ostindischen Kompanie" schreibt Eward Thomson „setzten jetzt die Fürsten ein, die sie dem Chaos entrissen hatten, in das sie versunken waren. Diese so aufgelesenen und eingesetzten , Fürsten'waren ebenso hilflos und verlassen wie irgend eine Macht seit der Erschaffung der Welt. Hätte die britische Regierung nicht interveniert, dann hätte die Zukunft der Rajputenstaaten nur den* Untergang und den Marathenstaaten nur die Auflösung gebracht. Staaten wie Oudh und die Gebiete des Nizam führten nur eine Schein-existenz. Sie erhielten allein durch den Atem, den ihnen die Schutzmacht einblies, den Anschein von Leben.“ Nehru zitiert hierzu den Butler-Ausschuß, wo es noch präziser heißt:

„Es entspricht nicht den geschichtlichen Tatsachen, daß die indischen Staaten unabhängig waren, als sie mit der britischen Macht in Berührung kamen. Einige wurden gerettet, andere von den Briten geschaffen." 1947, als Indien nach der Teilung unabhängig wurde, erhielten auch die 601 fürstlichen Staaten des indischen Subkontinents ihre Unabhängigkeit.

Das von den Engländern praktizierte . Teile und Herrsche'benachteiligte zunächst den islamischen Bevölkerungsteil. Damit wurde die Loyalität des hinduistischen Teils erkauft. Nehru bemerkt: „Die britische Regierung hatte sie bewußt viel stärker unterdrückt als die Hindus. Diese Unterdrückung hatte besonders jene Teile der Moslems beeinflußt, aus denen sich die neue Klasse, die Bourgeoisie, hätte entwickeln können." In der späteren Phase jedoch, als die hinduistische Bourgeoisie ihnen die Macht in Indien streitig machte und die Unabhängigkeitsbewegung organisierte, wurde der hinduistische Teil stärker als die Moslems unterdrückt.

Betrachtet in diesem Licht, bewertet Nehru das Resultat der Erziehungspolitik: „Die englisch erzogenen Angehörigen der freien Berufe und des Staatsdienstes bildeten eine neue Klasse, die sich über ganz Indien verbreiten sollte, eine Klasse, die unter dem Einfluß des Denkens und der Lebensweise des Westens stand und von der Masse der Bevölkerung ziemlich isoliert war." • Komplizierung des sozialen Gliederungssystems durch die Kolonialpolitik Aus dieser Darstellung wird deutlich, daß sich der zweite Faktor für den sozialen Aufstieg (der erste war die Konvertierung) während der englischen kolonialen Herrschaft weit stärker entwickelte. Da die überlieferte Privilegien-Struktur völlig intakt war, konnte diese Möglichkeit des Aufstiegs durch Ausbildung für die koloniale Verwaltung nur von Angehörigen der feudalen und bürgerlichen Gruppierungen in Anspruch genommen werden. Das brachte für die Kolonialverwaltung nicht nur den Vorteil einer reibungslos funktionierenden Verwaltung. Es ergaben sich daraus auch Probleme. Dieser Zugang zur kolonialen Ausbildung war eine Art Beteiligungsmodell, das eine eigene Dynamik entfaltete. Die so Beteiligten suchten nach für sie noch nützlicheren Beteiligungsmöglichkeiten. Diese Eigendynamik aus parallelen Interessen wird deutlich in der Rede von Allen Octavian Hume, eines bekannten Kolonialbeamten. Er hielt sie anläßlich der Gründung des Indian National Council im Jahre 1883 vor den Graduierten der Universität Kalkutta. „Wenn nur 50 gute und wahrhafte Männer als Gründer gefunden werden könnten, dann könnte die Sache gestartet werden und die weitere Entwicklung wäre verhältnismäßig leicht. Falls Sie, die geeigneten Gründer, die am besten Ausgebildeten der Nation, nicht in der Lage sind, persönliche Bequemlichkeit und egoistische Zielsetzung aufzugeben, um einen resoluten Kampf für die Sicherstellung größerer Freiheit für Sie und Ihr Land zu beginnen, für eine mehr unvoreingenommene Verwaltung, für einen größeren Teil der Verwaltung eigener Angelegenheiten, dann haben wir, Ihre Freunde, Unrecht und unsere Gegner haben Recht. Dann sind die edlen Bestrebungen Lord Rippons für Ihr Wohl fruchtlos und träumerisch. Dann sind im Augenblick alle Hoffnungen auf Fortschritt am Ende und Indien wünscht weder wirklich eine bessere Verwaltung, als es sie im Augenblick hat, noch verdient es sie."

Der Appell dieses englischen Kolonialbeamten hatte Erfolg. Aus dem Indian National Council wurde 1885 der Indian National Congress. Im Verlauf seiner Geschichte sich einige haben Gruppierungen von ihm abgespalten. Bis März 1977 war er die regierende Partei Indiens. Eine Randbemerkung zur Charakterisierung seiner Mitglieder: Zu seiner ersten Sitzung im Dezember 1885 erschienen sämtliche Teilnehmer im Frack. Aus diesem Verein für mehr Selbstverwaltungsrechte entwickelte sich schrittweise, von Rückschlägen unterbrochen, folgerichtig eine Bewegung für die nationale Unabhängigkeit. Das Modell der Beteiligung war ein Beteiligungsmodell der kolonialen Verwaltung. Die Selbstverwalter waren Produkte der Erziehungsideologie von Lord Macaulay. Sie wurden die politischen Führer, die nach Verabschiedung eines entsprechenden Gesetzes im britischen Parlament die Aufgabe der Selbstverwaltung offiziell und feierlich übertragen erhielten. Sie hatten gemeinsame soziale Merkmale: Angehörige der höheren Kasten, Besitz von Grund und Boden, Einfluß auf das Handelskapital.

Diese Gruppe der politischen Führung bezeichnet der schon erwähnte Kritiker Chaudhuri als „dominierende Minderheit": „Sie (die dominierende Minderheit) wird konstituiert durch die Hindus der anglisierten oberen Mittelklasse und ist somit ein Ableger oder eine besondere Sorte der Hinduart ... Ihre Angehörigen stehen in der Vorderfront eines jeden Feldes menschlicher Aktivität — politischer, wirtschaftlicher, kultureller — sofern überhaupt von so etwas wie Aktivität im gegenwärtigen Indien gesprochen werden kann .. . Inwiefern ist auf diese Klasse Verlaß, die Modernisierung Indiens zu vollenden, die in Wirklichkeit nur Verwestlichung bedeutet...?"

An dieser Charakterisierung der „dominierenden Minderheit" sind keine Abstriche zu machen. Ein Beweis dafür ist die Tatsache, daß im unabhängigen Indien weder an der Struktur noch an den Lerninhalten der von der Kolonialverwaltung eingerichteten -tionen etwas geändert worden ist, trotz der wiederholten Forderungen prominenter Politiker. Die heutigen Absolventen der höheren Schulen und der Hochschulen werden nach denselben Wertvorstellungen ausgebildet und geprägt. Daß sich am Geiste der kolonialen Verwaltung der Erziehungsinstitutionen nichts geändert hat, zeigt die Feststellung Naiks: „Die früheren , Polizei‘-Traditionen der Verwaltung (d. h. während der britischen Herrschaft) dominieren heute noch die indische Szene, wenn auch unter anderen Gegebenheiten."

In dem monumentalen Bericht der Education Commission wird gefordert, „die ungeplante und unkontrollierbare Expansion der allgemeinen sekundär und höheren Erziehung einzuschränken." Nicht aus Einsicht und durch eine alternative Konzeption, sondern aus Angst, wie der Nachsatz zeigt: "... wenn massive akademische Arbeitslosigkeit verhindert werden soll. ”

Einen weiteren Beweis dafür, daß sich die Zugangschancen zur höheren Ausbildung als der Schlüssel zum sozialen Aufstieg nach wie vor an der alten Privilegienstruktur orientiert, liefert das empirische Material, das der Verfasser 1966/1967 erhoben hat Diese Daten belegen, daß auch nach 20 Jahren Unabhängigkeit die kolonialen Privilegien, was den Zugang zur Universität angeht, voll erhalten sind. Da das Bildungswesen bis heute keine grundlegenden Veränderungen erfahren hat, dürften die Ergebnisse dieser Erhebung nach wie vor gültig sein. Diese Ergebnisse zeigen, daß für den Zugang zur Universität die folgenden sozialen Merkmale maßgebend sind: Zugehörigkeit zu höheren Kasten, Besitz, Vermögen, Einkommen, Bildung, städtische Herkunft Das empirische Material belegt auch, daß diese sozialen Merkmale schon in der Generation der Großväter der Befragten bestanden. Anzunehmen ist, daß sie noch weiter hätten zurückverfolgt werden können.

In Indien leben 50 % der Bevölkerung unter dem Existenzminimum. Die Armutsgrenze wird bei etwa 20 Rupien pro Monat angesetzt, zu Preisen des Jahres 1960. Diese beiden Zahlen machen deutlich, wie privilegiert die väterliche Generation der Befragten gewesen ist, die eine Ausbildung an der Universität erhalten hatte. Mehr als 84 0/0 hatten ein Einkommen von 1 000 Rupies und mehr, wohingegen nur 0, 4 °/o ein monatliches Einkommen von 250 Rupies hatten. Nicht nur in der Generation der Befragten waren Besitz und Einkommen Voraussetzung für eine höhere Bildung. Diese Minderheit verschafft sich nicht nur Zugang zur Universität, sondern zu allen Funktionen der Gesellschaft, vor allem Zugang zur politischen Macht.

Nicht nur in Indien ist die Interessenlage der städtischen Bevölkerung eine andere als die der ländlichen Bevölkerung. Die Interessenlage der Gruppe, die durch die Geschichte hindurch den Grund und Boden in Besitz hatte, ist eine andere als die der landlosen Bauern. Die Interessenlage der Gruppe, die tradiert Zugang zur höheren Ausbildung hatte, ist eine andere als die der 70 % Analphabeten. Die Interessenlage der städtischen Bürger ist eine andere als jener, die unter dem Existenzminimum leben. Die Besitzer von Grund und Boden haben andere Interessen als die Besitzer der industriellen Produktionsmittel und des entstehenden städtischen Bürgertums (Handel und Dienstleistungen)

Es ist wahrscheinlich, daß diese Interessengegensätze für die Abspaltungen und für die Neugründung von Parteien mehr bestimmend sind als ideologische Ausrichtungen. Die große Masse der Bevölkerung, die nicht nur Analphabeten sind, sondern auch besitz-und rechtlos, hat keine Vertretung in den politischen Parteien in dem Sinne, daß sie entsprechend ihrer zahlenmäßigen Stärke vertreten sein könnte.

Entwicklung des Kastensystems zu einem Kasten-Klassen-System

Vor einer Analyse der aktuellen politischen Ereignisse ist es sinnvoll, zu klären, warum es im Gegensatz zu vielen anderen Ländern der Dritten Welt, trotz der krassen sozialen Gegensätze, in Indien keine organisierte Auseinandersetzung zwischen Besitzenden und Besitzlosen gegeben hat. Die Erklärung liegt in dem immer noch intakten Kastensystem.

Der die Differenzierung in Subkasten auslösende materielle Faktor veränderte das Kastensystem wesentlich. Damit kommen Interessen und deren Durchsetzung ins Spiel, die nicht jenseits dieser Welt liegen, sondern diesseitige, reale sind. Das schafft auch die Voraussetzung für die Entstehung eines Klassen-systems. Die Veränderung der gesellschaftlichen Verhältnisse, die horizontale Mobilität, beeinflußt das Kastensystem ebenfalls. Sie berührt die nach wie vor als Regel praktizierte Endogamie. Die Namen der Kasten unter-* scheiden sich von Region zu Region. Insbesondere die Subkasten legten sich selbst gewählte Namen zu. Gefördert wird diese Namensvielfalt von den unterschiedlichen Sprachen. Heute ist es eine . Wissenschaft", will man genau ausmachen, welche ostindische Subkaste welcher nordwestlichen und südindischen entspricht. Nur für zwei Kasten besteht diese Schwierigkeit so gut wie nicht. Unstrittig ist, daß die Brahmanen die oberste Kaste und die Kasten-losen die allerunterste bilden. Von vielen Theoretikern wird übersehen, daß die Kasten-losen ein integraler Bestandteil des Kastensystems sind. Die größte Schwierigkeit, die gesellschaftliche Stellung einzelner Subkasten zu bestimmen, besteht in der Mitte.

Bedingt durch die beiden Fremdherrschaften hat noch ein dritter Faktor das Kastensystem beeinflußt, die politische Macht. Er führte zu einer weiteren Verwirrung des ohnehin komplizierten Kastensystems. Unter den Wissenschaftlern gibt es drei unterschiedliche Auffassungen darüber, wie das heutige Gliederungssystem zu interpretieren wäre. Die eine Gruppe meint, daß mit der modernen Ent-B Wicklung der Volkswirtschaft und mit der industriellen Entwicklung das Kastensystem verdrängt werden wird. Denn industrielle Arbeit und rituelle Reinheitsvorschriften schlössen sich gegenseitig aus.

Die zweite Gruppe meint, daß die Ablösung des Kastensystems von einem Klassensystem nicht als ein durchgehender Prozeß verlaufen wird. Dieser Prozeß würde unterschiedlich je nach der Stellung in der Kastenhierarchie erfolgen. Nachdem sich die Angehörigen der höheren Kasten die westlichen Normen angeeignet haben, sich also schon mehr als einen Teil eines Klassensystems begreifen, würden die unteren Kasten durch die Aneignung der Normen der höheren Kasten einen Aufstieg im Kastensystem anstreben. Srinivas meint, daß einmal ein Prozeß der , Westernisierung‘ und zum anderen ein Prozeß der , Sanskritisation'stattfindet Diese beiden Begriffe sind zu abstrakt. Sie stehen für die folgenden konkreten Sachverhalte: Sanskritisation bezeichnet die Tatsache, daß sich Angehörige der unteren Kasten zunehmend an den rituellen Verhaltensweisen orientieren, wie sie den Angehörigen der höheren Kasten vorgeschrieben sind. Durch die Übernahme der den höheren Kasten vorgeschriebenen Verhaltensformen versuchen sich also Angehörige der unteren Kasten innerhalb ihrer Kaste ein höheres Ansehen zu verschaffen. Westernisierung soll bedeuten, daß die Angehörigen der oberen Kasten sich im Zuge der wirtschaftlichen Entwicklung vom Kastensystem entfernen und sich selbst in ein Klassensystem einordnen.

Die dritte Gruppe beobachtet eine parallele Existenz von Kastensystem und Klassensystem im weltlichen und im rituellen Bereich. Für alle drei Interpretationen ließen sich plausible Begründungen finden. Nur ist die Realität wesentlich komplizierter als diese drei Erklärungsmuster. Die Komplexität rührt daher, daß z. B.der soziale Aufstieg sowohl eine individuelle als auch eine kollektive Komponente hat; diese beiden sind nicht voneinander zu trennen. Der soziale Aufstieg einzelner Angehöriger einer Subkaste hebt die kollektive Identität der gesamten Subkaste in einer überschaubaren Region.

Das Kasten-Klassen-System im Bewußtsein der . dominierenden Minderheit'

Der rituelle Bereich, der auch im sozialen Umgang wirksam wird, verhindert das Sichentfernen einzelner von ihrer Subkaste. Diese Bindung vermindert ferner die Intensität der In-teressengegensätze zwischen den Besitzenden und Besitzlosen einer Subkaste, selbst wenn sich ihre materielle Situation kraß voneinander unterscheidet. Wie wirksam das Kastensystem im Bewußtsein auch der . dominierenden Minderheit'ist, belegen folgende Daten unserer Untersuchung. Die Studenten wurden gefragt, welcher Religion und welcher Kaste sie angehören. Beide Fragen wurden offen gestellt. Die Antworten auf die zweite Frage wurden in drei Kategorien klassifiziert: Nennung einer Kaste, Verneinung der Kastenexistenz, keine Angabe. Die folgende Tabelle zeigt die gegebenen Antworten

Daß auch privilegierte Moslems und Christen, deren Religion keine Kasteneinteilung kennt, sich einer Kaste zuordnen, beweist, daß trotz Konvertierung eine soziale Gliederung nach Kasten im täglichen Leben nach wie vor existent ist.

Im Fragebogen folgte unmittelbar danach eine 6stufige abstrakte Kastenskala, auf der die Befragten die Position ihrer eigenen Kaste einzuordnen hatten. Die Absicht war, den Befragten nicht nur eine Kastenskala vorzulegen, sondern sie zuvor den Namen der eigenen Kaste nennen zu lassen. Dies einmal, um der subjektiven Einschätzung auf der Kastenskala die Prestigegeladenheit zu nehmen und andererseits, um nachträglich eine korrigierte Kastenskala anfertigen zu können. Bereits vorher waren die Befragten aufgefordert worden, die Klassenzugehörigkeit ihrer Eltern auf einer 6stufigen Klassenskala einzuordnen, und zwar einmal in bezug auf das soziale Ansehen und zweitens in bezug auf Besitz und Einkommen. Die elterliche Klassenzugehörigkeit korreliert jeweils hoch mit der 6stufigen Kastenskala. Jeweils 68 0/o der oberen Oberklasse 32 gehören nach der subjektiven Einschätzung der Befragten zu der oberen Oberkaste der Kasten-skala. Der subjektiven Zuordnung auf der 6stufigen Kastenskala haben wir eine korrigierte Kastenskala gegenübergestellt. Durch die Angabe des Kastennamens war es uns möglich, die Brahmanen zur Oberkaste zuzuordnen und 1 alle jene zur Mittelkaste, die nicht Brahmanen waren und auch eindeutig nicht der untersten Kaste zugeordnet werden konnten. Die Kategorie der untersten Kaste bedeutet nicht kastenlos. Die beiden folgenden Tabellen zeigen die Ergebnisse

Die unterschiedlichen Ergebnisse in den Bezügen, soziales Ansehen und Besitz weisen darauf hin, daß sich die tradierte Struktur des sozialen Ansehens gewandelt hat. Die Hereinnahme materieller Faktoren für die Bestimmung des sozialen Ansehens ist dafür die Ursache. Bemerkenswert ist der Anteil der Brahmanen — die ja traditionell nicht an materiellen Gütern orientiert waren und sich erst während der Fremdherrschaften umorientierten —, die sich auf der Skala der Klassenzugehörigkeit in bezug von Besitz und Einkommen bis zu 65 0/0 den oberen Klassen zuordnen.

Für die Beurteilung des Kastensystems bringt der Vergleich der subjektiven Zuordnung auf der Kastenskala mit der korrigierten Kasten-skala das bemerkenswerteste Ergebnis. 89 % der Befragten, die nach der korrigierten Skala zur Unterkaste gehören, ordnen sich selbst in die obere Oberkaste ein. Von den Brahmanen tun das dagegen nur 12 °/o, obwohl sie eindeutig zur oberen Oberkaste gehören. Dieses Ergebnis ist nur auf den ersten Blick verwirrend. Die Lösung des Rätsels liegt darin, daß die Stellung der Brahmanen im Kasten-system als die höchste so allseitig akzeptiert ist, daß sie ein dementsprechendes Kastenbewußtsein entwickelt und deshalb lediglich die Position der eigenen Subkaste innerhalb der Brahmanenkaste auf der Skala angegeben haben. Die Einordnung der 89 °/o könnte man demonstrativ nennen. Je niedriger die Position der eigenen Subkaste im alten Kastensystem und je höher die Position im neuen integrierten Kasten-Klassen-System, um so stärker ist die Tendenz, diese Position auch auf der Kastenskala auszudrücken. Das ist ein deutlicher Hinweis auf den Umfang, in dem in Indien ein kollektiver Kasten-Klassen-Kampf im Gange ist. Von den Soziologen und Ethnologen wird das zumeist übersehen, weil sie Kasten und Klassen getrennt betrachten; von den Politikern wird dies systematisch verdrängt, weil sie gelernt haben, im Kasten-system das Hauptübel der indischen Gesellschaft zu sehen.

Unsere Daten bestätigten eine Feststellung, die Dafinn Sievertsen 1963 in seiner Studie eines indischen Dorfes beschreibt Auf die tradierte Struktur der Kastenhierarchie wirken Einflüsse von außen ein; mit der Veränderung der ökonomischen Situation wird die tradierte Gliederung in Frage gestellt und die Hierarchie neu geordnet. Größere wirtschaftliche Erfolge ergeben neue Möglichkeiten des Einflusses, der sich auch im Anstieg des sozialen Ansehens ausdrückt.

Ein letzter Hinweis noch auf die Wirksamkeit der vom Kastensystem geprägten Verhaltens-erwartung. 56 % jener Befragten, die vorher die Existenz eines Kastensystems verneint hatten, würden sich nur für einen Ehepartner aus der gleichen Kaste entscheiden.

Zur Interessenlage der indischen Gesellschaft

Wir haben für die . dominierende Minderheit’, der die indischen Politiker fast ausnahmslos entstammen, zwei besondere Merkmale herausgefunden. Das war möglich durch das Aufzeigen, welche Rolle diese Minderheit im Bildungswesen gespielt hat und spielt, und weiter, welche Positionen sie im Kastensystem einnahm und im Kasten-Klassen-System einnimmt. Die . dominierende Minderheit'ist die Minorität der besitzenden und gebildeten Inder. Politische Ereignisse, insbesondere die nach der Unabhängigkeit und die aus jüngster Zeit, betreffen unmittelbar nur sie. Erst vermittelt betreffen sie auch die übrige Mehrheit. Die politischen Auseinandersetzungen sind Interessenauseinandersetzungen zwischen den Angehörigen der , domonierenden Minderheit'. Die übrige Mehrheit spielt darin nur eine Rolle insofern, als man versucht, sie für die jeweiligen Interessen einer Gruppe zu gewinnen.

Aus dieser Perspektive heraus verlieren Persönlichkeiten wie Jagjivan Ram, Morarji Desai, J. P. Naraayn und die Gandhis als Personen an Bedeutung. Was bleibt, ist ihr Qualifiziertsein für die Durchsetzung von Interessen bestimmter Klassen und Schichten in einer konkreten historischen Situation. Nicht sie selbst sind wichtig, auch nicht ihre Absichten und ihre Bewußtseinslage, sondern allein die Interessen, die sie vertreten.

Damit sind wir bei dem schwierigsten Problem angelangt, die gegenwärtige politische Szene in Indien zu beschreiben und zu begreifen. Notwendig ist eine genaue Analyse der Interessen und die Beschreibung der Gruppen, die den Interessen zuzuordnen sind. Die Voraussetzungen dafür sind nicht einmal formal gegeben. Es fehlen die dafür notwendigen Daten. Darüber hinaus sind die Wirkungszusammenhänge des Kasten-Klassen-Systems so gut wie nicht untersucht. Deshalb müssen die folgenden Ausführungen als Hypothese angesehen werden, die wegen ihrer logischen Struktur und Plausibilität wahrscheinlich erscheint. Der Anteil der ländlichen Bevölkerung an der Gesamtbevölkerung sank zwischen 1921 und 1971 von 88, 8 °/o auf 80, 1 °/o Der Anteil derjenigen, die lesen und schreiben können, ist zwischen 1951 und 1971 von 16, 6 % auf 29, 45 % angestiegen. Daraus kann abgeleitet werden, daß etwa 70 °/o der Bevölkerung wegen ihrer mangelnden Bildung vom unmittelbaren politischen Geschehen ausgeschlossen ist. Insbesondere, wenn geschriebene Verfassung und komplizierte parlamentarische Regeln die Politik formal bestimmten Die Volkszählung von 1971 ergab für Indien eine Gesamtbevölkerung von 548 Millionen. Nach amtlichen Angaben waren davon etwa 33 0/0 . beschäftigt', also etwa 181 Millionen.

Die Wahlen von 1971 registrierten 271 Millionen Wahlberechtigte, also etwa 50 °/o der Bevölkerung. Dies bedeutet, daß knapp 50 °/o der Gesamtbevölkerung über 21 Jahre alt gewesen sind. Nimmt man dazu die Zahl der damals über 15jährigen, dann erhöht sich die Zahl der im arbeitsfähigen Alter stehenden auf 58 °/o. Von diesen 58 % haben nur 33 % irgendeine Arbeit, während rund 25 °/o der arbeitsfähigen Gesamtbevölkerung keine Arbeit haben. Bei großzügiger Auslegung könnte man von diesen 33 °/o sagen, daß sie durch ihre Arbeit an dem gesellschaftlichen Entwicklungsprozeß beteiligt sind. Schlüsseln wir aber diese 33 °/o auf, dann stellt sich heraus, daß 70 °/o von ihnen in der Landwirtschaft beschäftigt sind. In dieser Kategorie sind die Kleinbauern mit 44 0/o und die Landarbeiter mit 26 °/o vertreten das sind zusammen 127 Millionen. Sie produzieren zwar Lebensmittel für die anderen, sind aber selbst ohne jeden Einfluß.

Von den im Jahre 1971 gezählten 548 Millionen Menschen bleiben also nur 54 Millionen, die einer Arbeit nachgehen, die unmittelbar oder mittelbar mit dem industriellen Sektor zu tun hat. Zählt man auch die Handwerker, die Transportarbeiter und die Kommunikationsberufe als industrielle Berufe und läßt nur den Handel heraus, so bleiben nur 23 Millionen Menschen, die im industriellen Bereich beschäftigt sind. Der Rest müßte demnach im Handel und in den Dienstleistungsberufen beschäftigt sein.

Berücksichtigt man das Einkommensgefälle zwischen Stadt und Land, Industriearbeit und landwirtschaftlicher Arbeit, so kann vermutet werden, daß die Industriearbeiter und Dienst-leistenden an einer Verbesserung des Einkommens im landwirtschaftlichen Sektor und damit an einer Verbesserung der Lebenssituation der Mehrheit nicht interessiert sind.

Die sinnvolle Teilnahme an den Wahlen setzt Entscheidungsfähigkeit voraus und die wiederum Informationen. Wie es damit bestellt ist, zeigen die folgenden Zahlen. In ganz Indien waren 1973 14 Millionen Rundfunkgeräte und 163 000 Fernsehgeräte registriert. Das sind die Medien, die Informationen auch noch denen vermitteln können, die des Lesens und Schreibens unkundig sind Die gesamte Auflagen-höhe von Tageszeitungen, Illustrierten, Zeitschriften betrug 35 Millionen. Berücksichtigt man weiter, daß im Jahre 1973 die Tageszeitungen mit nennenswerten Auflagenhöhen insgesamt 9, 4 Millionen erreichten und es eine Gewohnheit der indischen Bildungsprivilegierten ist, neben der englisch-sprachigen Tageszeitung auch eine solche in der Muttersprache zu lesen, so reduziert sich die Zahl von Adressaten wohl wesentlich. Dies bedeutet, daß nur 6 % der indischen Gesamtbevölkerung Adressaten der Tageszeitungen sind.

Die Auflagenhöhe der englischsprachigen Tageszeitungen beträgt insgesamt 2, 2 Millionen, sie werden aber für so meinungsbildend gehalten, daß sie fast alle im Besitz der Großindustriellen sind. Wenn wir annehmen, daß die Adressaten dieser Zeitungen Einfluß auf die Politik haben, so würden das nur 0, 5 0/o der Gesamtbevölkerung sein, und das ist die anglisierte „dominierende Minderheit". Ihre Exi-stenz kann also aus den wenigen vorhandenen und nicht sehr aufgeschlüsselten Daten herausgearbeitet werden.

Als Wirtschaftsgruppen lassen sich erkennen: die „Monopolhäuser", die den industriellen Sektor beherrschen; die Großgrundbesitzer, die ihren Überschuß aus Pachteinnahmen im industriellen Sektor investieren, in den Städten leben und damit auch Abnehmer der industriellen Konsumgüter sind; die reichen Bauern, die zusammen mit den Großgrundbesitzern die gesamte Landwirtschaft kontrollieren; das entstehende Bürgertum, das über Ausbildungs-und Kastenprivilegien Einfluß gewinnt; die Industriearbeiter, die Klein-bauern, die Landarbeiter und jener hohe Teil der Bevölkerung, der unter dem Existenzminimum dahinvegetiert.

All diesen Gruppen lassen sich unterschiedliche Interessen zuordnen. Diese Analyse der veröffentlichten Daten und dem hier vorgelegten empirischen Material einer Erhebung läßt die Behauptung zu, daß sich als mächtige Interessengruppen nur drei bezeichnen lassen. Sie haben ihren Platz sowohl auf der Bildungsskala als auch auf der Kastenskala ganz oben. über die Subkasten sind die Vertreter aller drei Interessengruppen aus der besitzenden Klasse eng miteinander verbunden. Genau das ist der Grund, warum sich die bürgerliche Revolution in Indien so schwer tut. Begonnen hat sie praktisch mit der Gründung des Indischen Nationalkongresses im Jahre 1885. Enden wird sie sicherlich in einem Bündnis zwischen Großbourgeoisie und städtischer Bourgeoisie. Für die besitzlose Mehrheit mögen sich daraus hier und da zeitweilig Vorteile ergeben, aber die Wahl wird an ihrer politischen Ohnmacht nichts ändern. Der Wahl-ausgang hat den feudalen Interessengruppen eine Atempause verschafft. Die Auseinandersetzung zwischen der besitzlosen Mehrheit und der „dominierenden Minderheit" wird erst noch beginnen. Sie wird allerdings solange nicht stattfinden, wie der Einfluß des Kasten-systems ungebrochen weiterbesteht.

Innerhalb des Kastensystems sind heftigere Auseinandersetzungen offensichtlich noch nicht möglich. So wie in der Subkaste die aus der Kastenposition resultierenden Verpflichtungen Besitzende und nicht Besitzende miteinander verbinden, verbindet das Kasten-Klassen-System die Besitzenden und die nicht Besitzenden miteinander. Dieses System verhindert einen Klassenkampf ebenso wie es das Entstehen von Solidarität nicht zuläßt.

Fussnoten

Fußnoten

  1. M. N. Scrinivas, Caste in Modern India and other Essays, Bombay 1962.

  2. Die Darstellung der antiken Geschichte beschränkt sich auf allseitig akzeptierte Fakten. Theorhetische Überlegungen werden in der Formulierung deutlich gemacht.

  3. Einen guten Überblick über die indische Geschichte vermittelt: Fischer Weltgeschichte, Band 17, Indien, Frankfurt 1967.

  4. Vorstellbar wäre, daß es Quellenmaterial gab, das nicht mehr existiert, oder das noch nicht aufgearbeitet ist. Für die Geschichtsschreibung war diese Fragestellung nicht relevant und ist es zum Teil wohl auch heute noch nicht.

  5. Nirad C. Chaudhuri, The Continent of Circe, Bombay 1965, S. 61 ff.

  6. Humayun Kabir, Indian Philosophy of Education, Bombay 1961, S. 193.

  7. Gunnar Myrdal, Aslan Drama, The Penguin Press, 1968, S. 1632.

  8. Ebd., S. 1637.

  9. Persival Griffith, The British Impact of India, London 1952, S. 374 ff., 402 ff.

  10. B. Hoselitz, Capital Formation and Economic Growth, Hrs. National Bureau Committee for Economic Research, Princeton 1955, S. 325.

  11. Gunnar Myrdal, a. a. O., S. 1637.

  12. Humayun Kabir, a. a. O., S. 193.

  13. Margaret Cormack, She who rides a Peacock, sndian Students and Social Change, Bombay 1961,

  14. Humayun Kabir, a. a. O., S. 193.

  15. Speeches by Lord Macaulay with his Minutes of Indian Education, Hrs. von G. M. Young, Qxford University Press, London 1935, S. 359.

  16. Jawaharlal Nehru, Entdeckung Indiens, Deutsche Ausgabe, Berlin 1959, S. 394.

  17. Prodosh Aich, Die friedliche Revolution Indiens, in: Sozialer Fortschritt, H. 4, Jg, 9, 1960, S. 88 ff.

  18. Helen B. Lam, in: Kuznets, Moore und Spengler, Economic Growth: Brazil, India, Japan, Durham 1955, S. 464 ff.

  19. D. A. Low, Der zum Sprung ansetzende Löwe, in: Rudolf von Albertini: Moderne koloniale Geschichten, Köln—Berlin 1970.

  20. Edward Thomsen, The Making of Indian Prin-ces, London 1943, S. 270— 271.

  21. Jawaharlal Nehru, a. a. O., S. 405.

  22. Jawaharlal Nehru, ebd., S. 452.

  23. Ebd., S. 417.

  24. Zitiert in: S. S. Dikshit, Nationalism and Indian Education, Delhi 1966, S. 136 ff.

  25. Nirad Chaudhuri, The Continent of Circe, Bombay 1966, S. 338.

  26. J. P. Naik, Educational Planning in India, New Delhi 1965, S. 39.

  27. Report of the Education Commission 1964— 1966, Government of India, Ministry of Education, New Delhi 1966, S. 97.

  28. Der Verfasser hat 1966/67 eine Befragung von 1430 Studenten an den Universitäten Delhi, Jadavpur, Jaipur und Kalkutta durchgelführt, dia sich im letzten Halbjahr ihrer Ausbildung befanden.

  29. Prodosh Aich, Wer hat Zugang zur indischen Universität, in: Zeitschrift für Soziologie, Jg. 3, H. 2, 1974, S. 111— 137.

  30. Prodosh Aich, Die parteipolitische Situation in Indien, in: Gewerkschaftliche Monatshefte, Jg. 12, H. 12, 1961, S. 710.

  31. M. N. Srinivas, Caste in Modern India, Bombay 1962, S. 8 ff. und S. 42 ff.

  32. Prodosh Aich, Wer hat Zugang zur indischen Universität? in: Zeitschrift für Soziologie, Jg. 3, H. 2, 1974, S. 136.

  33. Prodosh Aich, ebd., S. 114— 115.

  34. Prodosh Aich, ebd., S. 115.

  35. Dafinn Silvertsen, When Caste Barriers fall, New York 1963.

  36. India, A Reference Annual, Government of India 1975, S. 12.

  37. Ebd., S. 47.

  38. Ebd., S. 18.

  39. Ebd., S. 106— 111, S. 115.

Weitere Inhalte

Prodosh Aich, Dr. phil., geb. 1934 in Kalkutta; Studium der Philosophie, Staatswissenschaften, Soziologie und Ethnologie an den Universitäten Kalkutta, Bonn und Köln; zunächst Forschungsbeauftragter, dann bis 1967 wissenschaftlicher Assistent an der Universität Köln (Institut für Soziologie); bis 1970 Stipendiat der Heinrich-Hertz-Stiftung; seit 1971 Dozent an der Universität Oldenburg für Soziologie und Sozialpolitik. Veröffentlichungen u. a.: Farbige unter Weißen, Köln 1962; Soziale Arbeit Beispiel Obdachlose (mit Otker Bujard), Köln 1972; Da weitere Verwahrlosung droht... (Hrsg.), Reinbek 1973; Wie demokratisch ist Kommunalpolitik? Die Gemeindeverwaltung zwischen Bürgerinteresse und Mauschelei, Reinbek 1977.