Meine Merkliste Geteilte Merkliste PDF oder EPUB erstellen

Die sanfte Gewalt. Sprache - Denken - Politik | APuZ 24/1977 | bpb.de

Archiv Ausgaben ab 1953

APuZ 24/1977 Zwischen Weltgeltung und Weltzivilisation. Die auswärtige Kulturpolitik Deutschlands in diesem Jahrhundert Die sanfte Gewalt. Sprache - Denken - Politik

Die sanfte Gewalt. Sprache - Denken - Politik

Wolfgang Bergsdorf

/ 23 Minuten zu lesen

Zusammenfassung

Der — oft vernachlässigten — politischen Dimension der Sprache liegt die fundamentale Bedeutung des Sprechens für die Bildung jeder menschlichen Gesellschaft zugrunde. Die Verständigungsfunktion der Sprache wird zugleich begründet und begrenzt durch gesellschaftliche Übereinkunft über die von Wörtern symbolisierten Tatsachen und Ideen. Deshalb haben sich alle politisch Herrschenden bemüht, ihre Herrschaft dadurch zu stabilisieren, daß sie auch Herrschaft über die Sprache zu gewinnen trachteten: Die Bedeutungen der politischen Schlüsselbegriffe sollen ihren politischen Zwecken angepaßt werden. Dies geschah und geschieht in totalitären Diktaturen dadurch, daß mit der Technik der Sprachzerstörung alten Begriffen neue Inhalte gegeben werden. Auch in einer pluralistischen Gesellschaft ist die Sprache gezielten Veränderungen unterworfen, die in der politischen Auseinandersetzung der miteinander um die Macht konkurrierenden Gruppen ihren Ursprung haben: Nichts entscheidet über den Erfolg oder Mißerfolg einer Partei mehr als ihre Fähigkeit, ihre politischen Ziele in verständliche und mehrheitsfähige Begriffe umzusetzen. Vor allem in Wahlkämpfen, für die die Bundestagswahlen von 1972 und 1976 beispielhaft stehen, wird ein heftiger Streit um den Inhalt von Begriffen geführt. Trotz aller Formelhaftigkeit der Propaganda wird hier aber auch zugleich die Lebendigkeit und Erneuerungskraft unserer politischen Sprache sichtbar. Dennoch ist unsere politische Sprache mit ihrem hohen Grad an Abstraktion und Rationalität nicht geeignet, die Orientierung des Menschen in der technisch-industrialisierten Welt zu erleichtern, weil sie den emotionalen Bedürfnissen der Menschen zu wenig Rechnung trägt.

I.

„Die Neusprache war die in Ozeanien eingeführte Amtssprache, sie war zur Deckung der ideologischen Bedürfnisse des Engsoz erfunden worden. Sie hatte nicht nur den Zweck, ein Ausdrucksmittel für die Weltanschauung und geistige Haltung zu sein, die den Anhängern des Engsoz allein angemessen war, sondern darüber hinaus jede Art anderen Denkens auszuschalten. Wenn die Neusprache erst ein für allemal angenommen und die Alt-sprache vergessen worden war (etwa im Jahre 2050), sollte sich ein unorthodoxer — d. h. ein von den Grundsätzen des Engsoz abweichender — Gedanke buchstäblich nicht mehr denken lassen, wenigstens insoweit Denken eine Funktion der Sprache ist. Der Wortschatz der Neusprache war so konstruiert, daß jeder Mitteilung, die ein Parteimitglied berechtigterweise machen wollte, eine genaue und oft sehr differenzierte Form verliehen werden konnte, während alle anderen Inhalte ausgeschlossen wurden, ebenso wie die Möglichkeit, etwa auf indirekte Weise das Gewünschte auszudrücken. Das wurde teils durch die Erfindung neuer, hauptsächlich aber durch die Ausmerzung unerwünschter Worte erreicht, und indem man die übriggebliebenen Worte so weitgehend wie möglich jeder unorthodoxen Nebenbedeutung entkleidete. Ein Beispiel hierfür: das Wort .frei'gab es zwar in der Neusprache noch, aber es. konnte nur in Sätzen wie: . Dieser Hund ist frei von Flöhen', oder . Dieses Feld ist frei von Unkraut'angewandt werden. In seinem alten Sinn von . politisch frei'oder . geistig frei'konnte es nicht gebraucht werden, da es diese politische oder geistige Freiheit nicht einmal mehr als Idee gab und infolgedessen auch keine Bezeichnung dafür vorhanden war."

Mit diesen Sätzen beginnt die „Kleine Grammatik" des englischen Sozialisten George Orwell, die er seinem utopischen Roman „ 1984" beigefügt hat. Eine Hauptrolle in diesem düsteren Szenarium totalitärer Herrschaft über-trug er der Sprache, die seiner Überzeugung nach das wichtigste Mittel von Diktaturen ist, sich Menschen gefügig zu machen. Die visionäre Kraft, mit der Orwell die geistige Entmündigung des Menschen durch die Vergewaltigung seiner Sprache schildert, macht die „Kleine Grammatik" von 1984 zu einem wichtigen politischen Dokument.

Nur noch sieben Jahre trennen uns von dem Jahr, in das Orwell seinen utopischen Roman hineingeschrieben hat. Man muß kein Optimist sein, um hoffen zu können, daß nicht alle bedrückenden Voraussagen Orwells schon 1984 Wirklichkeit sein werden. Dennoch stellt er in seinem Roman über den Zusammenhang von Politik und Sprache Fragen, die uns nachdenklich machen müssen.

Orwell behauptet, daß eine universale totalitäre Diktatur eine neue Sprache benötigt, die antitotalitäre Gedanken im Wortsinn undenkbar macht. Und er behauptet weiter, es gebe gefährliche Tendenzen bereits in der politischen Sprache der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg, die wie ein Krebsgeschwür die Lebendigkeit und Ausdrucksfähigkeit unserer Umgangssprache zu zerstören drohten. Diese Angst war für ihn einer der Beweggründe, „ 1984" zu schreiben.

Wer sich über die alles überragende Bedeutung wundert, die Orwell der Sprache beimißt, verkennt den Zusammenhang zwischen Denken, Sprechen und Handeln. Er vergißt, daß nichts mehr als die Sprache den Menschen von allen anderen Lebewesen unterscheidet. Es ist die Sprache, so stellt Ernst Cassirer fest, die den Menschen aus der absoluten Umweltbezogenheit des Tieres befreit. Das Verständnis unserer Welt reicht nicht weiter als unser Denk-und damit unser Sprachvermögen.

Sprechen ist ein geistiger Zugriff des Menschen auf die Dinge, der in einer Auseinandersetzung zwischen Innen und Außen ein Stück Lebenswelt menschlich faßbar macht, meint der Bonner Sprachforscher Leo Weisgerber. Indem wir Dinge benennen, Empfindungen Namen geben, Ereignisse in Lautsym-bolen beschreiben, schaffen wir Ordnung in unserer Welt, verstehen wir sie

Wann immer zwischen Menschen Überein-stimmung oder Einwilligung erreicht wird, gleichgültig, welche Symbole als Hilfsmittel dazu verwandt werden, wird diese durch Sprache erreicht oder sie findet überhaupt nicht statt. Denn auch nichtsprachliche Symbole erhalten ihre Bedeutung nur durch sprachliche Verständigung. Das ist der Grund dafür, daß ohne Sprache eine menschliche Gemeinschaft nicht denkbar ist. Familie, Sippe, Stamm, Volk sind Ergebnisse des menschlichen Geistes, der mit der Sprache Ordnungen für menschliche Beziehungen schafft

Aristoteles definiert in seiner „Politik" den Menschen als ein sprechendes Wesen und stellt fest, daß die Sprache dazu dient, offenbar zu machen, „was nützlich und schädlich, gerecht und ungerecht ist. Das gemeinsame Bewußtsein davon schafft erst Haus und Staat"

Noch mehr als 2100 Jahre später bewegen sich auch Marx und Engels im Rahmen dieser Grundüberzeugungen der europäischen Kulturgeschichte mit ihrer Feststellung, daß Sprache das praktische, auch für andere Menschen existierende Bewußtsein sei. Wenn man diese Behauptung für richtig hält und sie weiterdenkt, wird es höchst zweifelhaft, ob Menschen ohne Sprache überhaupt denken und anders als unbewußt handeln könnten. Ebenso wie die Sprache dem Menschen die Chance gibt, ein Lebewesen besonderer Art zu sein, so errichtet Sprache auch Grenzen, die der Mensch nur mit Mühe — wenn überhaupt — überschreiten kann. Denn durch Sprache wird Denken und Handeln nicht nur ermöglicht, sondern auch begrenzt.

Jeder Mensch erlebt Situationen und Erfahrungen, die er mit den ihm zur Verfügung stehenden Wörtern nicht ausdrücken kann. Jeder ist auf Wörter angewiesen, deren vorgestanzte Bedeutungsinhalte immer nur annäherungsweise die ureigensten Gefühle ausdrücken können, von denen er häufig genug überzeugt ist, daß sie einzigartig und unwiederholbar seien. Es ist der immer wieder geleistete Versuch, diese Grenzen zu überschreiten, der Dichtung hervorbringt. Dieser Kampf um die Überwindung der Grenzen der Sprache ist so alt wie die Menschheit. Peter Hoffstätter erinnert an ein aus der 12. Dynastie Ägyptens überliefertes Beispiel: „Besäße ich doch die Worte, die unbekannt sind, Ausdrücke, die uns fremd sind, geformt in einer neuen Sprache, die es bisher nicht gab, die noch nicht wiederholt wurde. Nicht die Begriffe der alten Sprache, die schon unseren Vorfahren geläufig war. Ich versuche, alles aus meinem Geist herauszupressen, was in ihm ist und ich verliere alles, indem ich es sage."

II.

Dennoch erschöpft sich die konstituierende Bedeutung der Sprache für den Menschen nicht in der Verständigungsfunktion der Laut-symbole. Abbe d'Aubignac wurde bereits im 17. Jahrhundert angegriffen wegen seiner radikalen Feststellung: Sprechen ist Handeln -Weil aber jede Kommunikation bezweckt, das Verhalten anderer Menschen zu beeinflussen, ist Sprechen auch Handeln. Der amerikanische Sozialpsychologe C. Kluckhohn, geht soweit, die Funktion der Sprache als Transportmittel von Ideen ihrer Handlungsfunktion unterzuordnen: „In Wörterbüchern steht immer, daß die Sprache ein Mittel ist, um Ideen mit-zuteilen. Die Semantiker und Anthropologen stimmen überein, daß das eine unbedeutende Funktion der Sprache ist. Vor allem ist Sprache ein Instrument der Handlung."

Weil Politik vielleicht mehr noch als andere Bereiche des Lebens von der Verständigungsund Handlungsfunktion der Sprache abhängt, ist die politische Dimension der Sprache von einer unüberschätzbaren Bedeutung. Historiker und Philosophen gehen gelegentlich so weit, Geschichte als einen fortwährenden Kampf um die Sprache zu charakterisieren, als einen Kampf um den Sieg der eigenen Sprache und damit auch der eigenen Ideen-welt, der eigenen Ideologie.

Ob man sich die Vielzahl der aktuellen Auseinandersetzungen über die Sprachen kleiner oder großer Minderheiten nicht nur in Ländern der Dritten Welt, sondern auch in west-liehen Ländern wie Kanada, Österreich, Belgien und Frankreich ansieht, oder ob man die Sprache der Politik untersucht: man wird immer wieder feststellen müssen, daß allen Sprachkonflikten der Versuch der Mächtigeren in einer Gesellschaft zugrunde liegt, ihre Machtstellung auszubauen, indem sie den Schwächeren die Bedeutungsinhalte von sprachlichen Symbolen oder der von ihnen benutzten Sprache insgesamt vorschreiben. Es geht immer darum, den politischen Einfluß über die Sprache zu befestigen oder auszubauen. Kontrolle und bewußte Veränderung der Sprache sind die Mittel, mit denen Herrschaft durch Sprache ausgeübt wird.

Schon Thukydides machte in seiner Beschreibung des Peloponnesischen Krieges auf eine Veränderung der Sprache aufmerksam, die eine politische Ursache hatte und politische Ziele verfolgte: „Wörter mußten damals ihre herkömmliche Bedeutung ändern und neue Bedeutungen annehmen. Rücksichtsloses Draufgängertum wurde für tapfer erklärt, kluges Zögern wurde als Feigheit denunziert."

Man kann diesem Befund des griechischen Geschichtsschreibers entgegenhalten, daß die Veränderungen — wie überall in der Welt — auch bei der Sprache die Regel ist und deshalb die Nichtveränderung, der Stillstand der Wort-bedeutungen, die eigentliche Aufmerksamkeit erfordere. Goethe schreibt dazu: „Kein Wort steht still, sondern es rückt immer durch den Gebrauch von seinem anfänglichen Platz eher hinab als hinauf, eher ins Schlechtere als ins Bessere, ins Engere als ins Weitere. An der Wandelbarkeit des Wortes läßt sich die Wandelbarkeit der Begriffe erkennen."

Was aufmerksame Beobachter wie Thukydides registrierend bemerken und Goethe mit einem sicherlich nicht richtigen Werturteil versieht, die großen Veränderer und Verbesserer der Welt machen es sich zunutze: Kein Religionsstifter hat seine Idee verwirklichen können, ohne zurückzugreifen auf die Wandelbarkeit der Wörter und ihre Fähigkeit, in die Tiefenschichten des menschlichen Bewußtseins einzudringen. Eines der wichtigsten Dokumente des Christentums, das Johannesevangelium, beginnt mit der dreifachen Feststellung: „Im Anfang war das Wort und das Wort war bei Gott und Gott war das Wort."

Dieser Satz soll nicht die Sprache vergöttlichen, er soll den Ursprung allen Lebens, allen Denkens erklären aus dem Wort, mit dem Johannes Gott meint. Auch Konfuzius war sich der alles überragenden Kraft der Sprache bewußt. Als ein Schüler ihn fragte, was er als erstes tun würde, wenn er morgen die Leitung des Staatswesens zu übernehmen hätte, antwortete Konfuzius: „Ich würde zuerst die Bedeutung der Worte festlegen. Wenn die Bedeutungen nicht klar sind, stimmen die Worte nicht. Stimmen die Worte nicht, so kommen die rechten Werke nicht zustande. Kommen die rechten Werke nicht zustande, so gedeihen Kunst und Moral nicht. Darum sorge der Edle, daß er seine klaren Begriffe zu Worten und seine Worte zu Taten werden lasse und dulde nicht, daß in seinen Worten irgend etwas in Unordnung ist."

III.

Der Kampf um die Befähigung, den Bedeutungsinhalt von Wörtern festzulegen, ist kei-ne nur religiöse Sache; sie ist politisch, weil politische Herrschaft ohne Herrschaft auch über die Sprache auf Dauer unmöglich ist.

Sprache ist Politik und Politik ist Sprache, weil politische Herrschaft zwar auch mit physischer Gewalt begründet werden kann, aber dennoch ohne die Zustimmung der Beherrschten keinen andauernden Erfolg hat.

Für die parlamentarische Demokratie mit ihrem komplizierten System von Machverteilung und Machtkontrolle hat die Sprache eine* besonders herausgehobene Bedeutung, weil sie Konsens, Kompromiß und alternative Positionen erst ermöglicht. Theoretiker der parlamentarischen Demokratie definieren unser parlamentarisches Regierungssystem als „Regieren durch Diskussion". Die Kunst des öffentlichen Redens, die Rhetorik, bezeichnete Nietzsche deshalb als eine wesentliche parlamentarische Tugend. Er warnte die Rhetorik als Partner der Vernunft davor, sich privatisieren zu lassen. Eine privatisierende Vernunft ist nach seiner Meinung eine eingeschränkte Vernunft.

Gerade weil man Nietzsche unrecht tut, wenn man ihn als einen Apostel der parlamentarischen Demokratie feiert, ist sein Vertrauen in die vernunftfördernde Sprache bemerkens-wert. Er sagte voraus, daß künftig der Kampf um die Macht vor allem ein Kampf um die Machtübernahme im Reich der Sprache sein werde.

„Worte können sein wie winzige Arsendosen, sie werden unbemerkt verschluckt, sie scheinen keine Wirkung zu tun und nach einiger Zeit ist die Wirkung doch da." Dies schreibt Victor Klemperer in LTI, dem Notizbuch eines Philologen, in dem er seine Beobachtungen zur Sprache des Dritten Reiches zusammengefaßt hat Klemperer, ein jüdischer Hochschullehrer, hat die Sprache des Naziregimes mit der Sensibilität eines Sprachwissenschaftlers registriert und in einem Sprach-tagebuch aufgezeichnet. Einem der Schlüsselwörter der Nazizeit, dem Begriff Fanatismus und fanatisch, widmet er ein Kapitel, in dem die Umwertung des bisherigen Begriffs durch die Machthaber aufgezeichnet wird, wie sie schon von Thukydides beispielhaft analysiert wurde: „Da der Nationalsozialismus auf Fanatismus gegründet ist und mit allen Mitteln die Erziehung zum Fanatismus betreibt, so ist fanatisch während der gesamten Ära des Dritten Reiches ein superlativistisch anerkennendes Beiwort gewesen. Es bedeutete die Über-steigerung der Begriffe tapfer, hingebungsvoll, beharrlich, genauer eine glorios verschmelzende-Gesamtaussage all dieser Tugenden, und selbst der leiseste pejorative Nebensinn fiel im üblichen Gebrauch dieses Wortes fort. An Festtagen, an Hitlers Geburtstag etwa oder am Tag der Machtübernahme, gab es keinen Zeitungsartikel, keinen Glückwunsch, keinen Aufruf an irgendeinen Truppenteil, die nicht ein . fanatisches Gelöbnis'oder . fanatisches Bekenntnis'enthielten, die nicht den . fanatischen Glauben'an die ewige Dauer des Hitlerreiches bezeugten. Je dunkler sich die Lage im Krieg gestaltete, um so häufiger wurde der . fanatische Glaube an den Endsieg', an den Führer, an das Volk oder an den Fanatismus des Volkes als eine deutsche Grundtugend ausgesagt.

Hand in Hand mit dieser Häufigkeit auf dem politischen Felde ging die Anwendung auf anderen Gebieten, bei Erzählern und im täglichen Gespräch. Wo man früher . leidenschaftlich'gesagt oder geschrieben hätte, hieß es jetzt . fanatisch'. Damit trat notwendigerweise eine gewisse Erschlaffung, eine Art Entwürdigung des Begriffes ein.

Dem sprachlich führenden Kopf des Dritten Reiches, Goebbels, dem es um die volle Wirkung des auftreibenden Giftes zu tun war, mußte die Abnützung des Wortes als eine innere Schwächung erscheinen. Und so wurde Goebbels zu dem Widersinn gedrängt, eine Steigerung über das nicht mehr zu Steigernde zu versuchen. Im , Reich’ vom 13. November 1944 schrieb er, die Lage sei , nur durch einen wilden Fanatismus zu retten'. Als sei die Wildheit nicht der notwendige Zustand des Fanatikers, als könne es einen zahmen Fanatismus geben.“

Der Jargon der Eigentlichkeit, wie Adorno die Sprache des Nationalsozialismus treffend gekennzeichnet hat, versuchte durch Inflation des Superlativs Tiefsinn vorzutäuschen, wo nur seichte Propaganda vorhanden war. Nazi-deutsch war eine Sprache, die sich um die Begriffe „Volk und Führer", „Blut und Boden", „Verschwörung des Weltjudentums" und der „dem Führer aufgezwungene Krieg" gruppierte.

Mit der Vokabel „Propaganda" wird man der sprachlichen Wirklichkeit des Dritten Reiches nicht voll gerecht. Denn die Feststellung von Propaganda setzt die Fähigkeit voraus, eine propagandistische Behauptung von der Wirklichkeit unterscheiden zu können. Und genau diese Fähigkeit wurde von den sprachlichen Machthabern des Dritten Reiches „ausgemerzt", um eine andere typische Vokabel der Nazizeit zu benutzen. Die Einparteiherrschaft, die totale Beherrschung der Massenmedien, die lückenlose Erfassung durch Massenorganisationen, der offene Terror, die verdeckte Erpressung haben die für die Zwecke der Machtausübung zurechtgerückte Sprache der Herrschenden auch zur Sprache der Beherrschten gemacht.

IV.

Charakteristisch für die Technik der Sprach-zerstörung der Nazis war die Methode der Euphemisierung von Begriffen. Wer den Begriff „Endlösung" erfunden hat, erwarb sich einen Weltrekord an Zynismus. Diese Wort-neuschöpfung soll mit einfachen sprachlichen Mitteln die endgültige Lösung eines Problems andeuten und ist zum Inbegriff einer sprachlichen Lüge geworden, hinter der sich die Ermordung von Millionen Menschen verbirgt. Goebbels, der Erfinder wohl auch dieses Begriffes, wird von Klemperer als ein Midas der Lüge charakterisiert: alles was er anrührte, kehrte er ins Lügnerische

Lüge ist das Merkmal jeder totalitären Sprachpolitik, die den Sinn von Wörtern in ihr Gegenteil verkehrt. Die nationalsozialistische Sprachzerstörung hat ihre Vorbilder und ihre Nachfolger in der kommunistischen Sprachverfälschung, deren Opfer Nadesha Mandelstam, die Frau des sowjetischen Lyrikers Ossip Mandelstam, in ihrer Autobiographie „Das Jahrhundert der Wölfe" ihre Stimme verleiht: „So seltsam es war, das Wort Gewissen war bei uns völlig aus der Umgangssprache entschwunden. Weder in Zeitungen noch in Büchern noch in der Schule wurde es verwandt, denn seine Funktion hatte anfangs das Wort Klassengefühl’ und dann , Nutzen für den Staat'übernommen. Nur drinnen, in der Haft, gab es dieses Wort noch und wurde zielgerecht eingesetzt. Dort wurde den Untersuchungsgefangenen ständig mit Gewissensqualen’ gedroht. Boris S. Kusin hat erzählt, wie sie ihm zugesetzt haben, als sie ihn aufforderten, ein Spitzel zu werden. Sie schreckten ihn mit Arrest und führten ihm seine Gewissensqualen vor Augen, wenn er auch noch seine Familie in Armut zöge, weil er den Vorschlag der Organe nicht annehme."

Es ist sicherlich kein Zufall, daß Stalin auf der Höhe seiner Macht sich in mehreren, in ihrer Bedeutung noch heute für die sowjetischen Wissenschaftler gültigen Aufsätzen mit der Rolle der Sprache beim Aufbau der sozialistischen Gesellschaft befaßt hat. Der sowjetische Diktator hat den politisch nur vordergründig marginalen Gegenstand der Sprache benutzt, um den für den Marxismus völlig neuen Begriff der „Revolution von oben" durch sprachliche Mittel einzuführen. Er wollte mit diesen Aufsätzen klarmachen, daß die faktische Herrschaft der Sowjets nun sprachlich zementiert werden müsse. Die Hoffnungen auf eine sozialistische Utopie hat Stalin in diesen Aufsätzen umgelenkt in die Unausweglichkeit einer kommunistischen Ideologie.

Wer kommunistische Presseerzeugnisse liest, bemerkt die Erstarrung und Leblosigkeit der Sprache. Monotonie und gebetsmühlenartige Floskelhaftigkeit sind Erkennungszeichen totalitärer Sprache. Hannes Maeder diagnostiziert als Symptome der kranken Sprache totalitärer Herrschaft

Eine Überschwemmung der Sprache mit wertenden Ausdrücken auf Kosten der neutralen; einen Ausbau der Wertstufen zugunsten eines Schwarz-Weiß-Schemas; eine Entfremdung der Sprache gegenüber dem individuellen Wertempfinden; eine zunehmende Gleichförmigkeit, bei der alle traditionellen sprachlichen Unterschiede geschichtlicher, regionaler, sozialer und ständischer Art vor der uniformierten Gewalt der Parteisprache zurücktreten.

Deshalb haben die Sprache des Dritten Reiches und das Deutsch der DDR mehr Gemeinsamkeiten, als die Machthaber in der DDR wahrhaben wollen. In beiden Systemen ist den Herrschenden der Wille gemeinsam, durch sprachliche Veränderungen und Um-wertungen politische Wirkungen zu erzielen. In beiden Fällen wird die Sprache als politisches Kampfmittel benutzt, um die sprachliche Kraft systematisch in den Dienst der Ideologie zu stellen.

Der Bonner Germanist Hugo Moser stellt noch weitere Gemeinsamkeiten zwischen der Sprache des Dritten Reiches und dem offiziellen DDR-Deutsch fest: „Gemeinsam sind auch manche kollektiven Wesenszüge, wie sie zum Ausdruck kommen in der Formelhaftigkeit und der bewußten Wiederholung des Superlativs und der Schwarz-Weiß-Zeichnung, der Mischung von militanter, fordernder und emotionaler Haltung und auch der Verbindung von literarischer und Alltags-, ja Gossensprache und der Vorliebe für das Fremdwort."

Die Klischeehaftigkeit totalitärer Sprache, ihre Manie, die selbstentworfene Zukunft mit Euphemismen zu beschreiben, die Vergangenheit dagegen mit Bewertungen schlecht zu machen, sind als Versuch erklärbar, sich gegen kritische Fragen zu immunisieren. Breitbandvokabeln wie „Volk und Vaterland", „Fortschritt und Sozialismus" werden durch eine solche Sprachpraxis noch konturenloser, der ehemals vorhandene Bedeutungskern löst sich in dem Nebel einer universalen Bedeutung auf und wird so bedeutungslos. Je weniger scharf die Wörter, die zur Verfügung stehen, konkrete Sachverhalte treffen, desto kleiner ist die Angriffsfläche, die die Herrschenden bieten. Jürgen Rühle, ein kenntnisreicher Kritiker des sozialistischen Realismus, stellt fest: „Die Sprache ist der Ausdruck des Gedankens, und wenn ich nicht genau, präzise denken darf und kann, dann werde ich verworren sprechen. Die Verworrenheit der Sprache ist der Ausdruck eines verworrenen, nicht zu Ende geführten Denkens. Es gibt bestimmte Dinge im Bewußtsein der Schriftsteller, die dürfen nicht berührt, die müssen umgangen werden. Sowie man sich ihnen nähert, signalisiert das Bewußtsein: Das darfst du nicht. Dies ist das Trauma des sozialistischen Schriftstellers: Die Selbstzensur als Instrument sozialistischer Sprach-kontrolle."

Man kann diese Folgen totalitärer Sprache für das Selbstbewußtsein der Menschen und für ihre Fähigkeit, politische und soziale Sachverhalte zu erkennen und sprachlich umzusetzen, in ihrer Bedrohlichkeit nicht klar genug aussprechen. Der französische Aufklärer Helvetius behauptet, daß jede Unterdrückung letztlich ihren Grund darin habe, daß sich die Unterdrückten nicht miteinander verständigen könnten. Deshalb ist es immer das Ideal der Tyrannen gewesen, die Unterworfenen zum Schweigen zu bringen. Wie aber, fragt Helmut Schelsky, wenn sich die Menschen selbst um die Sprache bringen, weil sie ihr nicht mehr zutrauen, daß man über sie der Wahrheit näher kommen könnte?

Zerstörung und Verfall der Sprache in totalitären Gesellschaften stellen die Frage, ob und inwieweit auch in unserer politischen Sprache Veränderungen festzustellen sind, die ihre Verständigungsfähigkeit verringern. In einer demokratischen Gesellschaft kann die Sprache kein aseptisch abtrennbares Segment sein, das von den Vorgängen in der politischen Arena unberührt bleibt. Sie darf es nicht sein, weil der Sprache in einer demokratischen, auf Diskussion angewiesenen Gesellschaft als dem Transportmittel von Informationen über Tatsachen, Ideen und Überzeugungen eine noch größere Rolle als anderswo zukommt. Die Sprache als wichtigstes Mittel der Kommunikation muß hier dazu geeignet sein, Unterscheidungen auch zwischen ähnlichen Tatsachen und Ideen in leicht faßlicher Form zu ermöglichen, damit Meinungen und Überzeugungen auch unabhängig von der Politik und Propaganda der jeweiligen Regierung gebildet werden können. Nur so können Voraussetzungen für den Regierungswechsel durch Wahlen geschaffen werden. Deshalb entscheidet über den Erfolg oder Mißerfolg einer politischen Partei nichts mehr als ihre Fähigkeit, ihre politischen Ziele in verständliche sprachliche Symbole umzusetzen.

Man hat dem ersten Kanzler der Bundesrepublik Deutschland, Konrad Adenauer, immer wieder nicht ohne einen Unterton intellektueller Arroganz den angeblich geringen Umfang seines rheinisch eingefärbten und ohnehin reduzierten Wortschatzes vorgeworfen Ob diese Kritik zutrifft oder nicht, ist unerheblich angesichts seines großen politischen Erfolges, der unlösbar verknüpft ist mit der Fähigkeit Adenauers und seiner Partei, die eigenen politischen Vorstellungen in jedermann verständliche und überzeugende Begriffe umzumünzen. „Wiedervereinigung" und „Europäische Einigung" — Schlüsselbegriffe der Adenauerschen Deutschland-und Außenpolitik — waren jahrzehntelang tragfähig und überzeugungsstark; das gleiche gilt für den Begriff „Soziale Marktwirtschaft", ohne dessen durchschlagende Wirkung das hinter dieser Bezeichnung stehende wirtschaftliche Konzept weniger erfolgreich gewesen wäre.

Wenn man zum Maßstab einer erfolgreichen Sprache in der Politik die Überzeugung der Wähler und die Unterwerfung des Gegners unter den eigenen Sprachgebrauch macht, dann war Adenauer überaus erfolgreich und ist es noch heute. Die damalige Opposition wurde durch die Überzeugungskraft der Adenauerschen Begriffe dazu gezwungen, diese Vokabeln zur Charakterisierung auch ihrer eigenen Politik zu benutzen. Das Godesberger Programm der SPD markiert auch die sprachliche Annäherung an die Politik der damaligen Regierungsmehrheit. Der SPD ist es 20 Jahre lang nicht gelungen, eigene Begriffe, die von einer überwiegenden Mehrheit aufgegriffen wurden, in die politische Alltagssprache einzubringen.

Dies änderte sich erst Ende der sechziger Jahre, genauer mit der Kanzlerschaft Willy Brandts, der ebenfalls ein Meister von Politik durch Wörter war. Es war mehr als ein semantischer Kunstgriff, als die erste Regierung Brandt sich daran machte, das alte und wertneutrale Wort „Außenpolitik" weitgehend auf den amtlichen Sprachgebrauch zu beschränken und es in der regierungsamtlichen Propaganda durch den emotionalen und nicht steigerungsfähigen Begriff „Friedenspolitik" zu ersetzen. Dieses sprachpsychologische Meisterwerk, das Brandt und seiner Partei 1972 die Bundestagswahlen gewinnen half, erhielt sein innenpolitisches Gegenstück im Begriff „Reformpolitik". Die beiden Vokabeln „Friedenspolitik" und „Reformpolitik" brachten Parteiprogramme und Regierungserklärungen auf einen Nenner. Wenn dieser Nenner noch erklärungsbedürftig war, dann wurden mit Wörtern wie „Emanzipation", „gesellschaftliche Relevanz“, „Unterprivilegierung", „Umfunktionieren" begriffliche Hilfsprogramme angeboten, deren Herkunft aus Fremdwörtern auch höheren intellektuellen Anforderungen Rechnung tragen sollten.

Glanz und Erfolg dieser „Sprachpolitik" sind mittlerweile verblaßt. Die politische Wirklichkeit in der Außen-und Innenpolitik hat jene Begriffe als Waffe in der Auseinandersetzung mit dem politischen Gegener weitgehend unbrauchbar gemacht.

Diesen politischen und sprachlichen Niedergang hat die Opposition genutzt und ist sprachlich wieder aktiv geworden. Während der 1972er Wahlkampf auch . sprachlich’ von der SPD eindeutig gewonnen wurde, zog die CDU unter der Führung von Helmut Kohl in den Bundestagswahlkampf 1976 mit den erfolgreichen Kampfwörtern „Freiheit statt Sozialismus", denen die Regierungsparteien nichts entsprechendes entgegenzusetzen wußten.

Die SPD reagierte beleidigt bis verärgert auf die Wahlkampfparole der CDU, obwohl die Opposition nichts anderes getan hatte, als das Erfolgsrezept der SPD von 1969 bis 1972 zu beherzigen: nämlich sprachlich in die Offensive zu gehen, positiv geladene Begriffe zur Bezeichnung der eigenen Ziele und möglichst negative Wörter zur Charakterisierung der gegnerischen Politik zu benutzen. Denn es gibt im politischen Sprachgebrauch der Bundesrepublik kein Wort, dem mehr Sympathie zufließt als dem Begriff „Freiheit". Das Demoskopische Institut Allensbach hat herausgefunden, daß 93% aller Erwachsenen „Freiheit" den Vorzug geben vor jedem anderen politischen Begriff Auf der anderen Seite ist die Antipathie gegen den Begriff „Sozialismus" seit 1961 in der Bundesrepublik kontinuierlich gewachsen Demoskopische und semantische Untersuchungen haben bei den Begriffen „Freiheit" und „Sozialismus" ein bemerkenswertes Ergebnis, gebracht: Obwohl diese Begriffe aus zwei völlig verschiedenen Bereichen kommen und unterschiedlicher Struktur sind (Freiheit mit dem Bedeutungskem eines politischen Grundwertes und Sozialismus als Kurzformel für eine politische Utopie), haben sich im politischen Deutsch der Bundesrepublik die Assoziationsfelder beider Begriffe zu einem Gegensatz par excellence entwickelt Für eine Mehrheit der Bundesbürger ist heute Unfreiheit weitgehend identisch mit Sozialismus.

Die Kombination des Spitzenreiters „Freiheit"

mit dem großen Verlierer der letzten Jahre „Sozialismus" mußte deshalb ein propagandistischer Erfolg werden, und das Wahlergebnis vom 3. Oktober 1976 hat die Richtigkeit dieser Überlegungen unter Beweis gestellt.

Diese wenigen Beispiele der politischen Auseinandersetzung mit sprachlichen Mitteln zeigen aber zugleich, daß die Orwellsche Sprach-Utopie mit der sprachlichen Wirklichkeit in der Bundesrepublik keine Gemeinsamkeit hat, selbst wenn auch hier „Schlüsselbegriffe" formelhaft und repetitiv verwendet werden. Denn anders als in totalitären Staaten gibt es bei uns keine Machtzusammenballung, die die Fähigkeit hat, sprachliche Symbole dauerhaft mit parteilichen Inhalten zu füttern und den Gebrauch dieser Formeln mehr oder weniger verbindlich vorzuschreiben. Der politische Wettbewerb schließt in der Bundesrepublik auch die Sprache ein. Der Erfolg von heute kann morgen zum Mißerfolg führen oder von einem Mißerfolg abgelöst werden. Trotz einer sicherlich auch bei uns festzustellenden Formelhaftigkeit politischer Sprache, die vor allem im Wahlkampf besonders deutlich in Erscheinung tritt, sichert die Konkurrenz politischer Gruppen der politischen Sprache ein Mindestmaß an Lebendigkeit und Erneuerungskraft, die für die politische Auseinandersetzung unerläßlich ist.

VI.

Ein wesentlicher Bestandteil der politischen Sprache in der Bundesrepublik neben aktuel-len Begriffen und propagandistischen Formeln sind einige Grundsatzbegriffe, die in der politischen Kultur Deutschlands seit 100 Jahren weiterentwickelt wurden und möglicherweise auch charakteristisch für das politische Denken in der Bundesrepublik Deutschland sind: „Staat und Gesellschaft“, „Kultur und Zivilisastion", „Geist und Intellekt".

Anders als zum Beispiel in der Sprache angloamerikanischer Politik oder im Französischen scheint die politische Sprache in Deutschland eine nur philosophisch erklärbare Vorliebe für konstruierte Gegensätze zu haben. Dies gilt vor allem für das unausrottbare Gegensatzpaar „Staat und Gesellschaft". Dieses Begriffspaar stammt aus dem 18. Jahrhundert und verdankt seine Entstehung dem emanzipatorischen Bedürfnis der bürgerlich-liberalen Opposition, dem Staatsbegriff des Absolutismus den Begriff der bürgerlichen Gesellschaft entgegenzusetzen. „Gesellschaft" war für die Auseinandersetzung mit dem Obrigkeitsstaat das begriffliche Symbol für eine neue Selbsteinschätzung der Bürger als Staatsbürger, die sich in einer freien Gesellschaft organisieren und sich nicht länger als Untertanen behandeln lassen wollten Wenn dieser Gegensatz damals eine konkrete politische Funktion hatte, so kann man heute daran zweifeln. Wenn man aber Staat und Gesellschaft lange genug als unterschiedliche, ja gegensätzliche Wirklichkeiten ausgibt, kann man mit diesen Begriffen — scheinbar logisch — trefflich operieren, beispielsweise, um „dem Staat gewisse (eng begrenzte) Funktionen als . wesensmäßig'zuzuschreiben, der freien Gesellschaft aber alle anderen sozialen Anliegen als ihr aus natürlichem Rechte zustehend vorzubehalten. Wenn die Zweiheit der Begriffe lang genug bestanden hat und im Gemeindenken fest genug verankert ist, um nicht mehr in Frage gestellt, sondern als Axiom hingenommen zu werden, dann können aus ihr ganze Ketten logischer Folgerungen abgeleitet werden."

Der Staat ist immer nur eine besondere und jeweils andere Form der Vergesellschaftung. Gerade in einer parlamentarischen Demokratie ist es nicht gerechtfertigt, einen so starken Gegensatz zwischen Staat und Gesellschaft zu konstruieren, daß Staat nahezu zum Gegenbegriff von Gesellschaft wird.

Ähnliches gilt für die typisch deutsche Unterscheidung von Gesellschaft und Gemeinschaft, mit der eine angeblich spezifisch deutsche Art von sozialem Verbund — die positiv aufgeladene Gemeinschaft — von der anderswo üblichen Gesellschaft abgehoben werden soll. Der deutsche Soziologe Ferdinand Tönnies hat um die Jahrhundertwende dieses Begriffspaar sogar benutzt, um darauf seine soziologische Lehre von „Gemeinschaft und Gesellschaft" aufzubauen. Auch hiermit setzt sich Theodor Geiger kritisch auseinander: „Es ist sehr zu bezweifeln, ob Tönnies jemals zu der Begriffsunterscheidung gekommen wäre, hätte er nicht gerade in deutscher Sprache gedacht und geschrieben. Das deutsche Vokabularium bietet die Homöonyme . Gemeinschaft" und . Gesellschaft". Die Nuancen laden zu begrifflicher Aufbauschung ein. Streicht man die Worte, bleibt von begrifflicher Substanz nicht viel übrig."

Auch Geiger geht nicht so weit, zu behaupten, daß die Unterscheidung zu jeder Zeit völlig sinnlos war und ist. Er warnt nur davor, aus dem Vorhandensein der Wörter auf einen Gegensatz der Urbilder zu schließen.

Viel deutsches Unheil und Verwirrung haben auch die Begriffspaare Kultur und Zivilisation, Geist und Intellekt gestiftet, von denen das erste jeweils die angeblich spezifisch deutsche und entsprechend positiv zu bewertende Form des zweiten Begriffes sei. Auch hier gibt es in den Begriffskernen keinen Unterschied, der die Aufblähung zu antithetischen Begriffspaaren rechtfertigen würde, es sei denn, man müsse jedem Bedürfnis nach empfindendem Tiefsinn nachgehen.

Walther Dieckmann hat in seiner bemerkenswerten Studie über die politische Sprache in Deutschland die wichtigsten Fehleinschätzungen politischer Begriffe herausgearbeitet: „Erstens: Der Mensch neigt zu der Annahme, daß, wo ein Wort ist, in jedem Fall auch ein , Begriff", eine , Idee", ein . Ding" vorhanden sein müsse. Das ist zwar in den meisten Fällen, aber nicht notwendig richtig. Seitdem die Menschen nicht mehr an Hexen glauben, wird jeder bestreiten, daß irgendetwas in der Realität vorhanden ist, was das Wort bezeichnen könnte. Bei Wörtern wie Demokratie, Freiheit, Liberalismus sucht man nicht nach einer dahinter stehenden Sache, sondern nach der . absoluten Idee" und schreibt den Wörtern eine ihnen von Natur aus eigene und unwandelbare Bedeutung zu. Zweitens: Die Umkehrung der ersten Annahme bedeutet: Was keinen Namen hat, gibt es nicht. Diese Vorstellung kann schon durch den Hinweis verneint werden, daß täglich Neues entdeckt und benannt wird, was vorher gar nicht da war oder noch nicht gesehen wurde. Drittens: Was mit dem gleichen Wort bezeichnet wird, ist gleich. Diese irrtümliche Annahme übersieht z. B., daß der Liberale von 1830 etwas anderes ist als der Liberale von 1960. Die Gleichheit der Zeichen verführt zu der Erwartung, daß auch die Bedeutungen gleich sein müssen. Dieses gewohnheitsmäßige Vorurteil er-schwert das Bemerken gegenteiliger Erfahrungstatsachen. Viertens: Vorstellungen und Dinge, die verschiedene Namen haben, sind verschieden. Auch diese Annahme ist falsch und erschwert das Bemerken der tatsächlichen Gleichheit." 23)

VII.

Diese Hauptfehleinschätzungen von politischen Begriffen sind vor allem deshalb in ihre

VII.

Diese Hauptfehleinschätzungen von politischen Begriffen sind vor allem deshalb in ihren Folgen für die Verringerung des Unterscheidungsvermögens so gefährlich, weil die politische Auseinandersetzung im wesentlichen um abstrakte Sachverhalte stattfindet.

Die politische Sprache bewegt sich immer stärker auf Abstraktionen zu wie auch die Schlüsselbegriffe aller Parteien zeigen. Diese Entwicklung wird durch die generelle Veränderung der modernen Sprachen zur Abstraktion verstärkt. Die Expansion abstrakter Denkweisen zu Lasten der Metapher und der Analogie — wie sie sich nicht nur in den Natur-und Sozialwissenschaften manifestiert — führt zu einem immer stärkeren Auseinander-klaffen unseres Wahrnehmungsvermögens von unserem Denkvermögen. Unser modernes Vokabular bemüht sich um Rationalität. Bilder verschwinden, immer mehr abstrakte Formeln geben unserer Sprache ihr charakteristisches Gepräge. Die Sprache wird damit zum Abbild unserer hochindustrialisierten Gesellschaft, die Rationalität, Abstraktionsvermögen und Funktionalität zu ihren instrumentellen Werten gemacht hat. Diese Entwicklung trägt den emotionalen Bedürfnissen der in der technisch-industriellen Welt lebenden Menschen nicht Rechnung. Deshalb ist es nicht erstaunlich, daß sich in der Alltagssprache deutliche Anzeichen für eine entgegenlaufende Entwicklung zeigen. Mit einem wachsenden Heimat-oder Regionsbewußtsein wird die . Mundart wiederentdeckt, der Dialekt beginnt seine soziale Diskriminierung zu verlieren.

Der große Erfolg von Sängern und Musik-gruppen, die relativ anspruchsvolle Texte mit emotional wirkungsvollen Begriffen in einem Dialekt oder einem dialektgefärbten Deutsch anbieten, ist ein deutlicher Hinweis darauf, daß die Abstraktion und Rationalität in der Alltagssprache ihre Vorherrschaft zu verlieren beginnen. Ähnliches gilt auch für die politische Sprache. Begriffe wie Freiheit, Frieden, Sozialismus, Reformen, Vernunft u. ä. besitzen zwar einen hohen Grad an Abstraktion, aber auch an Emotionalität. Neu ist jedoch, daß sie in den letzten Jahren auch außerhalb von Hoch-Zeiten politischer Propaganda immer stärker Eingang fanden in die Sprache des politischen Alltags. Die auch außerhalb von Parteiakademien geführte Grundwerte-Debatte unterstreicht, daß das Bedürfnis nach nicht nur rationaler Begründung politischer Ziele von den Politikern erkannt wird.

Vorläufig ist dies aber nur ein Anfang. Der Zustand unserer politischen Sprache ist noch nicht geeignet, die Orientierung des Menschen in der technisch-industriellen Welt zu erleichtern und zugleich seine Suche nach dem eigenen Ich zu fördern. Synkretismus wird so zum hilfsweisen Ideal einer Zeit, die auch und gerade in ihrer Sprache konkrete Festlegungen umgeht und sich in unverbindliche Abstraktionen flüchtet. Die Ailesgläubigkeit des „Synkretins" ist aber picht natur-oder gottgegebenes Schicksal des Menschen im ausgehenden 20. Jahrhundert. Wir haben die Macht, es zu ändern, indem wir mit der Sprache beginnen. Achten wir auf Sprachverfälscher und Sprachzerstörer. Nehmen wir uns wieder Mut zu einer persönlichen Sprache, die Dinge und Ereignisse so benennt, wie wir sie sehen.

Denn das Recht zur freien Meinungsäußerung als unverzichtbare Voraussetzung einer demokratischen Gesellschaft hat nur dann eine mehr als theoretische Bedeutung, so ermahnte uns Erich Fromm bereits 1941, wenn wir in der Lage sind, eigene Gedanken zu haben 24). Und eigene Gedanken haben wir nur dann, wenn wir uns eigene Gedanken nicht durch Sprachusurpatoren undenkbar machen lassen.

Deshalb verlangt die Frage nach der politischen Macht in jeder Gesellschaft nach ihrer Parallel-Fragestellung: Wer interpretiert die Gesellschaft, wer bemächtigt sich der Bedeutungsinhalte unserer politischen Sprache?

Fussnoten

Fußnoten

  1. George Orwell, Neunzehnhundertvierundachtzig, Ein utopischer Roman, Zürich 1950.

  2. Leo Weisgerber, Sprachsoziologie, in: Handwörterbuch der Sozialwissenschaften, Stuttgart-Tübingen-Göttingen 1956, Band 9, S. 726.

  3. Vgl. hierzu: B. L. Whorf, Sprache, Denken, Wirklichkeit, Reinbek 1963, S. 11.

  4. I 1253 a.

  5. Peter Hoffstätter, Einführung in die Sozialpsychologie, Stuttgart 1963, S. 245.

  6. La Practique du Thetre, Paris 1657, S. 370.

  7. Spiegel der Menschheit, Zürich 1951, S. 164.

  8. (Thukydides, Peloponnesischer Krieg) III, 82, zitiert nach der Übersetzung von Georg Peter Land-mann, München 1973, S. 250 f.

  9. Gespräche XIII, 3: Jena 1921, neu herausgegeben von Insel, Frankfurt a. M. 1976.

  10. LTI (Lingua Tertii Imperii), Berlin 1947 S. 21.

  11. A. a. O., S. 65.

  12. A. a. Ö„ S. 96.

  13. Frankfurt a. M. 1971, S. 92.

  14. Sprache und Totalitarismus, in: Aueler Protokoll: Sprache im Spannungsfeld zwischen Ost und West, Düsseldorf 1964.

  15. Vorwort zum Aueler Protokoll, a. a. O.

  16. Aueler Protokoll, a. a. O.

  17. Allensbacher Archiv, IfD-Umfrage 3030, Juni 1976.

  18. A. a. O„ IfD-Umfrage Nr. 1059, 2071/2073, 3001, 2011.

  19. Vgl. hierzu: Walther Dieckmann, Information oder Überredung. Zum Wortgebrauch der politischen Werbung in Deutschland seit der Französi-schen Revolution, Marburg 1964, S. 25 ff.

  20. Theodor Geiger, Ideologie und Wahrheit, Stuttgart-Wien 1953, S. 108.

  21. Gemeinschaft und Gesellschaft, Leipzig 1935, zuerst 1887.

  22. Geiger, a. a. O., S. 106 f.

  23. Dieckmann, a. a. O., S. 165 f.

Weitere Inhalte

Wolfgang Bergsdorf, Dr. phil., geb. 1941; Studium der Politischen Wissenschaft und Soziologie in Bonn, Köln und München; Mitarbeiter der Bundes-geschäftsstelle der CDU. Veröffentlichungen über kultur-und medienpolitische Themen. In: Aus Politik und Zeitgeschichte: Hochschul-und Wissenschaftspolitik im geteilten Deutschland (B 1/69); Berufsbildung und Erwachsenenbildung in beiden Teilen Deutschlands (B 50/69); Intellektuelle und Politik (B 24/74).