Die westeuropäische Gemeinschaftsbildung wurde lange Zeit als ein Prozeß verstanden, an dem in erster Linie die nationalen Ministerialbürokratien und die Brüsseler Administration von Kommission und Ministerrat beteiligt sind. Das Fehlen einer direkten Beteiligung der Völker durch ein gewähltes Europäisches Parlament wurde zwar als Mangel beklagt, dessen Abhilfe jedoch nicht energisch betrieben. Von einer Beteiligung anderer gesellschaftlicher Gruppen am politischen Prozeß der Gemeinschaft war kaum die Rede. Das hat sich in den letzten Jahren grundlegend geändert.
Zunächst brachten die Regierungs-und Staatschefs der EG auf ihrer Gipfelkonferenz in Paris vom 19. bis 20. Oktober 1972 ihre Auffassung zum Ausdruck, daß eine wachsende Beteiligung der Sozialpartner an den wirtschafts-und sozialpolitischen Entscheidungen der Gemeinschaft unerläßlich sei
I. Vorbemerkung
Abbildung 1
Abbildung 1
metrie in der EG entsprechend zu berücksichtigen. Es sollten angesichts der geplanten Wirtschafts-und Währungsunion (WWU) die Interessen der Arbeitnehmer in der Gemeinschaft stärker zur Geltung gebracht werden, deren Vernachlässigung im bisherigen Inte-grationsprozeß von den Gewerkschaften wiederholt betont worden war. Besonders der Plan der WWU schien ohne ausreichende soziale Einbettung für die Arbeitnehmerorganisationen nur schwer akzeptierbar
Beratende Gremien der EG, in denen die Sozialpartner vertreten sind Quelle: EG-GD Information: Europäische Gemeinschaften — Gewerkschaftsinformationen, Sondernummer: Der Dialog zwischen den Gewerkschaften und den Europäischen Gemeinschaften, Brüssel, Nov. 1975
Beratende Gremien der EG, in denen die Sozialpartner vertreten sind Quelle: EG-GD Information: Europäische Gemeinschaften — Gewerkschaftsinformationen, Sondernummer: Der Dialog zwischen den Gewerkschaften und den Europäischen Gemeinschaften, Brüssel, Nov. 1975
Die allgemeine Rezession der westlichen Weltwirtschaft nach der Olpreiskrise von 1973/74 führte dazu, daß in fast allen Mitgliedsländern der Gemeinschaft die Härte der Verteilungskämpfe zunahm. Im Gefolge dieser inneren Schwierigkeiten, in denen die Gewerkschaften in einigen Ländern ohne Kompromißbereitschaft zunächst die errungenen Vorteile der Arbeiterschaft behaupten und zum Teil noch ausbauen wollten (Italien, Großbritannien), kam es im Zusammenwirken mit Faktoren, deren Ursachen im internationalen Wirtschafts-und Währungssystem lagen, zu einem Auseinandertreiben der Mitgliedstaaten der EG. Das führte letztlich zum vorläufigen Scheitern der WWU-Pläne. Selbst deren Restbestände — die sogenannte Währungsschlange — waren nicht ohne Kampf und auch nur mit teilweisem Erfolg zu halten.
Machten diese Entwicklungen schon die erhebliche Bedeutung sichtbar, die den Sozial-partnern — vor allem den Gewerkschaften — in den einzelnen Ländern zukommt, so verstärkte sich dieser Eindruck, als im Laufe der Rezession in allen Staaten der EG eine beträchtliche Zunahme der Arbeitslosigkeit in Verbindung mit relativ hohen Inflationsraten auftrat. Die Gewerkschaften wurden zu einer Änderung ihrer Politik veranlaßt und verlegten ihr Hauptaugenmerk auf eine Garantie der Beschäftigung bei annähernder Aufrechterhaltung des Realeinkommens der Arbeiterschaft.
Die Beeinflussung des sozialen und wirtschaftlichen Status der Arbeiter durch die drohende Gefährdung ihres Arbeitsplatzes führte zu einer Art Daueralarm der Gewerkschaften. Sie waren und sind bereit, ihren Beitrag zur Überwindung der ökonomischen Krise zu leisten, wenn zum einen die Arbeitslosigkeit abgebaut und die Preise stabilisiert werden und zum anderen die wirtschaftliche Erholung nicht zu einseitigen Vorteilen für die Industrie führt.
Die Position der Gewerkschaften stimmt überein mit der Ansicht der Gemeinschaftsgremien über die Überwindung der wirtschaftlichen Krise. So stellte z. B.der Ausschuß für Wirtschaftspolitik der EG bei der Vorbereitung des 4. mittelfristigen Wirtschaftsprogramms fest, daß für die Erreichung der Vollbeschäftigung durch ein kräftiges und ausgewogenes Wachstum und Preisstabilität eine strikte Disziplin der Sozialpartner erforderlich ist. Dazu müssen in den Mitgliedstaaten die Voraussetzungen für einen stärkeren gesellschaftlichen Konsens geschaffen werden
Die wirtschaftliche Entwicklung im EG-Raum in den vergangenen drei Jahren hat also deutlich gezeigt, daß zur Überwindung der aktuellen Wirtschaftskrise und zur Gewährleistung einer nachhaltigen Besserung neben einem problemadäquaten Regierungsverhalten und entsprechenden weltwirtschaftlichen Koordinationsmaßnahmen auch eine weitgehende Einbeziehung der Sozialpartner in den Gemeinschaftsprozeß notwendig ist. Wie sind nun Gewerkschaften und Industrieverbände auf diese Rolle vorbereitet? Wie können sie im Entscheidungssystem der EG wirksam werden?
II. Der Europäische Gewerkschaftsbund (EGB)
Schaubild 1: Gewerkschaften in der EG (Mitglieder in Mio ) Quelle R. Steiert: Transnationale Struktur und Aktion der Gewerkschaften, Tübingen 1976 (unveröffentl. Manuskript); und EGB: Tätigkeitsbericht 1973— 1975, Brüssel 1976, S. 10.
Schaubild 1: Gewerkschaften in der EG (Mitglieder in Mio ) Quelle R. Steiert: Transnationale Struktur und Aktion der Gewerkschaften, Tübingen 1976 (unveröffentl. Manuskript); und EGB: Tätigkeitsbericht 1973— 1975, Brüssel 1976, S. 10.
Im Bereich der Gewerkschaften ist eine Entwicklung erkennbar, die auf eine zunehmende Zentralisierung der Vertretung der Arbeitnehmerinteressen hindeutet. Damit soll das von Beginn der Integrationsmaßnahmen an große Interesse der Gewerkschaften am wirtschaftlichen und politischen Zusammenschluß Westeuropas
1. Entwicklung und Struktur des EGB
Diese Entwicklung zur zunehmenden Zentralisation fand mit der am
Durch die gegen den Widerstand des DGB und der CGT-FO erfolgte Aufnahme der italienischen CGIL am 9. Juli 1974 wurde auch einer der großen kommunistisch-sozialistischen Gewerkschaftsbünde Mitglied im EGB
Mit dieser nüchternen Beschreibung wird das Bemühen gekennzeichnet, eine mehrdimensionale Zersplitterung der Arbeiterschaft in Westeuropa zu überwinden, die sich nach dem Zweiten Weltkrieg ergeben hatte (siehe Schaubild 1): a) die weltanschaulich-politische Spaltung in sogenannte „freie" Gewerkschaften (die im Internationalen Bund Freier Gewerkschaften [IBFG] zusammengeschlossen waren), christliche Gewerkschaften des Internationalen Bundes Christlicher Gewerkschaften (später WVA) und kommunistisch-sozialistisch orientierte Gewerkschaften des Weltgewerkschaftsbundes (WGB); b) die regionale Spaltung in IBFG-Gewerkschaften aus den Mitgliedsländern der EWG und jene der EFTA-Mitgliedsländer, die jeweils in eigenen Regionalorganisationen zusammengeschlossen waren (EBFG einerseits und Gewerkschaftsausschuß der EFTA andererseits); c) gewerkschaftsorganisatorische Spaltung in Einheitsgewerkschaften (in der Bundesrepublik Deutschland) und Richtungsgewerkschaften (vor allem in den südeuropäischen Ländern). Wie beschrieben, ist diese Zersplitterung durch den EGB beseitigt worden, doch muß zunächst offen bleiben, ob sie auch aufgeho-ben worden ist
Seiner Struktur nach ist der EGB eine internationale Organisation mit supranationalen Elementen (vgl. Schaubild 2). Sein Leitungsorgan ist der mindestens sechsmal im Jahr tagende Exekutivausschuß, an dessen Spitze das Präsidium des EGB steht
Der Exekutivausschuß faßt seine Beschlüsse — ebenso wie der Kongreß — in allen Fällen, in denen keine Einmütigkeit besteht, mit Zweidrittelmehrheit der Stimmen, wobei mehr als drei Viertel der stimmberechtigten Mitglieder ihre Stimme abgeben müssen. Durch dieses qualitative Mehrheitsprinzip unterscheidet sich der EGB vom reinen Typ der internationalen Organisation. Dies war z. B. bei der äußerst umstrittenen Mitbestimmungsfrage von Bedeutung, als sich die vom DGB unterstützte Position mehrheitlich durchsetzte. Wie alle Beschlüsse des EGB ist jedoch auch dieser nur im regionalen Kontext verbindlich und bindet die Mitgliedsgewerkschaften bei ihrer nationalen Politik nicht
Die Mitgliedschaft der internationalen Gewerkschaftsausschüsse, die die Zusammenschlüsse der verschiedenen Branchengewerkschaften auf westeuropäischer Ebene darstellen, bietet einen Ansatzpunkt, die Politik des EGB nicht nur über die nationalen Bünde wirksam werden zu lassen
2. Ziele und Aufgaben des EGB
Grundlegendes Ziel aller Aktivitäten des EGB ist es, „die sozialen, wirtschaftlichen und kulturellen Interessen der Arbeitnehmer auf der Ebene Europas im allgemeinen und bei allen europäischen Institutionen im besonderen — einschließlich der Europäischen Gemeinschaften und der Europäischen Freihandelszone — zu vertreten und zu fördern"
Anknüpfungspunkt für diese Position ist für den EGB das Kommunique der Konferenz der Staats-und Regierungschefs der Mitgliedstaaten der EG vom 19. /20. Oktober 1972, in dem es heißt: „Die Staats-und Regierungschefs betonen, daß für sie einem energischen Vorgehen im sozialpolitischen Bereich die gleiche Bedeutung zukommt wie der Verwirklichung der Wirtschafts-und Währungsunion. Sie halten es für unerläßlich, zu einer wachsend
Diese Bereitschaftserklärung nahm der EGB seitdem immer zum Anlaß, um in allen wirtschaftlich und sozial relevanten Problemfeldern der Integrationspolitik ein Mitsprache-und Mitentscheidungsrecht der Gewerkschaften zu fordern. Er scheint damit an jene Positionen anknüpfen zu wollen, die die „freien" Gewerkschaften Westeuropas dem Integrationsprozeß gegenüber von Beginn an eingenommen hatten, bei deren Durchsetzung sie jedoch kaum Erfolge erzielen konnten, weil sie zu lange und zu unbedingt an die „Logik des Prozesses" geglaubt hatten, nach der die wirtschaftliche Gemeinschaftsbildung quasi automatisch zur sozialen und politischen Union führen müßte 18).
Heute stehen sie der westeuropäischen Integrationspolitik in dieser Hinsicht mit mehr Skepsis und desillusioniert gegenüber. Ihre Bereitschaft, diese Politik mitzutragen und ihre Forderung, sie mitzugestalten, findet ihr Motiv nicht mehr in dem Willen, den Nationalstaatzu überwinden, sondern ist Ausdruck der Erkenntnis, daß angesichts der transnationalen Organisation der Industrie und der zunehmenden Interdependenz der Volkswirtschaften der Mitgliedstaaten die legitimen Interessen der Arbeiterschaft ebenfalls nur in einer transnationalen Organisationsform durchgesetzt werden können 19).
Die pragmatische Zurückhaltung des EGB in Fragen der allgemeinen Integrationspolitik ist einerseits eine Folge der generellen Versachlichung der Europapolitik im Vergleich mit den fünfziger Jahren und hängt zum anderen mit der Struktur des Bundes zusammen, die zwar eine eindeutige abstrakte Aufgabenformulierung meistens ermöglicht, deren Umsetzung in konkrete politische Maßnahmen mitunter jedoch erheblich erschwert, weil das Aktionsfeld für den gesamten Bund diffus ist. Der EBFG war eine reine Funktionalorganisation zur Vertretung der Arbeitnehmerinteressen in der EWG. Der EGB hingegen kann nicht mehr als solche angesehen werden. Da er den geographischen Rahmen der Gemeinschaft überschreitet, hat er für seine Ziele und Forderungen keinen eindeutigen Adressaten mehr. Die in der Präambel enthaltene Formel der Interessenvertretung gegenüber EG, EFTA und allen europäischen Institutionen, die in ähnlicher Form auch in vielen Erklärungen zu einzelnen Problemfeldern enthalten ist, löst das Problem nur unvollkommen. Sie macht zwar deutlich, daß es für den EGB oft mehrere Adressaten gibt, doch berücksichtigt der Bund in seinen konkreten Forderungen die unterschiedlichen politischen und rechtlichen Strukturen dieser verschiedenen Adressaten kaum. Deshalb sind die Aussagen des EGB oft allgemein oder aber die Konkretisierungen zeigen eine bewußte (oder unbewußte) Orientierung auf die EG und ihre Strukturen *
Dieses Dilemma der verschiedenen Adressaten, das durch die Haltung des TUC und der dänischen Gewerkschaften bei ihrem Beitritt zum EGB verursacht wurde
Andererseits kann sich natürlich auch der EGB nicht dem Sog der Gemeinschaft entziehen, die trotz aller Krisen und Probleme die einzige potentiell funktionsfähige übernationale politische Organisationsform in Westeuropa darstellt. Die Einsicht in diese Realität scheint sich im EGB auch allmählich zu verstärken (vor allem in dem Maß, in dem sie auch beim TUC wächst); sie ist sowieso ständige Arbeitsgrundlage für das in Brüssel ansässige Sekretariat und die Tagesarbeit des Bundes
Im Bereich des gemeinschaitlichen Gesellschaitsrechtes und beim Problem der Multinationalen Konzerne konzentriert sich das Bemühen der Gewerkschaften vor allem auf die Sicherstellung einer ausreichenden Interessenwahrung der Arbeitnehmer in Fällen von Unternehmenszusammenschlüssen und bei Massenentlassungen. Außerdem sind sie daran interessiert, einen rechtlich gesicherten Informationsanspruch der Arbeiter und ihrer Vertretungsorgane über alle wesentlichen wirtschaftlichen und unternehmenspolitischen Daten in westeuropäischen Großunternehmen durchzusetzen. Ziel dieser Bemühungen ist es, allmählich eine rechtliche Gleichstellung, mindestens aber eine rechtlich gesicherte faktische Gleichbehandlung der Informationsmöglichkeiten für Arbeiter von Großunternehmen in allen Mitgliedstaaten der EG zu erreichen.
Die Wahrung der Interessenvertretung durch die Einrichtung spezifischer Arbeitnehmerorgane bildet im Hinblick auf die Errichtung einer Europäischen Aktiengesellschaft (SE) und gegenüber den MNK einen besonderen Schwerpunkt der EGB-Politik. Bei der SE ist es dem Bund durch eine geschickte Lobby beim Europäischen Parlament und durch seine Kontakte zur Kommission gelungen, eine Revision des „Mitbestimmungs-Kapitels" im Statutentwurf der SE durchzusetzen, die eine quasi-paritätische Besetzung des Aufsichtsrates bewirkt
Die Position des EGB in dieser Frage wird nicht nur durch das Nichthandeln des Rates sowie die strikte Ablehnung der Vorschläge durch die Organisationen der Industrie geschwächt, sondern vor allem durch seine innere Spaltung. Die in der Stellungnahme vertretene Position beruht nämlich auf einer Mehrheitsentscheidung des Exekutivausschusses, bei der die französischen, italienischen und belgischen Gewerkschaftsbünde in der Minderheit waren. Hintergrund dieser Si-tuation ist die nach wie vor bestehende ideologische Heterogenität in der wichtigen Frage der Demokratisierung der Wirtschaft und der Gewerkschaftsstrategie in Westeuropa.
Dabei stehen sich zwei Konzepte gegenüber, die nur schwer miteinander in Einklang zu bringen sind: auf der einen Seite das am entschiedensten vom DGB vertretene Konzept einer auf gesetzlicher Grundlage institutionell gesicherten Mitbestimmung der Gewerkschaften auf allen Ebenen und auf der anderen Seite das vor allem vom belgischen FGTB entwickelte Konzept der Arbeiterkontrolle, das in Varianten auch von den italienischen Bünden und von der CFDT geteilt und in dem jegliche Integration der Gewerkschaften in das kapitalistische System abgelehnt wird. Vereinfachend kann man sagen, daß dem ersten Konzept der Gedanke der Sozialpartnerschaft zugrunde liegt, während das zweite Konzept eher dem Gedanken des Klassenantagonismus verhaftet ist
Die gegensätzlichen Standpunkte im EGB in dieser Frage, die weit über das bestehende enge Verständnis der Mitbestimmungsproblematik in der Bundesrepublik hinausreicht und wesentliche Fragen der gewerkschaftlichen Strategie und Taktik berührt, sind verantwortlich dafür, daß es bis heute kein Grundsatzprogramm des EGB gibt und in absehbarer Zeit auch nicht geben wird. Damit fehlt für das gemeinsame gewerkschaftliche Handeln eine allgemeine Richtschnur und außerdem wird die Festlegung der Haltung des EGB auch in vielen Sachfragen erheblich belastet.
Bisher versuchte der Bund, diese Problematik durch die Formulierung gegenseitig akzeptabler Kompromißformeln oder durch die vorrangige Beschäftigung mit konkreten Sachproblemen unter Vermeidung von grundsätzlichen Vertiefungen zu lösen. Dabei hat sich gezeigt, daß zum einen die ideologische Heterogenität den EGB nicht völlig lähmt, weil die Minderheiten die Mehrheitsentscheidungen tolerieren, und daß zum anderen die
sachlichen Positionen der Mitgliedsbünde oft weniger disparat sind, als es die ideologischen Gegensätze vermuten lassen. Einen zusätzlichen Einigungsdruck bewirkt das gemeinsame Bewußtsein, sich in Westeuropa gegenüber „dem Kapital" in der Defensive zu befinden, was nur durch gemeinsames Handeln zu beseitigen ist. Bei der Überwindung der allgemeinen wirtschaftlichen Krise steht für den EGB das Beschäftigungsproblem besonders im Vordergrund. In den zu diesem Problemkreis abgegebenen Erklärungen und programmatischen Aussagen
Generell kann man festhalten, daß der EGB zu einer verstärkten Steuerung und Planung des Wirtschaftsprozesses auf EG-Ebene tendiert, die das Maß der herkömmlichen, vor allem auf der Nachfrageseite ansetzenden Global-steuerung übersteigen. So wird eine wirksame Abstimmung der nationalen Wirtschaftspolitiken gefordert, ein an strukturellen und Umwelterfordernissen orientiertes qualitatives Wachstum mit Hilfe von Angebotssteuerungen, eine regional und strukturell orientierte Beschäftigungspolitik sowie (begrenzte) Investitions-und Preiskontrollen. Motiv dieser Forderungen ist es, zu verhindern, „die Arbeitnehmer für die Unzulänglichkeiten eines Systems büßen zu lassen, an dem sie keine Schuld tragen"
III. Die Union der Industrien in den Europäischen Gemeinschaften (UNICE
Schaubild 2: Struktur des EGB Quelle: nach EGB: Satzung, Brüssel 1976.
Schaubild 2: Struktur des EGB Quelle: nach EGB: Satzung, Brüssel 1976.
Im Bereich der Interessenvertretung der wirtschaftlichen und industriellen Gruppen auf der Gemeinschaftsebene finden sich, anders als im Gewerkschaftsbereich, eine Vielzahl von Organisationen branchen-oder produkt-spezifischer Natur
Anders als bei den Gewerkschaften kennt die UNICE jedoch keinen Kongreß als oberstes Beschlußorgan, sondern ist pragmatischer organisiert
Von besonderer Bedeutung in diesem institutionellen Geflecht ist der Ausschuß der Ständigen Vertreter (der Mitgliedsverbände), der analog zum Untergremium des Ministerrates gebildet wurde. Durch ihn, der in der Regel zwei-bis dreimal im Monat tagt, sind einige nationale Industrieverbände „ständig" in Brüssel repräsentiert, während die Vertreter der übrigen dort über ein Büro verfügen und zu den Sitzungen jeweils anreisen. Der Ausschuß nimmt die laufenden Kontakte zu den Gemeinschaftsinstitutionen, vor allem zur Kommission, wahr und leitet die Arbeit der Ausschüsse und Gruppen, die nach den Arbeitsgebieten der EG gegliedert sind. Durch diese Organisationsform soll in der UNICE die Verbindung zwischen der regionalen und nationalen Ebene besonders effizient gestaltet werden. 2. Ziele und Aufgaben der UNICE Ziel der Union ist die Zusammenführung der industriellen Dachverbände der Mitgliedstaaten, „um zwischen ihnen den Geist und die Bande der Solidarität zu schaffen, zu bewahren und zu entwickeln"
Diese Aufgaben der UNICE unterstreichen den hochgradig funktionellen Charakter des , Verbandes, der im Gegensatz zum EGB nicht auf allgemeine ordnungs-oder gesellschaftspolitische Ziele orientiert ist. Doch darf man nicht verkennen, daß alle Aktivitäten der UNICE unter dem „Leitgedanken des freien Unternehmertums und der Marktwirtschaft"
stehen und damit ebenfalls von einer generellen politischen Ordnungsvorstellung durchdrungen sind. Doch wird diese ideologische Basis in den Verlautbarungen des Verbandes zu Problemen der westeueropäischen Gemeinschaftsbildung kaum akzentuiert, sondern als selbstverständlich vorausgesetzt.
Für die Erfüllung der genannten Aufgaben werden vom Verband vier notwendige Voraussetzungen gesehen, die die Effizienz sicherstellen: ein möglichst enges und umfassendes Kontakt-und Informationsnetz, schnelle Erledigung der eigenen Arbeit'Entwicklung eigener Positionen, die nicht der kleinste gemeinsame Nenner aller nationalen Haltungen sein sollten, und die Unterstützung dieser Position durch die Mitgliedsverbände gegenüber ihren nationalen Regierungen
An erster Stelle ist hier der eher intergouvernementale Charakter des Verbandes zu nennen, der den Sitzungen der Organe, vor allem des Rates der Präsidenten, den Stil diplomatischer Konferenzen verleiht. In der Regel soll in allen Fragen eine einstimmige Position erzielt werden, was oft kaum oder gar nicht möglich ist. Seit einiger Zeit hat man sich deshalb entschlossen, lieber Minderheitspositionen in die Veröffentlichung einzubeziehen, als gar keine oder eine zu vage und verklausulierte Stellungnahme abgeben zu müssen
Dieser schwerfällige interne Entscheidungsprozeß ist ein Schwachpunkt in der industriellen Interessenvertretung bei den EG. Ein weiterer ist die Zersplitterung der fachlichen Kompetenzen auf eine Vielzahl eigenständiger regionaler Spitzenverbände, die in der Regel bei der Einschaltung der Industrie in den Prozeß der gemeinschaftlichen Tätigkeit im weiten Bereich der Harmonisierung von Rechtsvorschriften zur Beseitigung nichttarifärer Handelshemmnisse herangezogen werden. Diese Spitzenverbände stehen nur in losem Kontakt mit der UNICE, die versucht, ihre Tätigkeit mit der Generallinie der Gemeinschaftsindustrie im Einklang zu halten. Sie kann jedoch keinen institutionalisierten Einfluß ausüben, da die jeweiligen nationalen branchen-oder produktspezifischen Industrieverbände zwar in ihrem nationalen industriellen Dachverband vertreten sind, auf der Gemeinschafts-ebene jedoch eigene Spitzenorganisationen errichtet haben.
Dieses Nebeneinander von UNICE und Branchenorganisationen wirft jedoch nicht so gravierende Probleme für die Tätigkeit der Union auf wie ihre internen Strukturen, weil sich die Branchenorganisationen in der Regel strikt auf ihre spezifische technische Materie beschränken und die Fragen allgemeineren Interesses der Union überlassen. Probleme können bei besonders gefährdeten Branchen (z. B. Textil) oder bei speziellen Technologie-zweigen (Elektronik, Luft-und Raumfahrt) auftreten, bei denen branchen-spezifische und allgemeine (z. B. industriepolitische) Fragen eng miteinander verknüpft sind. Bei der Behandlung dieser Probleme findet jedoch in der Regel eine enge Kooperation der UNICE mit der betreffenden Fachorganisation statt, um divergierende Positionen möglichst zu vermeiden.
Gemäß ihrer Aufgabe, vor allem die die Industrie generell berührenden Fragen der Gemeinschaftsentwicklung gegenüber den EG-Institutionen zu vertreten, konzentriert sich die Tätigkeit der UNICE hauptsächlich auf Fragen der Verwirklichung der WWU und deren flankierende Politiken sowie auf die Probleme der Wettbewerbsordnung und des Gesellschaftsrechts. Daneben spielt auch die Sozial-und Beschäftigungspolitik im engeren Sinn eine wichtige Rolle für die Union. In al-len diesen Bereichen kommt es ihr in erster Linie darauf an, die Entscheidungsfreiheit der Unternehmer zu gewährleisten und die Freizügigkeit aller Faktoren innerhalb der EG zu fördern.
So sollen auch die geplante Industrie- und Energiepolitik vordringlich den Rahmen dafür schaffen, daß die westeuropäische Industrie weltweit konkurrenzfähig bleibt, ohne daß die marktwirtschaftlichen Prinzipien und die unternehmerische Freiheit durch allzu reglementierende Vorschriften eingeengt werden.
Der Grundsatz der internationalen Wettbewerbsfähigkeit bestimmt auch die Haltung des Verbandes in der Wettbewerbsordnung. Hier konnte sich die Position der UNICE, die vor einer allzu restriktiven Auslegung der Vertragsbestimmungen warnte, nach anfänglichen Rückschlägen durchsetzen, als auch die Kommission gegen Mitte der sechziger Jahre unter dem Eindruck der „amerikanischen Herausforderung" ihre Vorstellungen von Markt-beherrschung u. ä. wandelte und der Tendenz zur Bildung westeuropäischer Großunternehmen positiver gegenüberstand. Dieser „Konzentrationsmythos" fand eine gewisse Stützung in der anfänglichen industriepolitischen Konzeption der Kommission
Großunternehmen in der EG begünstigenden Einstellung stellte die UNICE mit Vorschlägen zur besonderen Förderung der mittleren und kleineren Unternehmen 1974 ein gewisses Korrektiv an die Seite
In den Fragen der Sozialpolitik und des Gesellschaftsrechts richtet sich das Hauptaugenmerk der Union auf die Vermeidung zu großer Belastungen der Unternehmen, etwa durch eine sozialpolitische Harmonisierung auf dem jeweils höchsten nationalen Niveau. Doch spricht sie sich grundsätzlich für eine umfassende soziale Sicherung der Arbeiter in der Gemeinschaft aus. Ähnlich defensiv ist die Position gegenüber den Bemühungen der Kommission zur Angleichung der unternehmensrechtlichen Vorschriften in der EG und hinsichtlich der Schaffung einer europäischen Aktiengesellschaft. Hier verteidigt die UNICE den Grundsatz des Vorranges der Kapitaleigner in den Unternehmensgremien und lehnt den revidierten Kommissionsvorschlag zur Mitbestimmung in der SE entschieden ab. Sie deutet in ihren Stellungnahmen hierzu an, daß eine derartige Regelung wahrscheinlich die westeuropäischen Unternehmen von der Anwendung dieser Gesellschaftsform abhalten würde.
IV. Rolle und Einfluß der Sozialpartner im politischen Prozeß der EG
Schaubild 3: Organigramm der UNICE Quelle: nach K. E. Hammerich, a. a. O., S. 27.
Schaubild 3: Organigramm der UNICE Quelle: nach K. E. Hammerich, a. a. O., S. 27.
Für die Erfüllung der genannten Aufgaben bei der Verwirklichung ihrer Zielsetzungen bewegen sich die Gewerkschaften und Industrieverbände in dem sehr komplexen institutionellen Entscheidungssystem der EG, in dem ein mehrphasiger Entscheidungsprozeß abläuft (vgl. Schaubild 4). Um Rolle und Einfluß der Verbände in diesem Prozeß genauer beurteilen zu können, sollen jene Elemente dieses komplexen Systems einer näheren Analyse unterzogen werden, die für die Sozialpartner die Hauptaktionsfelder darstellen: die Kommission der EG, der Ministerrat, die verschiedenen Ausschüsse und beratenden Gremien sowie als neues Element die soge-nannte Dreier-Konferenz.
1. Beziehungen zur Kommission: die gemeinschaftliche Komponente
Hauptgesprächspartner der Interessenverbände im Rahmen der EG ist die Kommission und deren administrativer Unterbau, die verschiedenen Generaldirektionen. Damit wird gleichzeitig gesagt, daß die Mehrzahl der Verbands-aktivitäten und damit das Hauptgewicht des Einflusses in der Phase der Entscheidungsvorbereitung (Vorarbeiten und offizielle Konsultationsphase) liegt, weniger in der Phase der eigentlichen Entscheidungsfindung. Dies ist durch den Charakter der Kommission als Ini-tiativorgan und sachverständiges Sekretariat
Zur Organisation von systematischen Kontakten mit den Sozialpartnern auf der Ebene der Kommission, der einzelnen Komissionsmitglieder und der Generaldirektoren sowie auf der Abteilungsebene hat die Kommission am 25. Juli 1973 ein Büro „Sozialpartner" eingerichtet. Dieses ist direkt dem Präsidenten unterstellt und organisatorisch dem Generalsekretariat zugeordnet. Mit einem eigenen Budget ausgestattet, versucht hier ein relativ kleiner Stab von drei Beamten folgende Aufgaben zu erfüllen:
— die Information der Sozialpartner über die Pläne der Kommission, wobei mit dem EGB-Sekretariat u. a. systematische „briefings“ über Bereiche abgehalten werden, mit denen die Gewerkschaften bisher kaum in Berührung gekommen sind. Außerdem werden über das Büro den Sozialpartnern regelmäßig die einschlägigen endgültigen Kommissionsdokumente zugeschickt. Doch auch die Kommission und ihre Dienste werden über die Situation und Positionen der Sozialpartner durch das Büro informiert;
— die Organisation von internen Vorkonsullationen der Gewerkschaften, bevor diese in die offizielle Konsultation mit der Kommission eintreten;
— die Anregung und Vorbereitung von sultationen zwischen der Kommission und den Sozialpartnern;
— die Koordinierung bei der Auswahl der Sozialpartner, die zu den verschiedenen offiziellen Kontakten zwischen ihnen und der Kommissionsadministration eingeladen werden wollen.
Im Jahre 1976 war das Büro u. a. an 73 Treffen mit Sozialpartnern direkt oder indirekt beteiligt. Davon entfielen 64 auf Treffen mit dem EGB und seinen Gewerkschaftsausschüs-sen, drei auf Treffen mit anderen gewerkschaftlichen Organisationen und sechs auf Treffen mit dem Verbindungsausschuß der Arbeitgeber. Zum einen wird dieses Ungleichgewicht bei der Kontaktierung der Sozialpartner über das Büro von der Kommission damit erklärt, daß die Industrieverbände über wesentlich bessere, länger etablierte und direkte Kontakte zur Kommissionsadministration verfügen als die Gewerkschaften. Zum anderen ist es wohl auch so, daß die Industrieverbände es bevorzugen, ihre Vorkonsultationen über Pläne der Kommission intern zu führen.
Im Rahmen der Konsultationen sind seitens der Kommission in der Regel Spitzenvertreter (Kommissar oder Generaldirektor) beteiligt und auf der Sozialpartnerseite höhere Verbandsfunktionäre des EGB und der UNICE.
Nur selten sind jedoch die „politischen" Gremien der Sozialpartner vertreten. Das ist eigentlich nur bei „Spitzengesprächen" über die allgemeine wirtschaftliche Lage der Fall. Dabei kam es im Gefolge der Vorbereitung der Dreier-Konferenzen zu dem Bemühen, die bisherigen bilateralen Aussprachen in Dreier-Gespräche der Kommission mit beiden Sozial-partnern umzuwandeln.
Neben diesen Konsultationen gibt es häufige bis tägliche Kontakte zwischen den Sekretariaten der Verbände der Sozialpartner und den Generaldirektionen der Kommission, die Kon-vor allem die eher technischen Aspekte der laufenden Gemeinschaftstätigkeit betreffen.
Diese von der Öffentlichkeit wenig beachteten Kontakte, die auch kaum vom Büro „Sozialpartner" erfaßt werden, sind für die Verbände ein wesentlicher Bereich ihrer Tätigkeit. Hierbei versuchen sie, ihre Vorstellungen im Stadium der Vorbereitung von Kommissionsaktivitäten (Richtlinien-oder Verordnungsentwürfe, Entwürfe von Mitteilungen der Kommission u. ä.) möglichst frühzeitig zum Tragen zu bringen. Im Rahmen der UNI-CE obliegt diese tägliche Kontaktaufgabe vor allem dem Ausschuß der Ständigen Vertreter unter Assistenz des Sekretariates, während der EGB dafür neben dem Sekretariat kein gesondertes Gremium besitzt.
Während es für Spitzengespräche feste Verfahrensregeln für Vorbereitung und Durchführung gibt, ist dies für die Tagesarbeit kaum der Fall. Hierbei ist es für die Verbände auch weniger wichtig, möglichst einen ranghohen Gesprächspartner zu haben als vielmehr den im Geflecht der Generaldirektionen zuständigen Beamten zu kontaktieren. Das scheint, wie Klagen aus Kreisen des EGB andeuten, angesichts der oft nicht eindeutigen Zuständigkeiten in der Kommission nicht immer leicht zu sein. Um dieser Schwierigkeit zu begegnen, betonen beide Verbände der Sozialpartner den hohen Wert informeller Beziehungen außerhalb des Dienstweges, der den klassischen Vorstellungen des Lobbyismus am ehesten entspricht.
Die relativ schwache Personalausstattung der Sekretariate von EGB und UNICE setzt diesen Bemühungen jedoch enge Grenzen. Dabei scheinen die Industrieverbände über ein besser entwickeltes System von formellen und informellen Kontakten auf der Arbeitsebene zu verfügen als der EGB. Das mag seinen Grund darin haben, daß einerseits die UNICE von einer größeren Zahl von Gemeinschaftsaktivitäten unmittelbar betroffen ist, da das Haupttätigkeitsfeld der EG nach wie vor im Bereich der Errichtung des Gemeinsamen Marktes mit seinen zahlreichen Angleichungs-und Harmonisierungsnotwendigkeiten in vielen industriellen Sektoren liegt. Zum anderen wird die relativ späte Intensivierung auf breiter Basis von spezifisch sozialpolitischen Tätigkeiten der Gemeinschaft dazu beigetragen haben, daß für die Gewerkschaften lange Zeit nicht die Notwendigkeit bestand, ausgedehnte intensive Kontakte auf der Arbeitsebene zu suchen und zu pflegen.
Eine besondere Rolle in den Beziehungen zwischen der Kommission und dem EGB spielt die seit der Gründung der Montanunion bestehende Informationsstelle für Gewerkschaftsangelegenheiten der Kommission, die heute eine Abteilung in der Generaldirektion „Information" bildet. Sie hat die spezifische Aufgabe, für eine kontinuierliche und umfassende Information der Gewerkschaften über die Arbeit der EG zu sorgen. Sie gibt dazu regelmäßige Publikationen heraus und veranstaltet Tagungen u. ä. Sie genießt seitens des EGB eine hohe Wertschätzung. Der Bund sähe es gerne, wenn ihre Stellung im Rahmen der Kommissionsadministration noch weiter gestärkt würde, da die Abteilung einen wichtigen Beitrag zur spezifisch europapolitischen Bildungsarbeit der Gewerkschaften leistet.
Diese Aufgabe hat für den EGB und seine Mitglieder einen hohen Stellenwert, weil die Divergenzen, die durch die verschiedenen nationalen Gewerkschaftstraditionen verursacht, sind, die Heterogenität des Bundes fördern und für die Erarbeitung und Durchsetzung einer gemeinsamen Programmatik und Strategie besondere Probleme schaffen. Diese Divergenzen lassen sich nicht nur durch zunehmende Kontakte der Spitzenvertreter der nationalen Bünde beseitigen, sondern bedürfen gerade zur Verwirklichung einer gemeinsamen Aktion der weitreichenden Schulung und eines fundamentalen Umdenkungs-und Verständigungsprozesses an der gewerkschaftlichen und betrieblichen Basis. Dieser Prozeß umfaßt fast alle Bereiche der internationalen gewerkschaftlichen Aktivitäten, von der sprachlichen Schulung bis zur gegenseitigen Vermittlung der unterschiedlichen nationalen organisatorischen Gegebenheiten
Die Bemühungen des EGB und seiner Mitglieder in diesem Sektor werden in jüngster Zeit von der Kommission besonders unterstützt, die auf Anregung des EGB die Einrichtung eines Europäischen Gewerkschaftsinstituts befürwortet, das vornehmlich diesen Aufgaben gewidmet sein soll, um einen historisch gewachsenen und systembedingten Nachteil der Arbeiter gegenüber den Interessenvertretern der Industrie ausgleichen zu helfen.
Generell kann man feststellen, daß die Kommission in den letzten Jahren die Absichtserklärung der Pariser Gipfelkonferenz von 1972 sehr ernst genommen hat und versucht, durch eine starke Betonung sozialpolitischer Probleme in ihrer Tätigkeit die Rolle der Sozialpartner in der Gemeinschaft zu stärken.
2. Beziehungen zum Ministerrat: die nationale Komponente
Kann somit in den Beziehungen zwischen den Sozialpartnern und der Kommission eine weitgehende Bereitschaft und ein hohes Interesse seitens der Kommission konstatiert werden, diese Beziehungen eng und kontinuierlich zu gestalten, so gilt für den Ministerrat das Gegenteil. Dieses Organ der EG, in dem die eigentlichen Entscheidungen gefällt werden, hat eine Arbeitsweise des interadministrativen Bargaining zwischen den nationalen Regierungsbürokratien entwickelt, die von Verbandseinflüssen weitgehend abgeschlossen ist. So existieren zwischen den zahlreichen Arbeitsgruppen des Rates sowie seinem Sekretariat und den Verbänden von Gewerkschaften und Industrie keinerlei offizielle oder institutionalisierte Kontakte, wenn man einmal davon absieht, daß sowohl UNICE als auch EGBihre Stellungnahmen dem Ratssekretariat zuschicken, mit der Bitte, diese dem Rat zur Kenntnis zu geben. Ob und in welcher Form dies geschieht, bleibt unklar. Diese Abschottung des Rates hat ihren Grund in der von den Regierungen vertretenen Auffassung, daß die Interessenverbände sowohl durch die Stellungnahmen des Wirtschaftsund Sozialausschusses als auch im Zuge der Kommissionsvorarbeiten hinreichend Gelegenheit besitzen, ihre Positionen zu vertreten.
Gewerkschaften und Industrieverbände reagieren auf diese Gegebenheit durch verstärkte Bemühungen, über ihre Mitgliedsverbände die zuständigen Beamten der nationalen Ministerien zu beeinflussen, in der Hoffnung, durch derartige konzertierte Maßnahmen wenigstens ansatzweise Einfluß ausüben zu können. Hierbei treten jedoch eine Reihe von Problemen auf. Einmal garantiert der oftmals hochgradige Kompromißcharakter von gemeinschaftlichen Verbandsstellungnahmen keineswegs immer, daß die nationalen Mitgliedsverbände „zu Hause" auch die gemeinsame Position vertreten. (So unterstützten z. B. im Hinblick auf den Tindemans-Bericht sowohl der dänische Industrieverband als auch die Gewerkschaften entgegen der Haltung ihrer europäischen Dachverbände die Vorbehalte ihrer Regierung gegen eine Betonung der politischen Komponente der EG durch die Direktwahl des Europa-Parlaments.) Die angestrebte Konzertierung wird zusätzlich belastet durch die ebenfalls in beiden Interessenverbänden feststellbare Tendenz in den Mitgliedsverbänden, der Regionalorganisation nur einen geringen autonomen Aktionsradius einzuräumen. Diese Vorherrschaft der nationalen Ebene fördert nicht gerade die Bereitschaft der Mitgliedsverbände, sich bei ihren nationalen Aktivitäten in die gemeinschaftliche Pflicht nehmen zu lassen.
Ein weiteres Hindernis für die Effizienz des konzertierten Vorgehens liegt in den unterschiedlichen institutionellen Systemen, in denen die Regierungen ihre Europapolitik fixieren
Als neuer Adressat im Regierungsbereich hat sich seit einigen Jahren der Europäische Rat der Regierungschefs als Nachfolger der Gipfelkonferenzen etabliert. Dieser bietet den Sozialpartnern in der Gemeinschaft einen Ansatzpunkt auf der Spitzenebene, der von ihnen auch genutzt wird. So haben sowohl UNI-CE wie EGB an fast jede Gipfelkonferenz Memoranden oder Erklärungen gerichtet. Der EGB ist in jüngster Zeit noch einen Schritt weitergegangen und hat mehrfach eine Spitzendelegation zu den Sitzungen des Europäischen Rates geschickt, die das EGB-Memorandum dem Vorsitzenden erläuterte. Wegen der Offentlichkeitswirkung seiner Tagungen kann sich dieser „spezielle Ministerrat" derartigen Einflußnahmen offensichtlich weniger entziehen, als es für die normale Ratstätigkeit möglich ist.
Trotz dieser Teilerfolge muß aber generell festgehalten werden, daß der Einfluß der Sozialpartner in der eigentlichen Entscheidungsphase der EG — den Beratungen im Ministerrat — nur marginal ist und der Erklärung der Pariser Gipfelkonferenz nur unvollkommen entspricht. Das zeigen z. B. auch die bisher vergeblichen Bemühungen des EGB, eine institutionalisierte Teilnahme der Sozialpartner im wichtigen Ausschuß für den Regional-fonds, bei der Durchführung des Abkommens von Lome und bei der Vorbereitung und Kontrolle des mittelfristigen Wirtschaftsprogramms der Gemeinschaft durchzusetzen.
3. Ausschüsse
Sind die zahlreichen Ausschüsse und Arbeitsgruppen des Ministerrates den Sozialpartnern also kaum zugänglich, so bieten die nicht minder zahlreichen Ausschüsse mit beratender Funktion, die teils autonom, teils bei der Kommission und teils zwischen Kommission und Rat eingerichtet sind, für die Verbände ein weiteres Aktionsfeld in der EG (vgl. Über-sicht S. 39). Bei der Mehrzahl dieser Ausschüs-se handelt es sich um beratende Gremien für eng begrenzte Tätigkeitsfelder der Gemeinschaft, in denen in der Regel auch Verbands-experten vertreten sind. Eine übergreifende Position besitzen hingegen der Wirtschaftsund Sozialausschuß (WSA) und der Ständige Ausschuß für Beschäftigungsfragen.
a) Der Wirtschafts-und Sozialausschuß (WSA)
Nachdem dem WSA
Für die Gewerkschaften und Industrieverbände wird er daher als Forum ihrer Interessen-artikulation bedeutsamer als in der Vergangenheit, wenngleich auch heute noch die Mehrzahl seiner Stellungnahmen zu technischen Integrationsmaßnahmen erfolgt. So haben sich in den vergangenen drei Jahren die Bemühungen der Sozialpartner verstärkt, die Homogenität und Effizienz der Arbeit ihrer jeweiligen Gruppe im WSA zu steigern. Dazu wurden die Verbindungen zwischen den Verbandssekretariaten und den Sekretariaten der Gruppen enger gestaltet, was besonders der besseren Vorbereitung der Sitzungen zugute kam.
Einig sind sich die Sozialpartner jedoch darüber, daß der WSA „an Haupt und Gliedern" zu reformieren ist, wenn er im Rahmen des Entscheidungsprozesses eine wirksamere Rolle spielen soll. Vor allem käme es darauf an, daß seine Mitglieder, die bis jetzt „ad personam" berufen werden, von den repräsentativen Gruppen der Sozialpartner entsandt werden und dann auch als Repräsentanten ihrer jeweiligen Organisationen auftreten können. Nur so wäre zu erwarten, daß der WSA in seiner Zusammensetzung das wirkliche politische Gewicht der gesellschaftlichen Gruppen in Westeuropa verkörpert und nicht, wie es heute oft der Fall ist, von Personen gebildet wird, die „zu Hause" politisch längst abge-schnitten sind und mit einem Posten im WSA „versorgt" werden.
Außerdem wäre es erforderlich, daß im Ausschuß, ähnlich wie im Ministerrat, die Vielzahl der technischen Stellungnahmen in weitgehender Eigenverantwortung der Verbands-experten erarbeitet wird und die „eigentlichen" Mitglieder sich verstärkt mit allgemeinen und politischen Themen befassen. Daneben müßte der WSA frühzeitiger als bisher in den Beratungsprozeß einbezogen werden, damit die Kommission eine Gelegenheit bekommt, die Positionen der wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Gruppen bei ihrer endgültigen Vorlage an den Rat stärker zu berücksichtigen. Auch sollte geprüft werden, ob eine Ausgliederung der sog. „ 3. Gruppe" aus den WSA, d. h. eine Beschränkung auf die Vertreter der Sozialpartner, von Vorteil sein kann. Die Angehörigen der „ 3. Gruppe" könnten z. B. einen gesonderten Verbraucherausschuß bilden. Derartige Überlegungen für eine Reform des WSA, die von verschiedenen Seiten angestellt werden — nicht zuletzt auch im Ausschuß selbst und bei den Sozialpartnern—, besitzen jedoch nur eine geringe Erfolgsaussicht angesichts der allgemeinen politischen Stagnation in der EG.
Wenn die Regierungen aber tatsächlich eine stärkere Beteiligung der Sozialpartner am Entscheidungsprozeß wünschen, wird man sich auch Gedanken über eine Änderung der Rolle des WSA machen müssen, die in die angedeutete Richtung geht und eine fakti-sehe Aufwertung seiner Position beinhaltet. Andernfalls könnte sich die Tendenz verstärken, die vor allem bei den Sozialpartnern zu beobachten ist: durch eine schleichende Aufwertung anderer beratender Ausschüsse den WSA zu umgehen. Dazu böte sich vor allem der Ständige Ausschuß für Beschäftigungsfragen an.
b) Der Ständige Ausschuß für Beschäftigungsfragen
Dieser Ausschuß wurde auf Drängen der Gewerkschaften im Anschluß an die erste Dreierkonferenz über Beschäftigungsprobleme 1970 vom Ministerrat eingesetzt und ist bei den Sozialpartnern paritätisch besetzt. Seine Aufgabe ist es, den Rat und die Kommission in allen Fragen der Beschäftigungspolitik zu beraten. Nachdem er seit 1972 wegen interner Schwierigkeiten bei den Gewerkschaften seine Tätigkeit eingestellt hatte, wurde er Ende 1974 angesichts der zunehmend prekärer wer-B i denden Beschäftigungslage in der EG auf Beschluß der ersten Dreierkonferenz über Sozialfragen reaktiviert. Seitdem bemüht sich vor allem der EGB — mit Duldung durch die Arbeitgeber — um den Ausbau des Ausschusses. Durch die regelmäßige Gegenüberstellung der Standpunkte der Minister und der Sozialpartner in allen die Beschäftigung tangierenden Fragen soll der Rat „seine Beschlüsse aus besserer Kenntnis der Sachlage heraus... fassen"
Der EGB tritt jedoch dafür ein, im Ausschuß künftig verstärkt Probleme der globalen Konjunktur-und Strukturpolitik mit zu erörtern, da diese für die Beschäftigung konstitutiv seien. Er wird hierbei in der Grundtendenz von der Kommission unterstützt, die den Ausschuß als möglichen „allgemeinen Rahmen für einen ständigen Dialog zwischen Regierungen, Institutionen und Sozialpartnern"
Doch stehen dem eine Reihe von Schwierigkeiten gegenüber. Die größte dürfte in der Zurückhaltung der Regierungen zu sehen sein, über eine allgemeine Konfrontation der Meinungen zu tatsächlichen Diskussionen mit teilweise verbindlichem Charakter zu kommen, wie es ansatzweise in der „Konzertierten Aktion" der Bundesrepublik Deutschland der Fall ist. Dafür liegen die nationalen Traditionen und Vorstellungen über eine entscheidende Mitbeteiligung der Sozialpartner noch zu weit auseinander. Außerdem dürften sich Abgrenzungsschwierigkeiten zu den Aufgaben anderer beratender oder harmonisierender Gremien, vor allem zum Ausschuß für Wirtschaftspolitik und dem Ausschuß für den Sozialfonds, ergeben.
Angesichts der noch weitgehend ungeklärten Frage, wo in der Gemeinschaft das eigentliche Entscheidungszentrum zu liegen habe, in den Hauptstädten oder in Brüssel, sind rasche Fortschritte kaum zu erwarten. Dennoch könnte Beharrungsvermögen auf seifen des EGB und der Kommission langfristig Erfolg haben, wie die Entwicklung der Dreier-Konferenz über wirtschaftliche und soziale Fragen gezeigt hat.
4. Die Dreier-Konferenz über wirtschaftliche und soziale Fragen
Diese Konferenz geht zurück auf eine Forderung des EGB Sozialkonferenz während der vom Dezember 1974. Motiv hierfür war der Wunsch, „einen Dialog über die wirtschaftlichen und konjunkturellen, vor allem aber über die strukturellen Ursachen der Krise sowie über die Wiederbelebungsmaßnahmen in Gang zu bringen"
Waren dabei die Teilnehmer in der Analyse der Krisenursachen, insbesondere in der Betonung ihrer strukturellen Aspekte, noch bereit, der Position der Kommission weitgehend zu folgen, so zeigten sich bei den Vorschlägen zu ihrer Überwindung erhebliche Auffassungsunterschiede. Diese sind durch die unterschiedlichen Interessenlagen bedingt. Es zeigte sich aber auch, daß in den einzelnen Lagern erhebliche Differenzen bestanden. Diese waren bei Arbeitgebern und Ministern vorwiegend durch die unterschiedliche Betonung von Marktwirtschaft einerseits und planerischen Elementen andererseits gekennzeichnet. Bei den Gewerkschaftsvertretern waren die Differenzen eher durch die verschiedenen ideologischen Färbungen bestimmt, was sich in der Betonung pragmatischer Methoden einerseits und mehr klassenbewußter Analyse und Maßnahmen andererseits niederschlug. Das führte z. B. zu der nicht glücklichen Situation, daß der EGB-Vorsitzende Vetter sich nach der Konferenz als DGB-Vorsitzender vorsichtig von den Forderungen nach Investitionslenkung distanzierte, die er in der Sitzung hatte vertreten müssen.
Brachte diese Konferenz somit in der Sache auch keine greifbaren Ergebnisse, so betonten die Beteiligten bei aller Zurückhaltung doch den Wert der Meinungskonfrontation. Das kam auch im allseitigen Wunsch zum Ausdruck, eine weitere Begegnung dieser Art durchzuführen, die von der Kommission vorbereitet werden sollte. Damit wurden im wesentlichen die Absichten der Gewerkschaften und der Kommission, die sich besonders für die „Konzertierte Aktion" auf EG-Ebene eingesetzt hatte, verwirklicht.
Die zweite Dreier-Konferenz im Juni 1976 brachte nach einer intensiven Vorbereitung durch die Kommission, den Ministerrat und die Sozialpartner dann sichtbare Fortschritte in der angestrebten Kooperation. Entgegen pessimistischen Voraussagen einigten sich die Teilnehmer auf eine gemeinsame Erklärung, in der quantifizierte Ziele für die Über-windung der Arbeitslosigkeit und die Wiedererlangung eines angemessenen Wachstums bei Stabilität für 1980 festgehalten wurden.
Die schon im November 1975 aufgetretenen unterschiedlichen Ansichten über die Ursachen der Krise und über die Wege und Mittel zu ihrer Beseitigung bestanden jedoch nach wie vor. Die Vertreter der UNICE betonten die Notwendigkeit, die Investitionstätigkeit anzuregen und bei der Einkommensentwicklung der Arbeitnehmer sowie bei den öffentlichen Ausgaben Zurückhaltung zu üben, während der EGB der Ansicht war, daß die Gewerkschaften das Ihre im wesentlichen geleistet hätten und jetzt Preisdisziplin bei den Unternehmen und eine Betonung öffentlicher Infrastrukturinvestitionen notwendig seien
Obwohl den Gewerkschaften durch die Aufnahme einer Anregung zu verstärkter Vermögensbildung der Arbeitnehmer und zur Förderung der Mitbestimmung entgegengekommen wurde, konnte der EGB der Erklärung nur mehrheitlich zustimmen, weil die französische CFDT und die belgische FGTB sich aus prizipiellen Gründen gegen den Text der Erklärung aussprachen, der ihrer Ansicht nach eine von ihnen abgelehnte Integration der Gewerkschaften in das zu bekämpfende kapitalistische System bedeutet.
Dieser in Luxemburg zutage getretene Zwiespalt im Gewerkschaftslager sollte jedoch nicht überbetont werden, da die Erklärung keinerlei verbindlichen Charakter besitzt und somit ihre Umsetzung in praktische politische Schritte mit Skepsis betrachtet werden muß. Dennoch stellt sie eine „moralische" Bindung der Teilnehmer dar und bedeutet für die Sozialpartner den bisher höchsten Grad der Beteiligung am gemeinschaftlichen politischen Prozeß
Da der Ständige Ausschuß für Beschäftigungsfragen und der Ausschuß für Wirtschaftspolitik der EG mit der Nachbereitung der Konferenz beauftragt wurden, könnte sich der hier erreichte Stand der Beteiligung konsolidieren lassen. Das wäre besonders dann der Fall, wenn weitere Konferenzen dieser Art stattfinden würden — und das nicht nur in bedrohlichen Krisensituationen. Inwieweit sich die „Konzertierte Aktion" auf EG-Ebene institutionalisiert, hängt somit wesentlich davon ab, ob die Beteiligten sie auch in Zeiten normaler Konjunktur für nützlich halten. Das kann bei der Kommission und den Gewerkschaften unterstellt werden und wird sich bei der UNICE und den Regierungen erst herausstellen müssen. Die vorläufige Zurückstellung der für Juni 1977 geplanten dritten Dreier-Konferenz gibt zu wenig Optimismus Anlaß und deutet darauf hin, daß vor allem ein effizientes „follow-up" noch nicht entwickelt worden ist.
5. Die Position der Sozialpartner im Entscheidungsgeflecht der EG — Ein Fazit
Aus der vorangehenden Darstellung der Organisation der Sozialpartner auf der EG-Ebene und ihrer Beziehungen zu wichtigen Gemeinschaftsorganen wird ersichtlich, daß die Interessengruppen im Hinblick auf die herkömmliche Einflußnahme im Zuge der Entscheidungsvorbereitung über ausgedehnte und etablierte Kontakte für die Vertretung ihrer Positionen verfügen. Dadurch sind sie hinreichend an der Vorbereitung konkreter Einzelmaßnahmen der EG beteiligt. Daß diese Beteiligung dennoch häufig weniger wirksam ist als ähnliche nationale Wege und Methoden, liegt in der Besonderheit des gemeinschaftlichen Entscheidungssystems begründet. Dieses kennt nämlich nicht nur einen administrativen Instanzenweg, wie nationale Regierungen, sondern verfügt über zwei derartige Systeme, die in spezifischer Weise miteinander verbunden sind: die Kommissions-und die Ratsbürokratie.
Durch die Verbindung von nationaler und gemeinschaftlicher Ebene im EG-Entscheidungsprozeß entsteht eine Form bürokratischer Entscheidungsfindung, die nur bedingt den bekannten Systemen entspricht. Sie erfordert, daß auch die Beteiligung organisierter Interessen an der Politikgestaltung dieser Besonderheit des Entscheidungssystems entspricht.
Da, wie aus Schaubild 4 ersichtlich ist, der EG-Prozeß eine deutliche Phasenbildung aufweist, in denen jeweils die Kommission bzw. die Ministerialbürokratien mit unterschiedlichem Gewicht vertreten sind, genügt esnicht, die Interessen der organisiserten wirtschaftlichen und sozialen Gruppen nur über einen Zweig, die Kommissionsbürokratie, zu beteiligen. Den Verbänden sollte auch eine Möglichkeit gegeben sein, ihre Interessen im interadministrativen Bargaining der nationalen Ministerialbürokratien im Rat zum Tragen zu bringen. Dazu sind verschiedene Wege vorstellbar.
Eine Möglichkeit wäre eine geregelte Beteiligung der Verbände an den jeweiligen nationalen Entscheidungsprozessen, wie sie jetzt auch schon ansatzweise gegeben ist. Da dies nur über die nationale Organisationen von Wirtschaft und Gewerkschaft geschehen kann, würde dadurch eine konforme Anpassung an die Zweiteilung des EG-Entscheidungssystems vollzogen: Der Kommissionsaktivität entspräche die Beteiligung der EG-Spitzenverbände in dieser Phase, die dabei den „Gemeinschaftswillen" der Verbände verkörperten; der Ratsaktivität entspräche die Beteiligung der Mitgliedsverbände auf nationaler Ebene, die dabei die „Partikularinteressen" verkörpern würden.
Eine derartige Lösung besitzt jedoch, neben den Problemen, die durch die unterschiedliche Struktur der nationalen Regierungssysteme für ihre Verwirklichung gegeben sind, den Nachteil, daß dadurch der Heterogenität der Positionen der gesellschaftlichen Gruppen in der EG Vorschub geleistet würde. Das widerspricht der für wichtig erachteten Bildung einer politischen Infrastruktur in der Gemeinschaft
Deshalb sind Lösungen zu bevorzugen, die die EG-Verbände der Sozialpartner stärker am Prozeß beteiligen. Das könnte entweder durch eine direkte Hinzuziehung in der vorbereitenden Beratungsphase in den Arbeitsgruppen des Rates geschehen oder durch eine direkte Einschaltung des WSA. Da im ersteren Fall erhebliche Schwierigkeiten bei der Bestimmung des jeweils repräsentativen EG-Verbandes auftreten könnten — es sei nur an die Schwierigkeiten bei der Besetzung des Ständigen Ausschusses für Beschäftigungsfragen erinnert —, wäre der zweite Weg vorzuziehen. Hierbei könnte daran gedacht werden, daß die WSA-Stellungnahmen nicht nur übermittelt werden, sondern daß ein WSA-Vertreter an den Sitzungen der Gruppen teilnimmt und die Position des Ausschusses vertritt, ähnlich wie ja auch die Kommission in diesen Sitzungen vertreten ist. Im Falle von nicht einmütigen Stellungnahmen des WSA müßte die Minderheit ebenfalls ein Vertretungsrecht haben. Voraussetzung hierfür ist jedoch eine grundlegende Reform des WSA.
Ob durch derartige Regelungen der reale Einfluß der wirtschaftlichen und sozialen Interessengruppen im Entscheidungsprozeß der Gemeinschaft zunehmen würde, kann a priori nicht entschieden werden. Doch wäre dadurch den Absichtserklärungen seit dem Pariser Gipfel entschieden besser Rechnung getragen als beim bisherigen Verfahren, das die Verbände vom Zentrum der Entscheidungsbildung weitgehend fernhält und ihnen nur eine geringe Beteiligung ermöglicht.
Auf Seiten der Verbände würde die verstärkte Beteiligung Überlegungen notwendig machen, ob ihr Brüsseler Apparat einer derartigen Entwicklung gewachsen ist. Sehr wahrscheinlich würden sie um eine entschiedene Verstärkung ihrer Sekretariate und um eine Neuregelung der internen Kompetenzabgrenzung zwischen EG-und nationaler Ebene hinsichtlich des weiten Feldes der gemeinschaftlichen Tagesarbeit nicht herumkommen. Dadurch könnte die Tendenz zur Bildung einer politischen Infrastruktur im EG-Rahmen verstärkt werden.
Von weitaus größerer Bedeutung hierfür ist jedoch die Antwort auf die Frage, ob die gegenwärtige Bereitschaft der Regierungen, die Sozialpartner verstärkt an den essentiell politischen Entscheidungen grundlegener Art in der Wirtschafts-und Sozialpolitik zu beteiligen, nur konjunktureller Natur ist und nach der Überwindung der Krise wieder zurückgeht. Bedenklich muß nämlich stimmen, daß die Erklärung des Pariser Gipfels von 1972 erst spürbare Folgen zeigte, als die wirtschaftliche Entwicklung und ihre negativen sozialen Wirkungen ein erhebliches Ausmaß angenommen hatten und es unausweichlich wurde, sich zur Wiedererlangung von Vollbeschäftigung, Stabilität und Wachstum nicht nur im nationalen Rahmen, sondern auch auf der Gemeinschaftsebene der stärkeren Hilfestellung der Sozialpartner zu versichern. Wenn jedoch der Versuch einer wirtschaftlichen Globalsteuerung für die Gemeinschaft ein höheres Maß an Verbindlichkeit bekommen soll als bisher, werden die Regierungen den Vorstellungen der Kommission und der Sozialpartner folgen und eine Verstetigung der bisherigen Beteiligungsformen anstreben müssen. Hierfür sind im Anschluß an die zweite Dreier-Konferenz vom 24. Juni 1976 Möglichkeiten eröffnet worden, wenn auch noch keine allseitige Bereitschaft vorliegt, derartige Konferenzen zu institutionalisieren.
Das wäre auch nur dann eine effiziente Form der Beteiligung, wenn die Konferenzen mit einem minimalen organisatorisch-institutionellen Unterbau versehen würden. Denn die Veranstaltung selbst, auf der jeweils 80 bis 100 Teilnehmer mit ihren Stäben (insgesamt ca. 200 Personen) vertreten sind, kann nur den politischen Rahmen erörtern und Richtlinien setzen, nicht jedoch wirtschafts-und sozialpolitische Entscheidungsarbeit leisten. Hierin ähnelt sie dem Europäischen Rat oder der Konzertierten Aktion der Bundesrepublik. Wenn jedoch die Vorbereitung und die Nacharbeit der Konferenz regelmäßig dem Ständigen Ausschuß für Beschäftigungsfragen und dem Ausschuß für Wirtschaftspolitik der EG anvertraut würde, so könnte allmählich ein System entstehen, das eine wirksame Beteiligung der Sozialpartner ermöglicht. Dazu wäre es jedoch notwendig, entweder die Sozialpartner am Ausschuß für Wirtschaftspolitik zu beteiligen oder aber, was vielleicht günstiger wäre, die beiden genannten Ausschüsse zu verschmelzen und sie in an spezifischen Aufgabestellungen orientierte Gruppen zu unterteilen, an denen, je nach Bedarf und Problemstellung, die Sozialpartner zu beteiligen wären. Das Mindestmaß an institutioneller Neuerung wäre jedoch eine größere Koordinierung der Arbeit beider Ausschüsse, damit die notwendige Zusammenschau wirtschaftsund beschäftigungspolitischer Probleme gewährleistet wird. Von diesen institutioneilen Neuerungen unberührt bliebe natürlich die Tätigkeit der Kommission bei der Vorbereitung der Konferenz gemäß der im Frühjahr 1976 geübten Verfahrensweise.
Eine derartige Verstetigung der Beteiligung der Sozialpartner bliebe zweifellos auch für diese nicht ohne Rückwirkungen in ihren Organisationen. So könnte hiervon im EGB ein größerer Druck ausgehen, die noch erheblich auseinanderlaufenden Grundpositionen durch eine Verstärkung der innerverbandlichen Diskussion anzunähern. Die damit verbundene Gefahr, daß der EGB im Falle der Kompromißunfähigkeit der Kontrahenten wieder auseinanderbricht, die vor dem Londoner Kongreß im Frühjahr 1976 zeitweise akut gegeben schien, wäre abzuwägen gegen den Vorteil der verstärkten Beteiligung in der Gemeinschaft. Die bisherige hohe Kompromißfähigkeit der Gewerkschaften angesichts der tief-B greifenden Divergenzen im ideologischen und ordnungspolitischen Denken legt die Annahme nahe, daß letztlich auch in diesen grundlegenden Fragen gewerkschaftlicher Politik ein tragfähiger Kompromiß gefunden wird.
Bei den Arbeitgebern und Industrievertretern könnte durch eine verstärkte institutionalisierte Beteiligung am Gemeinschaftsprozeß die Bereitschaft zunehmen, auch im Rahmen der UNICE mehr als bisher grundlegende gemeinsame Positionen in der Wirtschafts-und Gesellschaftspolitik zu erarbeiten, die über das Bekenntnis zum freien Unternehmertum und Wettbewerb hinausreichen. Dabei wären auch innerhalb der UNICE einige Differenzen zu erwarten, wenn man die verschiedenen nationalen Wirtschaftsordnungen in Betracht zieht, die für die Meinungsbildung prägend sind, wenngleich die Differenzen längst nicht das Ausmaß annehmen dürften, wie es im EGB der Fall ist.
Diese kurzen Bemerkungen zu möglichen Konsequenzen bei den Sozialpartnern zeigen, daß deren verstärkte Beteiligung am EG-Entscheidungsprozeß nicht automatisch zur gewünschten Infrastrukturbildung beitragen muß. Es kann nicht ausgeschlossen werden, daß auch bei ihnen die bei den Regierungen feststellbare Tendenz die Oberhand gewinnt, die Entscheidungsgewalt wieder verstärkt in die nationalen Organisationen zurückzunehmen, wenn das Gewicht der zu entscheidenden Fragen zunimmt. Daher ist für den Erfolg einer Konzertierten Aktion auf Gemeinschaftsebene sowie für die Infrastrukturbildung unabdingbar notwendig, daß die Regierungen durch ihr Verhalten deutlich machen, daß sie die Bereitschaft der Sozialpartner, durch die verstärkte Beteiligung auch eine höhere Mitverantwortung zu tragen, honorieren, indem sie ihrerseits die Verbindlichkeit von gemeinsam getroffenen Entscheidungen höher schätzen, als es in der Vergangenheit oft der Fall war. Nur eine simultane Anstrengung von Regierungen und Sozialpartnern, der Erkenntnis, daß die Probleme nicht mehr national zu lösen sind, auch die adäquaten Maßnahmen folgen zu lassen, kann den gewünschten Erfolg bringen. Voraussetzungen dafür sind gelegt worden.