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Brauchen wir die Utopie? Plädoyer für einen in Mißkredit geratenen Begriff | APuZ 20/1977 | bpb.de

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APuZ 20/1977 Brauchen wir die Utopie? Plädoyer für einen in Mißkredit geratenen Begriff „Frieden ist mehr als kein Krieg". Gewaltpolitik als Problem der Friedensforschung

Brauchen wir die Utopie? Plädoyer für einen in Mißkredit geratenen Begriff

Ulrich Hommes

/ 39 Minuten zu lesen

„Wenn man gut durch geöffnete Türen kommen will, muß man die Tatsache achten, daß sie einen festen Rahmen haben-, dieser Grundsatz ist einfach eine Forderung des Wirklichkeitssinns. Wenn es aber Wirklichkeitssinn gibt, dann muß es auch etwas geben, das man Möglichkeitssinn nennen kann.

Wer ihn besitzt, sagt beispielsweise nicht: Hier ist dies oder das geschehen, wird geschehen, muß geschehen; sondern er erfindet: Hier könnte, sollte oder müßte geschehen; und wenn man ihm von irgend etwas erklärt, daß es so sei, wie es sei, dann denkt er: Nun, es könnte wahrscheinlich auch anders sein. So ließe sich der Möglichkeitssinn geradezu als die Fähigkeit definieren, alles, was ebenso gut sein könnte, zu denken und das, was ist, nicht widrtiger zu nehmen als das, was nicht ist...

Das Mögliche umfaßt nicht nur die Träume nervenschwacher Personen, sondern auch die noch nicht erwachten Absichten Gottes. Ein mögliches Erlebnis oder eine mögliche Wahrheit sind nicht gleich wichtigem Erlebnis und wirklicher Wahrheit weniger dem Werte des Wirklich-seins, sondern sie haben, wenigstens nach Ansicht ihrer Anhänger, etwas sehr Göttliches in sich, ein Feuer, einen Pflug, einen Bauwillen und bewußten Utopismus, der die Wirklichkeit nicht scheut, wohl aber als Aufgabe und Erfindung behandelt. ’ (Robert Musil)

Der hier vorgelegte Beitrag führt Gedanken weiter, die der Verfasser erstmals im Frühjahr 1976 im Zusammenhang mit einer Fernsehsendung des Bayerischen Rundfunks entwickelt hat und die in erweiterter Form dann beim Humanismusgespräch des österreichischen Rundfunks im Herbst 1976 vorgetragen wurden. Herrn Dr. Helmut Engelhardt (BR) sowie Herrn Dr. Oskar Schatz (ORF) sei auch an dieser Stelle für zahlreiche Gespräche zum Thema ausdrücklich gedankt.

Es ist noch gar nicht viele Jahre her, daß der Begriff Utopie eine denkwürdige Hochkonjunktur hatte. In der Stimmung eines großen Aufbruchs, die wesentliche Teile nicht zuletzt der Jugend bewegte, verdichtete sich in diesem Begriff die Wendung gegen Erstarrung in den Machtstrukturen der bestehenden Gesellschaft. Utopie meinte hier nicht nur irgendwelche ferne Möglichkeiten eines besseren und vernünftigeren Lebens. Dieser Begriff sollte vielmehr Freiheit, Frieden und Glück bezeichnen als etwas, das die großen technischen und wirtschaftlichen Kapazitäten unserer Tage zu versprechen schienen, dessen Verwirklichung aber die herrschenden Kräfte und ihre besonderen Interessen zu verhindern drohten. Utopie meinte also Möglichkeiten des menschlichen Lebens, die zwar jenseits dessen liegen, was gegenwärtig wirklich ist, die man gleichwohl für realisierbar hielt im Gegenwärtigen selbst; Utopie meinte oft geradezu den Traum von einem Paradies auf Erden, die Vorstellung eines Lebens frei von Arbeit und Zwang, Angst und Schuld, Leid und Not.

Die Ernüchterung ließ bekanntlich nicht lange auf sich warten. Wünschen läßt sich schließlich viel; die gesellschaftlich-politische Praxis stößt jedoch sehr viel früher als erwartet an die Grenzen des Machbaren. Aus dem Zweifel am Bestehenden, den ein forscher Utopismus verbreitet hatte, wurde ein um so fragloseres Festhalten an dem, was ist, oft einfach bloß weil es ist, und keineswegs etwa weil es zu Recht so ist, wie es ist. Damit aber wurde nicht nur der Anspruch abgewiesen, die Vorstellung eines Reiches der Freiheit im Sinne des befriedeten und erfüllten Daseins ganz unmittelbar in gesellschaftlich-politische Praxis umzusetzen, vielmehr verfiel Begriff und Sache der Utopie insgesamt fast totaler Ächtung. Hatte der Begriff der Utopie eben noch einen eminent positiven Klang gehabt, da er die Bewegung auf Freiheit hin zu befördern versprach, so verband die Öffentlichkeit mit diesem Begriff nun sehr schnell freiheitsbedrohende Ideologie. Ein negativer, zumindest allgemein spöttischer Gebrauch des Begriffs setzte sich durch. Wurde ein Plan oder eine Erwartung fortan als utopisch bezeichnet, so hieß dies, daß er nicht durchführbar sei oder sich nicht erfüllen werde, was man sich versprach und vorgenommen hatte. Utopisches Denken schien vor allem gerade vom Nötigen und Möglichen abzulenken; um eben dieses Möglichen und Nötigen willen wurde schließlich der Abschied von Utopia proklamiert. Um zu verstehen, was in diesem Umschlag vor sich ging, muß man sich die ursprüngliche Bedeutung von Utopie in Erinnerung rufen Wohl zu allen Zeiten hat ja der Mensch als ein leidendes und bedürftiges Wesen in Worten und Bildern seine unvollkommene Gegenwart überschritten und sich ein besseres Dasein gewünscht und erträumt, vorgestellt und ausgedacht. Eine der Formen, in der ein solcher Ausblick eben die gesellschaftlichen Verhältnisse selbst betrifft, ist die Utopie im klassischen Sinn. Sie stellt gegenüber den bestehenden Verhältnissen und ihrer Unvollkommenheit und Ungereimtheit das Ideal des besten Staates dar Solche Utopie malt nicht nur das Bild einer besseren Gesellschaft, sie beschreibt vielmehr den denkbar besten Stand aller Dinge. In dieser Utopie geht es nicht um ein konkretes Ziel für das Handeln, sondern um moralisch-politische Leitideen wie Gerechtigkeit und Frieden, um den Entwurf jener Ordnung des Gemeinwesens, die ein vollkommenes Leben und die Erfüllung aller Bedürfnisse ermöglichen könnte. Die Vorstellung des Ideals der klassischen Utopie ist deshalb mit dem Bewußtsein verbunden, daß das Vorgestellte „nirgendwo" ist, als Ideal realisiert ja überhaupt nicht geradewegs realisiert werden kann. Die Bedeutung des Ideals für das konkrete Handeln liegt nicht darin, etwas zu beschreiben, das zu verwirklichen wäre, sondern als Richtmaß deutlich zu machen, was B. Gerechtigkeit mei -z. und Friede eigentlich nen. Das Bild der idealen Ordnung gibt also die Richtung an, in der das Bessere vom Schlechteren zu unterscheiden ist, und hält so den Anspruch gegenwärtig, unter dem menschliches Handeln und Verhalten, das Planen und Machen von Anfang an stehen sollte.

Zu einem weitreichenden Wandel des utopischen Ausblicks aus den bestehenden Verhältnissen aber kommt es nun, wo sich die Vorstellung dessen, was eigentlich sein sollte, verbindet mit jener eigentümlichen Geschichtsdeutung, nach der die Vollkommenheit des Lebens nicht ein ideales Maß ist über dem Handeln des Menschen, sondern das vom Menschen selbst zu verwirklichende Ziel.

Was als ideales Maß galt, dem man nachstreben müßte, ohne es je zu erreichen, findet sich hier geschichtlich bestimmt als das Ziel, auf das hin alle Entwicklung sich bewegt und das durch die Tat des Menschen wirklich wird.

Ganz offensichtlich hängt eine solche Ansicht mit Gedanken der christlichen Eschatologie zusammen. Während dort aber das Ende von Leid und Not, die Aufhebung aller Ungerechtigkeit und Unfreiheit erwartet wird als eine Tat Gottes, in der dieser dem Menschen das Heil schenkt, wird eben die vollkommene Befreiung und Vollendung nun in den Bereich des menschlichen Könnens verlegt. Im Vollgefühl seiner Kräfte erwartet der Mensch der Neuzeit die Erfüllung seiner Sehnsucht nicht mehr von einem anderen, sondern er schickt sich an, sie selbst zu vollbringen Schon die Aufklärung berauscht sich geradezu an der Vorstellung, menschliche Vernunft sei imstande eine Welt zu bauen, in der es weder Irrtum noch Ungerechtigkeit gibt und in der die Menschheit sich insgesamt „von allen Ketten befreit" findet. Die Erfahrung, daß der Mensch die politischen, sozialen und wirtschaftlichen Verhältnisse, in denen er lebt, nicht einfach hinnehmen muß als Schicksal, daß er sie vielmehr verändern kann — diese Erfahrung verbindet sich hier mit dem Gedanken einer alles menschliche Leben umfassenden glücklichen Zukunft. An die Stelle von Hoffnung auf eine andere Welt tritt der Anspruch, diese andere Welt, das Reich der Freiheit, durch menschliche Kraft jetzt und hier zu errichten. Demgemäß geht es in der Utopie nun nicht mehr um den Ausblick auf das Ideal, wie es die klassische Form des utopischen Denkens noch vermittelt, und auch nicht um die Zukunft des Heils, wie es die christliche Eschatologie verkündet. Aus Utopie vielmehr Aufforderung - die zur revo lutionären Tat.

In diesem Sinn beschwört der junge Engels überaus bewegt seinen „neuen Gral, um dessen Thron sich die Völker jauchzend versammeln und der alle, die sich ihm hingeben, zu Königen macht ... Das ist unser Beruf, daß wir dieses Grals Tempeleisen werden, für ihn das Schwert um die Lenden gürten und unser Leben fröhlich einsetzen in dem letzten heiligen Krieg, dem das tausendjährige Reich der Freiheit folgen wird"

Von hier aus ist auch zu begreifen, daß die meisten neueren Utopien, wie sie uns insbesondere im Umkreis des marxistischen Denkens präsentiert worden sind, sich mit so großem Nachdruck „real" und „konkret" nennen. Im Gegensatz zur Utopie im klassischen Sinn, die eben ein Ideal vorstellt, dessen Ort „Nirgendwo" heißt, soll damit ein direkterer Bezug auf die Wirklichkeit herausgestellt werden, der Anspruch nämlich auf Realisierbarkeit.

Eben dieser Anspruch aber und die Illusion von Realisierbarkeit des Reichs der Freiheit im Sinn einer „Endlösung" der Geschichte mußte das utopische Denken selbst in Verruf bringen. Das vermeintliche Wissen um den Endzweck schafft ein zu gutes Gewissen, es führt unweigerlich zu Dogmatismus, Intoleranz und Terror Es ist festzuhalten, daß in der eingangs erwähnten Hochkunjunktur des Utopiebegriffs in Anlehnung an marxistische Gedankengänge vornehmlich in diesem Sinn von Utopie die Rede war, und daß der Unwille, der sich gegen Begriff und Sache der Utopie schließlich auf vielen Seiten regte, eben diesen Zusammenhang selbst meint Zu deutlich war zu sehen, daß eine Utopie, die das Endziel der Geschichte zu realisieren empfiehlt, Freiheit letztlich gerade nicht zu befördern vermag, sondern im Gegenteil die bestehende Freiheit gefährlich bedroht.

Die Absage an solche Utopie ist nicht nur verständlich, sie scheint mir geradezu eine elementare Voraussetzung für die Wirklichkeit der Freiheit heute zu sein. Aber muß das bedeuten, daß wir ingesamt auf den Begriff der Utopie zu verzichten haben, oder daß wir gar preisgeben, wofür utopisches Denken von Anfang an steht? Die Frage scheint mir dringlich angesichts der Erfahrung, daß wir uns nicht nur gegen jene neueren Utopien gewehrt haben, deren ideologischer Anspruch in der politischen Praxis zu totalitären Konsequenzen führt, daß wir vielmehr als Alternative dazu weithin bloßem Pragmatismus folgten ohne Phantasie und Pespektive. Zwar wurde mit gutem Grund gegenüber utopischen Verheißungen auf die Realität verwiesen und auf die Grenzen des Machbaren. Immer wieder ist das Nötige und Mögliche beschworen worden. Aber haben wir dabei nicht auch das, was Realität heißt, zu bereitwillig genommen als etwas für sich, das heißt einfach so, wie es ist, und uns sogenannten Sachzwängen der technisch-industriellen Gesellschaft bedenkenlos ausgeliefert? Gerade gegenüber Realitäten und Sachzwängen sowie angesichts entmutigender Perspektivenlosigkeit brauchen wir heute Ausblicke aus dem Bestehenden, Ausblicke über die Grenzen und Tendenzen dessen hinaus, was jetzt schon ist. Nicht Vorstellungen des Endzwecks werden hier vermißt, wohl aber Bilder der Zukunft, die weit über das Bestehende hinausweisen und die frei machen, die es erlauben, im Bestehenden selbst aller vermeintlichen Eigengesetzlichkeit von Entwicklungen gegenüber Herr des Geschehens zu bleiben, weil sie es erlauben, sich darüber zu verständigen, wohin denn die Reise gehen soll.

Für zeitgemäßes Handeln in der modernen Gesellschaft genügt offensichtlich Augenmaß für das Machbare nicht. Soll unser Handeln befreiend wirken, bedarf es dazu des Denkens in Entwürfen und Modellen, die uns von den unmittelbaren Gegebenheiten gerade distanzieren. Es geht nicht darum, das Augenmaß mit der Utopie zu vertauschen und sich von bloßen Wünschen leiten zu lassen. Wohl aber geht es darum, Zukunft zu entdecken, auf die hin gehandelt werden kann, Zukunft, die es erlaubt, Prioritäten zu setzen, Pläne zu schmieden und Schritte zu tun, die weiterführen, die nicht bloß befestigen, was uns problematisch geworden ist Wird in diesem Sinn von Utopie gesprochen, ist also nichts gemeint, was unerreichbar für sich bestünde wie das Ideal des besten Staates, aber auch nichts, was ein für allemal zu realisieren wäre im Sinn sozialistischer Revolution. Utopie, die hier beschworen werden soll, meint etwas sehr viel Bescheideneres; sie meint einen aussichtsvollen Schritt zu einer weiteren Stufe in einem unabschließbaren Prozeß.

Utopie, die nicht ein vom Menschen selbst zu verwirklichendes Reich der Freiheit meint und auch nicht im Sinn der Vorstellung des reinen Ideals sich erfüllt, solche Utopie ist wesentlich dynamisch zu verstehen. Sie meint eine stets neue Vorwegnahme größerer Gerechtigkeit und größerer Freiheit, das ständig weitergreifende, phantasievolle Hinausdenken und Hinauswünschen über das Beengende und Bedrückende der Gegenwart hinaus, in Möglichkeiten hinein, in denen erfüllteres Leben ist. Die Form utopischen Denkens, die wir heute brauchen, ist also keine Vorstellung einer vollkommenen Gesellschaft, wohl aber ein Entwurf, der sinnvolles Fortschreiten in der Geschichte möglich macht. Hier geht es nicht um den denkbar besten Stand aller Dinge und auch nicht um die Aufhebung aller Entfremdung, aber um die Möglichkeit einer weit besseren, gerechteren und freieren Welt, als wir sie gegenwärtig haben.

II.

Die wesentliche Voraussetzung für einen solch positiven Gebrauch des Utopiebegriffs ist, daß wir von der Freiheit her verstehen, was Utopie heißt. Gerade angesichts der freiheitsbedrohenden Folgen bestimmter Formen von Utopie müssen wir dazu etwas weiter ausholen.

Das menschliche Dasein ist unübersehbar davon gezeichnet, daß es mit dem, was es will, nie wirklich am Ziel ist. Was immer wir erreichen, wir scheinen geradezu gezwungen zu sein, über das Erreichte jeweils wieder hin-auszugehen. Ein eigentümlicher Antriebsüberschuß sorgt dafür, daß wir unablässig nach Steigerung, Erhöhung und Beschleunigung suchen. Das Potential unseres Wünschens und Begehrens geht weit über das hinaus, was zum bloßen Fortbestand des Lebens notwendig ist. Der Mensch hat nicht nur feststehende Bedürfnisse, die zu befriedigen sind; seine Bedürfnisse wachsen mit dem Versuch ihrer Befriedigung. Im Streben nach immer weiterer Anreicherung des Wohlbefindens verschiebt sich das Niveau der eingewöhnten Lebenslagen. Was erreicht ist, wird seinerseits zu dem gewöhnlichen Zustand, von dem aus dann neue Möglichkeiten gesucht und gefunden werden, Aussichten und Erwartungen, die ihrerseits das Handeln und Verhalten nun bestimmen.

Dieser Antriebsüberschuß, der alles menschliche Handeln und Verhalten bewegt und uns eigentlich nie zur Ruhe kommen läßt, bestimmt auf eigentümliche Weise auch das, was wir das Bewußtsein der Freiheit nennen. Unter Freiheit verstehe ich dabei zunächst ganz allgemein die Möglichkeit, das Leben in eigener Verantwortung und aufgrund eigener Entscheidung zu führen, nach den je eigenen Interessen, Bedürfnissen und Wünschen.

An zwei Stichworten sei dies kurz erläutert: Spielraum und Selbstbestimmung.

Was immer von Freiheit zu sagen ist, Freiheit ist wohl unbestreitbar dort am gewissesten, wo einer nicht von außen behindert und beschränkt ist, sondern sich in seiner Umwelt so bewegen kann, wie er selbst dies will. Frei ist das Denken und Handeln des Menschen dann, wenn es einen angemessenen Spielraum hat. Zu solchem Spielraum gehört es z. B., daß ich mich dorthin begeben kann, wo ich gerne hingehen möchte, aber auch, daß ich mir meine eigene Meinung bilden darf und diese Meinung zur Geltung zu bringen vermag. Es gehört weiter dazu, daß ich den Beruf ergreifen kann, von dem ich erwarte, daß er mich erfüllt, ja, daß ich überhaupt die Bedingungen meines Lebens zumindest mitzubestimmen vermag und dabei etwa für den politischen Bereich mich von denen vertreten lassen kann, denen ich vertraue.

Das innerste Wesen der Freiheit aber ist Selbstbestimmung. Um der Selbstbestimmung willen brauchen wir den Spielraum. Frei bin ich dann, wenn nicht von außen über mich verfügt wird, wenn ich vielmehr aus mir selbst heraus mich bestimme, wenn ich erfahre, daß nicht bloß etwas durch mich hindurchgeht, das irgend einer anderen Instanz zugehört, daß mein Handeln und Verhalten vielmehr in mir selbst entspringt und ich darin mir selbst gehöre. Dabei darf man freilich nicht so tun, als sei der Mensch ein Wesen ganz für sich, ohne Bindung und Begrenzung, und als könne er nach Belieben schalten und walten. Freiheit ist immer die Freiheit des konkreten Menschen; der aber ist eingebunden in seine Welt, d. h., er ist an sich selbst schon durch vieles immer bestimmt. Zu ihm gehören die Dinge, die um ihn herum sind, und vor allem die Menschen, die mit ihm zusammen leben. Aber dies ist eine Erfahrung, die jeder von uns machen kann, daß bei aller Abhängigkeit und Bestimmtheit des eigenen Daseins dennoch zuletzt das Entscheidende immer an mir selbst liegt. Auch dem Notwendigen und Unabänderlichen gegenüber bestimme ich mich selbst, dann z. B., wenn ich es anerkenne und es übernehme.

Was aber heißt es nun, daß der oben angdeutete Antriebsüberschuß, der Trieb also zur permanenten Selbststeigerung, auch das menschliche Freiheitsbedürfnis bestimmt? Was bedeutet es, wenn sich im Bewußtsein der Freiheit selbst ein solcher Drang zur Geltung bringt? Zunächst ergibt sich daraus: Was immer wir an Freiheit haben, wir sind darin nicht so frei, daß Freiheit erfüllte Wirklichkeit wäre; es verweist uns vielmehr immer zugleich noch einmal weiter in die Richtung erneuter Steigerung. Freiheit, die wir haben, die jetzt ist, ist immer relativ zu dem, was Freiheit eigentlich meint; sie ist relativ zu dem, was wir uns als Freiheit wünschen und was uns dementsprechend irgendwie als möglich erscheint — wenn nicht möglich heute, so doch vielleicht für morgen oder für übermorgen. Dem Freiheitsbegriff wohnt eine eigentümliche Unbegrenzbarkeit inne. Soviel auch an Freiheit Wirklichkeit geworden sein mag, Freiheit behält in jedem Augenblick das Moment des Unverwirklichten; sie ist nie anders als in der Weise, daß sie zugleich noch aussteht. Zur Wirklichkeit der Freiheit gehört die Möglichkeit, in immer noch umfassenderem und noch wesentlicherem Sinne, in noch größerem Maße und noch reinerer Gestalt Freiheit zu werden.

„Man kann nur durch ewigen Fortschritt oder gar nicht gewinnen" — so heißt es einmal bei Heinrich Heine. „Wo man stehen bleibt, ist ganz einerlei, so einerlei, als wo die Uhr stehen bleibt. Sie ist da, damit sie geht." Freiheit aber verfällt, wenn man sie nur so haben will, wie sie jetzt ist, wenn man sie als Besitz lediglich passiv zu genießen sucht. Aus jedem erreichten Stand drängt uns die Freiheit selbst hinaus nach vorne, in ungeahnte neue Möglichkeiten. Zur Wirklichkeit der Freiheit gehören diese Möglichkeiten. In Ihrem Interesse verwandelt sich das, was ist, zur Aufgabe.

III.

In diesem Prozeßcharakter von Freiheit ist angelegt, was ich als utopische Dimension bezeichnen will. Jede Wirklichkeit der Freiheit ist von ihrer Möglichkeit bestimmt, d. h., sie enthält in sich diese Dimension, in der Freiheit über ihre eigene Gegebenheit hinaus offen ist. Die Freiheit enthält Zukunft nicht dadurch, daß sie auf ein vorgestelltes und in diesem Sinn schon feststehendes Ziel hin gerichtet ist, sondern indem sie ständig auf ihre je größere Wirklichkeit hin fortgebildet wird. Die Leidenschaft für das Mögliche, die die Freiheit im Innersten bestimmt, meint also zwar etwas, das jetzt nicht ist und vielleicht einmal sein wird, sie meint zugleich aber auch sehr viel mehr, sie meint die Offenheit des Prozesses selbst. In diesem Sinn gehört zur Freiheit tatsächlich so etwas wie der „Traum nach Vorwärts", von dem Ernst Bloch — mit anderer Betonung allerdings — so häufig spricht, das Verlangen nach Nicht-Seiendem und Noch-nie-Gewesenem, der Vorschein des Neuen, das alles jetzt Mögliche übersteigt und das sich im Vergleich zum Bestehenden geradezu als unmöglich ausnimmt. Darin eben ist die Freiheit selbst utopisch Utopisch muß diese Dimension der Freiheit nicht zuletzt im Verhältnis zu jenem eingeschränkten Begriff von Wirklichkeit heißen, der unser Bewußtsein immer mehr bestimmt, und nach dem im Grunde nur das noch als wirklich gilt, was sich berechnen läßt. Dieser Begriff von Wirklichkeit ist erwachsen aus der immer einseitigeren Ausrichtung des menschlichen Interesses an der Beherrschung der Natur und der Erringung der Weltherrschaft. Dieses eingeschränkte Verständnis von Wirklichkeit bestimmt heute weithin unser Verständnis des Möglichen. Möglich ist das, was machbar scheint. Und da wir überall auf die Grenzen des Machbaren stoßen, wird immer weniger möglich. Aber was heißt denn eigentlich möglich? Ist möglich tatsächlich nur das, was angesichts der jetzt zur Verfügung stehenden Mittel durchgeführt werden kann? Möglich ist ursprünglich doch sehr viel mehr, nicht zuletzt eben solches, über dessen Machbarkeit noch gar nicht zu entscheiden ist, das wir aber mit Sicherheit nicht in den Blick bekommen, wenn wir uns im Vorhinein auf das Machbare beschränken. Es gehört zur Freiheit, selbst etwas zu entdecken, das Möglichkeit heißen darf, ohne mit dem Nachweis der Realisierbarkeit ausstaffiert zu sein, d. h. etwas zu entdecken, das Raum schafft und eine

Vorstellung von Richtung ermöglicht, in die wir gehen können, wenn wir uns dazu entschließen wollen.

Gerade heute aber gilt es, über das nachzudenken, was man will, und es zu formulieren, ohne dabei schon völlig eingenommen zu sein von der Frage, wie wir es dann wohl auch erreichen können. Es ist ein ursprüngliches Interesse der Freiheit, die Mittel sich aus den Zielen entwickeln zu lassen — und nicht umgekehrt. Was wir wünschen und was wir dann vielleicht auch zu verwirklichen suchen: es muß aus einem umfassenderen Zusammenhang sich entfalten dürfen als dem, der von der Machbarkeit im Maß des Gegenwärtigen bestimmt wird.

Angesichts der Herrschaft dieses eingeschränkten Begriffs von Wirklichkeit läßt sich der Bezug der Freiheit auf die ihr eigene Möglichkeit vielleicht überhaupt nur als utopische Dimension zur Geltung bringen. Die Utopie stellt nämlich eben den Anspruch solcher Wirklichkeitsdefinition selbst in Frage. Utopisch denken, dies heißt nicht etwa alles, was ist, ganz anders haben wollen, aber es heißt im Interesse der Freiheit zu entdecken suchen, was auch sein könnte und was nicht einfach nicht ist, sondern eine Möglichkeit der Freiheit zu sein verspricht.

IV.

Nimmt man diesen Prozeßcharakter der Freiheit ernst, muß man sich freilich auch den problematischen Folgen stellen, die sich daraus ergeben können. Schon der Antriebsüberschuß nämlich, den wir hier in der Freiheit selbst am Werke sehen, ist überaus konflikt-trächtig. Was immer wir erreichen auf der Suche nach der Freiheit, es wird schließlich zur Selbstverständlichkeit, von der aus dann wiederum nach Neuem und Ungewohntem Ausschau gehalten wird. Tatsächlich zeigen sich stets erneut vielversprechende Möglichkeiten der Freiheit, an denen gemessen das Erreichte sich als sehr vorläufig erweist. Der Drang der Freiheit, ständig nach weiteren, neuen und ungewohnten Möglichkeiten zu suchen, sich permanent selbst zu überbieten, der Zwang fast, die Freiheit über jedes erreichte Niveau hinaus weiter zu steigern, all dies gebiert jedoch leicht Geringschätzung und Verachtung dessen, was schon wirklich ist. Es verliert sich der Sinn für den Wert des Erreichten, auch wenn dies seinerseits das Ergebnis eines mühseligen Befreiungsprozesses war. Die zunächst dankbare Anerkennung dessen, was geschaffen ist, schlägt dann um in Aggressivität; was ist, scheint vor allem dem Fortschritt im Wege zu stehen. Einst noch so schwer erkämpfte Freiheit zählt plötzlich kaum noch; bewährte Institutionen werden als unvernünftig empfunden und als ärgerliche Einschränkung möglicher Freiheit abgetan. So kann sich Freiheitswille zur Abwertung der geltenden Ordnung verkehren. Das Bewußtsein der Veränderlichkeit steigt dann so hoch, daß es schließlich eben den Freiheitsgehalt des schon Wirklichen fortreißt. Veränderung schon als solche verspricht dann manches, auch ohne daß Einsicht oder Übereinstimmung über ihr Maß und ihre Richtung gefunden wäre. Die Behendigkeit des Abbaus, die wir in manchen Bereichen während der vergangenen Jahre erleben mußten, mag hier zur Lehre dienen. Wie sind diese Gefahren zu bestehen, die im Bewußtsein der Freiheit selbst liegen, insofern diese von dem genannten Antriebsüberschuß geprägt sind? Mir scheint, daß es dazu vor allem einer angestrengten Aufmerksamkeit bedarf auf die Erfahrungen, die die Freiheit mit sich selbst und ihrer eigenen Geschichte gemacht hat. In diesem Zusammenhang sei nur an den langen Kampf um jenen Spielraum erinnert, den der moderne Staat schließlich seinen Bürgern in den Grundrechten sichert, oder an die Entwicklung der parlamentarischen Demokratie im Westen, die doch wohl eindeutig die freiheitlichste Verfassung darstellt, die wir heute haben können.

Es ist dies ein ganz wesentliches Moment für das Verständnis von Geschichte: daß Geschichte unter dem Gesichtspunkt von Freiheit sehr wohl sinnvoll fortschreitet, ohne sich in sich selbst vollenden zu können. Man muß also nicht an das Reich der Freiheit glauben als den realisierbaren Endzweck, um in der Geschichte auf Verwirklichung der Freiheit zu setzen. Was wir dazu brauchen ist lediglich die Überzeugung, daß eine Weiterbildung des Bestehenden möglich ist hin auf eine Wirklichkeit des Miteinanders, in der mehr Freiheit ist, als wir gegenwärtig schon haben. Mehr Freiheit aber heißt ja nicht, daß es mit der Freiheit überhaupt noch nichts ist. Freiheit als Aufgabe bedeutet nicht nur Verweis in die Zukunft; es schließt die Zuwendung zur Tradition mit ein, insofern wir ihr verdanken, was Freiheit heute ist.

Wenn in dem soeben skizzierten Zusammenhang von Utopie die Rede ist, kann Utopie nichts meinen, was in irgendeiner Weise Totalitätsanspruch erhebt. Niemand kennt den Endzweck der Geschichte und die Mittel und Wege zu seiner Realisierung. Die ganze Fragwürdigkeit zahlreicher Entwürfe der Utopie kommt daher, daß sie ein solches Ende für möglich halten und es selbst vorwegzunehmen suchen, ein Ende, in dem die Welt insgesamt heil sein soll, in dem ein Leben ohne Zwang und Gewalt möglicht ist

Freiheit ist ein Prozeß endlosen Fortschritts, d. h., ohne von sich aus zur endgültigen Gestalt zu finden. Eben dies schließt es aus, daß wir in dieser Welt jenes Reich der Freiheit realisieren können, in dem alle Entfremdung aufgehoben ist und der Mensch sich mit sich selbst und der Natur versöhnt findet

Wird dennoch der Endzweck vollkommener Befreiung als ein realisierbares Ziel der Geschichte ausgegeben, wie das z. B.der Marxismus nach wie vor tut, läßt sich die Verkehrung der utopischen Intention in freiheitsvernichtenden Totalitarismus nicht verhindern. Alles bisherige sinkt dann zur bloßen Vorgeschichte herab, gegen die der Fortschritt auf das große Ziel zu erkämpfen ist. Freiheit, die schon wirklich ist, verfällt revolutionärer Verachtung. Im Namen zukünftiger Freiheit wird die heutige Wirklichkeit der Freiheit zerstört.

Die wiederholt festgestellte Nähe des Utopischen zum Totalitären hat hier ihren Grund Der Hang zahlreicher Utopien zu

gewaltsamer Durchsetzung ihrer Ziele resultiert vornehmlich aus eben dem Anspruch, den Endzweck der Geschichte zu kennen und ihn selbst zu vollbringen. Solchem Anspruch gegenüber kann aus dem vorhin Gesagten aber nur folgen: Utopisches Denken, das die Freiheit sucht, das eine Dimension der Freiheit selbst entwickelt, kann niemals Zwangsbeglückung meinen. Dies Denken kennt keine Logik der Geschichte, die gegen die bestehende Freiheit zu exekutieren wäre. Das Utopische meint vielmehr ein Über-sich-hinaus-Sein der Freiheit, das zwar weit in anderer Möglichkeiten ausgreift, das diese aber gerade als Möglichkeiten der Freiheit vergegenwärtigt, d. h. weder als Punkte eines Programms, das feststeht und realisiert werden muß, noch als Etappen auf dem Weg einer Vollendung der Geschichte.

Doch ist dies nur die eine Seite. Geht es nämlich in der utopischen Dimension der Freiheit nicht um eine Endlösung, so geht es doch sehr wohl darin um die Zukünftigkeit der Freiheit selbst. Utopie steht im Dienst der Aufgabe einer ständig fortschreitenden Verwirklichung von Freiheit. Ist in diesem Prozeß Fortschritt nur möglich im Bewahren des schon Erreichten, und nicht aufgrund abstrakter Ansprüche durch totalitäre Ideologien, so besagt der Prozeßcharakter der Freiheit selbst doch auch, daß das Erreichte nur in seiner Fortbildung, d. h. in seiner Verwandlung bewahrt zu werden vermag. Die uns aufgegebene Verwirklichung von Freiheit verlangt entschiedene Rücksicht auf beide Momente.

Wenn Freiheit sich selbst aufgegeben ist, genügt es nicht, das Bestehende bloß erhalten zu wollen, so wie es ist. Und ganz gewiß wäre es die Preisgabe unseres Selbstverständnisses, würden wir uns den sogenannten Sachzwängen einfach ausliefern. Was man gegenüber utopischem Denken immer wieder als realistische Einschätzung der Tatsachen preist, verabsolutiert allzu schnell nur jenes Vorstellen, für das politisches Handeln gar nicht mehr Realisierung freigesetzter Ziele ist, sondern die Exekution immanenter Sachzwänge von Technik, Wissenschaft und Verwaltung der hochindustrialisierten Gesellschaft Die allgemeine Entwicklung ist aber doch wohl zu krisenträchtig, als daß man das Interesse der Freiheit auf Prognose, Planung und Organisation ganz im szientistisch-technischen Modell verweisen dürfte. Mit Pragmatismus allein ist z. B.den zerstörerischen Kräften, die wir gegen die Natur und gegen den Menschen inzwischen entwickelt haben, sicher nicht zu begegnen. Dazu ist sehr viel mehr nötig, dazu bedarf es vor allem wirklich befreiender Perspektiven, und d. h.: wir brauchen Qin Wertbewußtsein, das andere Akzente setzt, als wir sie bislang tatsächlich verfolgt haben. Mehr Freiheit ist doch z. B. nicht mehr von bloß erneuter Steigerung in Produktion und Konsum zu erwarten, wenn eben aus dem Progressionszwang, der in diesem Bereich bislang geherrscht hat, für gegenwärtige Freiheit sich die großen Probleme ergeben Es ist ein kennzeichnender Umstand, daß wir uns im Blick auf die Zukunft immer mehr darauf beschränken, zu berechnen, wie es sein wird, wenn alles so weitergeht wie bisher. Wie raffiniert jedoch auch immer die Formeln sein mögen, mit denen wir die Daten von gestern und heute verarbeiten, in Sachen Freiheit kann es sich letztlich nicht um einen Prozeß handeln, der so berechenbar ist. In diesem Prozeß spielt die Phantasie der Utopie eine entscheidende Rolle. Dem Interesse der Freiheit ist nicht Genüge getan damit, herauszubekommen, wie es sein wird, wenn wir alles weiterlaufen lassen. Dieses Interesse ist sehr viel ursprünglicher darin engagiert, herauszufinden, wie es denn auch sein könnte und wie wir es haben wollen. An die utopische Dimension der Freiheit erinnern heißt deswegen nicht nur, den totalitären Ansprüchen innerweltlicher Heilslehren und ihrer Aufforderung zur Systemüberwindung entgegenzutreten, es heißt zugleich, sich der technokratischen Auslegung unserer Verhältnisse und der Perspektivenlosigkeit der Macher zu widersetzen.

So wenig es darum geht, im Namen der Freiheit zur totalen Veränderung des Bestehenden aufzurufen, so wenig können wir uns von der Aufgabe der Freiheit her mit dem zufrieden geben, was ist und was seinen Strukturen und Prioritäten entspricht. Vielmehr gilt es immer von neuem, die Spielräume eines ursprünglich freien und wirklich sinnerfüllten Lebens auszuloten — für den einzelnen ebenso wie für die Gesellschaft. Die Suche nach anderen Möglichkeiten, der utopische Ausgriff des Menschen meint ja nicht bloß, was alles auch sein könnte. Darin steht vielmehr letzlich zur Frage, was denn sein soll. Es geht nicht darum, was wir uns alles auszudenken vermögen, sondern um das, was uns verspricht, uns selbst zu finden.

VI.

Wenn diese Abgrenzung klar gemacht hat, was hier utopische Dimension der Freiheit heißen soll, ist vielleicht auch deutlicher geworden, warum ich überhaupt den Begriff der Utopie für diesen Zusammenhang verwende. Natürlich muß man sich fragen, was es erbringt, einen Begriff aufzunehmen, der derart in Mißkredit geraten ist, daß er fast nur noch negative Assoziationen auslöst. Dies ist ein entscheidender Punkt, und ich möchte mich dazu unmißverständlich äußern. Es scheint mir an der Zeit, den Begriff Utopie aus der fatalen Frontstellung herauszuholen, wo von Utopie nur gesprochen wird in positivem Sinn zur Verkündigung des Reichs der Freiheit, d. h. zur Aufforderung, die bestehende Welt endlich aus den Angeln zu heben, und in negativem Sinn um zum Hirngespinst zu erklären, was sich dem Maß des gegenwärtig Realisierbaren entzieht.

Auch dies ist keine Frage nur des Wortgebrauchs. Eben wenn wir es nicht innerweltlich Heilslehren überlassen wollen, für Zukunftsperspektiven einzustehen, sollten wir den Begriff der Utopie nicht in solcher Frontstellung zwischen Ideologen und Technokraten einfach verkümmern lassen. Wir sollten diesen Begriff vielmehr eben von den gegenwärtigen Erfahrungen und Bedingungen her nutzen im Sinn jener Intention auf Freiheit, die ihn von seiner Geschichte her ursprünglich bestimmt.

Freiheit ist gewiß nicht einfach Utopie, aber Freiheit hat eine Dimension, die wir mit gutem Grund utopisch nennen können. In ihr geht es nicht einfach um Vorwegnahme dessen, was noch nicht ist. Vorwegnahme vollbringt auf ihre Weise ja auch die Extrapolation, die berechnet, was sich aus den gegenwärtigen Abläufen von selbst ergibt. Utopie dagegen meint die Öffnung auf solches, das nicht in der Verlängerung nur dessen liegt, was jetzt schon ist, etwas, das in der bestehenden Wirklichkeit und von ihren Tendenzen her sich unter Umständen sogar geradezu als unmöglich ausnimmt, weil es in dem, was heute ist und was sich aus diesem Heute berechnen und vorhersagen läßt, keinen Platz hat.

Von diesem Verständnis der Utopie her wäre es geradezu widersinnig zu fordern, die Utopie solle die Wirklichkeit bestimmen. Utopie bezieht sich als Utopie gerade nicht unmittelbar auf die gegebene Wirklichkeit; ihre kritische Distanz allem Gegebenen gegenüber resultiert vielmehr daraus, daß sie sich auf eine Möglichkeit bezieht, die als Möglichkeit der Freiheit zu vergegenwärtigen ist und die also weder als Endziel der geschichtlichen Entwicklung noch als Plan zur Durchführung eines bestimmten Programms vorgestellt werden darf. Utopie ist eine durch das Interesse der Freiheit bestimmte und von der geschichtlichen Erfahrung der Freiheit selbst geführte Entdeckung von Möglichkeit. Das wahrhaft Bedeutsame an der Utopie bemißt sich nicht an der Realisierbarkeit dessen, was sie vorstellt, es liegt in der Entdeckung solcher Möglichkeiten. Von diesen Möglichkeiten muß man sich bewegen lassen, bevor man nach Realisierungschancen zu suchen beginnt, aus denen heraus dann gegebenenfalls zur Formulierung von Alternativen dem Bestehenden gegenüber fortgeschritten werden kann.

Der so verstandenen Utopie liegt es fern, zu revolutionärer Verwirklichung ihrer Phantasie aufzurufen. Um zu wirken im Sinn etwa einer Veränderung des Bestehenden, bedarf sie einer ausdrücklichen Umsetzung; sie bedarf der Vermittlung durch ein Tun, das seinerseits die Wirklichkeit bestimmt. Erst hier, wo aus dem utopischen Spiel mit Möglichkeiten anderes und mehr werden will, wo wir den Inhalt unserer praktischen Entscheidungen an utopischen Möglichkeiten orientieren, erst hier ist dann mit Nachdruck auch jene Skepsis geltend zu machen, die die Geschichte uns schließlich auch lehrt, wenn z. B. noch jede Revolution bei allem Fortschritt, den sie zunächst zu bringen schien, auch die Schatten von Unfreiheit hat wachsen lassen Gera-de was die Folgen jener rastlosen Begierde nach Neuem anbelangt, bezüglich der Gefahren, die im ständigen Verlangen nach Änderung und Umsturz des Bestehenden liegen, dürfen wir uns heute weniger denn je Blindheit leisten. Der Erfindungsgeist des Menschen, das was möglich scheint, auch wirklich zu machen, überschreitet leicht die Grenzen, wo der mögliche Gewinn in keinem vernünftigen Verhältnis mehr steht zum nötigen Aufwand. Dem Prinzip Möglichkeit, auf das die Utopie setzt, muß für das Handeln im sozialen Zusammenhang das Prinzip Verantwortung entsprechen — dies ist eine elementare Voraussetzung des fortschreitenden Prozesses der Freiheit überhaupt.

Es ist von großer Wichtigkeit, den Begriff der Utopie nicht aus diesem Zusammenhang zu lösen. Insofern es in der Utopie um Möglichkeiten der Freiheit geht, gilt es, das, was utopisches Denken entwirft, eben als solche Möglichkeit durchzuspielen, d. h., es darf nicht fälschlicherweise als Aktionsprogramm präsentiert Utopie bezieht sich werden. auf politisches Handeln wesentlich indirekt. Auch wenn wir utopische Entwürfe suchen und fördern wollen, ist deshalb sehr entschieden auf Realisierungsprobe zu bestehen all dem gegenüber, was als politische Forderung aus Utopie abgeleitet wird.

So wäre es fatal zu verlangen, die Politik selbst solle utopisch werden. Politik hat unseren Wünschen und Träumen gegenüber sehr wohl ihre eigenen Gesetze. Nach einer alten Einsicht der Praktischen Philosophie kann unmittelbares Ziel vernünftigen Handelns nur eine im sozialen Zusammenhang selbst angelegte Möglichkeit sein. Im Blick hierauf darf recht verstandene Utopie gar nicht empfehlen, irgend etwas um jeden Preis zu schaffen.

Für das politische Handeln muß die Orientie-

rung an handgreiflicher Unfreiheit den Vorrang haben vor jeder Verheißung von Freiheit, denn diese Orientierung ist im Sinn der Freiheit selbst sicherer als die Ausrichtung an allumfassenden Entwürfen der Zukunft Das Feld der Politik sind nicht Träume und Wünsche — Utopie eignet sich nicht zum Zauberstab. Entscheidend aber ist, daß wir sehen, daß lange nicht alles, was in der politischen Auseinandersetzung als Sachzwang ausgegeben wird, der Diskussion enthoben sein darf; wir müssen notfalls sehr wohl die Voraussetzungen selbst infrage stellen, aus denen sich diese Sachzwänge ergeben.

Wie sehr wir gerade den sogenannten Sachzwängen und Eigengesetzlichkeiten gegenüber heute die Utopie brauchen, ergibt sich von daher, daß sich in unserer Zeit Erneuerung allenfalls noch auf Mittel bezieht, aber kaum noch einmal auf die Ziele. Wir müssen lernen, nicht bloß im Bereich der zur Verfügung stehenden Mittel zu denken, sondern in d. h. Optionen, vor allem in Prioritäten; wir müssen lernen, uns Ziele zu setzen. Gewiß hat es die Politik in ihren Entscheidungen zunächst mit den Problemen der Gegenwart zu tun. Aber schon diese Probleme der Gegenwart sind nicht zu lösen für sich; eine wesentliche Voraussetzung ihrer Lösung ist vielmehr der Blick nach vorne. Auch solche Politik, die keine großen Verheißungen einzulösen sucht, die sich vielmehr auf das beschränkt, was hier und jetzt möglich und notwendig ist, kann im Sinn von Freiheit nur wirken, wenn sie sich nicht in phantasieloser Verwaltung aller Dinge erschöpft, sondern das ihre im Blick auf die Zukunft tut, die die fortschreitende Verwirklichung der Freiheit selbst meint.

VII.

Für die Diskussion um die Utopie aber heißt dies, daß sich jeder Ausgriff auf das, was doch vielleicht auch möglich wäre und was vielleicht einmal werden könnte, seiner inneren Begrenztheit bewußt sein muß. Je weiter man das Bestehende überschreitet, um so mehr ist darauf zu verzichten, zu unmittelbarer Realisierung aufzurufen. Utopie muß als Utopie vorgestellt werden, d. h., sie ist kein unmittelbar zu realisierendes Ziel. Dennoch ist sie alles andere als bloße Illusion; sie meint keineswegs etwas, was grundsätzlich nicht zu realisieren ist. Aber sie wirkt als geschichtliche Kraft eben wesentlich indirekt, indem sie die Handlungen und Entscheidungen der Gegenwart in eine Richtung weist, die eine Richtung auf mehr Freiheit hin ist.

Die Frage, wie unsere Gesellschaft in Zukunft aussehen wird, wieweit sie letztlich selbst Zukunft hat, diese Frage meint eben nicht, wie es sein wird, wenn sich die jetzt sichtbaren Entwicklungslinien einfach fortsetzen. Dies ist nur die eine Seite einer solchen Frage. Für Handelns die Möglichkeit verantwortlichen entscheidender ist, wie wir in Anbetracht dieser Entwicklungen die Gesellschaft selbst eigentlich haben wollen. Hier scheint mir ein ganz besonders Defizit zu liegen. Unter dem Eindruck von Sachzwängen und Eigengesetzlichkeiten, von unbeherrschten Folgen und krisenträchtigen Tendenzen tun wir uns überaus schwer auch nur herauszufinden, wie es denn sein soll und wie wir in Richtung auf das, was wünschenswert ist, weiterkommen. Keineswegs können uns hier alle möglichen Formen von Utopie helfen. Es gibt nicht nur Formen des Utopischen, die uns heute nicht mehr entsprechen, es gibt auch Formen, deren freiheitsbedrohende Folgen sich allzu deutlich gezeigt haben. Dennoch steckt in Begriff und Funktion der Utopie gerade heute viel an Verheißung von Freiheit; wir müssen diesen Begriff eben nur ganz streng vom Anspruch der Freiheit selbst her verstehen. Daß wir entgegen früheren Entwürfen der Utopie nicht mehr vom Bild des besten Staates ausgehen oder der Verheißung des Reichs der Freiheit, daß wir vielmehr eine unaufhebbare Besserungsbedürftigkeit erkennen, entzieht der Utopie keineswegs den Boden. Das dynamische Verständnis von Utopie, auf das hier hingewiesen werden soll, lebt zwar nicht aus dem Versprechen einer totalen Befreiung. Dennoch muß utopisches Denken keineswegs zum Gerangel um schrittweise Reformen verkümmern. Nicht wie weit Utopie über das Bestehende hinausgreift, ist das Entscheidende, sondern daß ihr überhaupt ein Entwurf gelingt, der eine neue und bessere Welt verheißt. Daß etwas kein Paradies auf Erden verspricht, bedeutet nicht, daß es nicht gegenüber dem Gegebenen befreiend neuartig sein kann und atemberaubend verheißungsvoll. Die Kraft der Utopie erwächst aus der Phantasie des Möglichen; Kriterium der Utopie ist die bewegende Perspektive, die sie dem Handeln selbst eröffnet.

VIII.

So belastet der Begriff der Utopie also auch sein mag, er scheint mir vorzüglich geeignet zu sein, uns heute in Sachen Freiheit eine Dimension gegenwärtig zu halten, ohne die die Freiheit sich gerade auf der Stufe zu verlieren droht, auf der die Möglichkeiten ihrer Verwirklichung größer sind als je zuvor. Ich möchte dies in einem letzten Abschnitt wenigstens an einem Beispiel etwas genauer darlegen.

Wenn Freiheit heißt, selbstverantwortlich über Form und Inhalt seines Lebens zu befinden, dann stehen wir gegenwärtig in einer sehr kritischen Phase der menschlichen Freiheitsgeschichte. Der moderne Staat ist mit all dem Wohlstand und all der Wohlfahrt ohne Zweifel eine der größten Errungenschaften in der bisherigen Geschichte des Menschen. Aber es ist offensichtlich der Punkt erreicht, an dem diese Errungenschaft in ihr Gegenteil umzuschlagen droht. Im System immer umfassenderer Daseinsfürsorge verkümmert die Möglichkeit des einzelnen, sein Leben in ei-gener Verantwortung und aufgrund eigener Entscheidung zu führen. Die Möglichkeiten, sich zurecht zu finden, Chancen zu entdekken und selbst für sein Leben zu sorgen, werden zunehmend erdrückt. Betreuung steht oben an; wir werden zum Fall von Betreuung in einer verwalteten Welt

Es wäre absurd, aus diesem drohenden Umschlag den Schluß zu ziehen, die ganze Errungenschaft preiszugeben. Aber es ist an der Zeit, daß wir uns um die Bedingungen kümmern, unter denen z. B. Sozialstaatlichkeit auch für Freiheit stehen kann und sich ihr ursprünglich freiheitsfördernder Sinn also nicht in freiheitsverschlingender Bürokratie verliert. Es ist offensichtlich gegenwärtig eine Grenze erreicht, wo die sozialen Zulagen — die Zulagen auf der Seite der Versorgung und der Betreuung — die Einbuße an Selbstbestimmung des einzelnen nicht mehr aufwiegen können. Angesichts des Anwachsens von Abhängigkeit des einzelnen, angesichts der Vermehrung seiner Unselbständigkeit in immer umfassenderer Betreuung geht es nicht so sehr um weitere Perfektionierung von sozialer Sicherheit und sozialer Gerechtigkeit, nicht um noch kompliziertere und noch aufwendigere Organisationen zur Verteilung des Sozialprodukts, sondern um die Möglichkeit selbständiger Lebensführung, individueller Daseinsgestaltung und höchst persönlicher Verantwortung. Die Arbeit für umfassende Bedürfnisbefriedigung, die Schaffung von Wohlstand und Sicherheit, die Ausbreitung ungeheueren Reichtums des Konsums — alles dies, was seinen positiven Sinn als Angebot zur Selbstbestimmung hat, wirkt mit an den Fesseln von Unfreiheit, wenn es den Menschen faktisch sich die Bestimmung über selbst entzieht.

Niemand wird den wirklich Hilfsbedürftigen die nötige Unterstützung versagen wollen. Aber jenseits elementarer Hilfsbedürftigkeit müssen wir doch die Frage aufnehmen, wie denn gegen anonyme Machtgebilde und bürokratische Apparaturen und gegen die Zwänge sozialstaatlicher Veranstaltung mehr Selbstverantwortung zu erreichen ist. Wie ist im gesellschaftlichen Zusammenhang heute Spielraum zu schaffen, d. h. die Möglichkeit wirklich selbst Verantwortung zu übernehmen sowohl hinsichtlich der persönlichen Lebensführung wie auch in bezug auf die allgemeinen Dinge des Gemeinwesens Wie können wir verhindern, daß Freiheit an Wirklichkeit verliert mit der Verwirklichung dessen, was ursprünglich Freiheit möglich machen sollte?

Wir haben in den vergangenen Jahren z. B. in besonders deutlicher Weise erfahren, daß Wohlstand und Wohlfahrt als solche weder Freiheit noch Glück verbürgen. Könnte es dann nicht gegenüber der Fixierung auf fortschreitende Bedürfnisbefriedigung geradezu befreiend sein, sich wirklich einmal zu fragen, was denn wäre, wenn? Wie könnte unser Leben aussehen, wenn wir uns nicht einseitig an den materiellen Gütern ausrichten würden, sondern den Inhalt des Lebens anderswo zu suchen begännen? Was müßten Staat und Gesellschaft dann z. B. nicht mehr leisten, d. h., worauf könnte verzichtet werden eben um der Freiheit des einzelnen willen? Wie soll es denn weitergehen, wenn anstelle jener Nöte und Bedrängnisse, die in früheren Zeiten aus materiellem Elend kamen, nun jenseits der Frage einer Versorgung mit den lebenswichtigen Gütern Nöte und Zwänge auftreten, die aus eben dem erreichten Wohlstand selbst sich ergeben? Könnte unser Handeln und Verhalten nicht weitreichende Anstöße empfangen schon einzig dadurch, daß wir uns endlich klarmachen, wie wir keineswegs das einzig richtige Leben leben, daß vielmehr sehr vieles auch anders sein könnte und wir selbst ganz anders wünschen und denken könnten? Möchte sich Utopie nicht vielleicht eben hier engagieren, d. h. die Konsequenzen ziehen aus der Erfahrung, daß die Verbesserung der Bedürfnisbefriedigung im materiellen Sinn die Menschen keineswegs zufriedener und freier macht, sondern sie in jenen Teufelskreis zwingt, nach dem jede Bequemlichkeit eben ihre Unbequemlichkeit zeitigt, der selbst keinen Ausweg mehr zuzulassen scheint? Müssen wir nicht richtig wünschen lernen, um dann schließlich auch jene Bedingungen zu entdecken, unter denen wir diesen Zwängen nicht mehr so hilflos ausgeliefert sind? Eine entsprechende Einübung des Denkens, das Spiel mit all dem, was anstelle der Wirklichkeit möglich wäre, schon dies könnte von der lähmenden Eingenommenheit durch die bestehenden Zwänge befreien hin auf die eigentliche Frage nach Sinn und Ziel menschlichen Lebens, von denen her sich ja nicht zuletzt auch Möglichkeiten und Aufgaben der Politik bestimmen.

Angesichts solcher Fragen, im Blick auf die problematischen und krisenträchtigen Tendenzen der bestehenden Wirklichkeit können wir uns keinen Verzicht auf Perspektiven leisten. Wir müssen die Wirklichkeit der Freiheit, das Weiterschreitenkönnen eben der Freiheit selbst gegen die die Freiheit bedrohenden Tendenzen erringen, und dazu bedarf es nicht zuletzt der Phantasie der Utopie, weil es des Spiels bedarf mit all dem, was auch sein könnte, zur Entdeckung dessen, was für die Freiheit mehr verspricht.

Wir leiden gegenwärtig gewiß nicht an einem Übermaß schöpferischer Hoffnung. Wo sind denn die Entwürfe, die uns zeigen, was aus dem Gegenwärtigen im Sinn der Freiheit werden soll? Wo gibt es Perspektiven, die uns dazu bewegen, uns auf das Morgen zu freuen? Vielleicht brauchen wir tatsächlich mehr Utopie im Sinn dieser ganz bestimmten Weise der Beschäftigung mit Wirklichkeit und Möglichkeit der Freiheit heute. Utopie könnte die Bewegung der Freiheit hin auf ihre eigene Zukunft lebendig halten, indem sie von solchem spricht, das nicht ist, das aber Mut macht, auf es hinzugehen.

So sollten wir darauf verzichten, In Sachen Freiheit Utopie und Wirklichkeit allzu einfach einander entgegenzusetzen, d. h., wir sollten uns davor hüten, das Utopische schlechthin als das Unmögliche abzutun. Manches an den utopischen Entwürfen von gestern und vorgestern erscheint uns heute als unmöglicher denn je, d. h., wir sind uns einig darin, daß es sehr viel besser ist, nicht bekommen zu haben, was da versprochen war. In vielen Fällen aber ist das Unmögliche von vorgestern gestern schon das Mögliche gewesen und heute selbstverständlich. Auch wo die Utopie von etwas sprach, was zunächst als unmöglich gelten mußte, hat sie oft geholfen, zu sehen, was wirklich möglich war, und geholfen, wenigstens dies zu verwirklichen. Auch die Utopien konnten aus unserer Erde kein Paradies machen. Aber sie haben die Welt zu einem wesentlichen Teil vorwärts gebracht. Das, worin die Menschen gerne leben, haben sie zunächst geträumt. Warum also sollte die Phantasie der Utopie nicht auch über die Berechnungen siegen können, die uns vieles so auswegslos erscheinen lassen?

Wir müssen der Gefährdung der Freiheit begegnen, die in mancher Form von Utopie deutlich zu spüren ist, aber nicht vom Utopischen als etwas an sich Gefährlichem Abschied nehmen. Vielleicht ist es die utopische Dimension, die in der Freiheit selbst für die Rettung der Freiheit vorgesehen ist.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Vgl. hierzu vom Verfasser den Artikel „Utopie" im „Handbuch Philosophischer Grundbegriffe" (hrsg. von H. Krings, H. M. Baumgartner und Ch. Wild, München 1974) und die dort angegebene Literatur.

  2. Vgl. hierzu den vollständigen Titel des Buches von Thomas Morus, das der ganzen Denkform den Namen gegeben hat: Von der besten Verfassung des Staates und der neuen Insel Utopia, 1516.

  3. Vgl. hierzu Ulrich Hommes — Joseph Ratzinger, Das Heil des Menschen, München 1975; Wilhelm Kamlah, Utopie, Eschatologie, Geschichtsteleologie. Kritische Untersuchungen zum Ursprung und zum futurischen Denken der Neuzeit, Mannheim 1969; Helmut Swoboda, Utopia. Geschichte der Sehnsucht nach einer besseren Welt, Wien 1972.

  4. Marx-Engels-Gesamtausgabe (1927 ff.) I, 2, S. 226 f.

  5. Vgl. hierzu Ulrich Hommes, Provokation der Vernunft? Herbert Marcuse und die Neue Linke, in: Aus Politik und Zeitgeschichte B 44/69, S. 3 ff.

  6. Vgl. hierzu etwa den Sammelband: Kritischer Rationalismus und Sozialdemokratie, Berlin 1975, der von G. Lührs, Th. Sarrazin, F. Spreer und M. Tietzel herausgegeben worden ist mit einem Vorwort von Helmut Schmidt (SPD). Mit großem Nachdruck stellen die Herausgeber da z. B. fest: „Die Auffassung der Utopisten, erst der Plan von der vollkommenen Gesellschaft mache rationale Reformpolitik möglich, ist nicht nur falsch, sie ist

  7. Vgl. hierzu Robert Heiss, Utopie und Revolution, München 1973, S. 153 f.: „Seit dem Zeitpunkt, zu dem das moderne utopische Denken erstmals aufgetreten ist, zeigt die Utopie diese Dialektik: Sie lief ständig der Realität voran, die Realität lief ihr nach. In ihrer naiven und ersten Form brachte die Utopie die Verheißung, sie blickte in eine goldene Zukunft. Und diese Zukunft schien vor ihrer unmittelbaren Verwirklichung zu stehen, als der reale, wissenschaftliche und technische Fortschritt erscheint. Aus der naiven und strahlenden Utopie wuchs die zweite Utopie, die der radikalen Revolution. Auch sie ist noch Träger der Hoffnung, sie bewahrt die helle Utopie des Reichs der Freiheit.Aber gleichzeitig zeigt sie ein anderes, ein aggressives Gesicht. Sie bekennt sich zur Gewalt als Geburtshelfer der Geschichte.

  8. Vgl. hierzu Ralf Dahrendorf, Die neue Freiheit, überleben und Gerechtigkeit in einer veränderten Welt, München 1975, S. 113 f.: „Die Welt ist im Wandel. Das überleben der Menschheit wird bedroht durch Übervölkerung, die Verschwendung von Rohstoffen, durch die willentlichen Waffen des Atomkrieges und die unwillentlichen der Umweltverseuchung. Die Kräfte der aufgeklärten Rationalität scheinen sich gegen ihre besten Zwecke zu wenden. Die Gerechtigkeit der sozialen Institutionen wird nicht minder bedroht durch die unkontrollierte Macht von Organisationen, Unternehmen und Bürokratien, durch entmutigende Gleichheit und ohnmächtige Teilnahme. Auch die Kräfte mündigen Staatsbürgertums scheinen sich gegen ihre besten Zwecke zu wenden. Und die von manchen angebotenen Lösungen für diese Probleme machen die Dinge nur schlimmer: der Autoritarismus einer kleinen Elite, die mit dem überleben zugleich Ruhe und Ordnung sichern soll, aber sonst nichts bewirkt, der Egalitarismus einer tyrannischen Mehrheit, für die Gerechtigkeit nur heißt, daß niemand anders sein darf als sein Nachbar. Der Preis dieser Fehler ist die Freiheit, und er ist zu hoch; denn Freiheit allein gibt dem überleben und der Gerechtigkeit ihren Sinn.

  9. Werke, hrsg. von H. Friedemann u. a., 2. Auflage 1927, 11. Teil, S. 252.

  10. Vgl. hierzu die Erläuterung bei Robert Musil, Der Mann ohne Eigenschaften, Hamburg 1952, S. 246: „Utopien bedeuten ungefähr so viel wie Möglichkeiten; darin, daß eine Möglichkeit nicht Wirklichkeit ist, drückt sich nichts anderes aus, als daß die Umstände, mit denen sie gegenwärtig verflochten ist, sie daran hindern, denn andernfalls wäre sie ja nur eine Unmöglichkeit; löst man sie nun aus ihrer Bindung und gewährt ihr Entwicklung, so entsteht die Utopie. Es ist ein ähnlicher Vorgang, wie wenn ein Forscher die Veränderung eines Elements in einer zusammengesetzten Erscheinung betrachtet und daraus seine Folgerungen zieht; Utopie bedeutet das Experiment, worin die mögliche Veränderung eines Elements und die Wirkungen beobachtet werden, die sie in jener zusammengesetzten Erscheinung hervorrufen würde, die wir Leben nennen.“

  11. Vgl. hierzu Herbert Marcuse, Befreiung von der Überflußgesellschaft, in: Kursbuch 16/1969, S. 186 f.: „Wenn diese wesentlichen, wahrhaft radikalen Grundzüge, die eine sozialistische Gesellschaft zur förmlichen Negation der bestehenden Gesellschaften machen, wenn dieser qualitative Unterschied heute als utopisch erscheint, dann ist das genau die Form, in der diese radikalen Grundzüge erscheinen müssen, insofern sie wirklich eine entscheidende Negation der bestehenden Gesellschaft darstellen, — das heißt insofern der Sozialismus tatsächlich die Sprengung der Geschichte, der radikale Bruch, der Sprung in das Reich der Freiheit, also etwas völlig Neues ist.“ Vgl. hierzu weiter: Das Ende der Utopie, in: Psychoanalyse und Politik, Frankfurt 1968, S. 69 ff.

  12. Vgl. hierzu Ulrich Hommes, Entfremdung und

  13. Vgl. hierzu Karl Popper, Utopie und Gewalt, in: Utopie, hrsg. von A. Neusüss, Neuwied 1968, S. 313 ff.): „Gerade diese Auffassung bin ich geneigt, Utopismus zu nennen: daß allen rationalen und uneigennützigen politischen Aktionen eine Bestimmung unserer Endziele vorausgehen muß, nicht allein der Zwischen-und Teilziele, die nur Schritte in Richtung Endziel sind und darum eher als Mittel denn als Ziele aufgefaßt werden sollten. Es ist die Auffassung, daß eine rationale politische Aktion deshalb auf einer mehr oder weniger ausführlichen Beschreibung oder einer Grundskizze unseres Idealstaates beruhen muß, und auch auf einem Plan des Weges, der in die entsprechende Richtung führt. Ich betrachte diese Auffassung als gefährlich und unheilvoll. Sie widerlegt sich meiner Ansicht nach selbst und sie führt zur Gewalt ... Der Zauber, den die Zukunft auf den Utopisten ausübt, hat nichts mit rationaler Voraussicht zu tun. In diesem Lichte ähnelt die Gewalt, die der Utopismus hervorruft, sehr dem Amoklauf einer evolutionistischen Metaphysik oder einer hysterischen Geschichtsphilosophie, darauf erpicht, die Gegenwart zu opfern für den hellen Klang einer Zukunft, der Tatsache nicht bewußt, daß ihr Prinzip dazu führen müßte, eine jede künftige Periode der ihr folgenden zu opfern, ebenso wenig im Bewußtsein der trivialen Wahrheit, daß die endgültige Zukunft des Menschen - was immer sein Schicksal sein mag - nichts Glanzvolleres sein kann als sein endgültiges Aussterben."

  14. Vgl. hierzu Helmut Schelsky, Der Mensch In der wissenschaftlichen Zivilisation, Köln 1961: „Der Sachzwang der technischen Mittel, die unter der Maxime einer optimalen Funktions-und Leistungsfähigkeit bedient sein wollen, enthebt von den Sinnfragen nach dem Wesen des Staates. Die moderne Technik bedarf keiner Legitimität; mit ihr . herrscht'man, weil sie funktioniert und solange sie optimal funktioniert. Sie bedarf auch keiner anderen Entscheidungen als der nach technischen Prinzipien; Staatsmann ist daher gar nicht Entscheidender oder Herrschender, sondern Analytiker, Konstrukteur, Planender, Verwirklichender. Politik im Sinne der normativen Willensbildung fällt aus diesem Raume eigentlich prinzipiell aus, sie sinkt auf den Rang eines Hilfsmittels für Unvollkommenheiten des technischen Staates herab."

  15. Wenn in diesem Zusammenhang hier von Utopie die Rede ist und damit Entwürfe von Bildern gemeint sind, die uns positiv sagen, in welche Richtung zu gehen ist, unterscheidet sich dies ganz grundsätzlich von der Art und Weise, wie z. B. Theodor W. Adorno den Utopiebegriff als Antwort auf die skizzierte Entwicklung verwendet. Für Adorno bezieht sich Utopie nicht nur auf die Negativität des Bestehenden, der Utopiebegriff ist vielmehr in sich selbst wesentlich negativ. Wie die „Negative Dialektik" (Frankfurt 1966) zeigt, muß das Denken jegliches Moment von Positivität aus sich ausscheiden, wenn es die Stelle dessen vertreten will, was anders sein könnte; es vermag im Wirklichen nichts zu entdecken, das über die Negativität des Bestehenden hinausführen könnte und Hoffnung begründen würde. In einem Vortrag „Zum Verhältnis von Individuum und Gesellschaft heute“ hat Adorno 1957 gesagt: „Wir können den Wahnsinn wahrnehmen, der darin besteht, daß

  16. Vgl. hierzu bei Jacob Burckhardt in den „Weltgeschichtlichen Betrachtungen" (1868/70) das Kapitel über „Die geschichtlichen Krisen". Neben harter Kritik am Vandalismus der Revolution ist da freilich auch einiges „zum Lobe der Krisen" auf den Begriff gebracht: „Die Leidenschaft ist die Mutter großer Dinge, d. h. die wirkliche Leidenschaft, die etwas Neues und nicht nur das Umstürzen des Alten will. Ungeahnte Kräfte werden in den einzelnen und in den Massen wach, und auch der Himmel hat einen anderen Ton. Was etwas ist, kann sich geltend machen, well die Schranken zu Boden gerannt sind oder eben werden. ...

  17. Vgl. hierzu Ulrich Hommes, Auf der Suche nach dem Subjekt der Geschichte, in: Studia Philosophica, Basel 1972/XXXII, S. 115 ff., sowie Hermann Lübbe, Theorie und Entscheidung. Studien zum Primat der Praktischen Vernunft, Freiburg 1971.

  18. Vgl. hierzu Helmut Schelsky, Der selbständige und der betreute Mensch, Stuttgart 1976.

  19. Natürlich kann es sein, daß unter den angedeuteten Tendenzen und Zusammenhängen das Verständnis von Freiheit sich in der anderen Richtung entwickelt und am Ende tatsächlich gerade als Freiheit empfunden werden wird, vom eigenen Einsatz und der eigenen Entscheidung entbunden zu sein. Es wäre töricht zu übersehen, daß sich viele unserer Zeitgenossen überaus gerne abnehmen lassen, was Anstrengung verlangt, und sich in der entsprechenden Betreuung durchaus wohl zu fühlen scheinen. Es lebt sich beguemer, wo man nicht herausgefordert ist, nicht selber denken und selber handeln muß, sondern alles los ist, was mit Verantwortung zu tun hat. Sollte dies tatsächlich die allgemeine Entwicklung werden, wie das gelegentlich vorhergesagt wird, würden wir mit unserem Verständnis von Freiheit hier allenfalls in ein Gefecht der Nachhut ziehen. Keiner von uns aber ist ein Prophet, und deshalb sollten unsere Analysen des Gegenwärtigen — gerade wo sie krisenträchtige Tendenzen betonen — sich vom Anspruch freihalten, Prozesse zu beschreiben, die ablaufen, als folgten sie festliegenden Gesetzen der Natur. Letztlich können wir wohl nur von dem her, was uns heute das Leben lebenswert macht, an das Morgen denken und für das Morgen wirken.

  20. In Diderot's Nachtrag zur utopischen Erzählung von „Bougainville’s Reise“ ruft der alte Mann zum Schluß: „Sind wir verachtenswert, weil wir es nicht verstanden haben, uns überflüssige Bedürfnisse zu schaffen? ... Treibe die Annehmlichkeiten des Lebens, wie du es nennst, so weit du willst; aber erlaube vernünftigen Wesen inne zu halten, wenn sie merken, daß ihnen bei Fortsetzung ihrer mühevollen Anstrengungen nur Scheingüter zuteil würden." Nicht alle gegenwärtigen Probleme sind also ganz neul

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