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Östliche Entspannungspolitik zwischen Zusammenarbeit und Abgrenzung | APuZ 19/1977 | bpb.de

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APuZ 19/1977 Sozialistische Außenpolitik oder Außenpolitik der DDR? Zu einigen Grundfragen der DDR-Außenpolitik Östliche Entspannungspolitik zwischen Zusammenarbeit und Abgrenzung

Östliche Entspannungspolitik zwischen Zusammenarbeit und Abgrenzung

Gerhard Wettig

/ 14 Minuten zu lesen

Zusammenfassung

Die Analyse gilt dem paradoxen Sachverhalt, daß nach Absicht der sowjetischen Führung und ihrer Verbündeten die Ost-West-Entspannung zugleich Zusammenarbeit und Zusammenarbeitsverweigerung (durch Abgrenzung) zum Inhalt haben soll. Das Problem wird zunächst in seiner Behandlung durch politologische Theoretiker dargestellt und anschließend empirisch untersucht. Die Ergebnisse der Analysen lauten: 1. Innerhalb der „sozialistischen Gemeinschaft" bestehen im Blick auf die Entspannung oft einander widerstreitende Tendenzen. Die Abgrenzungspolitik hat oft mehr die Funktion, der Emanzipation von gesellschaftlichen Kräften im eigenen Land entgegenzuwirken als dem Eindringen fremdbestimmender Einflüsse aus dem Westen zu wehren. 2. Die östliche Abgrenzungspolitik läßt sich nicht mehr ohne jede Rücksicht auf Erfordernisse der zwischenstaatlichen Zusammenarbeit mit dem Westen praktizieren. Es bestehen also, wenn auch nur in sehr begrenztem Umfang, Abgrenzungshemmnisse. Dabei bleiben jedoch Abgrenzungsbedürfnisse unverändert bestehen. Aus diesem Widerspruch erklärt sich, warum Tendenzen zu vermehrter und zu verminderter Abgrenzung nebeneinander bestehen. 3. Die Zusammenarbeit mit dem Westen hat für die östlichen Führungen wesentlich auch den Zweck, zu Problemlösungen beizutragen, die sich innenpolitisch positiv auswirken. Daher ist eine vermehrte Ost-West-Zusammenarbeit nicht notwendigerweise mit vermehrter Abgrenzung gegenüber dem Westen verbunden. Ob der vorherrschende Trend in Richtung von mehr oder weniger Abgrenzung gehen wird, hängt von der Steuerung des Entspannungsprozesses ab. Auf diese Steuerung haben die westlichen Länder einen entscheidenden Einfluß.

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Im Bück auf die Entspannungspolitik der Sowjetunion und ihrer Verbündeten springt ein Paradox ins Auge, daß nämlich gegenüber den westlichen Ländern zugleich Zusammenarbeit und Abgrenzung betrieben werden.

„Zusammenarbeit" wird verstanden als ein Zusammenwirken zwischen mehreren Seiten, die ihre jeweiligen Zwecke nur zusammen erreichen. Wie Thomas Schelling und, ihm folgend, Lothar Brock dargelegt haben, impliziert eine derartige Zusammenarbeit nicht nur ein kooperatives Verhältnis des Einvernehmens, sondern auch ein gegensätzliches Verhältnis des Konflikts. Die gemeinschaftliche Problemlösung schließt also nicht aus, daß die Kooperierenden unterschiedliche Endzwecke verfolgen oder über die Aneignung der gemeinsam erworbenen Vorteile in Streit miteinander geraten. „Abgrenzung" dagegen bezeichnet ein Stadium des Konflikts, welches das Zusammenwirken unmöglich macht. Die Mitwirkung der anderen Seite erscheint unerträglich und wird daher bekämpft. Man verfolgt seine Zwecke allein und in antagonistischem Vorgehen gegenüber der anderen Seite; man entscheidet sich für ein isoliertes Handeln. In den Ländern des sowjetischen Machtbereichs ist das Gegeneinander der Abgrenzung darüber hinaus mit dem Gebot verbunden, daß die eigene Gesellschaft den Kontakt und den Dialog mit der anderen Seite zu meiden hat. Abgrenzungspolitik ist daher in diesem Verständnis zugleich Abschirmungspolitik.

Auf der Basis dieser begrifflichen Vorklärungen läßt sich die Fragestellung klar umreißen: Aus welchen Gründen und in welcher Weise wird in der östlichen Politik die Mitwirkung der westlichen Länder zugleich angestrebt und ausgeschlossen?

Der paradoxe Sachverhalt soll zuerst von der theoretischen Selbstdeutung her beleuchtet werden, welche die Sowjetunion und ihre Verbündeten ihrer Entspannungspolitik mit der Doktrin der „friedlichen Koexistenz" und den dazugehörigen Thesen geben. Im Blick auf das Problem sind vor allem zwei Punkte wichtig:

1. Die begrenzte Zusammenarbeit im zwischenstaatlichen Bereich, d. h. zwischen den Staats-und Wirtschaftsapparaten, soll strikt getrennt bleiben von der unbegrenzten Auseinandersetzung im gesellschaftlichen Bereich, besonders vom „ideologischen Kampf", also von dem Ringen um die Loyalität der Bevölkerung und um den bestimmenden Einfluß in den innerstaatlichen Apparaten. Michail Suslov hat darauf hingewiesen, daß der „ideologische Kampf" nur zwischen den Gesellschaften von Ost und West und innerhalb der westlichen Gesellschaften ausgetragen werden dürfe. Keinesfalls jedoch soll er innerhalb östlicher Gesellschaften stattfinden

2. Ungeachtet der vorgesehenen Trennung zwischen beiden Bereichen fürchten die östlichen Führungen stets mögliche Ausweitungseffekte der zwischenstaatlichen Zusammenarbeit auf die gesellschaftliche Ebene. Die These, daß sich mit fortschreitender Entspannung der „ideologische Kampf" nicht abschwäche, sondern im Gegenteil verschärfe zielt auf das Kontern derartiger Tendenzen ab: Die vermehrte Zusammenarbeit auf der zwischenstaatlichen Ebene, so lautet die darin enthaltene operative Aussage, müsse durch vermehrte Gegenmaßnahmen im gesellschaftlichen Bereich kompensiert und eingedämmt werden. Diese Logik beruht auf der Prämisse, daß die Systeme des Ostens und des Westens unabänderlich antagonistisch seien und daß daher Schaden zu befürchten stehe, wenn die beiden Gesellschaften direkt aufeinanderstießen (wenn also die intersystemare Berührung nicht durch die Lenkungsapparate dämpfend vermittelt werde).

II.

Politische Theorien sind bei Marxisten-Leninisten keine rein akademischen Deutungsversuche von Sachverhalten. Gemäß dem Prinzip der Einheit von Theorie und Praxis handelt es sich immer zugleich um Anleitungen zum Handeln. Die Analyse dessen, wie der Entspannungsprozeß gesetzmäßig verlaufe, sagt also etwas darüber aus, wie er nach Absicht der östlichen Führungen verlaufen sollte. Im Blick darauf läßt sich fragen, ob der Entspannungsprozeß tatsächlich so verläuft wie vorgesehen. Westliche Politikwissenschaftler haben diese Frage gegensätzlich beantwortet. Die eine Schule ist — mit Unterschieden im einzelnen — grundsätzlich genau so wie die östlichen Theoretiker der Auffassung, daß die östliche Abgrenzungspolitik ein notwendiges Korrelat der Ost-West-Zusammenarbeit sei. Demgegenüber glaubt die andere Schule, daß — zumindest auf längere Sicht hin — Zusammenarbeit und Abgrenzung sich wechselseitig ausschlössen, weil nur entweder das eine oder das andere Prinzip gelten könne.

Am vollständigsten stimmt mit der östlichen Doktrin Wilfried von Bredow überein. Ja, er akzentuiert die östliche Auffassung noch durch die These, daß der Systemantagonismus bei jedem einzelnen Akt der Zusammenarbeit das Leitprinzip darstelle: Nur soweit jede Seite die andere zu Übervorteilen glaube, könne überhaupt Zusammenarbeit stattfinden Bernard Willms sieht das Ost-West-Verhältnis unter dem mehr philosophischen Blickwinkel einer dialektischen Gegensatzbeziehung zwischen den Prinzipien des „Kapitalismus“ und des „Sozialismus". Folglich nimmt er an, daß beides sich wechselseitig negiere, d. h. auf die Vernichtung der jeweiligen anderen Seite aus sei. Wenn nun mittlerweile objektive Erfordernisse der Zusammenarbeit entstanden sind, können diese nur so weit zur Geltung kommen, wie beide Seiten einander das Recht zubilligen, den potentiell systemvernichtenden Einfluß des Gegenüber abzublocken Auch

Lothar Brock und Hanns-Dieter Jacobsen sehen die Abgrenzungspolitik als unerläßlich für die östlichen Führungen an, wenn diese sich bedrohlicher innenpolitischer Folgen der Ost-West-Zusammenarbeit erwehren wollen

Optimistische Entspannungsbefürworter haben eine Gegenauffassung formuliert. Gemeinsam ist allen die Überzeugung, daß die Entspannung unteilbar sei und daß daher langfristig die Zusammenarbeit in einem Bereich nicht möglich sei, wenn es daneben in anderen Bereichen die Verweigerung von Zusammenarbeit gebe. Besonders ausgeprägt ist diese Überzeugung in der neofunktionalistischen Theorie, die Gerda Zellentin von der westeuropäischen Integration auf die Ost-West-Beziehungen übertragen hat Diese Auffassung findet sich in der Literatur aber auch ohne eine nähere theoretische Begründung. So glaubte Peter Bender 1968 voraussagen zu können, daß, wenn die Bundesregierung ein normales und kooperatives Verhältnis zur DDR-Führung anbahne, diese mit der Bereitschaft zur Öffnung ihrer Gesellschaft gegenüber Westdeutschland reagieren werde. Die Vertrauensbildung zwischen den Führungskreisen sollte notwendigerweise eine Annäherung der Gesellschaften nach sich ziehen Eine ähnliche Logik vertritt Helga Haftendorn. Sie meint, daß zwischen Ost und West generell eine kooperative Beziehung entstanden sei und schließt daraus, daß die Abgrenzungspolitik der DDR unhaltbar werden müsse Die Prämisse derartiger Argumentationen ist, daß nicht ein Antagonismus, sondern eine latente Konvergenz der Interessen das Ost-West-Verhältnis bestimme. Demzufolge komme es nur darauf an, die bisher nicht aktualisierten Gemeinsamkeiten zum Tragen zu bringen. Der bisherige Entspannungsverlauf scheint solchen Hoffnungen wenig zu entsprechen. Die Vermutung der größeren Realitätsnähe liegt daher bei den Theorien, nach denen sich Zusammenarbeit nicht ohne gleichzeitige Abgrenzung praktizieren läßt. Die Begründung für diese These lautet, daß die Zusammenarbeit mit dem Westen für die östlichen Führungen das Problem mit sich bringe, daß westliche Einflüsse die östlichen Gesellschaften penetrierten. Unter „Penetration" wird hier — anders als bei James Rosenau — das Eindringen systemgefährdender Wirkungen von außen verstanden, welche die Selbstbestimmung einer Gesellschaft durch Fremdbestimmung zu ersetzen drohen. Westliche Reisende in östlichen Ländern, so heißt es beispielsweise, könnten gewollt oder ungewollt als Propagandisten westlicher Lebensformen auftreten; die Zusammenarbeit zwischen westlichen und östlichen Betrieben könne im Osten zur Ausbildung einzelbetrieblicher Egoismen führen, welche die staatliche Wirtschaftsplanung und das staatliche Außenhandelsmonopol beeinträchtigten.

Gegen eine generelle Vermutung von westlichen Penetrationen im Osten hat freilich Lothar Brock eine Warnung ausgesprochen: Nicht immer, wenn östliche Abgrenzungsmaßnahmen mit Hinweisen auf westliche „Subversion" begründet würden, gehe es auch tatsächlich um die Abwehr von fremdbestimmenden Einwirkungen. Daraus folgt die kritische Frage: Benutzen die östlichen Führungen die Penetrationsthese nicht vielfach nur zu dem Zweck, ein Versagen ihrer Gesellschaftspolitik dem Westen anzulasten und dann die in Wirklichkeit hausgemachten gesellschaftlichen Spannungen mit Hilfe einer angeblichen Abgrenzungspolitik zu unterdrücken? Mit anderen Worten: Ist das, was als Abgrenzungspolitik präsentiert wird, in Wahrheit oft nicht eine Repressionspolitik, die sich gegen eigenständige Entwicklungstendenzen der östlichen Gesellschaften richtet? Aus diesen Überlegungen erwächst die Forderung, es müsse in jedem Einzelfalle geprüft werden, ob Abgrenzungsmaßnahmen tatsächlich Reaktionen auf systembedrohende Folgen der Ost-West-Zusammenarbeit darstellten

III.

Damit ist ein neuer Problemhorizont aufgerissen: Den westlichen Kooperationspartnern steht auf der östlichen Seite nicht mehr notwendigerweise der „Sozialismus" oder die „sozialistische Gemeinschaft“ als einheitliches, geschlossenes Ganzes gegenüber. Es kann vielmehr Differenzierungen geben. Neben den Führungen können gesellschaftliche Gruppen stehen, die sowohl gegenüber der jeweiligen Führung als auch untereinander unterschiedliche Interessen und Auffassungen vertreten.

Diese Sicht der Dinge bestätigt sich in der politischen Realität. Zu verschiedenen Zeiten und in verschiedenen Ländern hat es im Osten Tendenzen gegeben, welche die offiziell verordnete Geschlossenheit durchbrochen haben und daher von den Führungen als bedrohlich empfunden worden sind. Wenn dann die Rede von westlicher Penetration gewesen ist, dann diente dies zwar der Diskreditierung und der Bekämpfung der betreffenden unerwünschten Entwicklungen, sagte aber meist wenig über die tatsächlichen Zusammenhänge aus. Die westlichen Einwirkungsmöglichkeiten in den osteuropäischen Gesellschaften sind außerordentlich begrenzt — vor allem, wenn man sie mit dem Einfluß vergleicht, dessen sich die kommunistischen Führungen in den jeweiligen Ländern bedienen können. Oft läßt es sich auch nachweisen, daß aus dem Westen keine klare oder gar gezielte Einflußnahme erfolgt ist, und schon gar nicht im Sinne einer politischen Mobilisierung und Organisierung.

Die reformkommunistischen Tendenzen in der Tschechoslowakei gingen wesentlich auf einheimische Wurzeln zurück. Auch die gesellschaftliche Bewegung, die gegenwärtig in verschiedenen osteuropäischen Ländern zu beobachten ist, läßt sich nicht auf westliche Propaganda oder gar westliche Nötigung zurückführen. Vielmehr sind durch die Schlußakte der KSZE und auch durch die Plädoyers einzelner kommunistischer Westparteien auf der Ost-Berliner Konferenz Erwartungen geweckt worden. Wie aus einer Studie von Sergej Voronicyn hervorgeht, hat in der Sowjetunion die amtliche Schulungskampagne, die der Bevölkerung das KSZE-Ergebnis als einen Erfolg, ja als einen Durchbruch der sowjetischen Entspannungspolitik nahebringen soll-11) te, sehr wesentlich zu der Aufmerksamkeit beigetragen, welche die Bestimmungen des „Korbes 3" in breiten Kreisen der Gesellschaft gefunden haben In derartigen Fällen ist deutlich, daß es nur die Wünsche und Bedürfnisse einheimischer Kräfte sein können, welche die Resonanz und damit die Bewegung hervorgebracht haben.

Was die östlichen Führungen als westliche Penetration ansprechen, muß allerdings praktisch als solche zwischen Ost und West erörtert werden. Das bedeutet jedoch nicht, daß die mit der Penetrationsthese begründete Politik darum auch schon notwendigerweise gegenüber dem Westen durchgesetzt würde. Es könnte ja sein, daß die Zusammenarbeit mit dem Westen auch an diesem Punkt Rücksichten auf den Westen erfordert. Daher die Frage: Läßt sich so, wie das östliche Konzept es vorsieht, die Abgrenzung gegenüber dem Westen völlig unbeeinträchtigt von der Zusammenarbeit mit dem Westen praktizieren? Oder zieht die Zusammenarbeit im zwischenstaatlichen Bereich auch gegen den Wunsch der östlichen Führungen allmählich kooperative Konsequenzen im gesellschaftlichen Bereich nach sich?

Bei den Verhandlungen über die Normalisierungsverträge der Jahre 1970 bis 1972 und über die Schlußakte der KSZE haben die östlichen Regierungen versucht, die Erörterungen von vornherein auf zwischenstaatliche Probleme zu beschränken. Die Fragen des zwischenmenschlichen Kontakts, der zwischengesellschaftlichen Verbindungen und der grenzüberschreitenden Information sollten völlig ausgeklammert bleiben. Das ist nicht gelungen. Daraufhin haben sich die östlichen Regierungen bemüht, von den westlichen Ländern hinsichtlich der gesellschaftlichen Berührungen Wohlverhaltens-und Überwachungsgarantien zu erlangen. Auch das hat sich nicht durchsetzen lassen. Die „menschlichen Erleichterungen" im Berlin-Abkommen und in den Vereinbarungen zwischen beiden deutschen Staaten enthalten ebenso wenig wie das Kapitel „Zusammenarbeit in humanitären und anderen Bereichen" der KSZE-Schlußakte irgendeine Klausel, welche die westliche Seite zu einer Befriedigung östlicher Kontrollforderungen verpflichten würde. Die östliche Abgrenzungspolitik hat, wenn auch nur sehr begrenzt, Einschränkungen erfahren. Das ist auch grundsätzlich von großer Bedeutung: Die Fragen der Abgrenzung sind nämlich auf diese Art international zum Verhandlungsgegenstand geworden; die Einhaltung der östlicherseits übernommenen Pflichten kann angemahnt werden, ohne daß dagegen mit dem Argument der Nichteinmischung Einspruch erhoben werden kann.

Das hat bedeutsame Folgen für die War-schauer-Pakt-Staaten. Die innenpolitische Handlungsfreiheit der Führungen ist verringert, auch wenn das nur marginale Bereiche zu betreffen scheint. Die Regime des sowjetischen Machtbereichs reagieren darauf mit einem zweifachen Bemühen: Zum einen suchen sie die zwischenstaatlich festgelegten Regelungen durch innerstaatlich-administrative Gegenmaßnahmen zu kontern und so wenigstens teilweise zu entwerten (vor allem die SED-Führung); zum anderen werden die zwischenstaatlich ausgehandelten Maßregeln so interpretiert und angewendet, daß möglichst wenig reale Veränderungen daraus resultieren (so vor allem in bezug auf die KSZE-Schlußakte).

Derartigen Praktiken liegt die Prämisse zugrunde, daß die Apparate von Partei und Staat die innenpolitische Situation voll kontrollierten - und daher innenpolitische Pra xis nach Belieben manipulieren könnten. Dieses Kalkül läßt einen entscheidenden Faktor außer Betracht: nämlich die psychologischen Rückwirkungen der zwischenstaatlichen Vorgänge auf breite Kreise der Bevölkerung. Es sind Erwartungen geweckt worden, welche die Führungen nicht erfüllen wollen. Ermutigt durch die zwischenstaatlichen Entwicklungen zwischen Ost und West, regen sich in den östlichen Gesellschaften Bedürfnisse außerhalb des von oben vorgesehenen Rahmens. Natürlich können die Führungen eine Erfüllung der Hoffnungen verweigern. Wichtig jedoch ist, daß sie die Erwartungen nicht beliebig manipulieren können. Vielfache Dämpfungsversuche sind fehlgeschlagen. Die Enttäuschung von weiter gehegten Erwartungen aber hat einen politischen Preis. Gesellschaftliche Gruppen, die ihre für berechtigt gehaltenen Vorstellungen getäuscht sehen, reagieren mit Ressentiments gegenüber dem Regime.

Auch in außenpolitischer Hinsicht ergeben sich Hemmnisse für die innenpolitische Handlungsfreiheit der östlichen Führungen. Die Entspannungspolitik der Sowjetunion und ihrer Verbündeten hat zur Voraussetzung, daß der Entspannungswille für die Regierungen und die Öffentlichkeit im Westen glaubwür-dig ist und bleibt. Wenn nun innenpolitische Repressionsmaßnahmen innerhalb des sowjetischen Machtbereichs zu negativem Aufsehen im Westen führen und als entspannungswidrig gelten, beeinträchtigt dies die mit dem Entspannungsprinzip operierende sowjetische Westpolitik.. Wie sich gezeigt hat, hat sich in Einzelfällen die sowjetische Führung im Interesse ihres Entspannungsrufes zu innenpolitischen Korrekturen genötigt gesehen. Das schließt freilich nicht aus, daß an anderer Stelle, auf die sich westliche Aufmerksamkeit nicht richtet, gleichzeitig erhebliche Verschärfungen eintreten.

IV.

Die Abgrenzungsfähigkeit der östlichen Führungen unterliegt also Komplikationen. Das aber bedeutet nicht notwendigerweise, daß auch ihr Abgrenzungsbedürfnis abnehmen würde. Daher muß die These, daß proportional zum Ausmaß der Ost-West-Zusammenarbeit auch das offizielle östliche Abgrenzungsbedürfnis wachsen müsse, untersucht werden. Es ist daher zu fragen: Ist die Zusammenarbeit mit dem Westen notwendigerweise für die östlichen Führungen mit innenpolitischen Herausforderungen verbunden? Oder kann die Zusammenarbeit mit dem Westen auch innenpolitische Wirkungen nach sich ziehen, die den östlichen Machthabern willkommen sind?

Der Blick richtet sich in diesem Kontext zunächst auf die Wirtschaftsprobleme. Dem östlichen Wirtschaftssystem ist eine technische Innovationsschwäche eigen Außerdem besteht im zivilen Produktionssektor ein chronischer Mangel an Investitionskapital. Den östlichen Führungen stehen eigene Abhilfemöglichkeiten zu Gebote: Sie könnten mit Wirtschaftsreformen die Eigenverantwortung und das Eigeninteresse der Produzenten an der Produktionseffizienz steigern; eine Verlagerung finanzieller aus Mittel militärischen dem Sektor in die Zivilwirtschaft könnte Geldmittel freisetzen. Beides aber erscheint der sowjetischen Führung unannehmbar. Statt dessen wählt sie den Ausweg, technisches Knowhow und Kredite aus dem Westen zu beschaffen. Dieser Ausweg ist nicht nur wirtschaftspolitisch wichtig; er hat auch erhebliche innenpolitische Bedeutung.

Die östlichen Führungen sehen sich seit langem mit der Erwartung der Bevölkerung konfrontiert, daß der Lebensstandard allmählich steigen müsse. Nur wenn sie diesen Erwartungen in gewissem Umfange entsprechen, können sie ihre Machtposition und die Herrschaftsstrukturen auf die Dauer vor der eigenen Öffentlichkeit legitimieren. Die zwischenstaatliche Zusammenarbeit mit dem Westen hat also für die östlichen Führungen durchaus eine positive innenpolitische Funktion. Das gilt auch noch in weiterer Hinsicht: Die Erfahrungen des Zweiten Weltkrieges haben die Bevölkerung der Sowjetunion und anderer osteuropäischer Länder an der Wahrung des Friedens außerordentlich interessiert gemacht. Die östlichen Führungen können sich also durch eine Politik, welche die Spannungen mit dem Westen verringert und damit auch mögliche Kriegsgefahren eindämmt, Zustimmung im eigenen Lande verschaffen. Die östlichen Verlautbarungen lassen dieses auch innenpolitisch motivierte positive Interesse an einer begrenzten zwischenstaatlichen Zusammenarbeit mit dem Westen sehr deutlich werden. Die zwischen Entschärfung direkter -staatlicher Spannungen mit NATO-Ländern, der Rüstungskontroll-Dialog mit westlichen Regierungen und die wirtschaftliche Zusammenarbeit mit dem Westen werden auf der Erfolgsseite verbucht. Problematisch erscheint lediglich der Aspekt der zwischengesellschaftlichen Verbindungen; sie sollen möglichst nicht in den Entspannungsprozeß einbezogen werden Die östliche Abgrenzungspolitik, ist ein Reflex der Tatsache, daß in den kommunistisch regierten Ländern untergründige Spannungen herrschen, die das Regime im Interesse der ideologisch postulierten gesellschaftlichen Geschlossenheit und im Interesse seiner uneingeschränkten Herrschaft unterdrückt. Abgrenzung erscheint aus dieser Sicht heraus notwendig, um einheimische Emanzipationskräfte, die entweder nur sekundär Kontakt zur westlichen Welt gefunden haben oder aber vielfach überhaupt nicht mit dem Westen verbunden sind, verteufeln und aburteilen zu können. Je mehr Ost-West-Berührungsflächen durch die zwischenstaatliche Zusammenarbeit geschaffen werden, desto mehr wachsen tendenziell die Empfindlichkeit und das Mißtrauen der meisten sowjetkommunistischen Führungen hinsichtlich möglicher Erosionsentwicklungen im eigenen Lager. Gleichzeitig jedoch bieten sich einer westlichen Entspannungspolitik, die sich gegen die östlicherseits angestrebte Trennung von zwischenstaatlicher Zusammenarbeit und gesellschaftlicher Abgrenzung wendet, vermehrte Erfolgsaussichten. Das Ergebnis ist, daß die östlichen Führungen zwar einerseits oft die Repression im Inneren verstärken, andererseits aber zunehmend zu partiellen Rücksichtnahmen auf Erfordernisse der Westkooperation genötigt sind.

Die Beharrlichkeit und das Geschick, mit dem die westlichen Akteure dem östlichen Ansinnen entgegenwirken, daß jeweils nach Maßgabe des östlichen Vorteils (und weithin zugleich westlichen Nachteils) Zusammenarbeit oder Abgrenzung praktiziert werden müsse, wird darüber entscheiden, ob sich im sowjetischen Lager die Tendenz zu mehr oder zu weniger Abgrenzung bzw. Repression durchsetzt. Die Ost-West-Auseinandersetzung geht — was immer die östliche Propaganda verschleiernd zu suggerieren sucht — nicht um das Daß, sondern um das Wie der Entspannung: Beide Seiten haben sich so weitgehend auf die Entspannung eingerichtet, daß — außerhalb des hypothetischen Falles einer Krise von gewaltigen Ausmaßen — ein völliges Abgehen von den bisher etablierten Beziehungsstrukturen wenig wahrscheinlich ist. Die Spielregeln der Entspannung jedoch sind flexibel und werden durch das Zusammenwirken der Verhaltensmuster auf beiden Seiten konstituiert. Nur Spielregeln, die nicht einseitig begünstigen, enthalten die Chance in sich, daß es zu ausgewogenem Interessenausgleich kommt und daß militante Verhaltensformen keinen Bonus erbringen. Auf dieser Basis allein erscheint ein Lernprozeß auf lange Sicht hin denkbar, der die gegenwärtige begrenzte und teilweise Entspannung allmählich durch Schritte auf eine wirkliche Friedensordnung hin ablösen könnte.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Thomas Schelling, The Strategy of Conflict, New York 1963.

  2. Lothar Brock, Problemlösung und Interessenpolitik. Friedenspolitische Funktionen einer gesamteuropäischen Zusammenarbeit, in: Friedensforschung — Entscheidungshilfe gegen Gewalt, hrsg. von Manfred Funke, München 1975, S. 288— 290.

  3. Rede von Michail Suslov am 13. 7. 1973, in: Pravda, 14. 7. 1973.

  4. Rede von Leonid Breshnev am 29. 3. 1968, in: Pravda, 30. 3. 1968.

  5. Wilfried von Bredow, Antagonistische Kooperation als Form der Systemkonkurrenz, in: Friedens-forschung, a. a. O., S. 315— 319; Wilfried von Bredow, Zur Bedeutung des Prinzips der Abgrenzung in der Theorie der Friedlichen Koexistenz, in: Annäherung, Abgrenzung und friedlicher Wandel in Europa, hrsg. von Gerda Zellentin, Veröffentlichungen der Deutschen Gesellschaft für Friedens-und Konfliktforschung e. V., Bd. 2, Boppard 1976, S. 157— 160.

  6. Bernard Willms, Zur Dialektik von Kooperation und Abgrenzung im Entspannungsprozeß zwischen Ost und West, in: Annäherung, a. a. O., S. 74— 76.

  7. Hanns-Dieter Jacobsen, Kooperation und Abgrenzung in den wirtschaftlichen Beziehungen zwischen Ost-und Westeuropa, in: Annäherung, a. a. O., S. 438; Lothar Brock, Möglichkeiten und Grenzen einer konstruktiven Abgrenzungspolitik in den intersystemaren Beziehungen, in: Annäherung, a. a. O., S. 198— 201.

  8. Gerda Zellentin, Intersystemare Beziehungen in Europa, Leyden 1970.

  9. Peter Bender, Zehn Thesen für die Anerkennung der DDR, Frankfurt/M. 1968, S. 58— 60, 83— 91.

  10. Helga Haftendorn, Bedingungen einer Politik der Entspannung, in: Friedensforschung, a. a. O., S. 241— 243.

  11. Lothar Brock, Möglichkeiten, a. a. O., S. 209.

  12. Sergej Voronicyn, Tema Chel'sinki — v sovetskoj vnutrennej propagande, Radio Svoboda, RS 5/77, 4. 1. 1977.

  13. Jürgen Nötzold zusammen mit G. Fink/H. -J.

  14. Gerhard Wettig, Die Strategie der Annäherung und der Abgrenzung in der Westpolitik der UdSSR und der DDR (1966— 1975), in: Annäherung, a. a. O., S. 293— 370.

Weitere Inhalte

Gerhard Wettig, Dr. phil., geb. 1934, Wissenschaftlicher Referent am Bundesinstitut für ostwissenschaftliche und internationale Studien in Köln. Buchveröffentlichungen: Die Rolle der russischen Armee im revolutionären Machtkampf 1917, 1967; Entmilitarisierung und Wiederbewaffnung in Deutschland, 1967; Politik im Rampenlicht, 1967; Potsdam und die deutsche Frage (zus. mit Ernst Deuerlein, Alexander Fischer und Eberhard Menzel), 1970; Europäische Sicherheit, 1972; Frieden und Sicherheit in Europa — KSZE und MBFR, 1975; Community and Conflict in the Socialist Camp, 1975; Die Sowjetunion, die DDR und die Deutschland-Frage 1965— 1976, 1. Aufl. 1976, 2. Aufl. 1977; Broadcasting and Detente, 1977; Der Kampf um die freie Nachricht, 1977.