Sozialistische Außenpolitik oder Außenpolitik der DDR? Zu einigen Grundfragen der DDR-Außenpolitik
Wilheim Bruns
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Zusammenfassung
Ausgangspunkte für die Analyse der DDR-Außenpolitik sind ein feststellbarer Tatbestand, ein ambitiöser Anspruch der SED-Führung sowie eine lückenhafte Forschungs-und Lehrsituation in der Bundesrepublik über die DDR. Tatbestand ist: Die DDR ist ein Staat, der inzwischen von nahezu 120 Ländern diplomatisch anerkannt ist, seit 1973 der UNO angehört und an der multilateralen Konferenz-diplomatie (KSZE, MBFR u. a.) gleichberechtigt teilnimmt. Kennzeichnend für das Selbstverständnis der DDR-Außenpolitik ist der Dreiklang: „prinzipientreu", „erfolgreich" und „wissenschaftlich begründet". Die DDR steht unter dem ambitiösen Anspruch, nicht irgendeine, sondern eine „sozialistische" Außenpolitik zu vertreten. Wie konkretisiert sich sozialistische Außenpolitik? Liegen die behaupteten Unterschiede „sozialistischer Außenpolitik“ etwa zur „imperialistischen Außenpolitik" in den Zielen, im Inhalt, im Träger, im „Wesen", im feststellbaren Verhalten? Welche außen-politischen Ziele verfolgt die DDR? Von welchen Prämissen geht sie dabei aus? Gibt es eine DDR-spezifische Außenpolitik? Diesen und ähnlichen Fragen steht eine Forschungs-und Lehrsituation in der Bundesrepublik Deutschland gegenüber, die die staatliche und internationale Evidenz der DDR bislang nur unzulänglich verarbeitet hat. Ein buntes Gemisch von Ignoranz, wissenschaftlich wirksamen Vorurteilen und nicht zuletzt erkennbaren, wenn auch schwer definierbaren „Berühruagsängsten“ sich sozialistisch verstehender Wissenschaftler führt dazu, daß die Erforschung der DDR-Außenpolitik in der Bundesrepublik ein Desirat ist. Der Verfasser hat nicht den Ehrgeiz, die DDR-Außenpolitik im Rahmen dieses Beitrages in all ihren Facetten ausführlich und materialgestützt zu analysieren. Das Ziel ist bescheidener: Angestrebt werden Kenntnisse über Prämissen, Bedingungen, Ziele und Manifestationen der DDR-Außenpolitik, die exemplarisch zum Verständnis „sozialistischer Außenpolitik" führen sollen. Der Schwerpunkt liegt dabei auf der systematisch-deskriptiven Analyse ihrer zentralen außenpolitischen Strukturprinzipien und wichtigsten Anwendungsfelder. Was heißt „friedliche Koexistenz"? Was versteht die SED unter „sozialistischem Internationalismus"? Wie werden diese beiden zentralen außenpolitischen Strukturprinzipien in ihrem Verhältnis zueinander dargestellt? Welche Bestimmungsfaktoren und Bestimmungsgründe für das außenpolitische Verhalten der DDR können festgestellt werden? Nicht zuletzt richtet sich die Aufmerksamkeit auf die Probleme, die sich der DDR im Spannungsfeld von formalisierter Koexistenz, sachbezogener (ökonomischer) Kooperation, systemarer Abgrenzung und komplexer sozialistischer Integration stellen.
Die Deutsche Demokratische Republik (DDR) ist ein Staat, der inzwischen von nahezu 120 Ländern diplomatisch anerkannt ist, seit 1973 der UNO angehört und an der multilateralen Konferenzdiplomatie (KSZE, MBFR) gleichberechtigt teilnimmt Nach den in Ost-Berlin
I. Einleitung und Problemstellung
verbreiteten Selbstporträt erfreut sich die DDR einer „hohen Wertschätzung" und wird „als wichtiger Staat" in den internationalen Beziehungen behandelt Tenor aller Selbstporträts: Die DDR setzt sich „aktiv für die Interessen der friedliebenden Völker" ein und erweist sich „als geachteter und respektierter Partner, dessen aufrechter Wille zur Stärkung des Friedens und zur Entfaltung der Zusammenarbeit nicht zu übersehen ist" Kennzeichnend für das Selbstverständnis der DDR-Außenpolitik ist der Dreiklang: Prinzipien-treu erfolgreich und „wissenschaftlich begründet"
Die DDR steht unter dem ambitiösen Anspruch, nicht irgendeine, sondern eine „sozialistische Außenpolitik" zu vertreten. Wie konkretisiert sich aber sozialistische Außenpolitik? Liegen die behaupteten Unterschiede von „sozialistischer Außenpolitik" zur „imperialistischen Außenpolitik" in den Zielen, im Inhalt, in Träger, im „Wesen", im feststellba-ren Verhalten? Was wissen wir über diese Außenpolitik, von ihren Zielen, Schwerpunkten, Problemen und Begründungszwängen? Gibt es eine DDR-spezifische Außenpolitik? Nach Heinz Heitzer ist die „konzeptionelle Orientierung" aller Arbeiten, „die Entwicklung der DDR als Bestandteil des sozialistischen Weltsystems" Wie wird dieser Ansatz in der DDR-Literatur eingelöst? Wie werden die Ost-West-Interaktionen (Kooperation, Konflikt, Koexistenz u. a.) interpretiert? Diesen und ähnlichen Fragen steht eine Forschungs- und Lehrsituation in der Bundesrepublik gegenüber, die die staatliche und internationale Evidenz der DDR nur unzulänglich verarbeitet hat. Ein buntes Gemisch von Ignoranz, wissenschaftlich wirksamen Vorurteilen und nicht zuletzt erkennbaren, wenn auch schwer definierbaren „Berührungsängsten" sich sozialistisch verstehender Wissenschaftler führt dazu, daß die Erforschung der DDR-Außenpolitik immer noch ein Desiderat ist. Kurt Mattick hatte bereits 1973 darauf verwiesen und die Forschung aufgefordert, ihre Beiträge zum Verständnis der DDR-Außenpolitik zu liefern Das Echo war jedoch gering. Dabei fehlt es nicht an Studien, die die deutsche Außenpolitik im singulär generalis behandeln, d. h.deutsche Außenpolitik auf die Außenpolitik der Bündesrepublik reduzieren und allenfalls die Außenpolitik der DDR als Exkurs in den Blickwinkel nehmen Selbst im neugebildeten Arbeitskreis „für vergleichende Deutschlandforschung", der dem Bundesministerium für innerdeutsche Beziehungen zugeordnet ist, spielt die Außenpolitik der DDR offenbar keine erkennbare Rolle. Die bei uns dadurch entstehenden „Leer-Räume“ bleiben jedoch nicht leer, sondern werden ausgefüllt durch publizistische Produkte, bei denen so getan wird, als könnte man von einem breiten Fundus gesicherter wissenschaftlicher Erkenntnisse über die Außenpolitik der DDR ausgehen.
Aber auch die Arbeiten, die in der DDR über die DDR-Außenpolitik veröffentlicht worden sind können nicht befriedigen, weil sie wegen des Fehlens der ideologiekritischen Komponente nicht erkenntnisbringend sind. Kennzeichnend für die einschlägige DDR-Literatur sind vier wiederkehrende Elemente:
1. Diese Literatur bemüht sich um den Nachweis, daß die sozialistische DDR eine sozialistische Außenpolitik betreibt, wobei Innen-und Außenpolitik der DDR eine „Einheit" bilden, ohne die behaupteten differentiae specificae dieser Außenpolitik etwa zur „imperialistischen Außenpolitik" empirisch faßbar und damit überprüfbar machen zu können.
2. Kennzeichnend ist auch das Bemühen, die Außenpolitik der DDR und die der sozialistischen Staaten als „friedlich", „konstruktiv" und „erfolgreich" darzustellen, wobei nicht selten ein Nullsummen-Spiel herauskommt: Ereignisse und Entwicklungen, die die Positionen des „real existierenden Sozialismus" verbessern, wirken sich „notwendig" zuungunsten „des Imperialismus" aus. So werden etwa Abstimmungssiege der „sozialistischen Staatengemeinschaft" in der UNO als Positionsgewinne „des Sozialismus" und Positionsverluste „des Imperialismus" kommentiert 3. Die DDR-Literatur thematisiert weder den außenpolitischen Willens-und Entscheidungsprozeß der DDR noch die Frage nach dem Handlungsspielraum der DDR innerhalb der „sozialistischen Staatengemeinschaft", insbesondere gegenüber der UdSSR. Problematisierungsversuche sind nicht erkennbar, außenpolitische Widersprüche werden eskamotiert.
4. Eine Auseinandersetzung mit der DDR-Literatur wird durch die Diktion, insbesondere durch die nichttransparente Beweis-und Gedankenführung der DDR-Autoren, erheblich erschwert. So wird häufig nicht klar, ob die DDR-Wissenschaftler auf der „Erscheinungsebene" oder auf der „Wesensebene" argumentieren. Zwei durchaus repräsentative Beispiele sollen dies hier illustrieren:
„Die Zielstellung, von der sich die DDR und die anderen sozialistischen Bruderländer bei der Koordinierung ihres außenpolitischen Vorgehens leiten lassen, ergibt sich aus den im Wesen (Herv. WB) übereinstimmenden Aufgaben ihrer Außenpolitik."
Dieses behauptete Wesen i wird jedoch nicht herausgearbeitet, sondern mit dem tautologischen Hinweis auf die „wesensgemäße“ Übereinstimmung sozialistischer Staaten „begründet". Beim folgenden Zitat wird nicht ersichtlich, ob hier das „Wesen" oder die „Erscheinung" zum Ausdruck kommen soll:
„Die Außenpolitik der DDR ist deshalb erfolgreich, weil in ihr die sozialistischen Interessen und Ziele der Arbeiterklasse und aller Werktätigen ... umfassend verwirklicht werden.“
In dieser Präsentation handelt es sich um unwiderlegbare Aussagen, die mit Popper „metaphysisch" genannt werden können Ihr Aussagewert ist gering.
Aus diesem knappen Überblick erklärt sich das Ziel des vorliegenden Aufsatzes: Angestrebt werden Kenntnisse über Prämissen, Bedingungen, Ziele und Manifestationen der DDR-Außenpolitik, die exemplarisch zum Verständnis „sozialistischer Außenpolitik" führen sollen. Dabei geht es um die wichtigsten Argumentationsfiguren, mit denen die DDR-Außenpolitik von der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands (SED) begründet wird. Was heißt „friedliche Koexistenz", was „sozialistischer Internationalismus"? Wie werden diese beiden zentralen außenpolitischen Strukturprinzipien in ihrem Verhältnis zueinander dargestellt? Welche Bestimmungsfaktoren und Bestimmungsgründe für das außenpolitische Verhalten der DDR können festgestellt werden? Nicht zuletzt richtet sich die Aufmerksamkeit auf die Probleme, die sich der DDR im Spannungsfeld von formalisierter Koexistenz, sachbezogener (ökonomischer) Kooperation, systematischer Abgrenzung und komplexer sozialistischer Integration stellen.
Die DDR-Außenpolitik ist zunächst als Forschungs-und Darstellungsgegenstand „unhandlich". Was heißt Außenpolitik? Die Frage nach dem Begriff reflektiert eine gewisse Unklarheit in der Sache, auf die die westliche INHALT I. Einleitung und Problemstellung II. Die SED als Träger der DDR-Außenpolitik
1. Situationsanalyse der SED bei der Gestaltung ihrer Außenpolitik a) Das Zwei-Linien-Theorem der SED b) Die Kategorie des „internationalen Kräfteverhältnisses"
c) Die Anpassungsthese 2. Außenpolitische Ziele der DDR und ihre Mittel III. Das außenpolitische Strukturprinzip „friedliche Koexistenz"
IV. Das außenpolitische Strukturprinzip „sozialistischer Internationalismus"
1. Begriffsbestimmende Merkmale des „sozialistischen Internationalismus“
2. Das Verhältnis der DDR zur UdSSR — Die Thälmann-Renaissance 3. Sozialistischer Internationalismus und friedliche Koexistenz — ein Verhältnis der über-oder Unterordnung?
V. Das „antiimperialistische Bündnis" als Ausdrucksform des proletarischen Internationalismus
Zusammenfassung VI. Einige Anwendungsfelder der DDR-Außenpolitik
1. Die UNO-Politik der DDR 2. Der europäische Bezugsrahmen — Die Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit (KSZE)
3. Militärische Ergänzung der politischen Entspannung (MBFR)
VII. Bestimmungsfaktoren der DDR-Außenpolitik
VIII. Die Außenpolitik der DDR nach dem IX. Parteitag Forschung der letzten Jahre immer wieder aufmerksam gemacht hat: Erschöpft sich Außenpolitik „nur" im Austausch von Kommuniques, in Besuchen anderer Länder, in Verträgen mit anderen Staaten? Ist der Akteur immer „nur" der Staat, oder können auch „andere" Außenpolitik machen? Zusammenfassend läßt sich sagen, daß Außenpolitik heute sowohl in der „sozialistischen" wie in der „westlichen" Literatur (mit unterschiedlicher Terminologie) als ein komplexer und komplizierter Prozeß verschieden stark aufeinander wirkender, jedoch interdependenter Faktoren begriffen wird, die sowohl in der Struktur einer bestimmten Gesellschaftsordnung als auch außerhalb dieser liegen Dies ist jedoch keine Definition von Außenpolitik, sondern reflektiert lediglich das umfassende Verständnis von Vorgängen, die mit dem allzu flächigen Begriff „Außenpolitik" bezeichnet werden.
Damit die DDR-Außenpolitik einer wissenschaftlichen Analyse zugänglich gemacht werden kann, brauchen wir einen dem Gegenstand angemessenen Zugang. Doch auch hier stellen sich einige methodische Probleme. Hier soll nicht zum wiederholten Male die Diskussion über Methodenfragen der DDR-Forschung reproduziert werden Nur soviel: Es haben sich einige methodische Ansätze bei der Erforschung der DDR als unzulänglich und methodisch fragwürdig erwiesen Als wissenschaftlich fruchtbar und methodisch „sauber" können jene Analysen bezeichnet werden, die ihren Ausgangspunkt im erklärten Selbstverständnis der DDR-Führung haben. Dieses Selbstverständnis allein reicht jedoch zur Erklärung der DDR-Außenpolitik nicht aus. Als Strukturierungshilfe, mit der die DDR-Außenpolitik empirisch-deskriptiv in ihre „Einzelteile" zerlegt werden kann, erweist es sich aber als brauchbar. In einem ideologiekritischen Verfahren sollte das Selbstverständnis jeweils mit der empirischen Evidenz konfrontiert werden. Daß das erklärte Selbstverständnis nicht in jedem Fall der Wirklichkeit konfrontierbar ist, liegt nicht an der Wirklichkeit oder an dem, der dies versucht, sondern daran, daß das Selbstverständnis als Wesensaussage (s. o.) formuliert ist.
Der Verfasser hat nicht den Ehrgeiz, die DDR-Außenpolitik im Rahmen dieses Beitrages in all ihren Facetten ausführlich und material-gestützt zu analysieren. Das Ziel ist eine problembezogene Orientierung, die zum Verständnis der Bedingtheiten, der Ziele und Begründungszwänge der DDR-Außenpolitik führen soll. Der Schwerpunkt dieser Darstellung liegt auf der systematisch-deskriptiven Analyse ihrer zentralen außenpolitischen Strukturprinzipien und wichtigsten Anwendungsfelder. Die deutsch-deutschen Beziehungen als Anwendungsfall der „friedlichen Koexistenz“ (aus der Sicht der DDR) sollen in ihren rechtlichen, ökonomischen und politischen Aspekten hier unberücksichtigt und einer separaten Studie vorbehalten bleiben.
II. Die SED als Träger der DDR-Außenpolitik
Abbildung 2
AUSSENPOLITIK DER DDR
AUSSENPOLITIK DER DDR
Faßt man DDR-Außenpolitik als eine inputoutput-Beziehung, so wissen wir wenig über den input (Informationskapazität, was wird verarbeitet, wie wird es verarbeitet, wer entscheidet wann), über den Willensbildungsund Entscheidungsprozeß innerhalb der DDR sowie innerhalb der „sozialistischen Staatengemeinschaft" gibt es im Grunde genommen nur Spekulationen (plausible und weniger plausible). Allenfalls läßt sich der Output beschreiben, wenn man hier die Bezugsgröße „Verhalten der DDR" in der internationalen Politik und gegenüber bestimmten Ereignissen heranzieht.
Es ist wahrscheinlich, daß es hier keine „direkte Linie" zwischen dem, was man als input umschreiben und als Output beschreiben kann, gibt. Auch bei der Identifikation von Bestimmungsfaktoren, also den Einflußgrößen auf den Entscheidungsprozeß bzw. auf die Verhaltenskonstanz oder Verhaltensänderungen der DDR, tut sich die westliche For___________ (schung schwer. Die Gründe liegen darin, daß die DDR-Führung sorgfältig den Schleier der Geheimhaltung über alle Entscheidungsvorgänge legt.
Es kann als wissenschaftlich gesichert gelten, daß die vier neben der SED in der DDR existierenden Parteien (CDU, LDPD, NDPD und DBP) nicht am außenpolitischen Willensbildungs-und Entscheidungsprozeß der DDR beteiligt sind. Inwieweit es gerechtfertigt ist, die Frage nach dem außenpolitischen Entscheidungsprozeß nicht nur auf die SED, sondern auf das Politbüro der SED zu reduzieren, hat Anita Dasbach-Mallinckrodt in einer Studie herausgearbeitet Der Tatbestand, daß die DDR-Außenpolitik zur Prärogative der SED (Politbüro) gehört, braucht im übrigen nicht empirisch ermittelt zu werden, er wird durch die DDR-Verfassung sanktioniert In allen einschlägigen DDR-Veröffentlichungen erscheint die Führungsrolle der SED, die mit ihrer „Avantgarde-Funktion" begründet wird etwa so: „Die Grundsätze, Ziele und Aufgaben unserer Außenpolitik werden von der SED, der führenden Kraft in der DDR, ausgearbeitet, die auch ihre Verwirklichung organisiert.“
1. Situationsanalyse der SED bei der Gestaltung ihrer Außenpolitik
Von welcher erkennbaren Situationsanalyse geht die SED bei ihrer Gestaltung der DDR-Außenpolitik aus? Wie perzipiert und strukturiert sie die internationalen Beziehungen?
Diese Fragen sollen zunächst zusammenfassend beantwortet werden, bevor die außenpolitischen Ziele und die für die DDR-Außenpolitik bestimmenden Strukturprinzipien beschrieben werden.
a) Das Zwei-Linien-Theorem der SED Als stets wiederkehrende Argumentationsfigur taucht in DDR-Publikationen und Reden führender SED-Politiker eine Erscheinung auf, die hier mit dem Zwei-Linien-Theorem bezeichnet werden soll: „Soviel zeigt die internationale Szene: Gegenwärtig gibt es einerseits Fortschritte auf dem Gebiet der Entspannung; andererseits müssen alle Resultate der Entspannung entschieden gegen ihre Widersacher erkämpft werden, um diesen Prozeß unumkehrbar zu machen.“
Einerseits wird davon gesprochen, daß die „Entspannung zur Grundtendenz der internationalen Entwicklung wurde", andererseits wird vor „Entspannungsfeinden" gewarnt, die „wesensgemäß" im „Imperialismus“ lokalisiert werden. Anläßlich der 13. Tagung der SED (Dezember 1974) haben Honecker, Axen und der stellvertretende Verteidigungsminister Keßler die für das Zwei-Linien-Theorem bestimmenden Argumentationslinien vorgezeichnet
1. Axen beginnt mit der These, daß die friedliche Koexistenz „eine grundsätzliche Linie" der DDR-Außenpolitik „gegenüber den kapitalistischen Staaten" sei. „Solange Sozialismus und Imperialismus nebeneinander bestehen, bleibt der Klassenkampf zwischen ihnen unvermeidlich ...“
2. Um dieses Nebeneinander „friedlich" zu gestalten, müsse „der Imperialismus", der seinem „Wesen nach aggressiv“ sei, gezwungen werden, sich an die von der „sozialistischen Staatengemeinschaft“ vorgezeichnete Linie anzupassen (Anpassungsthese).
3. Für den Anpassungszwang nennt Axen im wesentlichen drei Gründe:
— Die „Veränderung des internationalen Kräfteverhältnisses auf militärischem Gebiet zugunsten des Sozialismus".
— Der Imperialismus sei bei seiner Absicht gescheitert, „den Sozialismus durch den Rü-stungswettlauf nicht nur militärisch, sondern auch ökonomisch in die Knie (zu) zwingen".
— Die Kooperationsbereitschaft der kapitalistischen Staaten gegenüber der „sozialistischen Staatengemeinschaft" gehe auf die „außerordentliche Zunahme der ökonomischen Krise des Kapitalismus" zurück, die „objektiv"
eine Orientierung auf den Ausbau der „Beziehungen zum krisenfreien, an Energiequellen und Rohstoffen reichen sozialistischen Weltmarkt" erforderlich mache.
Fazit Axens: „Die Anpassung ist die eine Linie in der Außenpolitik des Imperialismus".
4. Als zweite Linie werden von der SED „verstärkte Versuche" gesehen, „die Entspannung aufzuhalten und rückgängig zu machen", denn die „aggressivsten reaktionären Kreise des Monopolkapitals wollen sich nicht mit der veränderten Weltlage abfinden".
Axen spricht zwar auch weiterhin von „erzreaktionären Gruppen des Finanzkapitals, Latifundisten, Faschisten .. .". Es fällt jedoch auf — im Gegensatz zu den fünfziger und frühen sechziger Jahren —, daß die „Entspannungsfeinde" anonymisiert werden. Ferner ist zu registrieren, daß kaum präzisiert wird, welche Tatbestände den „Entspannungsfeinden" zugeordnet werden. So meinte Stoph, man könnte an „bestimmten Aktivitäten von Entspannungsgegnern nicht vorübergehen" ohne diese „Aktivitäten" präzise zu bestimmen. Honecker warnt vor „verstärkten Aktivitäten jener Kreise, die Europa erneut in den Zustand des , kalten Krieges'zurückwerfen möchten." Ohne „diese Kreise" exakt zu qualifizieren, rechnet Honecker ihnen alles Negative zu und macht sie für den auch von ihm für nicht ausreichend gehaltenen Stand der europäischen Beziehungen verantwortlich
5. Als Gesamtergebnis seiner Analyse stellt Axen als Repräsentant der SED fest: „Die Hauptrichlung in der imperialistischen Außenpolitik ist auf Grund des Kräfteverhältnisses die der Anpassung, die des realistischeren Herangehens an die internationale Lage, eines zwar widerstrebenden, doch sich iortsetzenden Eingehens auf die Politik der friedlichen Koexistenz.“
Die zwei Tendenzen (Linien), die der „Aggression, der Reaktion und des Faschismus" und die der „Anpassung" in der Außenpolitik „imperialistischer Staaten" (dazu zählt die SED auch die Bundesrepublik), sind nach Axen „im ständigen Kampf miteinander und wirken tagtäglich auf die imperialistischen Regierungen und deren Repräsentanten ein"
Dieses hier in seinen Grundzügen kurz referierte Zwei-Linien-Theorem der SED ist ihre Strukturierungshilfe gegenüber der internationalen Politik mit exakt benennbarer Rechtfertigungsfunktion, die ihre Bedeutung insbesondere aus innenpolitischen Gründen erhält SED-Funktionäre können mit diesem Zwei-Linien-Theorem recht disparate Tatbestände integrieren: So kann die diplomatische Entspannung, die Bereitschaft zur „forcierten Entwicklung wirtschaftlicher Beziehungen zwischen sozialistischen und kapitalistischen Ländern" mit der Forderung nach „hoher Gefechtsbereitschaft" der Nationalen Volksarmee (NVA) und mit Aufrufen zur verstärkten ideologischen Abgrenzung vereinbart werden.
b) Die Kategorie des „internationalen Kräfte-verhältnisses“
Zur Kennzeichnung der internationalen Politik und in Ergänzung des Zwei-Linien-Theorems wird die Kategorie des „Kräfteverhältnisses" und die damit korrespondierende Anpassungsthese gebraucht: „In unserer Zeit hat sich das Kräfteverhältnis immer mehr zugunsten des Sozialismus verschoben. Immer weniger kann der Imperialismus den Lauf der Welt nach seinem Willen lenken. Immer mehr bestimmt der Sozialismus die Linie der politischen Entwicklung.“
Wegen des von der SED hervorgehobenen Stellenwertes des „Kräfteverhältnisses“ ist jede Analyse der DDR-Außenpolitik darauf verwiesen, die analytische Aussagekraft dieser Kategorie zu prüfen. Nach der Tragfähigkeit der Kategorie des „Kräfteverhältnisses" soll auch deshalb gefragt werden, um hier exemplarisch zeigen zu können, wie sich die „tiefgründige marxistisch-leninistische Analyse der gegenwärtigen internationalen Situation" konkretisiert.
Zunächst kann davon ausgegangen werden, daß das „Kräfteverhältnis" eine quantitative und eine qualitative Komponente aufweist. Wird bei der Feststellung, daß sich das „internationale Kräfteverhältnis" nach 1945 gewandelt habe auf eine quantitative Komponente abgehoben, wäre ein Konsens möglich. Der Hinweis auf die Vielzahl neuer (staatlicher) Akteure und auf Veränderungen in der außenpolitischen Orientierung einiger Staaten mag hier genügen. Doch die DDR-Autoren arbeiten durchgängig mit dem Begriff „Kräfteverhältnis" in seiner qualitativen Komponente. So werden beispielsweise Abstimmungen in der UNO als „grundlegende Veränderung des internationalen Kräfteverhältnisses zugunsten der Verfechter des Friedens, des Fortschritts und des Sozialismus“ kommentiert. Unabhängig vom jeweiligen Kontext tritt das internationale Kräfteverhältnis in der DDR-Literatur in seiner inhaltlich-qualitativen Komponente in Erscheinung. Es ist stets von einem Kräfteverhältnis „zugunsten des Sozialismus und des Friedens“ die Rede.
Eine inhaltliche Qualifizierung des „internationalen Kräfteverhältnisses" zugunsten des „Friedens und des Sozialismus" wäre dann analytisch sinnvoll, wenn sich die DDR-Wissenschaftler eingehend mit den Gesellschaftsordnungen beschäftigten, die dieses „Kräfteverhältnis" bilden. Ein Vorgehen, das die jeweiligen Gesellschaftsordnungen auf den Begriff brächte, wäre auch vom Selbstverständnis der DDR her geboten, denn die Außenpolitik eines Staates ist nach DDR-Diktum die Fortsetzung der Innenpolitik, d. h., der „Charakter" der Außenpolitik wird im wesentlichen von der jeweiligen Gesellschaftsordnung bestimmt Der summarischen Feststellung vom neuen Kräfteverhältnis „zugunsten des Friedens und des Sozialismus" folgt jedoch keine derartige Analyse. Die Frage, ob es zulässig ist, ein so heterogenes Kräftefeld, wie es heute von den über 150 Staaten der Welt gebildet wird, mit der Formel „zugunsten des Friedens und des Sozialismus" inhaltlich zu qualifizieren, wird in der gesamten DDR-Literatur nicht gestellt Bereits ein kursorischer Blick auf dieses „Kräftefeld" zeigt die Fragwürdigkeit der in der DDR-Literaturvorgenommenen inhaltlichen Qualifizierung: Uganda wird als „aufstrebendes Land am Viktoria Nyanza" Äthiopien als „uraltes Land des Königs der Könige" oder Marokko als „ein Land großer natürlicher Reichtümer" im SED-Zentralorgan „Neues Deutschland" (ND) vorgestellt. Ein ähnlich „marxistisch-leninistisches" Porträt findet sich im ND über Spanien Nur mit derartigen „Porträts" läßt sich eine solche Formel vom „veränderten Kräfteverhältnis zugunsten des Friedens und des Sozialismus" formulieren. Die hier herausgearbeitete und sicher noch ausführlicher dokumentierbare Verwendung der Kategorie des „internationalen Kräfteverhältnisses" in der DDR-Literatur widerspricht geradezu der Forderung Lenins: „Unsere Stärke liegt in der völligen Klarheit und Nüchternheit der Einschätzung aller vorhandenen Klassengrößen ..."
c) Die Anpassungsthese
Mit der Verwendung des „veränderten Kräfteverhältnisses zugunsten des Friedens und des Sozialismus" als einer zentralen Kategorie in der DDR-Literatur korrespondiert die
Anpassungsthese: „Das Wesen des Anpassungsprozesses ist das imperialistische Reagieren auf das zugunsten des Sozialismus sich wandelnde Kräfteverhältnis in der Welt.“
Mit der aus dem „Kräfteverhältnis zugunsten des Sozialismus" abgeleiteten Anpassungsthese soll offensichtlich die Ost-West-Entwicklung seit 1969 interpretiert und den DDR-Bürgern „erklärt" werden. So wird die „neue Ost-Politik" der sozialliberalen Koalition, die ihren Ausdruck in den Ostverträgen von 1970, im Grundvertrag mit der DDR sowie im Vertrag mit der ÖSSR fand, als ein „Anpassungsvorgang des Imperialismus" kommentiert. Die Verwendung der Anpassungsthese ist erforderlich, weil der Imperialismus „von sich aus" zu einer „echten" Entspannungspolitik unfähig ist, ist er doch seinem „Wesen" nach auf „Aggression" und „Krieg" -ausge richtet.
Entspannungsschritte des Westens können per definitionem nicht auf die Friedensliebe westlicher Staaten zurückgeführt werden, sondern müssen in der Argumentation der SED als Anpassungsprozeß an das von der UdSSR initiierte „Kräfteverhältnis“ gedeutet werden. „Friedensliebe" wird allein den sozialistischen Staaten zugeordnet, denn — so lautet hier die „Wesens" -Aussage —: „Frieden und Sozialismus gehören zusammen" wobei „Sozialismus" stets mit dem „real existierenden Sozialismus" identifiziert wird.
Auffallend an der von der DDR seit Ende der sechziger Jahre propagierten Anpassungsthese ist zweierlei: 1. Die Anpassungsthese wird sehr undifferenziert verwendet und nicht empirisch, etwa durch Fallstudien, fundiert. Der Grund dürfte darin zu sehen sein, daß empirische Fallstudien — beispielsweise zum Berlin-Abkommen oder zum Grundvertrag — ein viel differenzierteres Bild vom Verlauf der Ost-West-Beziehungen erbrächten. Zumindest in zwei Fällen kann davon ausgegangen werden, daß es die DDR war, die sich der internationalen Entwicklung anpassen mußte 2. Es wird in der DDR zwar häufig von der militärischen Überlegenheit der „sozialistischen Staatengemeinschaft" gesprochen doch zu fragen wäre: Haben sich die War-schauer Vertragsstaaten an dem von ihnen heftig kritisierten „Wettrüsten" so beteiligt, daß sie nun „überlegen" sind, ohne wiederum diese „Überlegenheit" etwa mit Blick auf die laufenden MBFR-Verhandlungen in Wien quantifizieren zu wollen? Wie läßt sich die von der DDR hervorgehobene Notwendigkeit weiterer Aufrüstung mit einem konstatierten „Kräfteverhältnis zugunsten des Sozialismus" rechtfertigen? Begründungsdefizite sollen offenbar durch das oben analysierte Zwei-Li-* nien-Theorem der SED verschleiert werden. Nur mit dem nicht näher erläuterten Hinweis auf die „aggressiven Kreise" des Imperialismus kann die militärische Rüstung des War-schauer Vertrages legitimiert werden.
2. Außenpolitische Ziele der und DDR ihre Mittel
In der westlichen Außenpolitikforschung wird die Notwendigkeit einer Unterscheidung von „Zielen", „Instrumenten" und „Mitteln" hervorgehoben Die bisherige Diskussion über diese Frage läßt sich dahin gehend zusammenfassen, daß es methodisch schwierig ist, a priori und verallgemeinernd festzustellen, welches außenpolitische Verhalten sich unter den Begriff „Ziel" und welches sich unter den Begriff „Instrument" bzw. „Mittel" subsumieren läßt. Die Existenz einer Armee oder die Anwendung der Diplomatie dürften kaum als außenpolitisches Ziel identifiziert werden können. Schwieriger wird es schon bei der Frage, ob beispielsweise der Außenhandel „Ziel" oder „Instrument" von „Außenpolitik" ist So könnte man durchaus argumentieren, daß die Außenpolitik darauf abgestellt ist, den Außenhandel zu verbessern. Mit der gleichen Berechtigung ließe sich auch folgern, daß der Außenhandel instrumentale Bedeutung für die Erreichung bestimmter außenpolitischer Ziele hat.
Um „Ziele" von „Instrumenten" bzw. „Mitteln" zu unterscheiden, müßten außenpolitische Verhaltensweisen und Absichtserklärungen hierarchisiert werden mit der Folge, daß nur eines als Ziel festzustellen wäre, von dem sich das andere (Instrumente und Mittel) ableiten ließe. Im Falle der DDR wären die „günstigsten äußeren Bedingungen für den Aufbau des Sozialismus" als sozialistisches identifizieren. Von Basisziel zu diesem außen-politischen Ziel erhalten von hier andere der SED genannte „Ziele" (wie etwa die „friedliche Koexistenz") den Rang von „Instrumenten" bzw. „Mitteln". An dieser Stelle drängt sich die Frage auf, worin denn die SED die „günstigsten äußeren Bedingungen für den Aufbau des Sozialismus" sieht?
Antworten sind schwer zu finden. Nach Paul Markowski bestehen „Sinn und Ziel der Außenpolitik der Länder der sozialistischen Staatengemeinschaft darin, alles zu tun, um den Weltfrieden zu erhalten, das Kräfteverhältnis in der Welt ununterbrochen weiter zugunsten des Sozialismus zu verändern, um die Positionen des Imperialismus zu schwächen ..."
In der einschlägigen DDR-Literatur sind Versuche, terminologisch und damit auch analytisch zwischen „Zielen", „Instrumenten" und „Mitteln" zu unterscheiden, nicht erkennbar. Im folgenden sollen die außenpolitischen Strukturprinzipien, die von der DDR immer wieder genannt werden — „friedliche Koexistenz", „sozialistischer (proletarischer) Internationalismus" und „antiimperialistisches Bündnis" —, als Mittel zur Erreichung des außenpolitischen Basiszieles verstanden werden.
III. Das außenpolitische Strukturprinzip „friedliche Koexistenz"
Abbildung 3
Abbildung 3
Abbildung 3
Die DDR „tritt für die Verwirklichung der Prinzipien der friedlichen Koexistenz von Staaten unterschiedlicher Gesellschaftsordnung ein und pflegt auf der Grundlage der Gleichberechtigung und gegenseitigen Achtung die Zusammenarbeit mit allen Staaten" Das hier zum Verfassungsgrundsatz erhobene Strukturprinzip der DDR-Außenpolitik wird in seiner Relevanz immer wieder als „ein strategisches Prinzip sozialistischer Außenpolitik" hervorgehoben. Was versteht die DDR unter „friedlicher Koexistenz"? Zum Verständnis der Formel von der „friedlichen Koexistenz" soll an dieser Stelle zusammenfassend festgehalten werden „Friedliche Koexistenz" bedeutet nach einer als autorisiert geltenden Definition „die Regelung der zwischenstaatlichen Beziehungen von sozialistischen und kapitalistischen Staaten auf der Grundlage der Gleichberechtigung der Staaten, der gegenseitigen Achtung ihrer Souveränität, der territorialen Integrität, der Nicht-einmischung in ihre inneren Angelegenheiten“
Dieses Begriffsverständnis wird im weiteren „Kooperationsformer genannt. Zu dieser gehört ferner die „Entwicklung ökonomischer internationaler Zusammenarbeit auf der Grundlage des gegenseitigen Vorteils und die Lösung strittiger internationaler Fragen mit friedlichen Mitteln"
Die Kooperationsformel ist jedoch nur die eine, auf die Beziehungen zwischen den Staaten abhebende Seite. Die Janusköpfigkeit des Begriffs ergibt sich daraus, daß er nicht nur Kooperationsbereitschaft signalisiert, sondern gleichzeitig eine Konfrontationserklärung enthält, denn „friedliche Koexistenz" ist „eine spezifische Form des Klassenkampfes zwischen Sozialismus und Kapitalismus auf internationaler Ebene" 58).
Die Akzentuierung der „friedlichen Koexistenz" als Klassenkampf wird im weiteren Konfrontationsformel genannt. Erich Honekker hat auf dem IX. Parteitag der SED (1976) die Gültigkeit dieser Konfrontationsformel für die Politik der DDR unterstrichen: Friedliche Koexistenz bedeute „niemals Klassenfrieden zwischen Ausbeutern und Ausgebeuteten. Friedliche Koexistenz bedeutet weder die Aufrechterhaltung des sozialökonomischen
Status quo noch eine ideologische Koexistenz“ Thesenartig verkürzt und mit dem Hinweis auf die Arbeit des Verfassers soll festgehalten werden: 1. Friedliche Koexistenz ist ein Interaktionsmodus, der ausschließlich im Verhältnis zwischen Staaten unterschiedlicher Gesellschaftsordnungen gilt. 2. Friedliche Koexistenz regelt nur die zwischenstaatlichen Beziehungen. Daraus folgt zweierlei: — Friedliche Koexistenz gilt nicht für die Beziehungen zwischen Staaten gleicher Gesellschaftsordnung, also nicht innerhalb der „sozialistischen Staatengemeinschaft" (hier soll erklärtermaßen das Prinzip des „sozialistischen Internationalismus" Anwendung finden). — Friedliche Koexistenz gilt nicht für die „gesellschaftliche Sphäre". Sie gilt nicht für den Bereich der Ideologie. 3. Friedliche Koexistenz enthält unterscheidbare, je nach Kontext unterschiedlich stark akzentuierte Elemente: Die Kooperationsformel wird beispielsweise in der multilateralen Diplomatie hervorgehoben (UNO). Die Konfrontationsformel wird insbesondere in den deutsch-deutschen Beziehungen benutzt und hat offensichtlich eine beträchtliche Innen-funktion, damit die DDR-Bürger nicht auf den Gedanken kommen, daß intersystemare Kooperation auch Annäherung in anderen Bereichen als beispielsweise auf dem ökonomischen Gebiet bedeute. Kooperation und Konfrontation (Abgrenzung) erscheinen in der DDR-Literatur als siamesische Zwillinge. Hierzu eine durchaus repräsentative Textstelle: „Zusammenarbeit und Auseinandersetzung sind zwei organisch miteinander verbundene Seiten der friedlichen Koexistenz. Wenn wir von einem Miteinander sprechen, so vergessen wir nicht, daß sich gleichzeitig ein objektiver, notwendiger Prozeß der Abgrenzung vollzieht." 4. Die willkürlich anmutende Trennung von staatlicher und gesellschaftlicher Ebene ermöglicht es den kommunistischen Parteien, zum „ideologischen Klassenkampf" aufzufordern und ihn aktiv zu unterstützen bei gleichzeitigem Plädoyer für eine Intensivierung staatlicher (diplomatischer) Zusammenarbeit. 5. Wenn es in der DDR-Literatur heißt, die „friedliche Koexistenz" sei ohne Alternative, so ist dies zutreffend, soweit sie sich auf den Bereich bezieht, der mit Kooperationsformel bezeichnet wurde. Die Begründung ergibt sich aus den kollektiven Vernichtungsmöglichkeiten („over-kill") sowohl der USA als auch der UdSSR. Ohne Alternative sind die für die Kooperationsformel konstitutiven Elemente wie Gewaltverzicht, Gebot zur friedlichen Regelung internationaler Streitigkeiten u. a. (im übrigen alles in der UNO-Charta geregelt und für alle UNO-Mitglieder verbindlich). Schließt „friedliche Koexistenz" die Konfrontationsformel mit ein, so ist diese wegen des an anderer Stelle gezeigten Verständnisses von der Einbahnstraße im „ideologischen Klassenkampf" nicht ohne Alternative Es ist irreführend, den „Marxismus-Leninismus" als „Friedensidee par excellence" den „bürgerlichen Ideen" mit der Verherrlichung von Krieg und Gewalt gegenüberzustellen.
6. Nach Auffassung der DDR sind „friedliche Koexistenz" und „Entspannung" Begriffe, die im wesentlichen das Gleiche bezeichnen 7. Entscheidend für die Rezeption der „friedlichen Koexistenz" ist ihre dreifache Begrenzung, die sie durch ihre Interpreten erfährt:
— Sie ist zeitlich befristet: „Die friedliche Koexistenz kann nicht ewig sein." Sie gelte nur solange, bis der „Sozialismus im Welt-maßstab“ gesiegt habe — Sie ist räumlich begrenzt: „Die friedliche Koexistenz ist eine reale Kategorie, die nur auf die Beziehungen zwischen Staaten der beiden Systeme anwendbar ist.“
Friedliche Koexistenz bedeute „nicht Frieden zwischen den antagonistischen Klassen, zwischen Arbeiterklasse und Kapital" Friedliche Koexistenz gilt erklärtermaßen nicht für „Befreiungskriege", wie dies am Beispiel Angolas deutlich gemacht wurde.
— Sie bezieht sich ausschließlich auf Staaten als Akteure. Parteien, jedenfalls kommunistische Parteien, sind ausdrücklich nicht an die Prinzipien der „friedlichen Koexistenz" gehalten. Dies hat beispielsweise zur Folge, daß gegenüber Aktivitäten der SED oder KPdSU in irgendeinem Land Westeuropas der Grundsatz der Nichteinmischung in die „inneren Angelegenheiten" nicht greift.
8. Allen aufmerksamen Lesern der DDR-Literatur fällt auf, daß die „friedliche Koexistenz" offenbar so „mißverständlich" ist, daß die DDR-Autoren immer wieder auf deren „Grundsätze" zurückkommen und deutlich zu machen versuchen, daß sich Kooperation und Konfrontation widerspruchsfrei ergänzen Es soll hier auch nicht unerwähnt bleiben, daß eine Vielzahl von Artikeln in der DDR-Literatur zur „friedlichen Koexistenz" Begründungszwängegegenüber der Kritik von „links" reflektiert
IV. Das außenpolitische Strukturprinzip „sozialistischer Internationalismus"
Das außenpolitische Credo der DDR ist in Artikel 6 der geänderten Fassung der DDR-Verfassung von 1969 statuiert:
Die DDR „betreibt eine dem Sozialismus und dem Frieden, der Völkerverständigung und der Sicherheit dienende Außenpolitik'(Art. 6, Zill. 1, Satz 2).
Die DDR „ist für immer und unwiderruflich mit der Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken verbündet'(Art. 6, Ziff. 2, Satz 1).
Die DDR „ist untrennbarer Bestandteil der sozialistischen Staatengemeinschaft. Sie trägt getreu den Prinzipien des sozialistischen Internationalismus zu ihrer Stärkung bei ...'(Art. 6, Ziff. 2, Satz 3 f.).
„Friedliche Koexistenz" wurde als „ein strategisches Prinzip sozialistischer Außenpolitik" (Busse/Hänisch) bezeichnet. Wie wird nun das andere Strukturprinzip der DDR-Außenpolitik begründet und präzisiert? Welchen Stellenwert nimmt der „sozialistische Internationalismus" in der DDR-Außenpolitik ein? Zunächst sollen die begriffsbestimmenden Merkmale des „sozialistischen Internationalismus" mit Hilfe der DDR-Literatur herausgearbeitet werden. Im Anschluß daran wird nach den Ausdrucksformen dieses Struktur-prinzips gefragt. Schließlich soll herausgefunden werden, wie sich die beiden genannten Prinzipien zueinander verhalten.
1. Begriffsbestimmende Merkmale des „sozialistischen Internationalismus"
Zur Definition des „sozialistischen Internationalismus" (s. I.) schreiben Sonja Moldt/Walter Es sind im wesentlichen fünf Merkmale, die konstitutiv für den s. I. sind:
Vogt: „Der sozialistische Internationalismus — seiner Natur und seinem Wesen nach übereinstimmend mit dem proletarischen Internationalismus — ist die gesetzmäßige Fortsetzung und Weiterentwicklung, eine qualitativ neue Erscheinung des proletarischen Internationalismus.'
1. Die „gleichartige" ökonomische Grundlage, die im gesellschaftlichen Eigentum an den Produktionsmitteln besteht. 2. Die „gleichartige“ Staatsordnung mit der Arbeiterklasse „an der Spitze". 3. Die „einheitliche" Ideologie, nämlich der Marxismus-Leninismus. 4. Die „gemeinsamen" Interessen bei der Verteidigung „revolutionärer Errungenschaften" gegen „Anschläge des imperialistischen Lagers". 5. Das „gemeinsame große Ziel": Die Errichtung des Kommunismus „im Weltmaßstab" Der s. I. ist, wie sich unschwer mit Hilfe der DDR-Literatur zeigen läßt, ein Ensemble aus ökonomischen, militärischen, politischen und nicht zuletzt ideologischen Aspekten, die in einem engen Wirkungsverhältnis zueinander stehen und allenfalls aus analytischen Gründen voneinander getrennt behandelt werden dürfen:
Der ökonomische Aspekt des s. I. wird zumeist im Kontext des RGW thematisiert und erscheint als „sozialistische Integration"
Der politische Aspekt wird mit den beiden Kategorien „Annäherung" und „Angleichung" darzustellen versucht, wobei offenbleibt, ob es sich hier um empirische Kategorien handelt (die der intersubjektiven Prüfung zu-gänglich sind) oder um Wesenskategorien, deren Evidenz schwer prüfbar ist
Militärische Aspekte des s. I. konzentrieren sich auf die Beziehungen zwischen der „ruhmreichen" sowjetischen Armee und der NVA. Der multilaterale Rahmen heißt hier „Warschauer Vertragsorganisation". These: „Je einheitlicher und geschlossener die Militärkoalition der sozialistischen Staatengemeinschaft ist, um so gesicherter sind die Errungenschaften des Sozialismus, um so nachdrücklicher wirkt jeder Schritt vorwärts beim sozialistischen und kommunistischen Aufbau auf die Festigung des Weltfriedens." Als zwei Manifestationen der „aktiven Friedenspolitik" und des „humanistischen Hauptanliegens der beiden „Waffenbrüder" Sowjetarmee und NVA werden ausdrücklich der Bau der Mauer von 1961 und die Intervention des Warschauer Pakts in die CSSR von 1968 hervorgehoben.
2. Das Verhältnis der DDR zur UdSSR — Die Thälmann-Renaissance
Kennzeichnend für das Verständnis der SED-Führung vom s. I. ist das Verhältnis zur Sowjetunion: „Das Verhältnis zur Sowjetunion ist der entscheidende Prüfstein für die Treue zum Marxismus-Leninismus, zum proletarischen Internationalismus.“
Es ist sicherlich Verhältnis zutreffend, in dem der DDR zur Sowjetunion das Kriterium für den s. I. zu sehen, wobei unter „Verhältnis" die Akzeptierung der Führungsrolle der Sowjetunion verstanden wird. Die in der westlichen Literatur mit unterschiedlichen Akzenten gestellte Frage nach dem außenpolitischen Handlungsspielraum und damit nach der faktischen Souveränität der DDR wird von DDR-Autoren durchweg als „unwissenschaftlich" qualifiziert, weil derartige Fragen die „höhere Qualität" der Beziehungen des s. I. nicht berücksichtigten. Westliche Studien, die auf Konflikte zwischen der DDR und der UdSSR bzw. innerhalb der „sozialistischen Staatengemeinschaft" hinweisen, werden als „ideologische Diversion" westlicher Kommunismusforscher hingestellt In der DDR-Literatur gilt die Orientierung auf die UdSSR, wie sie im Art. 6 der revidierten DDR-Verfassung von 1968 zum Ausdruck kommt, nicht als „Souveränitätsverzicht", sondern als die conditio sine qua non einer mit der Perspektive „Kommunismus" verlaufenden Entwicklung in der DDR.
Begründet wird das enge, abgestimmte Vorgehen der „sozialistischen Staatengemeinschaft" unter der Führung der UdSSR mit der „objektiven Notwendigkeit", die in einer aus dem „Wesen des Imperialismus" abgeleiteten latenten bzw. manifesten Bedrohungssituation besteht: „Die erfolgreiche Bewältigung der inneren revolutionären Prozesse und die Abwehr der der Angriffe internationalen Reaktion machten das enge — auch außenpolitische — Zusammenwirken mit der UdSSR zu einer Lebensfrage für die sich herausbildenden sozialistischen Staaten."
Bei der Bestimmung und bei der ideologischen Begründung der „brüderlichen" Beziehungen zur UdSSR rekurriert die DDR-Führung auf ein — in der Literatur vielzitiertes — Thälmann-Wort: „Die Stellung zur Sowjetunion entscheidet auch über die Frage, zu welchem Lager man in den Fragen der deutschen Politik gehört, zum Lager der Revolution oder zum Lager der Konterrevolution." Dieser Thälmann-Satz aus dem Jah-re 1926 wurde zum „Leitfaden der jungen DDR-Außenpolitik"
Aus den oben referierten fünf begriffsbestimmenden Merkmalen des s. I. folgt nach Auffassung der DDR „notwendig" die „koordinierte Außenpolitik". Der vielfach verwendete Begriff der „abgestimmten, koordinierten Außenpolitik der sozialistischen Staatengemeinschaft" soll offensichtlich einen spezifischen Modus der Willensbildungs-und Entscheidungsprozesse im „sozialistischen Lager" ausdrücken. Doch was ist das Spezifikum „koordinierter Außenpolitik"?
Nach Auffassung der DDR liegt das Spezifische der „koordinierten Außenpolitik" sozialistischer Staaten in der Art der Entscheidungsfindung. Doch gibt es bislang keine einzige Studie aus der DDR, die dieses hervorgehobene Spezifikum etwa im Rahmen einer Fallstudie fundierte. Institutionell ist die „koordinierte Außenpolitik" sozialistischer Staaten zu erfassen. Als „Koordinierungszentrum" fungiert der Warschauer Pakt und hier insbesondere der „Politische Beratende Ausschuß des Warschauer Vertrags". Uber die Beratungen gibt es im Westen zahlreiche Vermutungen, jedoch keine zuverlässigen Erkenntnisse. Als Ergebnisse der „koordinierten Außenpolitik“ sozialistischer Staaten gelten die Ratifizierung der Ostverträge, die völkerrechtliche Anerkennung der DDR sowie ihre Aufnahme in die UNO und nicht zuletzt der „erfolgreiche" Abschluß der KSZE.
Wenn auch der empirische Gehalt der Formel von der „koordinierten Außenpolitik" sozialistischer Staaten nicht bzw. nur selten er-schließbarist, so lassen sich doch einige Elemente feststellen, die sich implizit und aus dem Kontext der Berichterstattung in der DDR über internationale Vorgänge ergeben: — Führungsrolle der UdSSR;
— Unterordnung unter weltpolitische Erfordernisse sowjetischer Außenpolitik;
— Versuch der UdSSR, ihre Bündnispartner von ihren Vorschlägen zu „überzeugen";
— im Falle einer Kollision verschiedener Interessen entscheidet das sowjetische. Innerhalb der UNO erweist sich die „koordinierte Außenpolitik" in einem nahezu kongruenten Abstimmungsverhalten der „sozialistischen Staatengemeinschaft" (mit Ausnahme Rumäniens) und der hundertprozentig indentischen Politik von Sowjetunion und DDR Begründet
wird dies etwa so: „Nur wer sich fest mit dem Lande der Oktoberrevolution solidarisiert und verbündet, ist in der Lage, seinem eigenen Volk zu Freiheit und Fortschritt zu verhelfen.“
3. Sozialistischer Internationalismus und friedliche Koexistenz — ein Verhältnis der über-oder Unterordnung?
Bei der Feststellung zweier Strukturprinzipien ist die Frage nach dem Verhältnis beider zueinander unvermeidlich. Gibt es hier eine Rangfolge? Aus analytischen Gründen sollten hier zwei Ebenen unterschieden werden: die völkerrechtliche und die politische.
Auf der völkerrechtlichen Ebene steht für s. I. das „sozialistische Völkerrecht" und für friedliche Koexistenz das „allgemeindemokratische Völkerrecht". Die Autoren des bislang einzigen DDR-Völkerrechtslehrbuches schreiben: „Die auf dem Prinzip des sozialistischen Internationalismus beruhenden sozialistischen Völkerrechtsprinzipien und -normen treten in den zwischenstaatlichen Beziehungen zwischen sozialistischen Ländern an die Stelle der entsprechenden Prinzipien und Normen des allgemeindemokratischen Völker-rechts." Hinzugefügt wird: „Sie widersprechen jedoch den zwingenden Grundsätzen des allgemein verbindlichen Völkerrechts in keiner Weise."
Obwohl nicht deutlich gemacht wird, was denn die genuin „sozialistischen“ Völkerrechtsprinzipien bzw. -normen sind, dürfen nach geltendem Völkerrecht solche „Friedensaktionen" wie die Intervention der Warschauer Vertragsorganisation in die CSSR (1968) nicht mit dem Hinweis auf das „sozialistische Völkerrecht" gerechtfertigt werden, denn im Kollisionsfall hat das „allgemeindemokratische Völkerrecht" nach Art, 103 Vorrang. Es ist sicher kein Zufall und verdient hier hervorgehoben zu werden, daß Jugoslawien und Rumänien von einem Völkerrecht ausgehen, das für alle Staaten, unabhängig von der Gesellschaftsordnung, gilt. Auf der politischen Ebene wird immer wieder von DDR-Autoren erklärt, daß die beiden Strukturprinzipien (s. I. und friedliche Koexistenz) nicht unverbunden nebeneinander stehen, sondern als ein Verhältnis von Voraussetzung und Folge zu verstehen sei. These: Erst der s. I. schafft die entscheidende Voraussetzung für Beziehungen zu den kapitalistischen Staaten.
Das Verhältnis zweier existierender Prinzipien kann jedoch nicht nur als komplementär begriffen und in seiner empirischen Evidenz analysiert werden, sondern auch als widersprüchlich. Inwieweit der s. I. und die friedliche Koexistenz in bestimmten Fällen unvereinbar sind und welches Prinzip dann Vorrang hat, kann hier nicht untersucht werden. Eine Antwort auf die sicher reizvolle Frage nach der Vereinbarkeit dieser Prinzipien, die unterschiedliche Inhalte, Träger und Adressaten haben, findet sich bei Kurt Seliger
V. Das „antiimperialistische Bündnis" als Ausdrucksform des proletarischen Internationalismus
Der „proletarische Internationalismus" findet erklärtermaßen außerhalb des „sozialistischen Weltsystems" und im Verhältnis zu den Entwicklungsländern und Befreiungsbewegungen seinen Ausdruck in dem Begriff vom „antiimperialistischen Bündnis": „Die Deutsche Demokratische Republik unterstützt die Staaten und Völker, die gegen den Imperialismus und sein Kolonialregime, für nationale Freiheit und Unabhängigkeit kämpfen, in ihrem Ringen um gesellschaftlichen Fortschritt“ (Art. 6, Ziff. 3, Satz 1 der DDR-Verfassung) Im Gegensatz zu den bereits genannten außenpolitischen Strukturprinzipien s. I. und friedliche Koexistenz ist das „antiimperialistische Bündnis" begrifflich diffus. Schon die Frage, wer Adressat des „antiimperialistischen Bündnisses" bzw.der „antiimperialistischen Solidarität“ ist, stößt auf verwirrende Antworten in der DDR-Literatur: sind es die Entwicklungsländer oder nur die „progressiven" unter ihnen? Im bejahenden Fall taucht die nächste Frage auf: Was ist das Kriterium für progressiv?
Zum Stellenwert der Entwicklungsländer (auch „nationale Befreiungsbewegungen" genannt) für die DDR-Außenpolitik sei hier darauf verwiesen, daß die „nationalen Befreiungsbewegungen" eine der drei „revolutionären Kräfte" im Kampf gegen den Imperia-lismus sind -Es ist davon die Rede, daß in der Außenpolitik der DDR die „Beziehungen zur nationalen Befreiungsbewegung" einen „bedeutenden Platz" einnehmen und daß diese Beziehungen „auf antiimperialistischen Grundlagen" beruhen Zentral für das Selbstverständnis der DDR vom „antiimperialistischen Bündnis" ist ihre These von der „prinzipiellen Übereinstimmung" mit den Entwicklungsländern und den Befreiungsbewegungen, die zu den „objektiven Bündnispartnern des Weltsozialismus" gezählt werden 94): „Ausgehend, von dem Leninschen Grundsatz, daß die nationale Befreiungsbewegung natürlicher und objektiver Bündnispartner des Weltsozialismus und der internationalen Arbeiterbewegung im Kampf gegen Imperialismus und für sozialen Fortschritt ist, gehört es zu den Wesenszügen sozialistischer Außenpolitik, dem gerechten Kampf der kolonial und rassistisch unterdrückten und ausgebeuteten Völker solidarische Hilfe zu erweisen.“
Die Bereitschaftserklärung zur „solidarischen Hilfe" verweist auf die empirische Evidenz des so vielbeschworenen „antiimperialistischen Bündnisses". In der DDR-Literatur wird zwar stets von der „großen Hilfeleistung" der „sozialistischen Staatengemeinschaft" gesprochen, doch gibt es bisher keine einzige DDR-Analyse, die die behauptete „große" Hilfe mit dem Attribut „uneigennützig" zusammenfassend qualifiziert. Hier ist man auf westliche Studien angewiesen. Erst unlängst haben Lamm und Kupper das Verhältnis der DDR zu den Entwicklungsländern zum Gegenstand einer materialintensiven und sorgfältig gearbeiteten Analyse gemacht Zusammenfassend ergibt sich folgendes Bild: — Die Entwicklungshilfe der DDR ist im Vergleich zu westlichen Industriestaaten äußerst gering; innerhalb des Ostblocks leistet sie als das ökonomisch am höchsten entwickelte Land verhältnismäßig wenig Entwicklungshilfe. — Diese quantitativ geringe Entwicklungshilfe der DDR ist nur bilateraler Art, d. h. sie läuft nicht über die Internationalen Organisationen (UNO-System), sondern wird auf der Grundlage langfristiger Verträge direkt an den Empfänger gegeben. Damit ist die DDR-Entwicklungshilfe jedoch stark außenpolitisch und außenwirtschaftlich instrumentierbar; deshalb drängen die Entwicklungsländer auf multilaterale Entwicklungshilfe Bis 1972 wurde die Entwicklungshilfe von der DDR außenpolitisch als Anerkennungshilfe eingesetzt. Heute ist sie ökonomisch als Rohstoffsicherung angelegt. — Die DDR-Entwicklungshilfe konzentriert sich auf ausgewählte Länder. Zu den „Bevorzugten" zählen etwa Ägypten, Indien, aber auch Brasilien und Algerien. Erinnern wir uns: Da die DDR-Entwicklungshilfe ihrem Selbstverständnis nach „antiimperialistisch" und auf die „ausgebeuteten Völker" gerichtet ist, kann nur die „Dialektik" helfen, um bei diesem Adressatenkreis eine DDR-Entwicklungshilfe zu erkennen, die „uneigennützig" den „ausgebeuteten Völkern" zur Seite steht. — Die DDR leistet kaum Kapitalhilfe. Sie betrug 1969 nur 0, 02% ihres Bruttosozialprodukts, womit sie noch unter dem RGW-Durchschnitt lag. Diese Kapitalhilfe konzentriert sich auf wenige Schwerpunktländer. Die Auswahl dieser Länder läßt nicht erkennen, was an den Empfangsländern „progressiv" sein soll. — In der DDR-Entwicklungshilfe dominieren klar zwei Formen: die Bildungshilfe und die Militärhilfe. Zur Bildungshilfe hat Hans-Joachim Fischer Material zusammengetragen, das Aufschluß gibt über Umfang und Struktur dieser Hilfe In einem aufsehenerregenden SPIEGEL-Bericht ist die „militärische Entwicklungshilfe" der DDR dokumentiert worden
Seit einigen Jahren favorisieren die Entwicklungsländer neben der Kapitalhilfe den Grundsatz: „Aid by Trade". Voraussetzung dafür ist die völlige Marktöffnung der Industriestaaten für Produkte aus der „Dritten Welt". Dazu liegen Entschließungen vor, die den kollektiven Willen der Entwicklungsländer zum Ausdruck bringen. Sowohl auf der UNCTAD IV in Nairobi (1976) als auch auf der V. Gipfelkonferenz der Blockfreien in Colombo sind klare Forderungen an die osteuropäischen Staaten gerichtet worden
Weil die materielle Entwicklungshilfe der DDR — verglichen mit Entwicklungshilfeleistungen der westlichen Industriestaaten —• nicht nennenswert ist und im Bereich des Handels erhebliche Defizite feststellbar sind, müssen Argumentationsfiguren formuliert werden, um ihr'entwicklungsländerfreundliches Image zu retten. Neben der These, die sozialistischen Staaten bestimmten ihre Hilfe nicht anhand von Prozenten, sondern auf der Basis der „Gleichberechtigung und des gegenseitigen Vorteils" sind es insbesondere zwei Punkte, die immer wieder von der DDR zu ihrer Entlastung vorgebracht werden: 1. Die These vom „Nord-Süd-Konflikt" und die damit verbundene Einteilung in den „reichen Norden" und den „armen Süden" wird strikt abgelehnt. In dieser These spiegele sich der ungerechtfertigte Versuch, „den Kolonial-mächten und den sozialistischen Ländern eine gemeinsame Verantwortung für die wirtschaftliche Rückständigkeit der Entwicklungsländer auferlegen zu wollen" Für die Rückständigkeit der Entwicklungsländer seien allein die „führenden kapitalistischen Länder" verantwortlich, die durch koloniale Ausbeutung zu Reichtum gelangt seien Anzumerken sei hier nur, daß die DDR-These zur Unterentwicklung mit der Behauptung, die imperialistische Ausbeutung hätte den Reichtum der westlichen Industriestaaten hervorgebracht, oder Unterentwicklung und Entwicklung seien zwei Seiten derselben Medaille, sich nicht auf eine ausreichend analytische Literatur stützen kann, weder auf eine marxistische noch auf eine nichtmarxistische, wie dies aus dem Literaturbericht Gilbert Zieburas eindeutig hervorgeht 2. Aus dem Verursachungstheorem (Allein-verantwortung „des Imperialismus") leiten die kommunistischen Staaten ab, daß die Forderungen der Entwicklungsländer sich allein an die „imperialistischen Staaten" richten.
Mit dem Verursachungstheorem korrespondiert das Exkulpationstheorem: Mit dem Hinweis auf die „Verursachung" der Unterentwicklung versucht die DDR zu erklären, warum ihre Entwicklungshilfe — bilateral wie multilateral — so wenig ihren Möglichkeiten und den Notwendigkeiten entspricht und entschuldigt sich damit Jedoch: Mit diesen beiden Theoremen könnte die DDR lediglich die „historische Verantwortung“ für die Unter-entwicklung von sich weisen. Einer aus der erklärten „Friedenspolitik" abzuleitenden „aktuellen Verantwortung" für die katastrophale Situation in den Entwicklungsländern kann sich die DDR nicht entziehen. Sie wird deshalb innerhalb der UNO immer stärker an ihre Verpflichtungen als Industriestaat erinnert und als Adressat in den Forderungskatalog der Entwicklungsländer einbezogen.
Wenn DDR-Repräsentanten in UNO-Gremien von ihrem „brüderlichen" und „solidarischen" Verhältnis zu den Entwicklungsländern spre-chen und dabei die Vorstellung nähren, als ginge die DDR tatsächlich davon aus, es handele sich hier um ein homogenes Kräfte-feld, so ist in der DDR-Literatur die Tendenz spürbar, zu differenzieren, wobei allerdings das Differenzierungskriterium häufig unklar bleibt
Aufschlußreich sind hier die Länderberichte in der DDR-Literatur (insbesondere im ND und Horizont). Nirgendwo findet sich der „marxistisch-leninistische" Versuch, die Außenpolitik der porträtierten Länder aus ihrer jeweiligen Gesellschaftsordnung abzuleiten. Schaut man sich beispielsweise die Länder-porträts Libyens Somalias des Sudan Kenias oder Indiens an, so ergibt sich einmal ein freundliches und zum anderen ein weniger freundliches Bild. Kriterium für ein freundliches Bild ist offensichtlich allein das Verhalten des jeweiligen Landes (der jeweiligen Regierung) zur UdSSR, d. h. keine Klassenanalyse, sondern lediglich aneinandergereihte Impressionen.
In einem Schaubild, soll das bisher Gesagte zusammengefaßt werden, wobei zur Erläuterung noch folgendes zu betonen wäre: Die drei Prinzipien unterscheiden sich nicht im Ziel („Herbeiführung der günstigsten äußeren Bedingungen für den Aufbau des Sozialismus"), sondern nur hinsichtlich ihres Inhalts, ihrer Adressaten und ihrer Mittel. Ausgangspunkt ist die „sozialistische Staatengemeinschaft". Ihre Stärkung wird zur Voraussetzung für jede kommunistische Außenpolitik erklärt. Zu beachten ist auch, daß in der einschlägigen Literatur immer häufiger von der „sozialistischen Außenpolitik" gesprochen wird und dabei die Außenpolitik der einzelnen Staaten zurücktritt. Strenggenommen — folgt man der DDR-These von der „koordinierten Außenpolitik" — gibt es keine Außenpolitik der DDR oder Ungarns, sondern nur eine der „sozialistischen Staatengemeinschaft", an der die DDR oder Ungarn beteiligt sind.
Nicht ganz eindeutig ist die begriffliche Einordnung zahlreicher Entwicklungsländer und das Verhältnis der „sozialistischen Staatengemeinschaft" zu ihnen. So werden beispielsweise die Beziehungen zu Indien unter die Überschrift „Friedliche Koexistenz" gebracht, während bei der Beschreibung des Verhältnisses der kommunistischen Staaten etwa zum Irak weder von „friedlicher Koexistenz" noch vom „proletarischen Internationalismus" die Rede ist Gegenüber Befreiungsbewegungen wie der MPLA in Angola und der SWAPO in Namibia wird dagegen der Ausdruck „proletarischer Internationalismus" gebraucht.
VI. Einige Anwendungsfelder der DDR-Außenpolitik
Im folgenden werden einige Bereiche der DDR-Außenpolitik im Überblick skizziert, wobei der Schwerpunkt auf dem multilateralen Aspekt (UNO, KSZE und MBFR) liegt
1. Die UNO-Politik der DDR
Das Politbüro der SED — so im Bericht an die 14. Tagung des ZK der SED (1975) — „betrachtet die aktive Mitarbeit der DDR in der UNO, ihren Organen und Spezialorganisationen als eine wichtige Seite ihrer sozialistischen Außenpolitik"
Im neuen SED-Programm hat sich die DDR die Aufgabe gestellt, in der UNO dazu beizutragen, „deren Rolle bei der Lösung der inter-Bis zur Paraphierung des Grundvertrages (8. November 1972) scheiterten alle Versuche der DDR, ihr Statusdefizit in der internationalen Politik auszugleichen und mit der Bundesrepublik gleichzuziehen. Bis zur Erlangung ihrer Mitgliedschaft in der UNESCO blieb die Politik der DDR gegenüber der UNO auf eine nichtformalisierte Ad-hoc-Partizipation (un-verlangte Erklärungen zu Tagesordnungspunkten von UNO-Gremien) beschränkt. Den Höhepunkt der auf die UNO gerichteten Außenpolitik stellte ihr Aufnahmeantrag vom nationalen Probleme, bei der Festigung des Friedens, bei der Entwicklung der Zusammenarbeit der Völker und bei der Verteidigung der Menschenrechte zu erhöhen" In der kürzlich vom Vorsitzenden des DDR-Ministerrates, Willi Stoph, abgegebenen Regierungserklärung verspricht die DDR eine „aktive Mitarbeit in den internationalen Organisationen", vor allem in der UNO Doch diese wohlklingenden Sätze reichen allenfalls zur Skizzierung des Selbstverständnisses der SED, jedoch keinesfalls zum Verständnis der UNO-Politik der DDR, wenn man ihr Verhalten seit 1972 im UNO-System als Bezugspunkt der Analyse nimmt.
Wie realisiert und konkretisiert sich die „sozialistische" Außenpolitik in der Weltorganisation? Lassen sich aus der bisher gezeigten Mitarbeit der DDR im UNO-System konstante Verhaltensmuster herausarbeiten? Und nicht zuletzt: Ist eine genuine UNO-Politik der DDR feststellbar? Es ist bei dem unzulänglichen Literaturbestand gerechtfertigt, die UNO-Politik der DDR in einem ersten Über-blick zu beleuchten. Dazu sollen einige Ergebnisse einer kürzlich abgeschlossenen Studie referiert werden
Der DDR gelang am 21. November 1972 über die Mitgliedschaft in der UNESCO der jahrelang mit Vehemenz betriebene Zugang zum UNO-System. Seit dem 18. September 1973 ist sie Vollmitglied der UNO. Sie hat inzwischen an Vier ordentlichen und zwei außerordentlichen Sessionen der Generalversammlung (GV) sowie an Sitzungen der verschiedenen, das UNO-System konstituierenden Organe und Sonderorganisationen gleichberechtigt teilgenommen. 28. Februar 1966 dar. Wegen des Aufnahme-verfahrens — alle fünf ständigen Mitglieder des Sicherheitsrates müssen für eine Aufnahme stimmen — konnte die DDR praktisch nicht allein UNO-Mitglied werden, solange die Bundesrepublik nicht ihrerseits Mitglied werden wollte.
Mit der Veränderung des Stellenwerts der „deutschen Frage" in der Strategie der Westmächte und unter den Bedingungen diplomatischer Entspannung zwischen den USA und der UdSSR mußte die Bundesrepublik ihre Beziehungen zur DDR überprüfen. Die sozialliberale Koalition in Bonn machte das Unvermeidliche (Mitgliedschaft der DDR in internationalen Organisationen und diplomatische Beziehungen zu „Dritten") zum Bestandteil ihrer Deutschlandpolitik: Nach einer Formalisierung der deutsch-deutschen Beziehungen sollte von beiden deutschen Staaten die Mitgliedschaft in den Vereinten Nationen angestrebt werden. Diese Junktimspolitik der Bundesregierung setzte sich gegen den Willen der DDR durch.
Aus der Fülle jener Merkmale, die für das Verhältnis der DDR zur UNO bestimmend sind und ihr Verhalten im System der Vereinten Nationen mit einem hohen Wahrscheinlichkeitsgrad vorhersagbar machen, lassen sich folgende vier herausdestillieren:
1. Das Selbstverständnis der DDR als „sozialistischer“ Staat: Daraus folgt nach ihrer Auffassung eine „sozialistische Außenpolitik", die sich „wesentlich" von der „imperialistischen Außenpolitik" der Bundesrepublik unterscheidet. Die DDR konnte jedoch bisher nicht erkennbar machen, worin die spezifischen Merkmale „sozialistischer Außenpolitik" auf der empirisch faßbaren Ebene bestehen. Die Rigidität, mit der in der DDR-Literatur die „sozialistische Gesellschaftsordnung" als zentraler Bestimmungsfaktor ihrer UNO-Politik geltend gemacht wird, steht in einem genau angebbaren Widerspruch zum Verhalten der DDR. Ohne dies hier vertiefen zu können, kann mit der erklärten sozialistischen Gesellschaftsordnung weder die völlige Enthaltsamkeit der DDR in der multilateralen Entwicklungshilfe (qua UNO) noch ihr Verhalten etwa bei den Seerechtskonferenzen erklärt werden, wo sie „vitale Interessen“ geltend macht. Ihre eingeschränkte Mitarbeit im
UNO-System mit der Favorisierung einer mehr forumsorientierten Aktivität und ihre Politik der selektiven Mitgliedschaft in den Sonderorganisationen (sie ist in sechs der vierzehn nicht vertreten) kann sie gleichfalls nicht auf die „sozialistische Gesellschaftsordnung" zurückführen. 2. Die demonstrative Orientierung an der UdSSR: Die hundertprozentige Übereinstimmung mit der Sowjetunion wird in der DDR-Literatur nicht bestritten, nur anders interpretiert als bei uns. Sie sei Ausdruck dessen, was in Reden führender Politiker der SED „koordinierte Außenpolitik" sozialistischer Staaten genannt wird und aus dem „besonderen Verhältnis" resultiert, das die DDR mit der UdSSR „historisch" verbindet. So folgt aus der akzeptierten Dominanz der Sowjetunion für die DDR im Rahmen der Vereinten Nationen eine völlige Kongruenz im Abstimmungsverhalten. 3. Der Anspruch der DDR, die Interessen der Entwicklungsländer im „antiimperialistischen Kampf" durchsetzen zu hellen: Die Konfliktlinien im UNO-System verlaufen nach Auffassung der DDR nicht, zwischen „Armen" und „Reichen", sondern Verlauf und Inhalt der Arbeit in den Vereinten Nationen seien durch den Kampf zwischen „Imperialisten" und dem „neuen Kräfteverhältnis zugunsten des Friedens und des Sozialismus bestimmt". Dieses „Zwei-Lager" -Theorem lebt von der Behauptung, daß die Interessen der Entwicklungsländer mit jenen der „sozialistischen Staatengemeinschaft" identisch seien. Die Entwicklungsländer in ihrer Mehrheit sehen dies anders: Die „sozialistischen Industriestaaten" sind — wie die westlichen Industriestaaten — Adressaten von Forderungen der Entwicklungsländer. Der Versuch sozialistischer Industriestaaten, sich vor der Verantwortung für die ökonomische Dekolonisierung zu drücken, stößt immer mehr auf Ablehnung bei den Entwicklungsländern. Es bleibt jedoch festzustellen, daß die DDR nicht gezwungen ist, so zu argumentieren wie die Bundesrepublik beispielsweise in ihrer Afrika-Politik, die von einer Trennung von „Wirtschaft" und „Politik" ausgeht. Dies hat zur Folge, daß sie zwar politisch gegen den „Rest-Kolonialismus" und gegen die Apartheid-Politik Südafrikas opponiert, ihrer „Wirtschaft" jedoch erlaubt, gegen Beschlüsse der UNO weiterhin im südlichen Afrika zu investieren. Erkennbar ist das Bemühen der DDR, sich im sog. Nord-Süd-Konflikt zu profilieren, um so weltweit zu dokumentieren, daß sie ein völlig anderer deutscher Staat ist.
4. Das Bemühen der DDR, sich gegenüber der Bundesrepublik „positiv“ abzugrenzen: Je häufiger Bonn die These von den „besonderen Beziehungen" zwischen den beiden deutschen Staaten vorbringt, desto umfassender wird Ost-Berlin sich gegenüber Bonn abgrenzen wollen. Die DDR läßt keine Gelegenheit aus, um die Gegensätzlichkeit von „sozialistischer DDR" und „kapitalistischer BRD" zu erklären und damit ein „objektiv-bedingtes" Gegeneinander der beiden deutschen Staaten zu begründen. So hat der ehemalige DDR-Außenminister Winzer im stark voneinander abweichenden Abstimmungsverhalten beider deutscher Staaten während der 28. Sitzungsperiode der Generalversammlung einen Indikator dafür gesehen, „wie verlogen und haltlos die von der Bundesrepublik Deutschland verbreitete These von der Einheit der deutschen Nation ist". Es hat sich bereits ein deutsch-deutscher „Dialog" in der Generalversammlung herausgebildet: Wenn Mitglieder der westdeutschen UNO-Delegation etwas zum Selbstbestimmungsrecht oder zu ähnlichen, für die DDR offensichtlich sensitiven Themen sagen, so folgt unverzüglich eine „Klarstellung" von Seiten der DDR. Als beispielsweise Außenminister Genscher auf der 29. Generalversammlung darauf hinwies, daß das „letzte Wort" über die „deutsche Nation" vom „deutschen Volk selbst gesprochen" werden müsse, antwortete DDR-Außenminister Fischer: „Das Volk der Deutschen Demokratischen Republik hat in freier Ausübung seines Selbstbestimmungsrechts ein für allemal die sozialistische Gesellschaftsordnung gewählt." Beide Delegationen benutzen die UNO als Forum für ihre konkurrierende Auffassung zur „deutschen Frage".
In der DDR wird durchgängig das Bild vom „aktiven und erfolgreichen" UNO-Mitglied verbreitet. Es zeigt sich jedoch, daß „aktive Mitarbeit" nicht gleichzusetzen ist mit einer umfassenden Mitarbeit. Prüft man die Mitarbeit der DDR auf den Ebenen „personelle Mitarbeit", „materiell-finanzielle Mitarbeit" und „forumsorientierte Mitarbeit", so liegt der Schwerpunkt der DDR im Bereich der „forums- orientierten Mitarbeit“ unter evidenter Vernachläßigung der anderen beiden Mitarbeitsformen. Die UNO erhält ihren Stellenwert für die „sozialistische Diplomatie" als Forum der „Einheitsfront aller friedliebenden antiimperialistischen Kräfte" zur Anprangerung „imperialistischer Machenschaften". Pikanterweise sieht die DDR in dem (seltenen) Versuch westlicher Staaten, sich mit Tatbeständen aus dem „real existierenden Sozialismus" zu beschäftigen, eine „friedensfeindliche" Einmischung in die inneren Angelegenheiten. Die „sozialistische Staatengemeinschaft" vertritt hier offenbar ein Alleinnutzungsrecht des Forumscharakters der Weltorganisation.
Daß die DDR keine umfassende Mitarbeit betreibt, geht auch daraus hervor, daß sie in sechs der 14 Sonderorganisationen nicht vertreten ist. Sie ist bisher weder in der Weltbankgruppe (vier Organisationen) noch in der FAO (Welternährungsorganisation) noch in der ICAO (Internationale Organisation für Zivilluftfahrt) Mitglied geworden. Dieser Tatbestand kontrastiert mit ihrem Drängen in den sechziger Jahren, in allen Organisationen der UNO Mitglied zu werden. Ihre wichtigste Begründung im Streben nach „gleichberechtigter Mitgliedschaft" war dabei die Universalität. Nur die volle Universalität — so die DDR — nutze den Vereinten Nationen.
Die Politik der selektiven Mitgliedschait der DDR innerhalb des UNO-Systems steht nicht nur im Widerspruch zu ihrer Erklärung, in allen UNO-Organisationen „gleichberechtigt" mitzuarbeiten, sondern kann auch als Verstoß gegen das Kooperationsgebot der Art. 1, 4 der UNO-Charta gewertet werden. Die DDR hat sich mit ihrer UNO-Mitgliedschaft zur uneingeschränkten Kooperation im UNO-System verpflichtet. Mit Morawiecki ist davon auszugehen, daß „refusal to participate in the Organization can be presented as evidence of a lack of interest in peaceful cooperation"
Ginge es der DDR tatsächlich um die „edlen Ziele" (Winzer) der UNO, so würde sie heute aus ihrem Recht auf Mitgliedschaft in allen UNO-Organisationen eine Pflicht zur Mitgliedschaft in allen Spezialorganisationen machen.
2. Der europäische Bezugsrahmen — Die Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit
Jedem aufmerksamen Leser der DDR-Publizistik fällt auf, daß die KSZE als Zäsur in den intersystemaren Beziehungen kommentiert wird und ihr Ergebnis, die Schlußakte (SA), das wohl meistzitierte Dokument in Reden führender DDR-Politiker und in der einschlägigen DDR-Literatur ist. Nach Auffassung der
DDR wirkt „sich die Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit spürbar auf das Verhältnis zwischen den Staaten und Völkern aus"
Wie manifestiert sich die behauptete Wirkung im „Verhältnis zwischen den Staaten und Völkern"? Lassen sich erkennbare und auf die SA rückführbare Wirkungen in den deutsch-deutschen Beziehungen feststellen? Wie sieht die nachprüfbare Wirklichkeit nach Helsinki in den intersystemaren Beziehungen aus?
Es ist unschwer zu erkennen, daß die „Wirkung" der KSZE zunächst einmal im Kampf um die „richtige" Interpretation der SA besteht. Der Interpretationsdissens zwischen Ost und West, zwischen der Bundesrepublik und der DDR, läßt sich auf folgende Formel bringen: Beide sprechen zur KSZE, zitieren aus der SA, erörtern mit Hilfe der KSZE-Schlußakte die Entspannungsperspektiven, kommen jedoch zu völlig gegensätzlichen Schlußfolgerungen. Der Grund liegt in den divergierenden Bezugspunkten: Für die einen ist der Korb 1 (10 Prinzipien) mit dem „Oberprinzip" Unverletzlichkeit der Grenzen und dem Verbot, sich in die „inneren Angelegenheiten" einzumischen, zentral und gilt als Entspannungstest. Dies ist die Position der DDR. Die anderen, die westlichen Staaten und die Neutralen, richten ihre Aufmerksamkeit mehr auf den Korb 3 mit der Folge, daß in der Verwirklichung von freierem Austausch von Meinungen und Menschen der Entspannungstest gesehen wird, kurz: „die Entspannung muß sich im Alltag der Menschen bewähren"
Das Stichwort heißt hier selektive Interpretation. Die SA ist an einigen Stellen interpretationsoffen; dies liegt nicht zuletzt am Kompromißcharakter. Immerhin mußten 35 Staaten unterschiedlicher Gesellschaftsordnung einen gemeinsamen Nenner finden. Doch der Interpretationsoffenheit sind Grenzen gesetzt.
Die DDR versucht nun dadurch, daß sie die SA als „Kodex der friedlichen Koexistenz" bezeichnet, dieser einen bestimmten Sinn und damit eine bestimmte Auslegung (Begrenzung) zu geben Welche Implikationen es gäbe, wenn die anderen Teilnehmerstaaten die DDR-Auslegung akzeptieren würden, ist bei den Erörterungen zur „friedlichen Koexistenz" (s. o.) deutlich geworden. Dazu ist zweierlei zu sagen: Der Begriff „Friedliche Koexistenz" taucht nicht ein einziges Mal in der SA auf. Entscheidender ist jedoch: Die Unterzeichner der SA erklären ihre „Entschlossenheit", die SA in ihren gegenseitigen Beziehungen anzuwenden, „ein jeder in seinen Beziehungen zu allen anderen Teilnehmerstaaten, ungeachtet ihrer politischen, wirtschaftlichen oder sozialen Systeme ..." (Präambel, Hervorh. d. Verf.). Allein dieser Wortlaut verbietet eine Interpretation unter der Überschrift „friedliche Koexistenz".
Ohne hier auf Einzelheiten der KSZE und der Position der DDR gegenüber der SA eingehen zu können soll kurz die Frage erörtert werden, ob, und wenn ja, welche Implementierungskonzeptionen der DDR zu erkennen sind. Auf der Suche nach einer „consistent Implementation of the provisions of the Final Act" ist folgendes erkennbar: Aus der Priorisierung ausgewählter Prinzipien des Korbes 1 folgt: Erst wenn diese (Unverletzlichkeit der Grenzen und Verbot, sich in die „inneren Angelegenheiten" einzumischen) erfüllt sind, kann man sich mit dem Inhalt des für den Westen im allgemeinen und für die Bundesrepublik im besonderen wichtigen Korbes 3 beschäftigen, d. h. darüber verhandeln. Die „Festlegungen" von Helsinki" werden aufgeteilt in Verhaltensimperative und mehr oder weniger lockere, d. h. unverbindliche Verhandlungsindikative. Als Verhaltens-imperativ gelten die ausgewählten Prinzipien des Korbes 1, als unverbindliches Entspannungsornament sollen dagegen die Bestimmungen des Korbes 3 gelten. Nach DDR-Auffassung sei es durchaus möglich, daß die Körbe 1 und 3 gleichzeitig realisiert werden, allerdings nur unter Wahrung der genannten Prinzipien.
Wenn die Verzahnung zwischen den beiden Körben so hergestellt wird, kommt im Ergebnis eine Blockierung des Korbes 3 heraus. Dies wird etwa in den deutsch-deutschen Beziehungen beim Grundsatz der „Nichteinmischung in die inneren Angelegenheiten" deutlich. Dieser Begriff ist derart schwammig und in der Reichweite willkürlich anwendbar, daß es schwerfallen würde, exakt festzustellen, wann dieses Prinzip „gewahrt" ist und wann nicht. Obwohl der Begriff der „inneren Angelegenheiten" ein Schlüsselbegriff der völkerrechtlichen Literatur ist (vgl. hier das bereits zitierte Völkerrechtslehrbuch der DDR von 1973), konnten die zwei entscheidenden Fragen bislang nicht beantwortet werden: Was ist der nicht reduzierbare Kern der „inneren Angelegenheiten“? Wann sind „innere Angelegenheiten“ unter den Bedingungen der Internationalisierung aller Lebensvorgänge verletzt?
3. Militärische Ergänzung der politischen Entspannung (MBFR)
Die politische Entspannung, die in der SA kodifiziert worden sei, müsse nun ihre militärische Ergänzung finden und dadurch stabilisiert werden. — diese Formel gehört zur ständigen Argumentationsfigur im DDR-Schrifttum. Es muß hier nicht hervorgehoben werden, daß das unverminderte Wettrüsten ä la longue die politische Entspannung gefährden kann, über die Notwendigkeit von Abrüstung oder zumindest Rüstungskontrolle gibt es keinen Streit zwischen Ost und West. Die Auseinandersetzung konzentriert sich mehr auf die Frage, wie dies geschehen soll. Große Erwartungen richten sich hier auf die Wiener Verhandlungen über eine ausgewogene Truppenreduzierung (MBFR). Bekannt ist der Tatbestand, daß die MBFR-Gespräche, die 1973 begannen, bisher mehr dazu dienten, die kontroversen Positionen von NATO und War-schauer Vertrag auszutauschen. Ein substantielles Ergebnis liegt nicht vor, ist auch nicht in Sicht. Sowohl die NATO als auch der War-schauerVertrag werfen sich gegenseitig vor, die Verhandlungen zu blockieren.
Nach Auffassung der DDR stehen den „konstruktiven Vorschlägen und Bemühungen"
der sozialistischen Staaten „unrealistische Forderungen" der NATO gegenüber Der Leiter der DDR-Delegation bei den Wiener Verhandlungen, Ingo Oeser, nennt in seiner Würdigung des Verhandlungsstandes noch einmal die „Grundprinzipien" des Warschau-er Vertrages bei jedem Abrüstungsschritt:
„Unverminderte Sicherheit aller Beteiligten", Gewährleistung der „Gegenseitigkeit" und Gleichwertigkeit der Reduzierungen, Reduzierung von Streitkräften und Rüstungen Die NATO nennt gleichfalls solche „Grundprinzipien", wenn auch in anderer Terminologie. Solange nicht geklärt ist, was „unverminderte Sicherheit“ ist und ob das gegenwärtige Kräfteverhältnis ausgewogen ist, haben diese schön formulierten Grundsätze lediglich Papierwert. Auch Oeser geht nicht auf die unterschiedlichen Ausgangspositionen von NATO und Warschauer Vertrag ein, die erklären, warum sich in Wien in über 100 Verhandlungsrunden nichts bewegte
In einer Übersicht lassen sich die unterschiedlichen Verhandlungsprämissen und -ziele von NATO und Warschauer Vertrag illustrieren: Die Crux: Der Warschauer Vertrag nimmt das „bestehende militärische Kräfteverhältnis zur Grundlage" der Verhandlungen 130). Die NATO sieht in dem bestehenden militärischen Kräfteverhältnis eine Bedrohung, weil es nach ihrer Auffassung ungleichgewichtig ist. Daher fordert sie asymmetrische Reduzierungen, damit als Ergebnis eine Parität, also Sicherheit auf niedrigerem Niveau der Rüstung erreicht wird. Der Warschauer Vertrag nennt die auf diesen Vorstellungen der NATO basierenden Überlegungen „unrealistische Forderungen", weil diese „auf eine Veränderung des bestehenden Kräfteverhältnisses zugunsten der NATO-Staaten hinauslaufen" 131).
Warum das Wettrüsten trotz der zahlreichen wohlklingenden Bereitschaftserklärungen aus Ost und West weitergeht, hat Außenminister Genscher erklärt: „Solange wir in Wien nicht zu einem Ergebnis kommen, müssen die Verbündeten ihre Verteidigungsanstrengungen auf dem erforderlichen Niveau halten." 132)
Mit dem Hinweis auf die NATO rüstet man im Warschauer Vertrag weiter auf — dies ist der Teufelskreis.
Es bestehen begründete Hoffnungen, daß nach dem Amtsantritt J. Carters die Wiener Verhandlungen endlich erste substantielle Ergebnisse bringen werden 133).
Die DDR hat eine bestimmte Abrüstungsdoktrin, die hier in ihren Grundlinien kurz skizziert werden soll. Zunächst: Sozialistische „Friedenspolitik" zeigte sich in einer Politik, die auf eine „allgemeine und vollständige Abrüstung" abziele 134). 1. Das „Abrüstungsprinzip" 135) der DDR-Außenpolitik folgt aus der behaupteten sozialistischen Gesellschaftsordnung der DDR. Auf der „Wesensebene" wird der Kausalzusammenhang zwischen Sozialismus und Abrüstung durch die apodiktische Feststellung „Frieden und Sozialismus gehören zusammen" hergestellt. 2. Für die „imperialistischen" Staaten folgt nach Auffassung der DDR die „Abrüstungspflicht" aus der UNO-Charta (insbesondere aus dem Gewaltverbot des Art. 2, 4) • 3. Die DDR greift bei ihrer „Erklärung", warum die substantiellen Abrüstungsergebnisse bisher ausblieben, auf ihre Kriegsverursachungstheorie zurück Verkürzt könnte man die zahlreichen DDR-Aussagen zur Frage des Wettrüstens dahin gehend zusammenfassen, daß das Wettrüsten solange anhält, wie es „imperialistische" Staaten gibt. Die „imperialistischen" Staaten sind von sich aus nicht zur Abrüstung bereit, sie müssen — so die DDR — zur Abrüstung gezwungen werden. Das „veränderte Kräfteverhältnis zugunsten des Friedens und des Sozialismus" zwinge die NATO zu Abrüstungsverhandlungen. Immerhin wird damit konzediert, daß der „Kapitalismus" nicht notwendig das Wettrüsten schüren muß und zur Abrüstung durchaus fähig ist. Diese „Eigenschaft" wird ihm in vulgär-marxistischen Betrachtungen zum Komplex Rüstung/Abrüstung bestritten.
Die Anpassungsthese aus der DDR dient zur Erklärung des Tatbestandes, daß die USA bei-* spielsweise zu Rüstungskontrollmaßnahmen bereit sind. Trotz des „militärisch-industriellen Komplexes" ergebe sich die „reale Möglichkeit der Beendigung des Wettrüstens" Es komme eben nur auf die Stärke der „Friedenskräfte" unter der Führung der UdSSR an! Wer die Beendigung des Wettrüstens und die Abrüstung als Anpassungsvorgang (in diesem Fall Anpassung des „unverändert aggressiven Imperialismus" an das „veränderte Kräfteverhältnis zugunsten des „Sozialismus") interpretiert, muß erklären, warum die MBFR-Verhandlungen von der NATO und gegen den anfänglichen Widerstand der UdSSR vorgeschlagen wurden. Er muß weiterhin erklären, warum es innerhalb der UNO zwar eine Menge von Abrüstungsresolutionen gibt, aber das von der Mehrheit der UNO-Mitglieder abweichende Stimmverhalten der Sowjetunion und der DDR sich auf den Bereich Abrüstung und Rüstungskontrolle konzentiert (s. UNO). Ferner geht ein solcher Interpretationsansatz davon aus, daß etwa im Rahmen von SALT I und II die UdSSR Initiator aller Kontrollvorschläge ist und die USA sich lediglich beugen. Eine genaue Analyse sowohl der MBFR-Verhandlungen, der Abrüstungsdiskussionen in der UNO wie auch der SALT-Gespräche zeigt, daß alles viel komplizierter ist. Die Kompliziertheit und Komplexität des Gegenstandes „Rüstung/Abrüstung" wird übrigens von DDR-Autoren durchaus anerkannt 138
VII. Bestimmungsfaktoren der DDR-Außenpolitik
So reizvoll die Fragestellung „Bestimmungsfaktoren der DDR-Außenpolitik“ ist, so schwierig ist die empirische Feststellung, welche Faktoren das jeweilige außenpoliti-Wie wirksam die hier genannten Faktoren und wie verhaltensbestimmend sie sind, kann jeweils nur durch Fallstudien ermittelt werden. Nach Auffassung der DDR-Literatur gibt es nur einen Bestimmungsfaktor, auf den sich die anderen zurückführen lassen: die „sozialistische Gesellschaftsordnung". These: Der Erklärungsfokus für „sozialistische" Außenpolitik ist die sozialistische Gesellschaftsordsche Verhalten der DDR bestimmen. Das Ensemble der von der DDR-Literatur genannten Bestimmungsfaktoren läßt sich im Überblick so darstellen: nung. Es gibt jedoch erhebliche Zweifel, ob mit der „sozialistischen Gesellschaftsordnung" als zentraler Begründungsfigur das gesamte Außenverhalten der DDR abgedeckt werden kann.
Die Rigidität, mit der dies behauptet wird, kontrastiert in einigen untersuchten Bereichen mit der These, Außenpolitik als direkte Fortsetzung (Spiegelung) der Innenpolitik an-zusehen Die DDR-Literatur ist bisher über den behaupteten Wirkungszusammenhang von „sozialistischer" Gesellschaftsordnung und „sozialistischer" Außenpolitik nicht hinausgekommen. Daß es z. T. angebbare Zusammenhänge zwischen einer bestimmten Gesellschaftsordnung und Außenpolitik gibt, ist auch in der „bürgerlichen" Wissenschaft unbestritten. Die Frage konzentriert sich hier mehr darauf, wie diese Zusammenhänge zu erfassen sind.
Im übrigen wird in der sowjetischen Literatur — etwa bei Tomaschewski — der „innenpolitische Faktor" zur Erklärung von außen-politischem Verhalten relativiert und mehr auf Bedingungen und Bedingtheiten der internationalen Politik abgehoben.
Gegen die These, die eine Zwangsläufigkeit von „sozialistischer Gesellschaftsordnung" und „sozialistischer Außenpolitik" unterstellt, sei hier auf Brecht verwiesen: „die außenpolitik der ussr ist zwar die außenpolitik eines staates, in dem ein aufbau sozialistischer eiemente stattfindet, aber es ist keine sozialistische außenpolitik.“
Für die DDR ist die Frage nach der Gewichtung der Bestimmungsfaktoren (Hierachie) sowohl nach ihrem Selbstverständnis als auch nach versuchten empirischen Analysen eindeutig zu beantworten. Als dominant hat sich der exogene (externe) Bestimmungsfaktor erwiesen: Die bedingungslose und uneingeschränkte Orientierung auf die Sowjetunion.
VIII. Die Außenpolitik der DDR nach dem IX. Parteitag
Die Aussagen eines Parteitages der SED, des „höchsten Organs der Partei", geben für die nächsten fünf Jahre die operativen Ziele der SED an. Ziele der SED sind nicht nur die Auffassungen einer Partei, sondern sie sind gleichermaßen verbindlich für die DDR, denn die Parteitage der SED sind „Meilensteine nicht nur für die Partei selbst, sondern für die ganze gesellschaftliche Entwicklung" der DDR Konnte der VIII. Parteitag der SED von 1971 noch konkrete, in Operationen umsetzbare Ziele nennen, so blieben die Perspektiven des IX. Parteitages vom Mai 1976 blaß und vage Nur in einem Punkt wurde die SED deutlich: In den Beziehungen zur UdSSR. Die Bindungen an die UdSSR, die ohnehin schon durch die Verfassung „für immer und ewig" sein sollen, werden offenbar noch weiter intensiviert, und zwar soweit, daß nicht nur böse Zungen fragen, ob die DDR auf dem Wege zur 16. Sowjetrepublik sei Die Absicht der SED: Je stärker die Annäherung an die Sowjetunion und je verzweigter die Einbindung der DDR in den Warschauer Pakt und den RGW, desto deutlicher und erfolgrei-eher die Abgrenzung von der „imperialistischen" Bundesrepublik.
Der DDR-Außenminister Fischer hat auf dem 2. ZK der SED ein Fünf-Punkte-Programm der DDR-Außenpolitik genannt — wohl in Ergänzung und Präzisierung des außenpolitischen Programms des IX. Parteitages der SED — und damit eine Antwort gegeben, was von der DDR in den nächsten fünf Jahren zu erwarten ist:
1. „Festigung der Einheit und Geschlossenheit der Bruderländer bei der Entfaltung des Annäherungsprozesses".
2. Unterstützung der sowjetischen Abrüstungsvorschläge (in der UNO und bei MBFR). 3. Nicht näher qualifizierte Initiativen bei der Umsetzung der Schlußakte von Helsinki.
4. Entwicklung möglichst guter Beziehungen zu allen „kapitalistischen Staaten" und „entsprechend der Linie des IX. Parteitages die Entwicklung normaler gutnachbarlicher Beziehungen" zur Bundesrepublik. 5. Weitere Festigung der Beziehungen mit den Entwicklungsländern
Die Reihenfolge reflektiert eine Rangfolge: Erst die Festigung der „sozialistischen Staatengemeinschaft" schafft die Voraussetzung für die anderen Punkte, wobei auch hier sofort auffällt, wie vage die außenpolitische Ziel-stellung der SED ist. Wenn von der „Linie des IX. Parteitages" gesprochen wird, so muß festgehalten werden, daß diese „Linie" nicht erkennbar war. Sie erhält allenfalls Konturen, wenn man darunter eine Konsolidierung außenpolitischer Positionen der DDR unter Verzicht auf neue Initiativen für eine Intensivierung insbesondere der intersystemaren Beziehungen versteht.
Außenpolitik der DDR in den nächsten fünf Jahren dürfte sich stärker als Wirtschafts-und Sozialpolitik im Innern realisieren und als der Versuch, die Beziehungen zur UdSSR noch „brüderlicher" zu gestalten.
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Wichtige Aufsätze zur Außenpolitik der DDR finden sich in der in Ost-Berlin erscheinenden „Deutschen Außenpolitik" (DAP), in der dem Ministerium für Auswärtige Angelegenheiten (MfAA) nahestehenden Wochenschrift „Horizont" und völkerrechtlich akzentuiert in „Staat und Recht" (SuR). Das aufmerksame Studium dieser Zeitschriften ermöglicht ein authentisches Verständnis der DDR-Außenpolitik und gibt einen Enblick in die Außenpolitkforschung der DDR.
Für den Bereich der Bundesrepublik Deutschland ist die in Köln erscheinende Monatszeitschrift „Deutschland-Archiv" hervorzuheben, die als einziges westdeutsches Periodikum kontinuierlich und kompetent die Außenpolitik der DDR analysiert.
Wilhelm Bruns, Dr. phil., geb. 1943 in Werdohl; Lehrbeauftragter an der Universität Hamburg (seit 1973); Studium der Rechtswissenschaften, Politikwissenschaften und Volkswirtschaft in Hamburg; Arbeit in der Erwachsenenbildung; Mitarbeiter beim NDR und Deutschlandfunk. Veröffentlichungen u. a.: Die UNO-Politik der DDR, Köln (i. E.); Die friedliche Koexistenz, Hamburg 1976; zahlreiche Zeitschriftenbeiträge.
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