1978 sind 30 Jahre seit der Gründung des Staates Israel vergangen. Der arabisch-israelische Konflikt wird damit zum dreißigjährigen Krieg des Jahrhunderts, -zwanzigsten wo bei nur die Hoffnung ausgesprochen werden kann, daß er nicht zu einem neuen hundertjährigen Krieg ausartet.
Eine der Gefahren, die mit der Länge eines Konfliktes dieser Art verbunden ist (von dem Leid aller beteiligten Parteien ganz zu schweigen), ist die Neigung, die Ursachen einer solchen Auseinandersetzung mit ihren Folgen zu verwechseln und dadurch die wahren Gründe des Konfliktes aus den Augen zu verlieren. Diese Tendenz ist vielleicht auch dadurch erklärbar, daß die Angehörigen der zweiten und dritten Generation der am Konflikt Beteiligten oft nicht mehr fähig sind, sich seelisch und intellektuell in die Lage ihrer Vorfahren hineinzuversetzen. Zu diesem Mangel an Einfühlungsvermögen tritt noch ein weiterer Umstand, der die Verwechslung von Ursachen und Folgen erleichtert, nämlich eine häufig sogar unbewußte Bereitwilligkeit, spätere Ereignisse (mit denen der Zeitgenosse eher verwandt ist) auf weiter zurückliegende Ereignisse abfärben zu lassen.
Daß der arabisch-israelische Konflikt -in die ser Hinsicht keine Ausnahme bildet, geht schon aus dem oft wiederholten und weitverbreiteten Argument hervor, demzufolge der Hauptgrund für diesen Konflikt das „hartnäkkige Festhalten" Israels an den im Sechstagekrieg (Juni 1967) eroberten Gebieten sei.
Was dabei übersehen wird, ist die Tatsache, daß es nicht der Sechstagefeldzug und seine Eroberungen waren, die diesen Konflikt entfachten, sondern daß, ganz im Gegenteil, die Dauerspannungen, die jenem Feldzug voraus-gingen, sich nur in ihm entluden. Mit anderen Worten: Die israelische Besetzung der im Jahre 1967 eroberten Gebiete ist nicht die Ursache des Unfriedens im Nahen Osten, sondern nur eine Folge und Auswirkung dieses Unfriedens.
Dieses Beispiel (dem zahlreiche andere hinzugereiht werden könnten) weist schon darauf hin, wie unerläßlich es ist, sich um ein klares Verständnis der kausalen Verkettungen zu bemühen.
Die Mandatsperiode
Die Ursprünge des heutigen Nahostkonfliktes gehen auf die Niederlage des osmanischen Reiches im Ersten Weltkrieg zurück, die die Abtretung der nichttürkischen Gebiete an die siegreichen Alliierten zur Folge hatte. Als die Pariser Friedenskonferenz im Jahre 1918 über die Zukunft des Nahen Ostens verhandelte, erschienen vor ihr zwei Delegationen, die die Anerkennung der nationalen Rechte ihrer Völker im Nahen Osten forderten: a) eine arabische Delegation, geleitet vom Emir Feisal, der seinen Vater, König Hussein von Hidschas (Urgroßvater des heutigen jordanischen Königs), vertrat; b) eine zionistische Delegation, geführt von Dr. Chaim Weizmann, dem späteren ersten Staatspräsidenten Israels.
Obwohl beide Delegationen die Anerkennung der Unabhängigkeitsrechte ihrer Völker im Nahen Osten forderten, sahen sie diese Forderungen nicht als widersprüchlich, sondern als sich gegenseitig ergänzend an. Dies geht aus einem Brief hervor, den Emir Feisal am l. März 1919 an Professor Felix Frankfurter (Mitglied der zionistischen Delegation und später Mitglied des Obersten Gerichtshofes der USA) richtete, in dem es heißt: „Wir Araber, besonders die Gebildeten unter uns, blicken mit tiefster Sympathie auf die zionistische Bewegung. Unsere Delegation hier kennt genau die Vorschläge, die gestern von der Zionistischen Organisation der Friedenskonferenz unterbreitet wurden, und wir halten sie für mäßig und berechtigt. Wir werden unsererseits unser Bestes tun, ihnen zum Siege zu verhelfen. Wir wollen den Juden unser herzlichstes Willkommen bei ihrer Rück-kehr in die Heimat zurufen. Mit den Führern Ihrer Bewegung, besonders mit Dr. Weizmann, standen und stehen wir in engster Verbindung. Er hat unserer Sache große Dienste geleistet, und ich hoffe, daß die Araber bald imstande sein werden, den Juden ihre Güte zu vergelten. Wir arbeiten zusammen für einen neugestalteten und wiederauflebenden Orient, und unsere beiden Bewegungen ergänzen einander . . . Ich glaube sogar, daß jeder von uns des anderen Volkes zum wirklichen Erfolge bedarf."
Die zionistischen Vorschläge, die Feisal als „mäßig und berechtigt" bezeichnete, sahen „die Festsetzung Palästinas in den durch geschichtliche Überlieferung und durch politische und ökonomische Notwendigkeiten bestimmten Grenzen als nationale Heimstätte des jüdischen Volkes ..." Der geplante jüdische Staat sollte sich auf beide Ufern des Jordans erstrecken und somit auch das spätere Transjordanien umfassen. Diese Forderungen waren tatsächlich mäßig, wenn man bedenkt, daß die zionistische Bewegung nur auf ein Sechzigstel der Gesamtfläche des Nahen Ostens (also auf etwa 114 000 km 1) Anspruch erhob. Innerhalb dieses Gebietes wollte Feisal — berechtigterweise — die bürgerlichen und religiösen Rechte der ca. 400 000 Personen zählenden arabischen Bevölkerung Palästinas gewahrt wissen, was ihm auch zionistischerseits zugesagt wurde. So kam es zu dem am Januar 1919 in London unterzeichneten Feisal-Weizmann-Abkommen, in dem vom „arabischen Staat und Palästina" 3) die Rede ist. Dies ist ein weiterer Beweis dafür, daß Feisal, „als Vertreter des arabischen Königreichs von Hidschas" das zukünftige Palästina als den Judenstaat betrachtete.
Wohlgemerkt, es ging hier um ganz Palästina (einschließlich des heutigen Transjordaniens).
Es kam dann schließlich zur Errichtung von Mandatsverwaltungen über weite Gebiete des Nahen Ostens Syrien und der Libanon wurden Frankreich, der Irak und Palästina Großbritannien zugesprochen. Obwohl laut Artikel 22 der Völkerbundsatzung das Mandatssystem ins Leben gerufen wurde, um „eine heilige Aufgabe der Zivilisation" zu erfüllen und „Völkern, . . . die noch nicht imstande sind, sich unter den besonders schwierigen Bedingungen der heutigen Welt selbst zu leiten", durch „die Übertragung der Vormundschaft über diese Völker an die fortgeschrittenen Nationen" den Aufstieg zur Unabhängigkeit zu ermöglichen, ist es natürlich klar, daß bei der Verteilung der Mandatsgebiete nicht nur die Interessen der einheimischen Bevölkerung, sondern auch die machtpolitischen Überlegungen der Mandatsmächte berücksichtigt wurden. Es ist jedenfalls unbestritten, daß das Mandatssystem nur als Provisorium gedacht war Was das Palästina-Mandat speziell betrifft, so hatte dieses Provisorium einen zweiten und ganz besonderen Zweck, und zwar sollte es während dieser Übergangsperiode dem jüdischen Volk ermöglicht werden, von einer Minderheit (15 % der Gesamtbevölkerung Palästinas im Jahre 1918) zur staatstragenden Mehrheit des zukünftigen jüdischen Staates aufzusteigen. Hatte doch in dem vom Völkerbundsrat am 22. Juli 1922 gebilligten Palästina-Mandat Großbritannien als Mandatarstaat die Verantwortung „für die Verwirklichung der ursprünglich am 2. November 1917 durch die Regierung Seiner Britischen Majestät erlassenen und von den . . . (alliierten) Mächten anerkannten (Balfour) Deklaration zugunsten der Errichtung einer nationalen Heimstätte für das jüdische Volk in Palästina" übernommen, und dies in „Anerkennung der historischen Verknüpftheit des jüdischen Volkes mit Palästina und der Grundlagen für die Wiedererrichtung seiner nationalen Heimstätte in diesem Lande"
Es geht daher aus dem Palästina-Mandat klar hervor, daß es zu dem einzigen Zweck ins Leben gerufen wurde, um den Übergang zum jüdischen Staat zu beschleunigen und zu erleichtern. Ein „palästinensisches Volk" gab es zu jener Zeit nicht; die einheimischen Araber betrachteten sich lediglich als „Bewohner Südsyriens". Der erste Kongreß der Araber Palästinas, der in Jerusalem im Januar 1919 tagte, forderte daher die Abschaffung der Pläne für die Errichtung eines Mandats für Palä-stina und die Vereinigung Palästinas mit Syrien
Aus arabischer Sicht ist diese Einstellung verständlich. War doch seit der Zerstörung der jüdischen Unabhängigkeit durch die Römer im 1. Jahrhundert Palästina nie wieder zur Unabhängigkeit gelangt und immer nur als Provinz der jeweiligen Herrscher von außen her regiert worden Auch konnten die Araber Palästinas auf keines jener Attribute hinweisen (eigene Sprache, Religion, Kultur, ethnische Herkunft, Geschichte usw.), die normalerweise eine Menschengruppe als Volk kennzeichnen. Sie empfanden sich auch nicht als solches. Es ist auch symptomatisch für ihr Selbstverständnis zu jenem Zeitpunkt, daß sie sich lediglich als Angehörige des arabischen Volkes, nicht aber als ein auf seine nationale Eigenart beharrendes palästinensiches Volk fühlten. Zu Beteuerungen über die Existenz eines palästinensisch-arabischen Volkes sollte es erst später kommen, um das jüdische Aufbauwerk auch auf diesem Wege zu behindern.
Aus Gründen, die ausschließlich mit der Nahost-Kolonialpolitik Großbritanniens und Frankreichs zu tun hatten, brach der großangelegte Plan des arabischen Reiches unter Feisal 1920 jäh zusammen. Der von den Engländern in Damaskus eingesetzte Feisal mußte aus seiner Hauptstadt fliehen, als Frankreich das Mandat über Syrien übernahm. Er wurde daraufhin von seinen britischen Schutzherren durch seine Einsetzung als König vom Irak entschädigt. Doch sein Bruder Abdullah wollte sich nicht mit dieser Lösung zufriedengeben. Mit seinem eilig zusammengescharten Beduinenheer marschierte er von der arabischen Halbinsel kommend in Richtung Damaskus. England befürchtete ein ernsthaftes Zerwürfnis mit Frankreich und suchte Abdullah zu beschwichtigen. Den Ausweg glaubte es auf Kosten der jüdischen nationalen Heimstätte gefunden zu haben: Als Abdullah auf seinem Marsch das heutige Transjordanien — einen integralen Bestandteil des Palästina-Mandats — erreichte, boten ihm die Engländer dieses Gebiet als ein für ihn neu zu schaffendes „Emirat" an. Abdullah akzeptierte den englischen Vorschlag und wurde daraufhin zum „Emir" des innerhalb des Palästina-Mandats errichteten Transjordaniens ernannt. Gleichzeitig wurde Transjordanien von den auf die Förderung der jüdischen nationalen Heimstätte zielenden Bestimmungen des Palästina-Mandats ausgeschlossen. Somit wurden drei Viertel des Palästina-Mandats der jüdischen Einwanderung und Ansiedlung versperrt und der jüdischen nationalen Heimstätte entrissen. Das auf dem westlichen Ufer des Jordan-Flusses liegende Rumpf-Palästina schrumpfte damit auf etwa 27 000 km Die jüdische Einwanderung und Ansiedlung mußte sich forthin auf dieses Rumpf-Palästina beschränken; sie wurde in der zweiten Hälfte der Mandatsperiode (also während der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft und des Zweiten Weltkrieges) von den Engländern ernsthaft eingeschränkt, um auf diese Weise dem — zumindest teilweise von den Engländern selbst geförderten — arabischen Widerstand entgegenzukommen. Gleichzeitig wurden die Juden auch beim Ankauf des für die Ansiedlung notwendigen Boden schwer behindert. All diese Maßnahmen bildeten eine offenkundige Verletzung der Verpflichtungen, die Großbritannien als Mandatarmacht im Rahmen des Palästina-Mandats auf sich genommen hatte, und brachten das jüdische Volk allmählich zur Überzeugung, daß der Fortbestand des Palästina-Mandats eine tödliche Bedrohung des jüdischen nationalen Aufbauwerkes in Palästina bedeute.
Der aktive Kampf gegen die antizionistische Palästina-Politik Großbritanniens — von vereinzelten extremistischen Gruppen abgesehen — wurde jedoch für die Dauer des Zweiten Weltkrieges eingestellt, um die alliierten Kriegsanstrengungen nicht zu beeinträchtigen. Die Juden Palästinas stellten sich frei-willig den alliierten Armeen für den Kriegs-einsatz zur Verfügung. Sie nahmen aktiv an der Niederwerfung des Vichy-Regimes in Syrien und des von Raschid Ali Kailani angezettelten prodeutschen Aufstandes teil. Tausende von ihnen kämpften in den Reihen der 8. britischen Armee gegen Rommels Afrika-Korps. Nach langjährigen erfolglosen Anstrengungen durften sie dann im Jahre 1944 den europäischen Kriegsschauplatz unter ihrer eigenen — zionistischen — Flagge (heute die Staats-flagge Israels) betreten
Zur gleichen Zeit standen die Araber entweder gleichgültig oder feindselig den alliierten Kriegsanstrengungen gegenüber. Viele von ihnen bekundeten offen ihre Sympathien für die Achsenmächte. Der heutige ägyptische Staatspräsident Anwar Sadat (damals ein junger Armeeoffizier) mußte von den Briten unter dem Verdacht der Spionage zugunsten Deutschlands festgenommen und interniert werden. Der Vorsitzende des Hohen Arabischen Komitees (die von den Briten eingesetzte und anerkannte offizielle Vertretung der Araber Palästinas), Hadsch Amin Hussein! — als „Großmufti von Jerusalem" bekannt — verbrachte die Kriegsjahre in Deutschland, wo er sich ununterbrochen für die Verschärfung der Judenverfolgung und -ausrottung einsetzte
Die Jahre der Staatsgründung
Als gleichzeitig mit dem Bekanntwerden der fürchterlichen Ausmaße der mörderischen Judenpolitik Nazi-Deutschlands die neugewählte Labour-Regierung in Großbritannien — unter Verleugnung ihrer Wahlparolen — offen und eindeutig einen pro-arabischen Kurs steuerte, wurde es endgültig klar, daß nur der unverzügliche Abzug der Engländer und die Errichtung eines jüdischen Staates die Existenz des jüdischen nationalen Aufbauwerkes und die freie Einwanderung der überlebenden der Nazi-Verfolgungen gewährleisten könne. Da die Forderung der Juden Palästinas und der ganzen Welt auf Abzug der Briten wachsende Unterstützung in der Weltöffentlichkeit fand, die fassungslos der europäischen Juden-katastrophe gegenüberstand, und da auch der bewaffnete Widerstand der jüdischen Unter-grundbewegungen in Palästina den Fortbestand der Mandatsverwaltung für die Engländer politisch, militärisch, wirtschaftlich und moralisch immer kostspieliger und unerträglicher machte, wandte sich Großbritannien schließlich im Jahre 1947 an die Vereinten Nationen mit dem Antrag, die UNO möge über die Zukunft Palästinas entscheiden. Dies geschah aber erst, nachdem Großbritannien im Jahre 1946 Transjordanien endgültig dem Palästina-Mandat entrissen und dem Emir Abdullah die Königskrone des neuerrichteten Königreiches aufs Haupt gesetzt hatte.
Die UNO-Vollversammlung fällte dann im November 1947 ihr „salomonisches Urteil", in dem sie eine weitere Teilung Rumpf-Palästinas empfahl. Für die Juden bedeutete diese Empfehlung eine zweite Teilung und die Aufforderung zum Verzicht auf sieben Achtel des ursprünglichen Mandatsgebietes. Sie sollten sich nun mit einem Gesamtgebiet von 15 000 km 2 (davon etwa 10 000 km 2 Wüste) begnügen. Besonders schmerzhaft war für die Juden der UNO-Vorschlag, der die Internationalisierung der Stadt Jerusalem und ihrer unmittelbaren Umgebung vorsah. Der Verzicht auf die David-Stadt, die schon vor 3000 Jahren die Hauptstadt des jüdischen Königsreiches gewesen war und die — samt ihren vielen geschichtlichen Stätten — einen ganz besonderen Platz im Herzen eines jeden Juden einnimmt, konnte von vielen Juden nicht verschmerzt werden. Doch die Juden erklärten sich sogar mit diesen Vorschlägen einverstanden, um auf diese Weise eine friedliche Lösung des Konfliktes in die Wege zu leiten, unter der selbstverständlichen Bedin-gung, daß die Annahme des UNO-Vorschlags auf Gegenseitigkeit beruhen würde, d. h., daß er auch von den Arabern akzeptiert würde.
Die Araber lehnten diesen jedoch unmißverständlich und eindeutig ab. Von den arabischen Nachbarländern unterstützt und mit der wohlwollenden Ermutigung der Mandats-macht versuchten die Araber Palästinas, mit bewaffneter Gewalt die Durchführung der UNO-Empfehlung zu vereiteln. Sie sprachen den Juden, die sie lediglich als Religionsgemeinschaft bezeichneten, das Recht auf Selbstbestimmung und Unabhängigkeit schlechthin ab, ganz zu schweigen von deren territorialen Forderungen.
Die Araber hatten bereits zu jener Zeit sieben unabhängige Staaten die — mit Ausnahme Transjordaniens — schon damals Mitglieder der UNO waren, trotz ihrer anti-alliierten Haltung während des Zweiten Weltkrieges und ihrer Weigerung, sich aktiv am Kampf gegen die Achsenmächte zu beteiligen. Die Gesamtfläche dieser Staaten war dreihundertmal größer als die Fläche, die von der UNO-Vollversammlung für die Errichtung eines jüdischen Staates empfohlen worden war
Die 600 000 Menschen umfassende jüdische Gemeinschaft Palästinas setzte sich gegen den auf die Verhinderung der UNO-Empfehlung zielenden arabischen Angriff zur Wehr Die UNO-Empfehlung, deren Ver-wirklichung die Zustimmung beider rivalisierenden Parteien voraussetzte fiel den von den Arabern ausgelösten Feindseligkeiten zum Opfer. Als dann am 14. Mai 1948 — gleichzeitig mit der Beendigung des britischen Palästina-Mandats — der Staat Israel ausgerufen wurde, war der UNO-Teilungsplan wegen der lokalen Entwicklungen, die sich zwischen November 1947 und Mai 1948 ereignet hatten, längst überholt. Die arabischen Nachbarstaaten griffen nun offen in die Auseinandersetzungen ein, um den jungen jüdischen Staat im Keime zu ersticken. Trotz der ungleichen Kräfteverhältnisse zugunsten der arabischen Armeen gegenüber der aus dem Untergrund aufsteigenden und kläglich ausgerüsteten israelischen Armee (die weder Artillerie noch Flugzeuge besaß), gelang es dem um seine Existenz ringenden Staat Israel, sich militärisch zu behaupten und die eindringenden Angreifer (Ägypten, Transjordanien, Syrien, Libanon und der Irak, sowie saudi-arabische und jemenitische Kontingente) allmählich aus den meisten von ihnen in Mai 1948 überrannten palästinensischen Gebieten zu verdrängen. Sie vermochten sich lediglich im Gaza-Streifen (Ägypten) und auf den Hügeln von Judäa und Samaria sowie in Ost-Jerusalem (Transjordanien) zu behaupten Als schließlich den Ägyptern eine ernsthafte militärische Niederlage drohte erklärten sie sich zu Waffenstillstandsverhandlungen bereit. Im Februar 1949 wurde das ägyptisch-israelische Waffenstillstandsabkommen unterzeichnet, dem in kurzen Zeitabschnitten bis Juli 1949 weitere Abkommen mit dem Libanon, Transjordanien und Syrien folgten. Diese Abkommen sahen nicht nur die Einstellung der Feindseligkeiten, sondern auch baldige Friedensverhandlungen vor. Deshalb wurden in ihnen keine Grenzen, sondern lediglich Waffenstillstandslinien festgelegt.
Diese Waffenstillstandsabkommen waren jedoch kaum unterzeichnet, da regte sich auch schon im arabischen Lager das häßliche Haupt des Revanchismus und Irredentismus. Der Staat Israel wurde als „eine Krebserscheinung innerhalb der arabischen Heimat" dargestellt. In einer Flut von Veröffentlichungen und Karikaturen, die einem Julius Streicher und seinem „Stürmer" zur Ehre gereicht hätten, wurde nicht nur der Staat Israel dämonisiert, sondern auch das Judentum als solches verteufelt. Die arabischen Staaten wurden nun zum Zentrum einer großen antisemitischen Hetzkampagne, die „klassischen Werke" der antisemitischen Literatur wie Hitlers „Mein Kampf" und die berüchtigten und als grobe Fälschung entlarvten „Protokolle der Weisen Zions" erlebten eine Renaissance und mehrere Neuauflagen in arabischer Sprache Der seit 1946 verhängte Wirtschaftsboykott gegen „zionistische" Waren wurde verschärft und auf jüdische und israel-freundliche Firmen ausgedehnt. Die Durchfahrt durch den Suez-Kanal wurde israelischen Schiffen (wie auch Schiffen anderer Nationalität, die Waren von oder nach Israel führten) trotz der ausdrücklichen Aufforderung des UNO-Sicherheitsrats von den Ägyptern verweigert und „zionistische" Schiffe und Waren wurden als „feindliches Eigentum“ beschlagnahmt.
Auch Transjordanien (das sich seit 1949 „Jordanien" nennt) verletzte das Waffenstillstandsabkommen mit Israel ganz eindeutig, weil es den Juden den Zutritt zu den jüdischen heiligen Stätten verweigerte, die sich in den jordanisch besetzten Gebieten befanden (die Klagemauer in der Jerusalemer Altstadt, der alte jüdische Friedhof am Olberg — dessen Grabsteine die Jordanier zu Bauzwecken verwendeten —, das Grab Rachels in Bethlehem usw.). Im Mittelpunkt der antiisraelischen und antijüdischen Propaganda der Araber stand jedoch „das palästinensische Flüchtlingsproblem", das der Welt als ein unvorstellbares Unrecht und als Beweis der bösen Absichten Israels dargestellt wurde.
Das palästinensische Flüchtlingsproblem
Eine unglückselige Begleiterscheinung der Feindseligkeiten unseres Jahrhunderts in Europa, Asien und Afrika ist die Schaffung von mannigfachen Situationen, die große Massen der Zivilbevölkerung zum Verlassen ihres Wohnsitzes veranlassen. Wir müssen im Flüchtlingsphänomen ein Symptom der menschlichen Intoleranz, der Xenophobie und der Unfähigkeit verschiedenartiger Volks-gruppenzum friedlichen Zusammenleben erblicken
Der arabisch-israelische Konflikt bildet in dieser Hinsicht keine Ausnahme. Im Laufe der Feindseligkeiten, die von den Arabern 1947 und 1948 zur Verhinderung des UNO-Teilungsplans entfacht wurden, verließen viele Araber Palästinas ihren ständigen Wohnsitz. Die Araber gaben einen angeblich von den Zionisten ausgeheckten Vertreibungsplan als Grund für diese Flucht an. Sie sorgten auch dafür, daß die in die Nachbarländer Geflüchteten nicht in die Wirtschaft und Gesellschaft jener Länder integriert wurden, obwohl sie dieselbe Sprache sprachen, denselben Religionen (vorwiegend dem Islam) angehörten und häufig sogar Verwandte in ihren neuen Wohnorten hatten. Die Flüchtlinge wurden von der arabischen Führung als Schachfiguren auf dem politischen Spielbrett mißbraucht, um eine Lösung des arabisch-israelischen Konfliktes zu vereiteln.
Der Wahrheit halber sei hier darauf hingewiesen, daß es natürlich nie einen zionistischen Plan für die Aussiedlung der Araber Palästinas gegeben hat. Ganz im Gegenteil: Als im Jahre 1944 der Exekutivausschuß der britischen Arbeiterpartei in seinem Bericht an den Kongreß der Partei den Vorschlag machte, „die Araber sollten Palästina verlassen, damit die Juden einziehen könnten, sie sollten für ihren Boden großzügig entschädigt und ihre Ansiedlung in anderen Ländern sollte sorgfältig organisiert und großzügig finanziert werden" da reagierte der Vorsitzende der Zionistischen Exekutive (und der spätere erste Ministerpräsident Israels), David Ben Gurion, unverzüglich: „Das zionistische Ansiedlungsprogramm sieht in keiner Form die Aus-siedlung der arabischen Bevölkerung vor . . . Es ist ein Grundstein der zionistischen Politik, daß jüdische Einwanderung und Ansiedlung nicht auf Kosten der Araber stattfinden dürfen."
Diese Ansicht Ben Gurions spiegelte die vorherrschende zionistische Anschauung wider. Die überwiegende Mehrheit der Juden Palästinas stand daher im Jahre 1948 fassungsund verständnislos dem arabischen Exodus gegenüber. Viele von ihnen konnten sogar ihre Bestürzung nicht verbergen, da sie in der Massenflucht der Araber ein Versagen des zionistischen Programms für ein friedliches Zusammenleben der zwei einzigen überlebenden Semitenvölker erblickten. Dieses Gefühl des Versagens ließ die jüdische Verwaltung der Stadt Haifa, deren Bevölkerung bis zur Besetzung durch die Haganah (die illegale jüdische Selbstwehrorganisation) im April 1948 fast zur Hälfte arabisch war, den erfolglosen Versuch machen, die Araber durch Radio, Lautsprecher und Wandanschläge zum Weiter-bleiben zu veranlassen
Wie kam es zu diesem Massenexodus? Es ist angebracht, sich mit dieser Frage ausführlicher auseinanderzusetzen, da es sich um eine der bedeutendsten Geschichtsfälschungen des 20. Jahrhunderts handelt einer Fälschung, die graduell auch von sonst gut unterrichteten Kreisen als Wahrheit anerkannt wird.
Kurz nach der Verabschiedung des Teilungsplans durch die UNO-Vollversammlung am 29. November 1947 und dem unmittelbar darauffolgenden Ausbruch der Feindseligkeiten in Palästina begannen die reicheren Araber (meistens Großgrundbesitzer), das Land zu verlassen, um den Ablauf der Kriegshandlungen in ihren Villen im Libanon, an der Riviera oder in der Schweiz abzuwarten. Da in der palästinensisch-arabischen Feudalgesellschaft die Führung in den Händen der wohlbegüterten Schicht lag, kamen diese „ Winterferien" dem Verlust der politischen Führung gleich, der naturgemäß die hinterbliebenen Massen demoralisierte und dann eine Massenflucht auslöste.
Als sich schließlich im Frühjahr 1948 die Feindseligkeiten weiter verschärften, forderte das Hohe Arabische Komitee (die von der Großmufti-Familie Hussein beherrschte Vertretung der Araber Palästinas) die arabische Bevölkerung auf, ihre Wohnsitze zu verlassen, um dadurch den Erfolg der eindringenden arabischen Armeen zu erleichtern. Im Jahre 1948 war dieser Tatbestand unbestritten. So schilderte z. B.der Londoner Economist am 2. Oktober 1948 die Entstehung des Flüchtlingsproblems in Haifa mit folgenden Worten: „Von den ehemaligen 62 000 arabischen Einwohnern Haifas sind nur 5 bis 6 Tausend zurückgeblieben. Verschiedene Faktoren beeinflußten ihre Entscheidung, ihre Sicherheit in der Flucht zu suchen. Es besteht kaum Zweifel darüber, daß der stärkste dieser Faktoren die Rundfunkmeldungen des Hohen Arabischen Komitees waren, in denen die Araber aufgefordert wurden, [die Stadtl zu verlassen ... Es wurde ihnen auch klar angedeutet, daß Araber, die in Haifa bleiben und sich jüdischem Schutz unterstellen würden, als Verräter betrachtet würden."
Einer der einflußreichen Mitglieder des Hohen Arabischen Komitees, Emil Ghoury, erklärte in Beirut zur selben Zeit: „Ich möchte niemanden beschuldigen, sondern lediglich den Flüchtlingen helfen. Die Tatsache, daß es diese Flüchtlinge gibt, ist eine direkte Folge der Handlungen der arabischen Staaten, die sich dem Teilungsplan und dem jüdischen Staat widersetzten. Die arabischen Staaten hatten diese Politik einstimmig gebilligt; sie müssen jetzt an der Lösung des Problems teilnehmen.'
Die Ammaner Tageszeitung „Falastin" faßte den wahren Sachverhalt am 19. Februar 1949 folgendermaßen zusammen: „Die arabischen Staaten ermutigten die Araber Palästinas, ihre Häuser provisorisch zu verlassen, damit sie den eindringenden arabischen Armeen nicht im Weg stünden."
Noch im Jahre 1955 schilderte ein führender arabischer Propagandist (und Leiter des Londoner Büros der arabischen Liga), Edward Atiyah, die Hintergründe des arabischen Massenexodus wie folgt: „Diese Massenflucht entsprang teilweise der Überzeugung — die durch die Prahlereien einer unrealistischen arabischen Presse und den unverantwortlichen Äußerungen mancher arabischen Führer gefördert wurde —, daß es nur eine Frage von Wochen sei, ehe den Juden von den arabischen Armeen eine Niederlage bereitet würde und die palästinensischen Araber zurückkehren und wieder in den Besitz ihres Landes gelangen könnten."
Die Flucht der Araber Palästinas, die nicht durch Israel veranlaßt wurde, hat die arabische Führung sogar als eine große Tugend gepriesen. So erklärte der amtierende Vorsitzende des Hohen Arabischen Komitees Dschamal Husseini vor dem UNO-Sicherheitsrat am 23. April 1948: „Die Araber waren nicht bereit, sich eine Waffenpause auferlegen zu lassen ... Sie zogen es vor, ihre Häuser, ihre Habseligkeiten, ihren gesamten Besitz zu hinterlassen und ihren Wohnsitz zu verlassen. Und dies ist genau, was sie taten."
Als dann der Massenflucht der Araber Palästinas die militärische Niederlage der arabischen Armeen folgte und die leichtfertigen Versprechen (die den Flüchtlingen die jüdischen Häuser und Frauen Tel Avivs in Aussicht stellten) sich als eine unverantwortliche und verhängnisvolle Politik entpuppten, da wurde der Mythos der israelischen Verantwortung für das von der arabischen Führung heraufbeschworene Unheil verkündet. Er verbreitete sich wie ein Lauffeuer nicht nur in der arabischen Welt, sondern auch in all jenen nicht-arabischen Kreisen, die dem jüdischen Staat alles andere als wohlgesinnt gegenüberstanden.
Diese Version über die angebliche Massen-vertreibung der arabischen Bevölkerung entsprach nicht nur dem psychologischen Bedürfnis der arabischen Führung, die dadurch ihr eigenes Versagen zu vertuschen suchte, sondern auch dem seelischen Bedürfnis der demoralisierten Massen, die bestrebt waren, ihr klägliches Verhalten (besonders vor der jüngeren Generation) zu beschönigen. Der neugeschaffene Mythos wurde außerdem zu einer äußerst erfolgreichen arabischen propagandistischen Waffe, um den jungen jüdischen Staat mit der Beschuldigung der Unmenschlichkeit anzuprangern Daß dieser Mythos auch in der nicht-arabischen Welt so schnell Aufnahme fand, mag damit Zusammenhängen, daß er so manches — wegen an den Juden verübten Verbrechen — schlechte Gewissen zu beruhigen vermochte. Ebenso wie die Geschichte der Entstehung des Flüchtlingsproblems wurde auch die Zahl der Flüchtlinge gefälscht. Nach der — wahrscheinlich zu hohen — Schätzung der britischen Mandatsbehörden gab es 1947 1 200 000 Palästina-Araber. Von diesen wohnten etwa 600 000 in jenen Gebieten Palästinas, die wäh-rend der Feindseligkeiten 1948/49 in jüdische Hände gerieten. Nach dem Ende dieser Feindseligkeiten wurden in Israel etwa 140 000 Araber gezählt. Es konnten also höchstens 460 000 Araber aus diesen Gebieten geflohen sein.
Der UNO-Vermittler Graf Bernadotte schätzte in seinem Sonderbericht vom 16. September 1948 die Gesamtzahl der arabischen Flüchtlinge auf etwa 360 000 (einschließlich 50 000 innerhalb Israels) Jedoch schon knappe drei Monate später berichtete der Direktor des UNO-Amtes für Flüchtlingshilfe, Sir Raphael Cilento, daß er rund 750 000 Flüchtlinge zu betreuen hätte. Weitere sieben Monate später wurde ihre Zahl schon mit 1 Million angegeben. Und im Jahre 1976 sprach die UNRWA (die eigens für die Palästina-Flüchtlinge errichtete UNO-Organisation) von 1 668 205 arabischen Flüchtlingen.
Es ist natürlich klar, daß es sich hier um eine systematische Fälschung der Zahlen handelt. Als sich Israel im Jahre 1967 der „West Bank" (Judäa und Samaria) und des Gaza-Streifens bemächtigte, wurde eine Zählung der Flüchtlinge in diesen Gebieten vorgenommen, die ein überraschendes Resultat zeitigte: ihre Zahl belief sich auf nur etwa 60 0/0 der von der UNO angegebenen Zahlen.
Die Diskrepanz zwischen den tatsächlichen und den von der UNO angegebenen Zahlen ist wahrscheinlich teilweise dadurch erklärbar, daß die Flüchtlinge es unterließen, Todesfälle den Behörden zu melden, um sich die Lebensmittelrationen der Verstorbenen auch weiterhin zu sichern. Auch stellte sich heraus, daß Palästina-Araber, die sich wirtschaftlich und gesellschaftlich völlig in ihrem Gastland integriert hatten — sowie ihre Kinder und Kindeskinder —, auch weiterhin als Flüchtlinge registriert wurden, um auf diesem Wege das palästinensische Flüchtlingsproblem künstlich am Leben zu erhalten (und auch für sich die sich daraus ergebenden ma-teriellen Vorteile zu sichern), obwohl die meisten „Flüchtlinge" inzwischen einen Lebensstandard erreicht hatten, der jenen der Gastvölker häufig übertraf.
Zu den egoistisch-materiellen Überlegungen der individuellen Ex-Flüchtlinge und den politischen Überlegungen der arabischen Führung (sowohl die der Araber Palästinas wie die der arabischen Anrainerstaaten Israels), die aus verschiedenen Gründen am Fortbestand dieses Problems interessiert waren, gesellten sich die institutioneilen Interessen der UNO selbst, für deren etwa 11 000 Beamte (vorwiegend palästinensische Araber, von etwa 120 Nicht-Arabern abgesehen) die Lösung des Flüchtlingsproblems auch das Ende einer behaglichen und bequemen Existenz bedeutet hätte. So kam es zu einem stillschweigenden Pakt zwischen den Ex-Flüchtlingen, der arabischen Führung und der UNO, der das Palästina-Flüchtlingsproblem zu einem bedeutenden Mythos anwachsen ließ.
Dabei wurde — und wird — geflissentlich übersehen, daß parallel mit der Flucht der Araber Palästinas auch ein Massenexodus der in den arabischen Ländern ansässigen Juden stattfand. Alteingesessene jüdische Gemeinden, deren Ursprünge häufig auf die prä-arabische Ära zurückgehen, fielen den (oft behördlich gesteuerten) antijüdischen Ausschreitungen, die die Palästina-Feindseligkeiten in allen arabischen Ländern begleiteten, zum Opfer. Diese Ausschreitungen veranlaßten die überwältigende Mehrheit der Juden des Nahen Ostens, Jemens und Nordafrikas zu einer panikartigen Flucht. Die jüdischen Minderheiten wurden zuerst einer systematischen antijüdischen Kampagne ausgesetzt und sowohl von den Behörden als auch von der Landesbevölkerung schikaniert Dann folgten Massen-plünderungen jüdischen Vermögens, die Molestierung von Juden auf offener Straße (unter Gefährdung ihres Lebens), Vergewaltigungen, Schauprozesse, Folterungen und öffentliche Hinrichtungen. Die vor dieser Pogromatmosphäre flüchtenden Juden mußten ihr gesamtes Vermögen — von wenigen armseligen Habseligkeiten abgesehen — in den arabischen Ländern hinterlassen, das dann enteignet wurde.
Auf diese Art gelangten während der ersten Jahre nach Israels Staatsgründung etwa 750 000 orientalische Juden nach Israel; ihr Anteil (mit ihren Nachkommen) beträgt heute etwa die Hälfte der 3 Millionen Menschen zählenden jüdischen Bevölkerung Israels. Es fand also praktisch ein Bevölkerungsaustausch zwischen Israel und den arabischen Staaten statt, wobei natürlich zwei Punkte betont werden müssen: a) Durch die kurzfristige Aufnahme dieser jüdischen Flüchtlinge verdoppelte sich die Bevölkerung des um seine Existenz ringenden Staates Israel in dem kurzen Zeitraum von sechs bis sieben Jahren, während für die arabischen Länder die Aufnahme der Palästina-Flüchtlinge einen Bevölkerungszuwachs von nur etwa 1, 5 °/o bedeutet hätte (von der territorialen Ausdehnung und den Naturschätzen dieser Länder ganz zu schweigen). b) Israel betrieb bewußt eine Politik der wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Integrierung der orientalischen Neuankömmlinge und machte sie zu vollberechtigten Bürgern, während die arabischen Flüchtlinge gezwungen wurden, in ihrem Flüchtlingsstatus zu verharren; sie wurden als Spielball der irredentistisehen arabischen Politik mißbraucht.
Der arabisch-israelische Konflikt und die Großmächte
Als die Palästina-Frage im Jahre 1947 auf die Tagesordnung der UNO gesetzt wurde, ereignete sich einer der Ausnahmefälle der internationalen Politik: das einheitliche Vorgehen der im Kalten Krieg verstrickten Supermächte. Die Annahme der Teilungsempfeh-lung durch die UNO-Vollversammlung im November 1947 und die darauffolgende Beendigung des Palästina-Mandats war nur durch die gemeinsame Unterstützung dieser Politik durch die USA und die Sowjetunion möglich — eine Politik, die die pro-arabische Haltung Großbritanniens zum Scheitern brachte.
Doch schon kurz darauf änderte sich diese Konstellation, als die Sowjetunion einen scharfen Kurswechsel vornahm und eine klare pro-arabische Richtung einschlug. Die Gründe für die Kursänderung und für die sowjetische Bevorzugung der feudalistischen und rückständigen arabischen Regime dem einzigen fortschrittlichen Nahoststaat gegenüber — in dem sich übrigens auch die kommunistische Partei frei betätigen und entfalten kann — sind insbesondere: a) Die für die Sowjets völlig unerwartete Regung des jüdischen Nationalbewußtseins in der Sowjetunion seit 1948 (die zum erstenmal bei dem enthusiastischen Empfang Frau Golda Meirs, der ersten Botschafterin Israels in der Sowjetunion, durch die Moskauer Juden zum Vorschein kam) bewies ihnen, daß ihre Politik der Unterdrückung jüdischer Kultur, jüdischen Eigenlebens und jüdischer Identifil kation gescheitert war und daß es eine Illu1 sion war zu glauben, die Judenfrage in ihrem Machtbereich durch Versuche der Zwangsassimilierung gelöst zu haben. Der anti-israelische Kurs der sowjetischen Außenpolitik wurde daher zur Kehrseite der innenpolitischen Kampagne, die im Jahre 1949 gegen „Zionisten" und „Kosmopoliten" eingeleitet wurde und die dann schließlich im Jahre 1952 in den berüchtigten „Ärzte-Prozessen" gipfelte. b) Die Sowjetunion erhoffte für sich zuerst vöm neuerrichteten Staat Israel einen politischen — und möglicherweise auch militärischen — Stützpunkt im Nahen Osten. Israel weigerte sich jedoch, diese Rolle eines vorgeschobenen Postens der Sowjetunion zu übernehmen und beharrte in den ersten Jahren nach der Staatsgründung auf einer Politik strenger Nichtidentifikation Doch als an-gesichts der kommunistischen Aggression in Korea im Jahre 1950 Israel sich hinter die von den USA getragene UNO-Politik der aktiven Abwehr der Aggression stellte, wurde es den Sowjets endgültig klar, daß ihr Versuch, Israel zum Werkzeug ihrer Expansionspolitik zu machen, fehlgeschlagen war.
Seit jenem Zeitpunkt wurde die Sowjetunion im Nahen Osten zu einem destabilisierenden Faktor, der die Flammen des arabisch-israelischen Streites ununterbrochen geschürt und stets versucht hat, in den trüben Gewässern des Nahen Ostens zu fischen, um auf diesem Wege dort (und in den Indischen Ozean) vorzustoßen und einen alten Zarentraum zu verwirklichen. Weitere Vorteile, die sich die Sowjets von der Destabilisierung des Nahen Ostens erhofften, waren die Schwächung des südlichen Flügels der NATO (um ihn schließlich durch einen wachsenden sowjetischen Einfluß aus den Angeln zu heben) sowie die Gefährdung der für den Westen so lebenswichtigen Erdölquellen der arabischen Halbinsel.
Die Sowjets förderten daher seit den frühen fünfziger Jahren die militante und extremistische arabische Politik und trugen unmittelbar zu den Spannungen bei, die schließlich zum Ausbruch der Kriegshandlungen von 1956, 1967 und 1973 führten. Die Sowjetunion begnügte sich dabei nicht nur mit der (manchmal sogar unentgeltlichen) Ausrüstung der arabischen Armeen mit den modernsten Waffen aller Art und mit der Entsendung von Tausenden von Militärberatern, die die arabischen Armeen in die Geheimnisse der modernen Kriegführung einweihten, sondern griff sogar direkt in die arabisch-israelischen Auseinandersetzungen ein (so wurden z. B. im Laufe des von Nasser entfesselten „Zermür-bungskrieges" der Jahre 1969/70 mit ägyptischen Hoheitszeichen versehene sowjetische Jagdflugzeuge mit sowjetischer Besatzung in Luftgefechten gegen israelische Jäger eingesetzt) und drohte im Oktober 1973 mit einem direkten Eingriff größerer Verbände, um die von den Israelis umzingelte 3. ägyptische Armee zu befreien.
Die Überlagerung des arabisch-israelischen Konflikts durch seine Internationalisierung, d. h. durch die Verstrickung regionaler und globaler Komponenten, wurde von einem deutschen Autor folgendermaßen geschildert: „Die rivalisierenden Kraftlinien der internationalen Politik, die den Nahen Osten . . . (seit Mitte der fünfziger und Jahre) mehr mehr überlagert verleihen arabisch-israelischen dem Konflikt mehr denn je über das bloß Regionale hinausreichende Bedeutung und verwandelten ihn zu einem internationalen Spannungsfeld erster Ordnung. Die Vereinigten Staaten von Amerika und die Sowjetunion mit ihrer gegeneinander gerichteten Präsenz im östlichen Mittelmeerraum und mit ihrem dynamischen Rivalitätsstreben beeinflussen umgekehrt die regionalen Kräfteverhältnisse in ausschlaggebender Weise."
Es muß freilich hinzugefügt werden, daß es sich hier keinesfalls um ein symmetrisches Verhältnis handelt. Während die Sowjetunion vorbehaltlos der extremistischen anti-israelischen Politik der Araber ihre volle Unterstützung angedeihen ließ (trotz ihres aus taktischen Gründen ab und zu abgegebenen Lippenbekenntnisses über Israels Recht, als unabhängiger Staat zu existieren), versuchten die Vereinigten Staaten — zu deren „Kunden" im Nahen Osten auch westlich orientierte arabische Staaten wie Saudi-Arabien und die Vereinigten Arabischen Emirate gehören — wiederholt, die Rolle eines „ehrlichen Vermittlers" zu spielen und eine neutrale Haltung den rivalisierenden Partnern gegenüber einzunehmen. Diese Grundhaltung der amerikanischen Nahostpolitik trat besonders seit 1973 in den Vordergrund und dient als Eckpfeiler ihres Versuches, die Sowjetunion möglichst aus dem Nahen Osten zu verdrängen oder wenigstens ihren Einfluß auf ein Mindestmaß zu reduzieren. Die Anstrengungen der Vereinigten Staaten, dieses Konzept — das mit dem Namen Dr. Kissingers verbunden ist — zu realisieren, wurde dadurch erleichtert, daß einige arabische Führer offensichtlich das Spiel der Sowjetunion durchschaut haben und sich von ihrer Bärenumarmung distanzieren möchten.
Für die israelische Außenpolitik ergibt sich damit ein äußerst schwieriges Dilemma. Da die Araber fordern, daß die Ausweitung des amerikanischen Einflusses in der arabischen Welt und die parallele Verdrängung der Sowjets zu Lasten Israels gehen soll, sieht es sich vor die Wahl gestellt — a) sich entweder mit weitgehenden politischen, territorialen und militärischen Konzessionen abzufinden — von den Arabern ohne eine entsprechende Gegenleistung in der Form eines Friedensvertrages zu erhalten —, um dadurch den Einfluß der USA (und die vermeintliche Stabilisierung seiner eigenen Lage) zu sichern, b) oder — mit Hinweis auf seine prekäre militärische Lage und die Weigerung der Araber, mit Israel Frieden zu schließen — solche einseitigen Zugeständnisse abzulehnen und damit die Beschuldigung auf sich zu laden, den amerikanischen Einfluß geschwächt und damit den Friedenschancen im Nahen Osten (und seinen eigenen Interessen) entgegenge- wirkt zu haben.
Das dem israelischen Dilemma anhaftende Risiko wird durch die ständigen Aufforderungen, soiortige und greifbare Konzessionen zu machen, (wie z. B. die Aufgabe von strategisch wichtigen Gebieten), um sich dafür lediglich mit auf die ferne Zukunft bezogene allgemeinen Versprechungen zu begnügen, lediglich vergrößert. Dazu kommt noch, daß der undemokratische Charakter der arabischen Regime allen Verpflichtungen der arabischen Nachbarstaaten Israels einen zweifelhaften Wert verleiht; kann doch eine wohlgezielte Kugel (oder sogar ein Autounfall) die politische Situation eines jeden arabischen Staates — und somit auch die Gesamtkonstellation des Nahen Ostens — grundlegend verändern, von der sprichwörtlichen Unverläßlichkeit der arabischen Politik ganz zu schweigen, die ja die sowjetische Rückendeckung stets in Bereitschaft hält und somit den Westen — und unmittelbar auch Israel — immer erpressen kann. Diese schwerwiegende Asymmetrie des Konfliktrisikos zwischen Israel und den arabischen Staaten wurden von Jendges sehr richtig erfaßt und dargestellt: „Während sich arabische Nationalisten nach wie vor, der Erwartung hingeben, es müsse möglich sein, das Israel-Problem durch eine physische Liquidation des jüdischen Staates selber zu liquidieren, trachtet der Staat Israel danach, daß ihm sein Anspruch auf staatliche Existenz nicht länger strittig gemacht wird. An die Stelle des Feindverhältnisses zur Umwelt möchte man Beziehungen friedlichen, normalen und dauerhaften Charakters setzen.
Die hierin zum Ausdruck kommende Asymmetrie der politischen Ziele führt zu einer höchst ungleichen Verteilung des Konfliktrisikos, die im Fall einer kriegerischen Auseinandersetzung mit extremer Schärfe hervortritt: — Eine militärische Überwältigung Israels durch die arabischen Staaten ohne eine sofort wirksam werdende Intervention externer Mächte würde mit großer Wahrscheinlichkeit das Ende der israelischen Staatlichkeit und mindestens eines Teiles der Bevölkerung bedeuten. — Selbst bei einem eindeutigen militärischen Sieg Israels ist kaum einer der arabischen Staaten diesem äußersten Risiko der totalen Zerstörung ausgesetzt. Die Araber können eine militärische Niederlage physisch verkraften, ohne sich endgültig besiegt fühlen zu müssen.
Mit einem Wort: die Israelis sind existentiell unmittelbar bedroht, die Araber sind es nicht."
Besetzte Gebiete und „sichere Grenzen"
Seit dem Sechstagekrieg von 1967 wurde das ; sogenannte „Territorialproblem" (die Zukunft der von Israel im Laufe der Juni-Feindseligkeiten besetzten Gebiete) von den Arabern und 'ihren Anhängern in den Vordergrund des IKonfliktes gestellt und die israelische Beisetzung als Grund für ihre Weigerung ange> geben, mit Israel Frieden zu schließen. (Der geschichtlichen Wahrheit halber sei dhier festgehalten, daß Israel kurz nach der Einstellung der Juni-Feindseligkeiten seine (Bereitschaft bekanntgab, mit den arabischen (Staaten bedingungslos (d. h. also auch über die Zukunft der besetzten Gebiete) zu verhan• dein. Die schroffe Antwort kam unverzüglich von der im August 1967 in Khartum stattfindenden Gipfelkonferenz der arabischen Staatsoberhäupter in der Form eines dreifa-
chen Nein: „Keine Anerkennung Israels, keine direkten Verhandlungen mit Israel, kein F Friede mit Israel." al Israel hat auch den vom Sicherheitsrat am 22. November 1967 gefaßten Beschluß 242 akzeptiert, der unter anderem eine Rückzugs-klausel enthält. Gleichzeitig hat aber Israel s auf das im selben Beschluß festgelegte Recht eines jeden Staates im Nahen Osten hingewiesen, „in Frieden und innerhalb von sicheren und anerkannten Grenzen zu leben, frei von Gewaltsdrohungen oder -handlungen".
Da dieser Beschluß (ebenso wie auch der ihn bekräftigende Beschluß 338 des Sicherheitsrates vom 22. Oktober 1973) sowohl von Israel als auch von seinen unmittelbaren Nachbarn formell akzeptiert wurde und daher als Grundlage für die künftigen Friedensverhandlungen gelten muß, ist es angebracht, die Territorialprinzipien, die in ihm zum Ausdruck kommen, ausführlicher zu erörtern.
Der Beschluß erwähnt drei solcher Prinzipien: a) „das Recht (eines jeden Staates im Nahen Osten) innerhalb von sicheren und anerkannten Grenzen zu leben, frei von Gewaltdro-hungen oder -handlungen"; b) „Rückzug israelischer Streitkräfte aus Gebieten, die im jüngsten Konflikt besetzt wurden"; c) „die Unzulässigkeit des Gebietserwerbes durch Kriegshandlungen".
Was das erste dieser Prinzipien betrifft, so steht freilich fest, daß die ehemaligen Waffenstillstandslinien keinem der in diesem Prinzip erwähnten Aussprüche gerecht wurden. Sie waren weder Grenzen im völkerrechtlichen Sinne, noch sicher, noch anerkannt. Während der Waffenstillstandsverhandlungen 1949 bestanden die Araber darauf, daß die in den Abkommen festgelegten Waffenstillstandslinien nur militärische Faktoren berücksichtigen sollten. Ein jedes dieser Abkommen enthielt daher eine Klausel in diesem Sinne, und es blieb den Kontrahenten das Recht vorbehalten, ihre territorialen Forderungen im Rahmen der endgültigen Regelung des Palästinakonfliktes geltend zu machen.
Was die „Sicherheit" der ehemaligen Waffenstillstandslinien anbelangt, so sei darauf hingewiesen, daß sie in der Küstenebene (im jordanischen Sektor) in einer Entfernung von nur 13 bis 15 km vom Mittelmeer verlief. Dieses Gebiet (das auch den Raum von Groß-Tel-Aviv mit mehr als 1 Million Einwohnern umfaßt) lag im Schußfeld der jordanischen Artillerie und wurde auch im Juni 1967 beschlossen.
Ein Blick auf die Landkarte genügt, um sich davon zu überzeugen, daß diese Waffenstillstandslinien eine tödliche Bedrohung für Israel bedeuteten. Die Küstenebene (Nathania-Tul Karm Sektor) Israels konnte von den Hügeln Samarias aus in zwei Teile geschnitten werden. Die Waffenstillstandslinien mit Jordanien (wie auch mit den übrigen Anrainerstaaten Israels) trugen den sicherheitspolitischen Interessen Israels und den geographischen Realitäten überhaupt keine Rechnung und berücksichtigten lediglich die 1949 herrschende militärische Lage. So z. B. beträgt die Entfernung vom Kinnereth See (Tiberias See) zum Toten Meer etwa 80 km. Doch die israelisch-jordanische Waffenstillstandslinie zwischen diesen Seen erstreckte sich auf mehr als 230 km. Sie durchquerte die Stadtmitte Jerusalems, deren jüdisches Viertel mit etwa 75°/o der Gesamtbevölkerung von drei Seiten von jordanischem Gebiet umgeben war. Der „Jerusalemer Korridor" (in dem sich der einzige Verbindungsweg zwischen der israelischen Hauptstadt und der Küstenebene befand) war in der Umgebung Jerusalems nur etwa 5 km breit. über die israelisch-syrische Waffenstillstandslinie sei hier nur erwähnt, daß zwischen 1949 und 1967 die in der Hula-Ebene und im Jordan-Tal (200 Meter unter dem Meeresspiegel) liegenden jüdischen Ortschaften sich in einer strategisch hoffnungslosen Lage befanden, als sie sich anschickten, die Angriffe, die von den syrischen Befestigungen auf den Golan-Höhen (900 Meter über dem Meeresspiegel) ausgingen, abzuwehren.
Die größte Gefahr jedoch drohte Israel vom Süden her. Dort verwandelte Ägypten die fast unbewohnte Sinai-Halbinsel in ein riesiges Waffenarsenal und Aufmarschgebiet für den „entscheidenden Angriff" auf Israel. Das im Juni 1967 erbeutete ägyptische Kriegsmaterial bewies unanfechtbar die aggressiven Absichten Ägyptens Israel gegenüber. Es darf auch nicht übersehen, werden, daß die der israelischen Luftwaffe zahlenmäßig weit überlegene ägyptische Luftwaffe damals nur 5 Flugminuten von Tel Aviv und von den großen Industrie-und Bevölkerungszentren Israels entfernt stationiert war. Dies machte die Luftverteidigung Israels so gut wie unmöglich. Auch wollten die Ägypter über Scharm-el-Scheikh — unter Verletzung des internationalen Seerechts — den einzigen Seeweg, der Israel mit Ostafrika, dem Indischen Ozean und dem Fernen Osten verbindet, versperren. (Die im Mai 1967 von Präsident Nasser über Eilat verhängte Blockade hat entscheidend zur Verschlechterung des . Nahostkonfliktes und zum Ausbruch des Sechstagekrieges beigetragen.)
Auch die Ereignisse und der Ablauf des Yom-Kippur-Krieges scheinen die Richtigkeit des von Israel vertretenen und vom Sicherheitsrat gebilligten Prinzips der sicheren Grenzen zu bestätigen. Wäre der ägyptisch-syrische Überraschungsüberfall auf ein innerhalb der Waffenstillstandslinien zusammengedrängtes Israel erfolgt, so hätte Israel einen solchen Angriff kaum — wenn überhaupt — überstanden.
Es versteht sich daher, daß die zukünftigen „sicheren Grenzen" Israels nicht mit den ehemaligen verwundbaren Waffenstillstandslinien identisch sein können, denn das Waffenstillstandsregime von 1949 hatte wesentlich zu den ständigen Spannungen und zur Unsicherheit im Nahen Osten beigetragen. Hier stellt sich sogleich die Frage, wie denn das Prinzip der sicheren Grenzen mit dem zweiten Territorialprinzip des Sicherheitsrat-beschlusses — der den Rückzug israelischer Streitkräfte aus besetzten Gebieten vorsieht — in Einklang gebracht werden kann.
Dafür ist es unerläßlich, die Rückzugsklausel genau unter die Lupe zu nehmen. Sie lautet in ihrer englischen Urfassung: " withdrawal of Israel armed forces from territories occupied in the recent conflict".
Was hier auffällt, ist das Fehlen eines Artikels vor dem Wort „territories". Der Sicherheitsrat befürwortet den Rückzug Israels aus „Gebieten" und nicht aus „den Gebieten", die im Juni-Krieg von Israel besetzt wurden. Dies ist natürlich kein Zufall. Als der britische Chefdelegierte Lord Caradon dem Sicherheitsrat den Entwurf der Resolution 242 unterbreitete, forderten die Araber und die Sowjetunion von ihm hinter den Kulissen, daß er entweder den fehlenden Artikel in die Rückzugs-klausel einfüge oder daß der Wortlaut der Klausel ausdrücklich Israels Rückzug auf die ehemaligen Waffenstillstandslinien vorsehen solle. All diese Versuche blieben erfolglos, da Caradon sich weigerte, den Wortlaut der Rückzugsklausel abzuändern; er reagierte auch scharf auf einen im Sicherheitsrat nach der Verabschiedung der Resolution erfolgten indischen Versuch, die Rückzugsklausel im Sinne der arabisch-sowjetischen Forderungen zu interpretieren. Caradons Standpunkt wurde vom amerikanischen Chefdelegierten Goldberg unterstützt
Die Vorgeschichte der Rückzugsklausel beweist daher nicht nur, daß der Sicherheitsfatsbeschluß die Rückkehr auf die ehemaligen Waffenstillstandslinien nicht fordert; ihr ist auch zu entnehmen, daß die Urheber des Beschlusses eine neue Grenzziehung zwischen Israel und seinen Nachbarn ins Auge faßten, um dadurch die Errichtung „sicherer Grenzen" zu ermöglichen Es ist ebenfalls bemerkenswert, daß 1967 sowohl die UNO-Vollversammlung als auch der Sicherheitsrat wiederholt arabisch-sowjetische Vorschläge ablehnten, die den totalen Rückzug Israels aus den im Juni-Krieg eroberten Gebieten zum Ziel hatten.
Sollten also in den künftigen Friedensverträgen zwischen Israel und seinen Nachbarn die Grenzen so festgelegt werden, daß sie von den ehemaligen Waffenstillstandslinien abweichen, so wird Israels Rechtstitel auf die zwischen den Waffenstillstandslinien und den neuen Grenzen liegenden Gebieten auf Zession und nicht auf kriegerischer Besetzung beruhen.
Auch das Prinzip der Unzulässigkeit des Gebietserwerbes durch Kriegshandlungen steht dieser Auslegung nicht im Wege. Bekanntlich ist die Eroberung als solche vom zeitgenössischen Völkerrecht nicht mehr als ein gültiger Rechtstitel anerkannt. Folglich kann ein vom Feind erobertes Gebiet vom Eroberer nicht einseitig vor Friedensschluß einverleibt werden. Doch muß hier deutlich zwischen der Eroberung als Rechtstitel — der nicht mehr anerkannt wird — und der vom geltenden Völkerrecht anerkannten kriegerischen Besetzung unterschieden werden. Nach geltendem Kriegsrecht ist eine Besatzungsmacht berechtigt, in den besetzten Gebieten solange die „gesetzmäßige Gewalt" (Art. 43 der Haager Landkriegsordnung, 1907) auszuüben, bis der Waffenstillstand von einer dauerhaften Friedensregelung abgelöst worden ist. Wird aber im Rahmen des Friedensvertrages eine neue Grenzziehung vorgenommen, so beruht der Rechtstitel des ehemaligen Okkupanten fortan auf Zession (Abtretung), d. h. die Übertragung in Vertragsform eines Gebietes von einem Staat auf einen anderen — ein Rechtstitel, der sowohl dem geltenden Völkerrecht als auch der Staatenpraxis bekannt ist. So haben z. B. nach Beendigung des Zweiten Weltkrieges Finnland, Polen, die Tschechoslowakei und Rumänien Teile ihrer Hoheitsgebiete an die Sowjetunion abgetreten. In völkerrechtlicher Sicht beruht daher der sowjetische Rechtstitel auf diese Gebiete nicht auf ihrer Eroberung durch die Rote Armee im Zweiten Weltkrieg, sondern auf der Abtretung an die Sowjetunion im Rahmen der Pariser Friedensverträge von 1947. Es sei noch kurz auf die völkerrechtliche Stellung jener ehemaligen palästinensischen Gebiete hingewiesen, die zwischen 1948 und 1967 von Jordanien bzw. Ägypten besetzt worden waren und die dann im Juni 1967 unter israelische Herrschaft gerieten. Es handelt sich hier um Judäa, Samaria (meistens „CisJordanien" oder „West Bank" genannt) und um den Gaza-Streifen.
Der rechtswidrige Charakter der jordanischen bzw. ägyptischen Anwesenheit auf palästinensischem Boden bedarf keiner ausführlichen Erläuterung; sie war rechtswidrig, weil sie unter Verletzung des im Art. 2(4) der Satzung der Vereinten Nationen enthaltenen Verbotes der Gewaltanwendung geschah. In diesem Sinne äußerten sich im Sicherheitsrat 1948 nicht nur die Vertreter der Vereinigten Staaten und der Sowjetunion, sondern auch die meisten übrigen Mitglieder des Sicherheitsrates.
An der Rechtswidrigkeit der jordanischen bzw. ägyptischen Anwesenheit auf palästinensischem Gebiet konnten auch die Waffenstillstandsabkommen von 1949 nichts ändern. Wie bereits erwähnt, läßt ein Waffenstillstandsabkommen die völkerrechtliche Stellung des besetzten Gebietes unberührt; eine Änderung dieser Stellung bleibt dem Friedensvertrag vorbehalten. Folglich muß auch die spätere vermeintliche Einverleibung Cisjordaniens durch Jordanien 1950 als rechtswidrig und bar jeder völkerrechtlichen Wirksamkeit angesehen werden. Diese „Annexion" verstieß nicht nur gegen die Vorschriften des allgemeinen Kriegsrechts, sondern auch gegen das jordanisch-israelische Waffenstillstandsabkommen von 1949. Ihr Wurde übrigens nicht nur durch Israel die Anerkennung verweigert, sondern auch durch die übrige Welt, die sich verständlicherweise auf den Standpunkt stellte, daß eine Besatzungsmacht —— insbesondere eine solche, die sich der besetzten Gebiete unter Verletzung der Satzung der Vereinten Nationen bemächtigte — nicht das Recht hat, diese Gebiete vor Friedensschluß zu annektieren -Interessanterweise wurde dieser Schritt sogar von den übrigen arabischen Staaten aufs schärfste abgelehnt; die arabische Liga erwog sogar den Ausschluß Jordaniens
Als die jordanischen und ägyptischen Streitkräfte im Laufe des Sechstagekrieges aus Cisjordanien bzw.dem Gaza-Streifen entfernt wurden, kam dies daher nicht der Verdrängung des rechtmäßigen Souveräns, sondern vielmehr der Vertreibung rechtswidrig Eindringender gleich. Deshalb ist das internationale Besatzungrecht nicht uneingeschränkt auf diese Situation anwendbar. Die israelische Herrschaft in diesen Gebieten kann nicht einfach als eine kriegerische Besetzung im Sinne des allgemeinen Völkerrechts bezeichnet werden; Israel griff 1948 und abermals 1967 zur Selbstverteidigung und vertrieb aus palästinensischem Gebiet rechtswidrig Eindringende
Territoriale Rechtstitel sind bekanntlich ihrem Ursprung nach relativ und nicht absolut 44). Der potentielle Rechtstitel Israels auf diese Gebiete hat deshalb eine größere Gültigkeit als die eines jeden anderen Staates. In völkerrechtlicher Sicht kann daher Israel nach eigenem Gutdünken diese relative Überlegenheit in einen absoluten Rechtstitel verwandeln, der dann eine Gültigkeit erga omnes erlangt und von voller Souveränität nicht mehr zu unterscheiden ist.
Das Problem der Palästinenser
Während der totale Rückzug Israels auf die ehemaligen Waffenstillstandslinien als erste arabische Bedingung für einen Friedensschluß mit Israel gilt, wird als zweite Bedingung die „Wiederherstellung der legitimen Rechte des palästinensischen Volkes und die Anerkennung seines Rechts auf Selbstbestimmung und Unabhängigkeit" angegeben.
Was verstehen die Araber unter dieser Bedingung? Es sei schon einführend darauf hingewiesen, daß der Sicherheitsratsbeschluß 242 „das palästinenesische Volk" überhaupt nicht erwähnt und sich mit der Forderung „einer gerechten Lösung des Flüchtlingsproblems" begnügt.
Im November 1970 stellte die von den Arabern, dem Sowjet-Block und ihren Mitläufern beherrschte UNO-Vollversammlung zum erstenmal fest, daß „Respekt für die Rechte der Palästinenser ein unerläßliches Element in der Herstellung eines dauerhaften Friedens im Nahen Osten" sei Doch selbst in dieser Resolution, die zwei Monate nach dem „Schwarzen September", d. h.der blutigen Niederlage der arabischen Terrororganisationen in Jordanien, gefaßt wurde, wird nicht vom Recht eines „palästinensischen Volkes" auf Selbstbestimmung und Unabhängigkeit, sondern nur von den Rechten „der Palästinenser" gesprochen.
Erst im November 1974, nachdem Yasser Arafat, der Vorsitzende der „Palästinensischen Befreiungsorganisation", auf eine — unter Verletzung der geltenden UNO-Geschäftsordnung — an ihn gerichtete Einladung vor der Vollversammlung erschienen war und die Existenz eines jüdischen Volkes bestritten hatte, entdeckte die Vollversammlung „die unveräußerbaren Rechte des palästinensischen Volkes in Palästina . . . auf Selbstbestimmung . . . , nationale Unabhängigkeit und Souveränität" Es muß daher angenommen werden, daß „das palästinensische Volk" irgendwann zwischen 1970 und 1974 geboren oder doch zumindest während dieses Zeitraums zum Träger der Rechte auf Selbstbe-Stimmung, Souveränität wurde. nationale Unabhängigkeit und Der wahre Tatbestand liegt anders. Zwischen 1948 und 1967 lebte die überwältigende Mehrheit der Araber Palästinas (von den 140 000 Arabern Israels abgesehen) unter arabischer (vorwiegend jordanischer) Herrschaft. Die „Flüchtlinge" wurden jordanische Staatsbürger und die Palästinenser wurden zur Mehrheit des jordanischen Staatsvolkes. Ihre Vertreter erwarben die Mehrheit sowohl im jordanischen Parlament als auch im jordanischen Kabinett. Die West-Palästinenser (d. h. die ehemaligen Einwohner Rumpf-Palästinas) gewannen einen bedeutenden Einfluß im östlichen — jenseits des Jordans liegenden — Teil des jordanischen Königreiches als Folge einer wirtschaftlich bedingten Abwanderung von der „West Bank" — eine Abwanderung, die von der offiziellen Wirtschaftspolitik Jordaniens gefördert wurde. Die „Palästinenser" gelangten praktisch zu einer Monopolstellung im jordanischen Geschäfts-und Bankwesen und in den freien Berufen. Auch im jordanischen Heer konnten sie für sich eine zahlenmäßig entsprechende Vertretung sichern.
Es ist daher nur selbstverständlich, daß Jordanien (dessen Gebiet sich auf mehr als zwei Dritteln des ehemaligen Palästina-Mandats erstreckt) auch von der Außenwelt als der Staat der Araber Palästinas betrachtet wurde, genauso wie der Staat Israel zum Staat der Juden Palästinas wurde.
Erst nach der Vertreibung der Jordanier und Ägypter 1967 aus jenen Gebieten West-Palästinas, die sie seit 1948 völkerrechtswidrig besetzt gehalten hatten, hielten die arabischen Staaten nach einem entsprechenden Schlagwort Umschau, das ihnen den militärisch versperrten Rückweg in die von ihnen im Sechstagekrieg verlorenen palästinensischen Gebiete mit diplomatischen Mitteln ebnen könnte.
Da wurde zu der zeitgemäßen Parole der Selbstbestimmung gegriffen, die dann mit großer Geschicklichkeit angewandt wurde. Außerhalb der UNO begeisterten sich für diese neue Losung vor allem jene Kreise, die schon vor 1967 dem Staat Israel und seinen Existenzproblemen ablehnend gegenübergestan-den hatten. In der UNO selbst gibt es bekanntlich eine große Anzahl von Mitgliedstaaten, die auf das Wort „Selbstbestimmung" mit einem geradezu pawlowschen Reflex reagieren, natürlich nur, wenn es sich um Selbstbestimmung außerhalb ihres Hoheitsbereiches handelt. Auch der Sowjet-Block, dessen Sympathien für Selbstbestimmung in direktem Verhältnis zur Entfernung von den eigenen Grenzen stehen, stimmte in den neuen arabischen Kampfruf ein.
Die westlichen Staaten vermochten diesem Ansturm bis 1973 zu widerstehen. Dann zwang sie ihr Erdöldurst auf die Knie, und auch sie erlagen allmählich dem Prinzip (oder vielmehr der Prinziplosigkeit) der inzwischen salonfähig gewordenen Heizöldiplomatie.
An den geschichtlichen Tatsachen jedoch können diese Umstände nichts ändern. Und die wesentlichste Tatsache bleibt, daß auf dem Gebiet des ehemaligen Palästina-Mandats zwei Volksgruppen zusammenstießen und es infolge dieses Zusammenstoßes zu einer Teilung des Mandatsgebietes kam: Auf mehr als zwei Dritteln des ursprünglich zur jüdischen nationalen Heimstätte bestimmten Gebietes wurde der Staat der Araber Palästinas (Jordanien) errichtet, während auf weniger als einem Drittel die Juden Palästinas ihren Staat (Israel) gründeten. Diese Entwicklung wurde auch von einem De-facto-Bevölkerungsaustauschbegleitet. Eine große Anzahl von Arabern, die in den zu Israel gewordenen Teilen Palästinas ansässig gewesen waren, verließen ihre Wohnsitze und ließen sich in den arabischen Nachbarstaaten (vorwiegend in dem als „Jordanien" benannten palästinensisch-arabischen Staat) nieder. Eine noch größere Anzahl von den in den arabischen Staaten ansässigen Juden verließen ihre Herkunftsländer und begaben sich fast ausschließlich nach Israel — dem palästinensisch-jüdischen Staat. Im gegenwärtigen Stadium des arabisch-israelischen Konfliktes geht es daher nicht mehr um die Verwirklichung des Selbstbestimmungsrechts der Araber Palästinas. Der Kern dieses Konfliktes liegt vielmehr in der arabischen Verneinung der Existenz eines jüdischen Volkes. In seiner Ansprache vor der UNO-Vollversammlung am 13. November 1974 brachte Yasser Arafat diese Anschauung klar zum Ausdruck: Es gehe nicht um Grenzziehungen, sondern um die Errichtung eines Staates durch das „palästinensische Volk" in ganz Palästina in dem dann „Christen, Juden und Mohammedaner friedlich Zusammenleben werden"
Die Selbstbestimmungsparole dient den Arabern in der gegenwärtigen Etappe ihres Kampfes gegen Israel als Vorwand, um den Staat Israel unter Druck zu setzen, ihn zuerst auf die strategisch prekären und unhaltbaren Waffenstillstandslinien zurückzudrängen und dann — in die Enge getrieben — in einer weiteren Runde mit Leichtigkeit liquidieren zu können. Dies ist die in der arabischen Welt weitverbreitete „Doktrin der Reduzierung Israels auf seine natürlichen Dimensionen", deren Befürworter Israels Zusammenbruch dadurch herbeizuführen gedenken, indem sie dem jüdischen Staat schwerwiegende Zugeständnisse abverlangen wollen, um seine Existenz dadurch problematisch zu machen.
Daß der Selbstbestimmungsanspruch des „palästinensischen Volkes" nur ein taktisches Mittel ist, um das strategische Ziel der Araber — die Liquidierung Israels — zu erreichen, wird gelegentlich von den Arabern offen zugegeben. So erklärte kürzlich Zohair Mohsen, Chef der an der „Palästinensischen Befreiungsorganisation" beteiligten und von den Syrern unterstützten „Al Sa'ika" Gruppe, in einem Gespräch, das am 31. März 1977 in der niederländischen Zeitung „Trouw" erschien: „Ein palästinensisches Volk gibt es nicht. Die Schaffung eines palästinensischen Staates ist ein Mittel zur Fortführung unseres Kampfes gegen Israel und für die arabische Einigkeit. Da Golda Meir die Existenz eines palästinensischen Volkes leugnet, behaupte ich, daß ein solches Volk besteht und daß es von den Jordaniern zu unterscheiden ist. Doch in Wirklichkeit gibt es keinen Unterschied zwischen Jordaniern, Palästinensern, Syrern und Libanesen. Wir alle gehören zum arabischen Volk. Lediglich aus politischen und taktischen Gründen sprechen wir von der Existenz einer palästinensischen Identität, da es im nationalen Interesse der Araber liegt, eine separate Existenz der Palästinenser dem Zionismus gegen-überzustellen. Aus taktischen Gründen kann Jordanien — das ein Staat mit festen Grenzen ist — keinen Anspruch auf Haifa und Jaffa erheben. Dagegen kann ich als Palästinenser Haifa, Jaffa, Beer Scheba und Jerusalem fordern. Doch sobald unsere Rechte auf das gesamte Palästina wiederhergestellt sind, dürfen wir die Vereinigung Jordaniens mit Palästina um keinen weiteren Augenblick verzögern."
Die Forderung, „einen palästinensischen Staat" — d. h. ein zweiter arabischer Staat auf dem Gebiet des ehemaligen Palästina-Mandats — zu gründen, muß einfach als eine der gegenwärtigen Entwicklungsstufe angepaßte arabische Strategie angesehen werden, deren endgültiges Ziel auch weiterhin die Liquidierung Israels bleibt. Ein solcher Zwergstaat wäre — auf sich gestellt — wirtschaftlich und auch militärisch nicht lebensfähig. Er würde zwangsläufig die Flammen der palästinensischen Irredenta — seines einzigen raison d’etre — schüren und zu einem Werkzeug der extremen arabischen Staaten und einem Satelliten der Sowjetunion werden. Er würde für Israel nicht Frieden und Sicherheit, sondern'eine dauerhafte Gefährdung und Unsicherheit bedeuten.
In israelischer Sicht muß also eine künftige Regelung des Nahostkonfliktes auf der Erkenntnis beruhen, daß im Raum des ehemaligen Palästina-Mandats für beide Völker — Araber und Juden — das Selbstbestimmungsrecht bereits verwirklicht ist. Es bleibt lediglich die genaue Grenzziehung zwischen den zwei bestehenden palästinensischen Staaten übrig, die den demographischen, wirtschaftlichen, strategischen, historischen und religiösen Interessen der Kontrahenten Rechnung tragen muß Mit Gewißheit kann angenommen werden, daß nach einer solchen Grenzziehung auch weiterhin eine arabische Minderheit in Israel fortbestehen wird. Die völlige Abschaffung des arabischen Minderheitsproblems in Israel ist ebensowenig möglich wie die Abschaffung von Minderheitenproblemen in manchen europäischen Ländern (z. B. Österreich, der Tschechoslowakei, Rumänien, Jugoslawien). Doch das Vorhandensein einer arabischen Minderheit in Israel bedeutet ebensowenig die Verneinung des Selbstbestimmungsrechts der Araber Palästinas wie das Vorhandensein von 2 Millionen Ungarn in Rumänien die Verletzung des Selbstbestimmungsrechts des ungarischen Volkes bedeutet.
Schlußbetrachtung
Seit der Unterzeichnung der ägyptisch-israelischen Entflechtungsabkommen von 1974 und 1975 (und des syrisch-israelischen Abkommens von 1974) wurden in der Weltöffentlichkeit Stimmen laut, die auf eine angeblich gemäßigte Haltung Ägyptens und Syriens im Nahostkonflikt hinweisen. Es wird in diesem Zusammenhang angegeben, Ägypten und Syrien hätten jetzt ihre Bereitschaft bekundet, sich mit dem jüdischen Staat als einem Dauerfaktor im Nahen Osten abzufinden und auf Gewaltanwendung bei der Lösung des arabisch-israelischen Konfliktes zu verzichten.
Tatsächlich ist in den offiziellen arabischen Verlautbarungen der letzten Jahre nicht mehr davon die Rede, daß die Juden ins Meer geworfen werden müßten, wie dies vor 1967 in der arabischen Welt üblich war.
Es muß den Arabern allem Anschein nach allmählich aufgegangen sein, daß diese Redensarten ihnen wenig Sympathien in der Weltöffentlichkeit eingebracht haben. Seit 1967 änderten sie deshalb ihre Losungen, ohne dadurch aber ihre Zielsetzung geändert zu haben. Nun gelten als ihre Bedingungen: a) Rückzug Israels aus allen Gebieten, die den Arabern im Laufe des Sechstagekrieges verlorengingen, b) Wiederherstellung der „legitimen Rechte des palästinensischen Volkes".
Werden die arabischen Staaten ersucht, ihre zweite Bedingung näher zu präzisieren, so er-widern sie meistens, daß die Antwort darauf nur von den Palästinensern selbst, d. h. von der von ihnen (und von den Vereinten Nationen) mit der „Alleinvertretung des Palästinensischen Volkes" beauftragten „Palästinensischen Befreiungsorganisation" gegeben werden könne.
Die meisten Beobachter des Nahostkonflikts haben es jedoch bis jetzt bedauerlicherweise unterlassen, sich mit den Vorstellungen dieser Organisation hinsichtlich der Lösung dieses Konfliktes vertraut zu machen — Vorstellungen, die in der „Palästinensischen Nationalen Charta" von 1968 ihren klaren Ausdruck fanden.
In dieser Charta heißt es wörtlich: „ ... Das Palästina-Mandat und alles, was auf ihm beruht, wird als null und nichtig betrachtet... Die Behauptungen bezüglich der geschichtlichen und religiösen Verknüpftheit der Juden mit Palästina sind mit den geschichtlichen Tatsachen unvereinbar ... Das Judentum ist eine Religion und bildet kein unabhängiges Volkstum. Die Juden sind kein Volk, das eine eigene Identität aufweisen kann." (Art. 20)
In weiteren, für diese Untersuchung wesentlichen Artikeln heißt es ferner:
-i . .. --e „Die Teilung Palästinas und die Errichtung Israels sind völlig rechtswidrig". (Art. 19) „Palästina in seinen Mandatsgrenzen bildet eine unzertrennbare territoriale Einheit." (Art. 2)
„Die Juden, die vor dem Anfang der zionistischen Invasion in Palästina ansässig waren, gelten als Palästinenser." (Art. 6)
Hier sei noch im Zusammenhang mit Art. 6 darauf hingewiesen, daß die offiziellen Sprecher der „Palästinensischen Befreiungsorganisation" wiederholt betont haben, daß als „Anfang der zionistischen Invasion" das Jahr 1917 (Balfour-Deklaration) gilt.
Die Zielsetzung dieser Organisation ist daher klar und kann wie folgt zusammengefaßt werden: 1. Die Juden sind kein Volk und haben folglich kein Recht auf Selbstbestimmung.
2. Der Staat Israel hat keine Lebensberechtigung und muß liquidiert werden.
3. An seiner Stelle muß in ganz Palästina ein „palästinensischer Staat" errichtet werden. 4. In diesem Staat werden die Juden nur eine verschwindende Minderheit bilden, da alle nach 1917 („Anfang der zionistischen Invasion") eingewanderten Juden als Fremde gelten und als solche ausgewiesen werden sollen. Vermutlich sollte es dann, nach der Verwirklichung dieses Programms, zu einem „friedlichen Zusammenleben zwischen allen Palästinensern (Mohammedanern, Christen und Juden") kommen. Bis vor kurzem wies die „Palästinensische Befreiungsorganisation" auf den Libanon als vollendetes Beispiel und Vorbild hin. Doch seit der Zeit, da es offenkundig wurde, daß das „friedliche Zusammenleben"
zwischen Mohammedanern und Christen (ohne Juden!) im Libanon nicht mehr klappte, wurde von diesem Muster der friedlichen Koexistenz kein Gebrauch mehr gemacht. Dies mag wohl auch mit der verhängnisvollen Rolle Zusammenhängen, die die „Palästinensische Befreiungsorganisation" in der libanesischen Tragödie gespielt hat — und die ihre Parolen hinsichtlich eines „demokratischen und weltlichen palästinensischen Staates" eher hohl erscheinen läßt.
Wenn also „gemäßigte" arabische Führer sich heutzutage bereit erklären, mit Israel „in der nächsten Generation" Frieden zu schließen,, falls „die legitimen Rechte des palästinensischen Volkes" — im Sinne der Nationalen Charta der „Palästinensischen Befreiungsorganisation" — wiederhergestellt werden, so sollte es dem eingeweihten Beobachter nicht schwerfallen, diese Tarnsprache zu entschlüsseln: Sie bedeutet einfach, daß sie bereit sind mit Israel Frieden zu schließen, falls Israel aufhört zu existieren.
Wer sich diesem Tatbestand gegenüber verschließt — wie es die UNO-Vollversammlung tat, als sie dem Vorsitzenden der „Palästinensischen Befreiungsorganisation" und den von ihm verkündeten, auf die Vernichtung eines Mitgliedstaates zielenden Grundsätzen ihren begeisterten Beifall spendete —, der geht einfach — ob vorsätzlich oder unwissentlich — am Kernproblem des arabisch-israelischen Konfliktes vorbei.
Er kann oder will nicht erfassen, daß es sich hier nach wie vor trotz mancher — aus taktischen Gründen erfolgten — Neuformulierungen um einen Legitimitätsstreit handelt: Die Araber leugnen die Existenzberechtigung eines jüdischen Staates — von dessen Grenzen ganz abgesehen —, da sie die Existenz eines jüdischen Volkes bestreiten. In diesem grundlegenden Punkt sind sich „extreme" und „gemäßigte" Araber einig, da auch die „Gemäßigten" (wie z. B. Präsident Sadat) lediglich die Existenz Israels, nicht aber seine Existenzberechtigung anerkennen. Hierin — und nur hierin — liegt das Kernproblem des Nahostkonfliktes. Taktische, meistens durch semantische Akrobatik gemachte Konzessionen, die sich den jeweiligen militärischen und politischen Entwicklungen anpassen, ändern an dieser arabischen Zielsetzung nichts.
Auch die gegenwärtige „gemäßigte" Haltung der „Palästinensischen Befreiungsorganisation" und ihre Bereitschaft, sich „vorläufig" mit einem Staat in der „West Bank" zu begnügen, passen in dieses Schema, dem das Konzept der schrittweisen Liquidierung Israels zugrunde liegt. In diesem Sinne äußerte sich Faruk Kadumi, Chef der politischen Abteilung dieser Organisation und ein Führer ihres „gemäßigten" Flügels, in einem Interwiew, das er dem amerikanischen Wochenblatt Newsweek gab und das am 14. März 1977 veröffentlicht wurde. In diesem Interview heißt es wörtlich: „Die erste Etappe [unserer Rückkehr] sind die Grenzen von 1967. Die zweite Etappe sind die Grenzen von 1948 [d. h.der UNO-Teilungsplan]. Die dritte Etappe ist der demokratische Staat in [ganz] Palästina. Wir kämpfen für diese drei Etappen."
Die Araber verkennen dabei ganz und gar den Ablauf der 4000jährigen jüdischen Geschichte, das Selbstverständnis des jüdischen Volkes und seine Verbundenheit mit seinem Land. Dies ist eine tragische Unfähigkeit der arabischen Welt, die wahren Dimensionen des Verhältnisses zu erfassen, welches das jüdische Volk an sein Land bindet — ein Verhältnis, das zu den wesentlichsten Zügen der Kulturgeschichte der Menschheit gehört. Manchmal nur, in seltenen Augenblicken, gab es in der arabischen Welt kurze Aufhellungen, die auf ein Verständnis dieses Verhältnisses schließen ließen. Ein solcher Augenblick, in welchem die Wolken arabischen Unverständnisses von einem Schimmer tieferer Erkenntnis durchbrochen wurden, spiegelt sich in einem Kommentar vom 23. März 1918 wider, der in der Mekkaer Zeitung Al Kibla — dem Sprachrohr Husseins, des Königs von Hidschas, und seines Sohnes Feisal — erschien: „Die Naturschätze Palästinas liegen brach und werden von den jüdischen Einwanderern entwickelt werden. Eine der beachtenswertesten Tatsachen ist, daß ...der Palästinenser immer gewohnt war, sein Land zu verlassen und über die hohe See in alle Richtungen zu wandern. Die heimatliche Erde vermochte ihn nicht festzuhalten, obwohl seine Vorfahren seit mehr als 1000 Jahren in ihr lebten. Gleichzeitig aber sehen wir, daß die Juden aus aller Herren Länder — aus Rußland, Deutschland, Österreich, Spanien, Amerika — nach Palästina strömen. Der tiefere Grund dafür kann all jenen nicht verborgen bleiben, die zu wahrer Einsicht fähig sind. Sie wissen, daß dieses Land für seine ursprünglichen Söhne — trotz ihrer Unterschiedlichkeit — eine heilige und geliebte Heimat geblieben ist. [Es ist dies] ... die Rückkehr dieser Vertriebenen in ihre Heimat ..."
Die Fähigkeit der arabischen Welt, sich zu dieser Erkenntnis durchzuringen, ist die unerläßliche Vorbedingung für eine Regelung des arabisch-israelischen Konfliktes. Je schneller ihr dieser Durchbruch gelingt, desto eher kann auch dieser tragischen Auseinandersetzung der semitischen Brüdervölker ein Ende gesetzt werden.