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Zur inneren Stabilität und außenpolitischen Handlungsfreiheit Ägyptens | APuZ 14/1977 | bpb.de

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APuZ 14/1977 Der libanesische Bürgerkrieg Zur inneren Stabilität und außenpolitischen Handlungsfreiheit Ägyptens Das franquistische System und die spanische Wirtschaft

Zur inneren Stabilität und außenpolitischen Handlungsfreiheit Ägyptens

Aref Hajjaj

/ 24 Minuten zu lesen

Zusammenfassung

Im ersten Teil dieser Arbeit werden die Liberalisierungsmaßnahmen im Ägypten der Ara Sadat untersucht. Hierbei handelt es sich um den Versuch Präsident Sadats, mit den politischen, ideologischen und wirtschaftlichen Maximen des Nasserismus zu brechen und an deren Stelle ein System zu entwickeln, das für die Begriffe der arabischen Welt als freiheitlich-liberal gelten könnte. Indizien für diesen neuen Kurs sind u. a. die Rehabilitierung des privaten Wirtschaftssektors, die bedingte Einführung der Meinungs-und Pressefreiheit sowie die Zulassung von drei Parteien, die sich aber zu einer vom Staat bestimmten politischen Einheitslinie bekennen müssen. Die jüngsten Unruhen in Ägypten haben jedoch klar erwiesen, daß die politische und wirtschaftliche Krise trotz dieses liberalen Kurses fortbesteht. Sadats Regime bleibt so lange gefährdet, wie im Nahost-Konflikt keine wirklichen Fortschritte erzielt werden, die über den Stand der bilateralen Entflechtungsabkommen hinaus zu einer wirklichen Befriedung der gesamten Region führen könnten. Im zweiten Teil dieser Arbeit wird festgestellt, daß Sadat die in der Ära Nasser gültige Aufteilung der arabischen Staaten in progressive und konservative Systeme ablehnt und darüber hinaus eine neue Allianz mit den konservativen Erdölstaaten etabliert hat. Sadats neue Allianz mit Saudi-Arabien muß man sowohl ideologisch als auch pragmatisch sehen: Beide Staaten lehnen das panarabische Konzept nasseristischer Prägung ab und treten für eine Wirtschaftspolitik ein, die das staatskapitalistische Wirtschaftsmodell verwirft. Im dritten Teil wird dargelegt, daß die Liberalisierungspolitik einerseits und der Pragmatismus im Verhältnis zu den anderen arabischen Staaten andererseits zur Normalisierung des ägyptisch-amerikanischen und zur Verschlechterung des ägyptisch-sowjetischen Verhältnisses wesentlich beigetragen haben. Indessen machen innenpolitische Labilität und außenpolitische Stagnation in Israel es nicht möglich, das neue Konzept der ägyptischen Politik wirksamer in den Dienst einer dynamischeren Friedenspolitik zu stellen.

I. Ägyptens innenpolitische Szene im Zeichen der politischen und wirtschaftlichen Liberalisierung

Der faktische Bruch mit dem Sozialismus

Dem verbalen Bruch Präsident Sadats mit dem Nasserismus in Ägypten folgte konsequenterweise die Abrechnung mit der herrschenden Idee des alten Regimes, dem sog. arabischen Sozialismus. Sadat macht heute die quasi sozialistische Praxis der Ära Nasser verantwortlich für den Bürokratismus und den defizitären Staatshaushalt sowie für die Isolierung Ägyptens von der westlichen Welt und seine straffe Bindung an die sowjetische Politik.

Der Prozeß der Anpassung der ägyptischen Massenmedien an diesen von der Exekutive vorgenommenen Wandel ist bemerkenswert fortgeschritten. Galt der Sozialismus in der Ära Nasser und in der Frühphase des Regimes Präsident Sadats als eine Art unantastbaren Heiligtums, so wird er heute lediglich von kleinen intellektuellen Zirkeln wie den Zeitschriften „At-Talia“ und „Rose el-Yousef" öffentlich und kämpferisch vertreten. Die maßgeblichen Massenmedien wie die liberalbürgerliche Zeitung Al-Ahram, die konservative Wochenschrift Al-Musawwar und vor allem die rechtsorientierten Blätter des Verlags Akhbar el-Yom zeichnen ein düsteres Bild des Sozialismus Nasseristischer Prägung und plädieren für die Übernahme liberal-bürgerlicher Gesellschaftsformen in Ägypten.

Die einst mächtige Einheitspartei, die Arabische Sozialistische Union (ASU), befindet sich heute — wie noch zu zeigen ist — im Stadium der Auflösung und hat lediglich die Aufgabe,

Dieser Beitrag beruht auf einem Diskussionspapier, daß der Verfasser im Rahmen eines von der Stiftung Volkswagenwerk geförderten Projekts über die Beziehungen zwischen der Bundesrepublik Deutschland und den arabischen Staaten vorgelegt hat. die Übertragung ihrer Machtbefugnisse auf die inzwischen zugelassenen Parteien vorzunehmen.

Meinungs-und Pressefreiheit

Die Abrechnung mit dem Sozialismus, die von den Blättern des Verlags Akhbar el-Yom offen als Verurteilung des Regimes Nasser schlechthin angesehen wird, deckt sich zeitlich mit der Verkündung der Meinungs-und Pressefreiheit durch die Administration Sadats. In einer seit der vorrevolutionären Zeit Ägyptens noch nie gekannten Schärfe werden in den vorwiegend liberal-bürgerlichen und den wenigen linksorientierten Publikationen Minister und Parlamentarier angegriffen sowie wirtschaftliche und soziale Mißstände wie Korruption, Vetternwirtschaft und soziale Benachteiligung der überwältigenden Mehrheit der Bevölkerung angeprangert Die als profiliertestes Organ der ägyptischen Linken geltende Monatszeitschrift At-Talia macht in ihrer Kritik sogar vor dem amtierenden Ministerpräsidenten Mamduh Salem nicht halt. Diesem wird vor allem in der noch zu behandelnden Parteienfrage der Vorwurf gemacht, den gesamten Staatsapparat zugunsten einer politischen Gruppe einzusetzen, die die Linke als nicht repräsentativ für die Mehrheit der Bevölkerung ansieht In der dominierenden rechtsorientierten Presse wird dagegen jede Kritik an der neuen Sozial-und Wirtschaftsordnung der Regierung sogar als Ausdruck des Ilhad (Atheismus) verteufelt. Die Ulemmas und die Moscheenprediger werden von diesen Kreisen häufig zitiert, wenn es sich darum handelt, linke Nasseristen wie Khaled Mohyiddin oder Kamal Rifat als „verräterische" kommunistische Elemente propagandistisch abzutun.

Bilanz der wirtschaftlichen Liberalisierungspolitik (Infitah)

Als Alternative für die sozialistische Politik Nassers wurde unter Sadat eine Politik des sog. Infitah, d. h.der wirtschaftlichen Liberalisierung, vertreten, die bereits 1971, im ersten Amtsjahr Sadats, verkündet wurde. Das Gesetz über das Infitah wurde 1974 erlassen; Ziel war die Schaffung von Anreizen für ausländische Investitionen wie Steuererleichterungen und Befreiung der ausländischen Investoren von der Zusammenarbeit mit der zeitraubenden, ineffizienten Staatsverwaltung durch die Gründung einer dem Ministerpräsidenten-Büro unmittelbar unterstellten Koordinierungsstelle

Eine Bestandsaufnahme der bis Ende 1975 durch ausländische Investitionen begonnenen oder durchgeführten Vorhaben ergibt indessen eine sehr bescheidene Bilanz der Liberalisierungspolitik. Im Sektor der chemischen und petrochemischen Industrieen handelt es sich um insgesamt 42 Vorhaben mit einer Gesamtbeteiligung der ausländischen Investoren von 27 Millionen ägyptischen Pfund (Gesamt-kapital 39 Millionen ägyptische Pfund), d. h., daß der Durchschnittsumfang eines Vorhabens geringer ist als eine Million ägyptische Pfund. Ähnliches gilt für die Beteiligung der ausländischen Investoren an Vorhaben im Bergbau und der Lebensmittelindustrie. Seit Beginn der Liberalisierungsmaßnahmen wurden insgesamt 128 Vorhaben in den verschiedensten Sektoren mit einer ausländischen Beteiligung von insgesamt nur 124 Millionen ägyptischen Pfund durchgeführt

Die Kairoer Wirtschaftszeitschrift Al-Ahram al-Iqtisadi stellt in diesem Zusammenhang fest, daß es sich bei den in Ägypten investierenden internationalen Firmen um kleinere und mittlere Unternehmen handelt, deren Engagement in Ägypten in erster Linie darauf zurückzuführen sei, daß sie aufgrund der wirtschaftlichen Schwierigkeiten in ihren Heimat-ländernauf 'ausländische Märkte ausweichen. Hinzu kommt nach Ansicht dieser Zeitschrift, daß die Unternehmen bei ihren Investitionen in Ägypten konventionelle, weniger hochentwickelte Technologien anwenden. Beteiligungen größerer internationaler Unternehmen und Bankinstitute sind dagegen sehr selten

Die wirtschaftliche Liberalisierungspolitik (Infitah) hat außerdem durch eine weitgehende Lockerung der Importbeschränkung zu einer gewaltigen Erhöhung des Einfuhrvolumens geführt. Da die Exportentwicklung jedoch stagniert, sind die Schwierigkeiten der Zahlungsbilanz durch die Liberalisierungsmaßnahmen entgegen ursprünglichen Erwartungen der Regierungsstellen wesentlich gestiegen

Von amtlicher Seite werden solche Schwierigkeiten auf die allgemeine Verschlechterung der Weltwirtschaftslage (Weltrezession und Inflation) sowie darauf zurückgeführt, daß Ägypten unzureichende Wirtschaftshilfe von den arabischen Erdölstaaten, den USA und Westeuropa erhalte. Die ägyptische Regierung betrachtet die Liberalisierungsmaßnahmen nicht nur als nicht verantwortlich für diese negative Entwicklung, sondern sie glaubt darüber hinaus, durch Ausweitung dieser Maßnahmen, d. h. durch eine stärkere marktwirtschaftliche Öffnung Ägyptens, die Zahlungsbilanzprobleme besser meistern zu können

Im November 1976 wurde die Regierung Mamduh Salems umgebildet. Ihr gehören seitdem profilierte Anhänger der sozialen Marktwirtschaft wie der stellvertretende Ministerpräsident für Wirtschafts-und Finanzfragen, Kaissuny, Wirtschaftsminister Sayeh und Finanzminister Hamed an.

Kaissunys wirtschaftspolitisches Konzept geht davon aus, daß die eskalierenden wirtschaftlichen Mißstände in Ägypten (Inflationsrate von ca. 50 Prozent, hohe Auslandsverschuldung durch langfristige und kurzfristige Verbindlichkeiten von 18 Milliarden Dollar, stark defizitärer Staatshaushalt) nur durch Abbau der staatlichen Preissubventionen für Grundnahrungsmittel beseitigt werden können. Die potentiellen Geldgeber Ägyptens wie die arabischen Erdölstaaten, die USA, der Internationale Währungsfonds und die Weltbank hätten, so Kaissuny, die Gewährung wetiterer Kredite davon abhängig gemacht, daß die ägyptische Regierung glaubwürdige Maßnehmen zur Reduzierung des Defizits im Staatshaushalt unternehme

Am 17. Januar 1977 beschloß die Regierung eine drastische Preiserhöhung u. a. für Butangas, Reis, Zucker, Benzin und Zigaretten. Außerdem wurden die Zölle asuf Luxusartikel wie elektrische Geräte und Kraftfahrzeuge zum Teil verdoppelt. Vorangekündigt, aber noch nicht beschlossen wurde eine Reform des aus dem 19. Jahrhundert stammenden Steuersystems In langen Fernsehdebatten erklärte Kaissuny, daß die latent gespannte Lage> im Nahen Osten entlang der arabisch-israelischen Demarkationslinien eine Kürzung des Militärbudgets unmöglich mache

Wegen der Preiserhöhungen kam es in der Industriestadt Heluan (Stahlwerrke), später auch in Kairo, Alexandrien, Suez und Assuan zu heftigen Massendemonstrationen gegen die Politik Präsident Sadats. Zahlreiche Gebäude wie Polizeistationen, Zeitungsverlage und internationale Hotels wurden angegriffen und zum Teil angezündet. Viele Demonstranten forderten die Absetzung Präsident Sadats und die Überprüfung der liberalen Wirtschaftspolitik seiner Regierung.

Der aus korrupten und unterbezahlten Polizisten bestehende Polizeiapparat war bald nach Eskalierung der gewalttätigen Vorfälle nicht mehr Herr der Lage. Auf Befehl des Präsidenten wurde die Armee gegen die Demonstranten eingesetzt und ein Ausgehverbot über Kairo und Alexandrien verhängt. Gleichzeitig wurden die neuen Wirtschaftsbeschlüsse der Regierung mit Ausnahme deir Zoll-und Importerhöhungen außer Kraft gesetzt

Die Regierung machte „kommtnistische" Gruppen für die Ausbreitung dec Unruhen verantwortlich In Wirklichkeit sind marxistische Gruppen in Ägypten jedoch nur schwach vertreten und haben kaum Einflußmöglichkeiten. Selbst wenn sie diesmal tatsächlich für diese Ereignisse verantwortlich waren, so war der Erfolg ihrer Aktion primär darin begründet, daß die Beschlüsse der Regierung, so dringend notwendig sie vom volkswirtschaftlichen Standpunkt waren, die unter dem Existenzminimum lebenden Schichten hart trafen.

Diese Ereignisse bedeuten politisch, daß Präsident Sadats Regime gefährdet bleibt, solange er a) zur Sanierung der ägyptischen Wirtschaft keine genügenden langfristigen Kredite erhält und b) solange die stagnierende Lage im Nahen Osten ihm nicht erlaubt, das Militärbudget erheblich zu kürzen.

Man hat bisher angenommen, daß unter den beiden Hauptakteuren des Nahostkonflikts (Ägypten und Israel) zumindest eine Seite über eine ausreichende innenpolitische Stabilität und Stärke verfügt. Dieser Eindruck muß nach den jüngsten Kairoer Ereignissen korrigiert werden.

Parteienbildung und -Struktur

Eng verflochten mit dem wirtschaftlichen Liberalismus sind unter Präsident Sadat die politischen Liberalisierungsmaßnahmen. Der Aufhebung der Pressezensur (außer, wie es heißt, in militärischen Angelegenheiten) folgte, wenn auch sehr zögernd, die Zulassung von politischen Parteien. Dies stellt insofern ein Novum in der neuzeitlichen ägyptischen Politik dar, als die Revolution von 1952 den Parteien-Pluralismus von Anfang an als schädigend und mit der Volkseinheit nicht vereinbar ablehnte

Die Parteienbildung vollzog sich unter politisch wie ideologisch künstlichen Umständen: Aus der sich auflösenden ASU wurden drei Plattformen (Manabir) ins Leben gerufen, die später Parteien (Ahsab) genannt wurden. Zuvor war die Abschaffung eines Gesetzes über die „Nationale Einheit" erforderlich, dessen Inhalt im Widerspruch zur Gründung von Parteien stand Es handelt sich um folgende Parteien: a) die arabische sozialistische Partei Ägyptens,

b) die liberale sozialistische Partei, c) die national-progressive Block-Partei. Während die Regierung Mamduh Salems und somit also auch die Staatsspitze die Führung der ersten, von nun an als die „Partei der Mitte" bezeichneten Partei für sich beanspruchte, wurden, auch von Amts wegen, die zwei anderen Parteien als die Partei der „Rechten" bzw. die der „Linken" klassifiziert. In Wirklichkeit sind die Unterschiede zwischen der Partei der Mitte und der der Rechten nur personalpolitisch von Bedeutung. Ansonsten decken sich beide Parteien in der Übernahme der liberalen Wirtschaftsidee und der „reduzierten" westlichen Demokratieformen. Beide Parteien, die rechte Partei etwas artikulierter, sehen im Sozialismus nasseristischer Prägung den wahren Grund für die wirtschaftlichen und sozialen Mißstände Ägyptens und beide, die Mitte am stärksten, stützen sich in erster Linie auf die traditionellen ländlichen Großfamilien sowie die neukapitasitischen Kräfte in den größeren Städten. Die linke Partei ist dagegen eine streng marxistisch orientierte Bewegung, die außer einem begrenzten intellektuellen Kreis und einem Teil der organisierten Arbeiterschaft keine nennenswerte Anhängerschaft unter den breiten Massen der Kleinbürger und Fellachen hat.

Daß diese Parteienlandschaft den ägyptischen Realitäten jedoch nicht voll Rechnung trägt, bevreist vor allem die Tatsache, daß an den Wahlen der neuen ägyptischen Volkskammer (September bis November 1976) neben den 752 Kandidaten der drei zugelassenen Parteien immerhin 908 Personen teilnahmen, die als „unabhängige Kandidaten" aufgetreten sind. Diese bildeten jedoch keine politisch einheitliche Linie. Denn sie rekrutierten sich aus erklärten Gegnern der ASU, aus konservativen wie progressiven Persönlichkeiten sowie aus Sympathisanten der noch verbotenen Moslem-bruder-Partei

Bei den jüngsten blutigen Unruhen in Ägypten haben die drei Parteien weder bei der Auslösung noch bei der Beilegung der Krise eine nennenswerte Rolle gespielt haben.

Das aus insgesamt 360 Mandaten bestehende Parlament setzt sich wie folgt zusammen:

Partei der Mitte: 280 Mandate Partei der Rechten: 12 Mandate Partei der Linken: 2 Mandate Unabhängige 49 Mandate

Die überwältigende Mehrheit der Mitte und die klare Niederlage der linken Partei sind u. a. auf die massive Beeinflussung der Wähler durch die Regierungsstellen zurückzuführen, die z. T. mit der provozierenden Parole operierten: „Mitte oder Atheismus" Fast die gesamte Presse stellt sich hinter die „Partei der Mitte". Besonders eklatant wurde dies durch die Tatsache, daß sämtliche Herausgeber und Chefredakteure der Tageszeitungen und Wochenzeitschriften nach der Gründung der Parteien der Partei der Mitte demonstrativ beitraten.

Während man bei der wirtschaftlichen Liberalisierung von einer klaren Tendenzwende sprechen kann, muß man die Entwicklung des Parteilebens in Ägypten noch abwarten. — Die Auflösung der Parteien und die erneute Etablierung einer, wenn auch nunmehr „liberalen" Einheitspartei scheint heute angesichts der sensiblen Demokratieverhältnisse und der wachsenden politischen Unruhen im Land im Zusammenhang mit der inzwischen revidierten Preiserhöhung von Grundnahrungsmitteln durchaus im Bereich des Möglichen zu liegen.

II. Ägyptens Stellung in der arabischen Welt

Von der offensiven Konzeption Nassers zur konzilianten innerarabischen Politik Sadats

Parallel zur Liberalisierung der innenpolitischen'und wirtschaftlichen Situation Ägyptens vertritt der ägyptische Präsident Sadat gegenüber der arabischen Welt eine gemäßigte, konziliante Politik, die sich im wesentlichen von der offensiv ausgerichteten Konzeption des Panarabismus Nasserscher Prägung unterscheidet. Zu Lebzeiten Nassers verstand sich Ägypten als eine revolutionäre Ordnungsmacht der arabischen Welt, die sich mit Hilfe einer Art „Nasser-Doktrin" in die politi-sehen Angelegenheiten einzelner Länder einmischte und befreundete Regime sowie im Untergrund operierende Freiheitsbewegungen mit Waffen unterstützte Das Jemen-Engagement Ägyptens in den sechziger Jahren war der klarste Ausdruck der von Nasser aktiv praktizierten panarabischen Politik. Das Scheitern dieses Engagements und die Entstehung einer eher konservativen Kompromiß-Option im Jemen zeigte damals allerdings sehr deutlich die Diskrepanz zwischen der von oben oktroyierten panarabischen Konzeption und den eher in den Kategorien des ägyptischen Nationalismus denkenden ägyptischen Massen.

Das Regime Präsident Nassers stand mittelbar oder unmittelbar hinter dem irakischen coup d’etat vom Juli 1958, dem Libanon-Konflikt von 1958, dem libyschen Staatsstreich vom September 1969 und hinter vielen Umsturz-versuchen in Jordanien, Saudi-Arabien, Irak usw.

Vor allem der Libanon hatte den panarabischen Führungsanspruch Ägyptens am deutlichsten zu spüren bekommen. Viele einflußreiche libanesische Politiker wurden über den ägyptischen Geheimdienst politisch und finanziell großzügig unterstützt und eine Vielzahl von Zeitungen und Zeitschriften waren lediglich Sprachrohre des ägyptischen Regimes. Der ägyptische Botschafter im Libanon galt in der Ära Nasser als eine der grauen Eminenzen der libanesischen Politik.

Unter dem Pragmatiker Sadat hat sich die innerarabische Politik Ägyptens grundlegend verändert. Er verließ völlig die revolutionäre Linie seines Vorgängers, verwarf die Einmischung in die Angelegenheiten anderer arabischer Staaten und verfocht statt dessen eine ideologisch neutrale innerarabische Politik der Versöhnung und Mäßigung.

Der Abrechnung mit den berüchtigten innenpolitischen „Machtzentren" (Marakiz alQiwa) des nasseristischen Apparates in Armee, Verwaltung und Geheimdienst im Mai 1971 folgte eine spürbare Reduzierung der Tätigkeit der ägyptischen Nachrichtendienste im Ausland und ein Verzicht auf die Unterstützung der bisher als einflußreich und gefürchtet geltenden nasseristischen „Kader" in den arabischen Staaten. Von nun an traten die außenpolitischen Beziehungen Ägyptens zur arabischen Welt in eine neue Phase der Befriedung ein. Die später entstandenen innerarabischen Konflikte hatten viel weniger jene ideologische Erstarrung gehabt, die man von der Ära Nasser her kannte.

Wandel der Allianzpolitik

Neben dem Verzicht Sadats auf die Führungsrolle Ägyptens innerhalb der arabischen Welt verneinte er die in der Ära Nasser voll gültige statische Aufteilung der arabischen Welt in „progressive" und „konservative" Staaten. Das im Zeichen der politischen und wirtschaftlichen Liberalisierung stehende Ägypten war nunmehr nicht nur nicht mehr die Führungskraft innerhalb des progressiven Lagers, sondern es suchte seine Alliierten sogar außerhalb dieses Lagers, nämlich unter den konservativen Staaten wie insbesondere Saudi-Arabien und den Golf-Staaten

Drei Hauptgesichtspunkte waren für den Wandel der Allianzpolitik Präsident Sadats entscheidend: a) Sadat brach mit dem maximalistischen Israel-Kurs, der von Nasser bis zum Juni-Krieg 1967 und von den sog. radikalen arabischen Staaten vertreten wurde. Er unterstrich vielmehr die Bereitschaft, einer friedlichen Nah-ost-Option zuzustimmen, die unter anderem die Anerkennung Israels durch die arabischen Staaten beinhalten soll. Damit war der Weg zur Normalisierung des ägyptisch-amerikanischen Verhältnisses geebnet, was wiederum eine günstige Voraussetzung für die Verbesserung der Beziehungen zwischen Ägypten und den traditionellen arabischen Alliierten der USA, d. h. Saudi-Arabien und den GolfStaaten, war.

b) Mit dem Friedenswillen verbindet Sadat die Absicht, die Prioritäten seiner Politik auf die Sanierung der ägyptischen Wirtschaft zu verlagern. Diese Aufgabe erfordert neben der Bereitstellung moderner Technologien umfangreiche Kapitalinvestitionen, die vornehmlich von den (konservativen) arabischen Erdöl-staaten vorgenommen werden können. c) Nach Sadats Vorstellung müßte die arabische Einheit nicht durch die Schaffung eines Einheitsstaates verwirklicht werden, wie dies die progressiven arabischen Staaten fordern, sondern durch die Etablierung einer wirtschaftlichen Interessengemeinschaft. Dieser Gedanke findet eine weitgehende Zustimmung unter den auf ihre politische Souveränität eifersüchtig pochenden konservativen arabischen Staaten.

Im libanesischen Bürgerkrieg manifestierte sich die neue innerarabische Politik Ägyptens unter Präsident Sadat. Die von ihm emphatisch erhobene Parole „Hände weg vom Libanon" (so z. B. auf seiner Pressekonferenz in Bonn im März 1976 anläßlich seines Deutschland-Besuchs) richtete sich in erster Linie gegen die in diesem Konflikt sehr stark engagierten Syrer sowie gegen die Sowjets und Libyer, denen er eine Verstrickung in die Bürgerkriegsereignisse vorwarf. Ägypten hat dagegen nur im begrenzten Umfang und nur mittelbar an diesen Ereignissen teilgenommen, was im Vergleich zur Ära Nassers einen entscheidenden Wendepunkt der innerarabischen Politik Ägyptens darstellt (Politik der Nichteinmischung).

Die ägyptische Libanon-Politik manifestierte außerdem das zweite Element der ägyptischen innerarabischen Politik, nämlich die modiiizierte Allianzpolitik: Aus Rücksicht auf seinen Alliierten Saudi-Arabien, dessen ideologische und wirtschaftliche Interessen es zur Unterstützung des syrischen Vorgehens gegen linke Moslems und Palästinenser bewogen haben, unternahm Ägypten über das Rhetorische hinaus keinen wirksamen Schritt zur Bekämpfung der syrischen Präsenz im Libanon. Davon abgesehen gehörten auch die Ägypter zu jenen Akteuren des libanesischen Bürgerkriegs, die gegen eine Abschaffung des Status quo im Libanon waren.

Das Dilemma des ägyptisch-libyschen Verhältnisses

Gerade diese beiden Elemente der innerarabischen Politik Ägyptens sind ein maßgeblicher Grund für die Verschlechterung des ägyptisch-libyschen Verhältnisses. Während Sadat den Bruch mit Nassers innen-wie außenpolitischen Maximen vollzog, betrachtete sich der libysche Präsident Gadhafi von Anfang an als unumstrittener Erbe Nassers.

Man muß allerdings der Auffassung widersprechen, daß Gadhafi in die politische Tradition Nassers voll einzuordnen sei. Die ägyptischen Freien Offiziere, die im Juli 1952 erfolgreich gegen die korrupte Monarchie geputscht haben, verfugten über ein höheres Bildungsniveau und entstammten einer aufgeschlosseneren bürgerlichen Gesellschaft als jene libyschen Offiziere, die im September 1969 die Macht eroberten. Gadhafi und die anderen Mitglieder seines Revolutionsrats entstammten einer provinziell-beduinischen Gesellschaft, die, wie etwa die Syrter Gesellschaft 22a), in der Gadhafi aufwuchs, außer der üblichen Frustration über die europäische Fremdherrschaft kein nennenswertes politisches Bewußtsein hatte, geschweige denn über literarische oder intellektuelle Zirkel verfügte, wie dies im Ägypten der vorrevolutionären Zeit der Fall war Während z. B.

Nasser sich immerhin auf das Gedankengut des ägyptischen Schriftstellers Tawfiq alHakim berufen konnte, steht Gadhafi geistig da mit leeren Händen. Der improvisierte Charakter der Kulturrevolution in Libyen vom April 1973 offenbarte die Schmalspurigkeit der Ideen Gadhafis. Hinzu kommt die Tatsache, daß Libyen im Gegensatz zu Ägypten über keinen Verwaltungsapparat verfügte und so gut wie kein funktionierendes Schulsystem hatte.

Auch in religiöser Hinsicht bestanden Unterschiede zwischen Nasser und Gadhafi. Während sich Nasser eine säkularisierte Staats-auffassung zu eigen gemacht hatte, geht Gadhafi von der absoluten Gültigkeit der Koran-Lehre für das politische, soziale und wirtschaftliche Leben des modernen Menschen aus. In diesem Zusammenhang bestehen Gegensätze auch zwischen Gadhafi und Sadat, der trotz seiner religiösen Orientierung und der Rehabilitierung der einst verfolgten politischen Gruppen Ägyptens aus dem islamischen Lager einer sozial und politisch eher säkularisierten Idee verpflichtet ist.

Zu den brennendsten Faktoren des ägyptisch-libyschen Dilemmas gehört Gadhafis Forderung nach sofortigem und uneingeschränk-tem Zusammenschluß aller arabischen Staaten in einem Einheitsstaat. Bekanntlich hat Nasser selbst, der mit solchen panarabischen Zusammenschlüssen bittere Erfahrungen gemacht hat (die Vereinigte Arabische Republik 1958— 1961, die gescheiterten Verhandlungen von 1963 mit der syrischen und irakischen Baath-Partei zur Bildung einer neuen arabischen Vereinigung), nur zögernd dem Abschluß jener „Tripoli-Charta" kurz vor seinem Tod im September 1970 zugestimmt, die zu seinen Lebzeiten nicht in die Tat umgesetzt und von seinem Nachfolger Sadat suspendiert wurde.

Das Zögern Sadats, einem Zusammenschluß Ägyptens mit Libyen zuzustimmen, war, neben den anderen bereits erwähnten Faktoren, entscheidend für die Zuspitzung der Beziehungen beider Staaten. Der Zusammenschlußgedanke war und ist für Gadhafi so entscheidend wichtig, daß er erfolglos versucht hat, eine Vereinigung seines Landes nacheinander mit Tunesien, Sudan und Algerien zu verwirklichen.

Gadhafi setzte die starken finanziellen Mittel Libyens aus den Erdöleinnahmen ein, um sowohl innerarabisch als auch international seine politischen Ziele zu erreichen Dem Pragmatiker Sadat erschien es in diesem Zusammenhang als politisch töricht, daß Gadhafi zur Befriedigung seiner außenpolitischen Ambitionen Staaten wie Malta und Uganda sowie Gruppen wie der IRA und den südphil-ippinischen Moslem-Aufständischen größere finanzielle Unterstützung gewährte.

Sadats Geduld war endgültig erschöpft, als der libysche Staatschef nach der Verschlechterung der Beziehungen zu Ägypten dazu übergegangen war, religiös-fanatische Splittergruppen in Ägypten mit Geld und Waffen zu unterstützen, um Bombenanschläge und andere Terroraktionen gegen militärische und zivile Einrichtungen in Ägypten zu unternehmen.

Die Ausweisung vieler in Libyen arbeitender Ägypter war ein weiterer Schlag Gadhafis gegen die ohnehin gefährdete Stabilität Ägyptens, weil dies Probleme hinsichtlich der Beschaffung von neuen Arbeitsplätzen und der Vorbeugung vor möglichen innenpolitischen Unruhen geschaffen hat.

Die heute gut entwickelten politischen und militärischen Beziehungen Libyens zur Sowjetunion sind sicher auch als Affront gegen Sadats Regime zu sehen. Die libysche Politik gegenüber der Sowjetunion zeigt sehr deutlich die Konzeptionslosigkeit von Gadhafis Politik, der einst jede Annäherung an die Sowjetunion und bestimmt jeden Vertragsabschluß mit ihr als einen Verrat an der arabischen Sache bewertet hatte.

Die ägyptisch-libyschen Spannungen haben zweifelsohne Ägypten in finanzielle Schwierigkeiten gebracht. Politisch gesehen haben sie dem Regime Gadhafis geschadet, da es heute innerarabisch, innerafrikanisch sowie international völlig isoliert dasteht.

III. Ägyptens Außenpolitik im Zeichen der Liberalisierung und der modifizierten Nahost-Optionen

Die Beziehungen zu den USA und zur Sowjetunion

a) Scheitern der sowjetischen Politik in Ägypten Die Verschiebung der innenpolitischen Akzente in Ägypten zugunsten einer begrenzten marktwirtschaftlichen Neuorientierung und einer relativen Liberalisierung des politischen Lebens bewirkte innerarabisch eine Lockerung der einst ideologisch verhärteten Fronten und einen maßgeblichen Wandel der bestehenden Allianzpolitik.

Diese Verschiebung hatte ebenfalls ihre internationalen Implikationen, insbesondere im Hinblick auf die Beziehungen Ägyptens zur Sowjetunion und zu den USA.

Das Verhältnis Ägyptens zur Sowjetunion er-. hielt unter Präsident Sadat einen neuen, insgesamt negativen Stellenwert, wodurch im Vergleich zur Ära Nasser eine eindeutige Rückentwicklung eingetreten ist. Präsident Nassers Verhältnis zu Moskau hatte zwar auch seine Spannungsmomente gehabt die in erster Linie auf die Unterdrückung der Kommunisten in Ägypten und auf Moskaus Weigerung zurückzuführen waren, Ägypten mit modernster offensiver Militärausrüstung zu versorgen und einer flexibleren Regelung der ägyptischen Schulden zuzustimmen. Eine ernsthafte Alternative für die ägyptisch-sowjetische Allianzpolitik bestand indessen für Nasser nicht, zumal er angesichts der nahezu uneingeschränkten Unterstützung Israels durch die USA keine Voraussetzungen für eine ägyptisch-amerikanische Verständigung gesehen hatte.

Unmittelbarer Anlaß für die Verschlechterung des Verhältnisses Sadats zur Sowjetunion war der innenpolitische Machtkampf zwischen Sadat und dem Kreis um Ali Sabri, den Sadat und sein Propaganda-Apparat von nun an als „Machtzentren" negativ bezeichneten. Dieser Machtkampf endete bekanntlich im Mai 1971 mit dem Sieg Sadats. Dieses Datum, das der offizielle ägyptische Sprachgebrauch manchmal als „Harakat Attashih" (Säuberungsaktion) bezeichnete und gelegentlich sogar zur „Revolution vom 15. Mai 1971" hochstilisierte, war entscheidend für die Auslösung der ägyptisch-sowjetischen Krise.

Im Juli 1972 beschloß Sadat den Abzug aller sowjetischen Experten aus Ägypten, und am 15. März 1975 kündigte er den zwischen beiden Staaten geschlossenen Freundschaftsvertrag auf.

Mit der Ausschaltung des linken ägyptischen Flügels um Ali Sabri wurden die Liberalisierungsmaßnahmen in Wirtschaft und Politik intensiviert. Hierin sahen die Sowjets Signale für den Ausbau des westlichen Machteinflusses in Ägypten, den sie und ihre linken Freunde in Ägypten als eine „imperialistische" Gefährdung der ägyptischen Unabhängigkeit ansahen

Die Verschiebung der politischen Akzente unter Sadat führte ebenfalls zu einer erheblichen Machteinbuße der Sowjetunion im Bereich des Nahost-Konflikts. Während bis 1972 den USA als Protektor Israels die Sowjetunion als Protektor der progressiven-arabischen „Frontstaaten" gegenüberstand, haben die USA, insbesondere seit dem Oktober-Krieg, begonnen, die Rolle des eigentlichen Vermittlers zwischen Israel und den arabischen Staaten zu spielen, wobei zunehmend der sowjetische Einfluß im Nahen Osten dank einer aktische Einfluß dank einer aktiven Pendel-Diplomatie Henry Kissingers im Nahen Osten verdrängt wurde. Die Sowjetunion mißtraute von Anfang an Kissingers Schritt-für-Schritt-Diplomatie und forderte statt dessen die Wieder-einberufung der Genfer Nahost-Friedenskonferenz. Der Abschluß des zweiten ägyptisch-israelischen Sinai-Entflechtungsabkommens im September 1975 wurde von der Sowjetunion und den ihr nahestehenden politischen Gruppen in der arabischen Welt sehr heftig attakkiert.

Zweifellos hat das spätere Scheitern von Kissingers Pendel-Diplomatie bewiesen, daß eine globale Regelung des Nahost-Konflikts, wie sie auf der Genfer Konferenz erzielt werden könnte, eine bessere Alternative für die genannte Schritt-für-Schritt-Diplomatie bilden würde.

Heute bekennen sich auch die Ägypter zur Notwendigkeit der Einberufung dieser Konferenz, womit sie trotz früherer Verlautbarungen einräumen, daß eine Gesamtregelung des arabisch-israelischen Konflikts ohne sowjetische Beteiligung nicht möglich ist. Dies könnte ein Ansatzpunkt für eine Normalisierung des ägyptisch-sowjetischen Verhältnisses sein. Das Dilemma dieses Verhältnisses liegt gegenwärtig in der extrem antisowjetischen Politik Sadats und lag früher, d. h. bis 1972, in der extremen Abhängigkeit Ägyptens von der Sowjetunion.

Die jüngsten Unruhen in Ägypten, für die die ägyptische Regierung „kommunistische" Gruppen und sogar die Sowjetunion verantwortlich machte, sind sicherlich nicht geeignet, das ägyptisch-sowjetische Verhältnis zu normalisieren. Angesichts der Notwendigkeit, eine globale Nahost-Lösung herbeizuführen, ist es jedoch für Ägypten unumgänglich, diese Normalisierung anzustreben. b) Zur Stabilität der ägyptisch-amerikanischeri Beziehungen Sicherlich wäre es verfehlt, in den USA heute schon einen „unparteiischen" Vermittler zwischen Israel und den arabischen Staaten zu sehen. Eine positive Leistung der USA ist aber darin zu sehen, daß sie seit dem Oktober-Krieg 1973 und der damit eng verbundenen Energiekrise den ernsten Versuch gemacht haben, auf die veränderten Nahost-Optionen Ägyptens, Syriens und Saudi-Arabiens einzugehen. Energie-und sicherheitspolitisch standen die USA nach dem Oktober-Krieg vor zwei Alternativen: Entweder sich in eine spektakuläre Militäraktion zu stürzen, deren Ausgang nicht abzusehen gewesen wäre, oder den Versuch zu machen, eine den amerikanischen Interessen entsprechende Überprüfung der eigenen Positionen in der Nahost-Frage vorzunehmen. Indem die USA sich für die zweite Alternative entschieden, haben sie zweierlei erreichen können: erstens die Stärkung der Positionen der in der Israel-Frage gemäßigten arabischen Staaten wie Ägypten, Saudi-Arabien und eigentlich auch Syrien gegenüber der soge-nannten Ablehnungsfront wie Libyen, Irak und zum Teil der PLO sowie zweitens die Schwächung und zeitweilige Verdrängung der Sowjetunion von den Entscheidungszentren im Nahen Osten.

Hinzu kam, daß Sadats mäßige Reaktion auf das Scheitern der Schritt-für-Schritt-Diplomatie aufgrund der harten israelischen Linie in der Nahost-Frage die Amerikaner beeindruckte und sie dazu veranlaßte, mäßigend auf Israel einzuwirken. Die USA warfen Israel mangelnde Flexibilität vor und hielten einige diesem Staat zugesagte Militärausrüstungen zurück. Seit dem Einlenken Sadats auf den Kurs Washingtons hat es noch nie so viele Spannungen in den Beziehungen zwischen Israel und den USA gegeben Die mangelnde Flexibilität Israels muß allerdings darin gesehen werden, daß die Regierung Rabin von Anfang an wegen der inneren Machtkämpfe (etwa zwischen der „Taube" Allon und dem „Falken" Peres), der chauvinistischen Forderungen der national-religiösen Kräfte und der fehlenden parlamentarischen Mehrheit so gut wie aktionsunfähig ist. Dies erschwert langfristig die Herbeiführung einer Nahost-Friedenslösung, läßt Sadats Israel-Optionen in der arabischen Welt als unglaubwürdig erscheinen und gefährdet die ägyptisch-amerikanischen Beziehungen, die man nur als bedingt stabil betrachten muß.

Würde aus den israelischen Parlamentswahlen im Mai 1977 keine klare parlamentarische Mehrheit für die regierende Arbeiter-Partei hervorgehen, so müßte man mit einer weiteren Stagnation der Lage im Nahen Osten rechnen, die insbesondere dem wirtschaftlich stark angeschlagenen Regime Präsident Sadats größere Schwierigkeiten bringen würde

Für die Stabilität dieses Regimes ist außerdem von ausschlaggebender Bedeutung, ob die neue amerikanische Administration unter Präsident Carter zur Fortsetzung des aktiven Nahost-Kurses entschlossen ist. Es gibt Anzeichen dafür, daß dies der Fall sein wird und daß die amerikanisch-israelischen Beziehungen infolgedessen in naher Zukunft einige harte Bewährungsproben zu bestehen haben werden.

Für die Stabilität der ägyptisch-amerikanischen Beziehungen ist ebenfalls das Verhältnis der USA zu Syrien von Bedeutung. Die eingeleitete Verbesserung dieses Verhältnisses wird sicherlich sowohl den ägyptischen als auch den saudi-arabischen Interessen dienen. Im übrigen wäre innerarabisch nichts so stabilitätsgefährdend wie der Versuch, im Stil des Zweiten Entflechtungsabkommens zwischen Ägypten und Israel weiterhin nur auf die Rückgabe des besetzten „ägyptischen" Gebiets hinzuwirken.

Ägypten und die Europäische Gemeinschaft

Die EG-Staaten haben sich im Zeichen des schwierigen Prozesses der Koordinierung ihrer Außenpolitik zunehmend dem Mittelmeerraum einschließlich der arabischen Welt zugewandt. Dabei haben traditionelle Interessenunterschiede zwischen Mittelmeeranrainern und Nordseestaaten innerhalb der EG die Annäherung an die arabischen Staaten und die Beschleunigung des euro-arabischen Dialogs erschwert.

Drei Faktoren waren für die Entstehung einer relativ einheitlichen Nahostpolitik der EG entscheidend: a) Der Oktober-Krieg und die dadurch offenkundig gewordene Energiekrise berührten die wirtschaftlichen Interessen der europäischen Staaten viel stärker als zum Beispiel die der USA und die der Sowjetunion. Daraus ergab sich für die EG insgesamt die Notwendigkeit eines Kurswechsels gegenüber dem Nahen Osten im Sinne einer ausgewogeneren und aktiveren Politik.

b) Neben den politischen und wirtschaftlichen Gesichtspunkten waren die sicherheitspolitischen Auswirkungen des Oktober-Krieges auf Westeuropa deutlicher als bei allen früheren Nahostkriegen.

c) Die gemäßigte Außenpolitik Ägyptens und Saudi-Arabiens, die beide eine führende Rolle in der arabischen Welt spielen, bildete einen entscheidenden Ansatz für die Verbesserung der Beziehungen zwischen der EG und der arabischen Welt insgesamt.

Grundzüge der EG-Nahostpolitik, die u. a. in der EG-Außenminister-Erklärung vom 6. November 1973 zum Ausdruck kommen, lassen sich wie folgt zusammenfassen: „. . . kein Gebietserwerb durch Gewalt; daher Notwendigkeit, daß Israel die territoriale Besetzung beendet, die es seit dem Konflikt von 1967 aufrechterhalten hat; dies im Ergebnis eines Verhandlungsprozesses, der zur Anerkennung des Existenzrechts Israels in gesicherten Grenzen führt; hiervon ausgehend die Respektierung des Selbstbestimmungsrechts des palästinensischen Volkes auf dem für die Schaffung seiner nationalen Heimstatt frei gewordenen Territorium"

Ägypten und die anderen arabischen Staaten nahmen die Änderung der Nahostpolitik der EG-Staaten positiv auf. Problematischer Punkt blieb die arabische Forderung nach Anerkennung der PLO durch die EG insgesant, die von einigen Mitgliedstaaten, wie zum Beispiel der Bundesrepublik Deutschland, an gewisse Bedingungen geknüpft wird, wie etwa Änderung der PLO-Charta. Außerdem findet Ägypten zum Beispiel den Umfang des EG-Engagements im Nahen Osten unzureichend und fordert daher die unmittelbare Einbeziehung der EG in die Konfliktlösung

Man hat Grund zur Annahme, daß die EG-Staaten infolge der jüngsten Unruhen in Ägypten, die die Stabilität des Regimes Präsident Sadats und anderer gemäßigter arabischer Regime gefährden könnten, mehr Bereitschaft zum aktiven Handeln im Nahen Osten zeigen als je zuvor. Die Ägypten-Reise Bundesaußenminister Genschers Mitte Februar dürfte Indiz für eine bevorstehende Reaktivierung der EG-Nahostpolitik sein. Ein anderes Indiz dafür ist der Abschluß von drei Kooperationsabkommen zwischen der EG und den Maschriq-Staaten Ägypten, Syrien und Jordanien am 18. Januar 1977 in Brüssel. Diese zeitlich unbefristeten Abkommen eröffnen viele Kooperationsmöglichkeiten im Handel sowie in den wirtschaftlichen, technischen und finanziellen Bereichen zwischen der EG und der Nahostregion insgesamt Abschließend noch einige Bemerkungen über die deutsch-ägyptischen Beziehungen:

Seit der Wiederaufnahme der diplomatischen Beziehungen zwischen Kairo und Bonn im Juni 1972 und insbesondere seit Beginn der „Westpolitik" Sadats im selben Jahr haben sich die Beziehungen zwischen beiden Staaten sehr positiv entwickelt. Ein reger Besucheraustausch auf hoher Ebene kam besonders seit 1974 zustande.

Die Bundesrepublik bekundete seit der Normalisierung der Beziehungen die Bereitschaft, zur wirtschaftlichen Entwicklung Ägyptens beizutragen. Dabei ist Bonn der Überzeugung daß sich in Ägypten ein sichtbares Eigeninteresse an Stabilität und ökonomischem Wachstum bemerkbar machen muß. Ein Hindernis für die bilateralen Beziehungen liegt darin, daß der 1976 angekündigte ägyptische Fünfjahresplan und die sich daraus abzuleitende Prioritätenliste immer noch nicht vorliegen. Ein weiteres Hindernis liegt darin, daß die ägyptische Regierung infolge der Dringlichkeit der industriellen Ausrüstung einerseits und der fehlenden Planungskapazitäten andererseits immer wieder über Projekte entscheidet, deren Zweckmäßigkeit von der deutschen Seite (Regierungsstellen und private Unternehmen) nicht als überzeugend angesehen wird (so z. B. in den Bereichen der Landwirtschaft und der Telekommunikation). Die Schwierigkeit der wirtschaftlichen Situa-tion Ägyptens wird aus deutscher Sicht durch folgende Faktoren bestimmt :

a) Die hohe Verschuldung, insbesondere die kurzfristigen Verbindlichkeiten und die in Zahlen nicht erfaßbare Verschuldung gegenüber der Sowjetunion;

b) das ungewöhnlich hohe und immer weiter ansteigende Zahlungsbilanzdefizit;

c) das Ungleichgewicht zwischen hohen Importkosten und niedrigen Exporterlösen; d) eine ungewöhnlich hohe Inflationsrate, die, wie die jüngsten Ereignisse zeigen (Außerkraftsetzung der Regierungsbeschlüsse zur Sanierung der ägyptischen Wirtschaft), schwer zu bremsen ist;

e) eine Bürokratie, die zu einem ungewöhnlich hohen Anteil nichts anderes darstellt als die Unterbringung von Arbeitslosen;

f) ein nicht kontrollierter Bevölkerungszuwachs von ca. einer Million Menschen jährlich, der jede vernünftige Planung über die Notwendigkeit des Wachstums am Bruttosozialprodukt unmöglich macht.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Vgl. Aref Hajjaj, Der Bruch mit dem Nasserismus in Ägypten, in: Europa-Archiv, Folge 20/1974, S. 707 ff.

  2. Ebenda. Vgl. auch Rainer Glagow, Einige Aspekte der gegenwärtigen politisch-ideologischen Diskussion in Ägypten, in: Zeitschrift „Orient", Hamburg, März 1975, S. 41 ff.

  3. At-Talia, Dezember 1976, S. 5 ff., S. 55; Näheres über die ägyptische Linke in der (libanesischen) Zeitschrift Assayad, 13. 1. 1977, S. 22 ff.

  4. Die ägyptische Regierung beabsichtigt gegenwärtig, dieses Gesetz dahin zu ändern, daß ausländische Investoren mehr Steuervergünstigungen und Zollvorteile erhalten.

  5. Vgl. die (ägyptische) Wirtschaftszeitschrift al-Ahram al-Iqtisadi, 15. 12. 1976, S. 15 f.

  6. Ebenda.

  7. Ebenda.

  8. Ebenda; vgl. die kritische Bewertung des „Infitah“, in: Rose el-Youssef, 17. 1. 1977, S. 16 ff.

  9. Vgl. al-Ahram, 18. 1. 1977; Süddeutshe Zeitung,'24. 1. 1977.

  10. Zu den Wirtschaftsbeschlüssen der« Regierung vgl. al-Gumhuriya, 18. 1. 1977; Neue Zürcher Zeitung, 20. und 21. 1. 1977.

  11. Ägyptisches Fernsehen, Abendprogramm, 18. 1. 1977.

  12. Vgl. NZZ, a. a. O., al-Ahram, 19., 20., 21. 1. 1977. t

  13. Vgl. al-Ahram, 21. 1. 1977.

  14. Zur Parteienbildung in Ägypten vgl. u. a. atTalia, a. a. O., Assayad, a. a. O., die (ägypt.) Zeitschrift Akher Saä, 19. 1. 1977.

  15. Vgl. al-Ahram. 2. 12. 1976.

  16. Vgl. at-Talia, Dezember 1976, S. 50 ff.

  17. Ebenda, S. 128; die restlichen Abgeordneten wurden nicht gewählt, sondern ernannt.

  18. Ebenda, S. 51.

  19. Hajjaj, a. a. O., über Nassers Panarabismus vgl. Malcolm Kerr: The Arab Cold War (1958 bis 1964), London, New York, Toronto 1965; vgl. auch Peter Mansfield, Nassers Egypt, London 1969.

  20. Siehe William E. Griffith, Verändertes Gewicht der Weltmächte im Nahen Osten, in: Europa-Archiv, Folge 23/1975, S. 720.

  21. Uber die „Machtzentren" vgl. Moussa Sabri, Wataiq 15 Mayo (Die Dokumente des 15. 5. [1971]), Kairo 1977, S. 11 ff.

  22. Vgl. Abdissattar at-Tawila, Rafd ar-Rafd, (Ablehnung der Ablehnungsfront), Kairo 1976, S. 145 ff.

  23. Vgl. Mirella Bianco, Kadhafi —-Der Sohn der Wüste und seine Botschaft, Hamburg 1975.

  24. Siehe P. J. Vatikiotis, Inter-Arab Relations, in: A. L. Udovitch (Hrsg.), The Middle East-Oil, conflict and hope, Toronto 1976, S. 170 ff;

  25. Vatikiotis, a. a. O., S. 164.

  26. A. at-Tawila, a. a. O., S. 183.

  27. Vgl. Griffith, a. a. O„ S. 726 ff.

  28. Vgl. z. B. die Reaktion der sowjetischen Presse auf die jüngsten Unruhen in Ägypten.

  29. Griffith, a. a. O„ S. 719.

  30. Vgl. William B. Quandt, Washingtons „Arab Connection", in: Europa-Archiv, Folge 9/1975, S. 296 ff.

  31. Carl E. Buchalla, Nur ein Nahostfriede kann Ägyptens Wirtschaft retten, in: Süddeutsche Zeitung, 25. 1. 1972.

  32. Vgl. Sad ad-Din Ibrahim, al-intihabat al-amrikiya . .. (Die US-Wahlen und der Nahost-Konflikt), Ahram-Zentrum für politische und strategische Studien, Kairo, Dezember 1976; vgl. auch Carters Erklärung über das Recht der Palästinenser auf .. Heimatland", in: Süddeutsche Zeitung, 18. 3. 1977,

  33. Vgl. Günther van Well, Die Entwicklung einer gemeinsamen Nahost-Politik der Neun, in: EA 4/1976, S. 119.

  34. Vgl. Dokumente zum euro-arabischen Dialog, in: EA 18/1976, D 473 ff.

  35. Wortlaut in EA 2/1974: S. D 29 f.

  36. van Well, a. a. O., S. 122.

  37. Das erklärte z. B.der ägyptische Außenminister Ismail Fahmf in einem Interview mit al-Ahram vom 2. 12. 1976.

  38. Siehe das Bulletin der Bundesregierung, Nr. 4, 20. 1. 1977. Vgl. außerdem die NZZ vom 20. 1. 1977 und al-Ahram vom 21. 1. 1977.

  39. Diese Äußerungen stützen sich auf ein Gespräch, das der Verfasser aus Anlaß dieser Untersuchung mit dem früheren Bundesfinanzminister und jetzigen Berater Präsident Sadats für Finanz-und Währungsfragen, Professor Dr. Alex Möller, am 21. 1. 1977 geführt hat.

  40. Ebenda.

Weitere Inhalte

Aref Hajjaj, Dr. phil., M. A., geb. 13. 2. 1943 in Jaffa; Studium der Politikwissenschaft, der Neueren Geschichte und des Völkerrechts; 1972— 1976 Tätigkeit im Auswärtigen Amt der Bundesrepublik Deutschland; seit Oktober 1976 Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Forschungsinstitut der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik, Bonn; freiberufliche journalistische Tätigkeit. Veröffentlichungen u. a.: Der Pan-Arabismus Nassers, Heidelberg 1971; Das Palästina-Problem. Entstehung und Lösungsmöglichkeit, in: Europa-Archiv 8/1974; Der Bruch mit dem Nasserismus in Ägypten, in: Europa-Archiv 20/1974.