Nachrut auf Beirut „Beirut, die oilenherzige Stadt, die hundert Jahre lang Vorkämpfer des Liberalismus und Idealismus in der arabischen Welt gewesen war, zerfiel. Die Geburtsstätte des arabischen Nationalismus und seit osmanischer Zeit seine intellektuelle Metropole wurde zu einem Ruinenfeld, und kein Finger rührte sich in der arabischen Welt, sie zu retten. Die neue arabische Welt, korrumpiert von der Arroganz des Reichstums und ganz in Anspruch genommen von ihren alltäglichen Streitereien und vom Wettlauf nach materiellem Gewinn, hatte den alten arabischen Werten, für die Beirut trotz all seiner Unzulänglichkeiten das letzte Refugium, der letzte Hort war, den Rücken gekehrt. Bis 1975 war Beirut das störende Gewissen der arabischen Welt, das weit mehr als die Arabische Liga oder irgendeine andere panarabische Behörde die selbstzufriedenen arabischen Regimes beständig an ihre Pflichten gegenüber dem Arabismus erinnerte, sehr zur Verlegenheit ihrer Innen-und Außenpolitik. Während die arabischen Außenminister, die sich in Kairo trafen, die Not Beiruts bedauerten, begannen verschiedene arabische Städte miteinander zu wetteifern, Empfehlungsschreiben für die Übernahme des Erbes der wirtschaftlichen und intellektuellen Führungsposition vorzulegen, deren nur die libanesische Hauptstadt mit ihrer einzigartigen liberalen Tradition unter den arabischen Hauptstädten sich wirklich erfreuen konnte. In einer arabischen Welt, die entschlossen schien, das eigene Gewissen zu unterdrücken und sich in einen kulturell entwurzelten , Nahen Osten'zu verwandeln, hatten weder Beirut noch irgendeine andere nach ihren traditionellen Leitlinien gestaltete arabische Stadt so recht einen Platz. ... In einer Zeit, da sich viele Araber vom Arabismus abwandten und kaum ihre Sympathie für die christlich-libanesische Position verbergen konnten, leistete der Arabismus letzten Widerstand im Libanon — der , Metropole'einer arabischen Welt, die möglicherweise nicht länger eine Metropole haben wollte.
K. S.
Salibi
Einführung
Wie sehr die dichotomischen Begriffsbildungen der journalistischen Berichterstattung (Christen versus Muslime oder Linke versus Rechte, dies auch nahelegen mögen, so ist doch allen interessierten Beobachtern klar, daß es sich bei der libanesischen Tragödie, die sich seit dem Frühjahr 1975 abspielt, nicht um eine Auseinandersetzung zwischen Religionsgemeinschaften im Sinne eines sozio-religiösen Konflikts handelt und daß die Ereignisse ebensowenig eine reine Manifestation von Klassenkampf sind. Dies sind nur zwei Ele-mente unter anderen in einem differenzierten Faktorenkomplex, in dessen Rahmen die Genese und der Ablauf der existentiellen Krise des Landes zu begreifen sind. Keiner der Faktoren steht dabei für sich allein. Es handelt sich nicht um bloße Mosaiksteine, sondern gleichsam um Zahnräder, die lückenlos ineinandergreifen.
Die Tragödie spielt sich auf mehreren Ebenen ab und hat mehrere Dimensionen. Zunächst einmal ist auch die gegenwärtige Auseinandersetzung, wie alle libanesischen Krisen des 19. und 20. Jahrhunderts, nicht nur auf einer lokalen, sondern gleichzeitig auf einer regionalen und auf einer internationalen Ebene angesiedelt. Sie wird vor allem durch das Problem der palästinischen Präsenz im Libanon auf allen drei Ebenen relevant. Im folgenden wird in erster Linie versucht, die verschiedenen Dimensionen des Konflikts auf der lokalen Ebene zu analysieren; die beiden anderen analytischen Ebenen werden als „translibanesische Dimension" in den Rahmen dieser Untersuchung eingegliedert. Dementsprechend baut sie sich folgendermaßen auf:
Zunächst soll die historisch-strukturelle Dimension der Krise verdeutlicht werden. Es geht dabei um eine ausführliche Darstellung der Genese des Konfessionalismus als politischem Ordnungsprinzip in ihren verschiedenen Phasen: Entwicklung des maronistischdrusischen Antagonismus, Institutionalisierung des administrativen Konfessionalismus, aktuelle Praxis des Konfessionalismus als Streitobjekt zwischen Muslimen und Christen. Dann wird die politisch-ideologische Dimension des Konflikts umrissen. Hier ist das Problem der Identität des Libanon (der Gegensatz zwischen jenen, die eine regionale Sonderrolle für den Staat beanspruchen, und jenen, die einem integrativen Arabismus huldigen) und die Frage der unvollkommenen Repräsentation gesellschaftlicher Interessen zu erörtern. Schließlich muß die sozio-ökonomische Dimension des Konflikts beleuchtet werden, also die Ursachen sozialer und wirtschaftlicher Disparitäten bzw.der Privilegierung oder Unterprivilegierung bestimmter gesellschaftlicher Gruppen. Die internationalen und vor allem regionalen Interessen im Libanon werden sodann in historischer Perspektive als translibanesische Dimension angesprochen. Weiter ist die palästinische Dimension zu verdeutlichen, d. h. die Funktion der Palästinenser im Libanon als Katalysator und Akzelerator der gegenwärtigen Krise. Abschließend wird die Zusammensetzung der Bürgerkriegsparteien beleuchtet
Die historisch-strukturelle Dimension
Die gegenwärtigen libanesischen Grenzen sind diejenigen des französischen Mandatsgebiets Libanon (1920— 1943) und insofern koloniale Grenzen. Unter der vierhundertjährigen osmanischen Herrschaft (1516— 1918) bildete dieses Gebiet keine administrative Entität; es war vielmehr Bestandteil verschiedener Provinzen des Osmanischen Reiches. Seit 1861 gab es jedoch einen autonomen Distrik „Libanon-Gebirge" (Dschabal Lubnan, Mont Liban), der allerdings, wie der Name sagt, auf die zentralen Gebirgsregionen beschränkt war. Er reichte, grob gesprochen, im Norden bis Tripolis, im Süden bis Saida und im Osten bis Zahla, doch unter Ausschluß der drei wichtigsten Hafenstädte, Saida, Beirut und Tripolis
Aufgrund seiner Oberflächengestalt und seiner geographischen Position bildete das Libanon-Gebirge seit Beginn der islamischen Periode in der Geschichte des Orients ein „Refugium" christlicher und muslimisch-heterodoxer Minderheiten Diesen Charakter als Zufluchtsort religiöser, ethnischer und politischer Flüchtlinge hat sich das Land, wenn auch unter veränderten Voraussetzungen, bis heute bewahrt. In unserem Jahrhundert waren es zunächst die den türkischen Massakern (1915) entronnenen Armenier, nach dem Zweiten Weltkrieg auch Kurden und Alawiten aus S: yrien, vor allem aber Palästinenser, die im Libanon eine neue, sichere Heimat bzw. (im Falle der Palästinenser) zumindest eine vorläufige Bleibe suchten. Die größte historische Bedeutung für die Entwicklung des Libanon erlangte die Siedlung der Maroniten (bereits in frühislamischer Zeit) im nördlichen und der Drusen und Schiiten im südlichen Teil der Gebirgsregion Das Problem der maronitisch-drusi-sehen Koexistenz bzw.der Kampf dieser beiden Gemeinschaften um die politische und ökonomische Vormachtstellung war das beherrschende Element der libanesischen Geschichte des 18. und 19. Jahrhunderts. Die Interpretation dieser historischen Entwicklung und ihrer aktuellen Relevanz ist bis zum heutigen Tage ein Politikum geblieben, d. h. sie ist nicht nur Gegenstand historiographischer, sondern auch politischer Kontroversen Wenn wir von Vormachtstellung sprechen, so geht es dabei zunächst allein um die Vorherrschaft der großen, ökonomisch-politisch dominierenden drusischen und maronitischen Clans (der sog. Feudalfamilien), die das Gebiet zum Zwecke der sozio-ökonomischen Kontrolle und Ausbeutung unter sich aufgeteilt hatten. Bis 1842 repräsentierte eines der Clanoberhäupter als Fürst (Emir) des Libanon den relativ autonomen Status der Maroniten und Drusen innerhalb des osmanischen Reichsverbandes. Bis 1697 wurden die Emire von der Familie Man gestellt, danach von der Familie Schihab.
Unter dem Drusenfürsten Fachraddin (1585 bis 1635), der sich in Auflehnung gegen den Sultan in Konstantinopel eine beherrschende Position erkämpfte, begann zu Beginn des 17. Jahrhunderts eine Periode drusischer Hegemonie im Libanon-Gebirge. Aufgrund fortwährender Rivalitäten und blutiger Fehden zwischen drusischen Clans wurde deren Macht und Einfluß insgesamt geschwächt — eine Entwicklung, die der seit der Mitte des 18. Jahrhunderts zu beobachtenden demographischen und ökonomischen Expansion der Maroniten noch größeres Gewicht verlieh. Unter dem Eindruck des maronitischen Aufstiegs ließen sich einige Mitglieder der (ursprünglich sunnitischen) Familie Schihab sogar taufen. So kam es, daß 1770 der Maronite gewordene Yusuf Schihab Emir des Libanon wurde. Von nun an war die politische, wirtschaftliche und kulturelle Aufwärtsentwicklung der Maroniten unaufhaltsam.
Die maronitische Gemeinschaft hatte den von ihr bewohnten Teil des Libanon den kulturellen und ökonomischen Einflüssen Europas geöffnet (soweit sie dazu im Rahmen des Osmanischen Reiches imstande war) und diese Einflüsse absorbiert und weiterentwickelt. Schon während der Kreuzzüge, um 1180, wurden die Maroniten mit Rom uniert, und wenn diese Bande auch nicht immer fest waren, so gab es doch seit 1584 ein maronitisches Kolleg in Rom. Seit der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts wurden auf dieser Basis Beziehungen zu Frankreich geknüpft, die 1649 ihren ersten Höhepunkt erreichten, als Ludwig XIV. die Maroniten des Libanon-Gebirges ausdrücklich unter seinen besonderen Schutz stellte Die maronitische Gemeinschaft blickte nun nicht mehr nur aus religiösen
Gründen auf Rom, sondern aus politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Gründen auch nach Paris. Sie prosperierte durch ihre Handelsbeziehungen mit Europa, und zwar auf der Basis der maronitisch dominierten libanesischen Seidenproduktion. Aus den Schulen ihrer Kleriker mußten auch die drusischen Clanoberhäupter ihre Sekretäre und Verwalter rekrutieren.
Die Furcht der Drusen, von den Maroniten an die Wand gedrückt zu werden, vielleicht gar ihres „Refugiums" im Süden des Libanon verlustig zu gehen, führte im 19. Jahrhundert zu einer Reihe von Bürgerkriegen und in deren Gefolge schließlich zur wiederholten militärischen und diplomatischen Intervention der europäischen Großmächte im Libanon. Das Kernsiedlungsgebiet der Maroniten war die nördliche Hälfte des Gebirges (weitgehend identisch mit dem „christlichen Teilstaat" vor der syrischen Intervention des Jahres 1976. In diesem Teil des Libanon lebten im 19. Jahrhundert praktisch keine Angehörigen nichtchristlicher Gemeinschaften. Der Schuf war das drusische Kerngebiet. Die dazwischenliegenden Distrikte (östlich und südöstlich von Beirut) waren konfessionell gemischt, aber überwiegend maronitisch. Bereits gegen Ende des 18. Jahrhunderts drohten die Maroniten sogar zur Mehrheit im eigentlichen „Drusengebirge" zu werden. Aus diesem Grunde war in erster Linie der Südlibanon Schauplatz der Bürgerkriege der Jahre 1841 bis 1845 und 1860.
Unter dem Druck der intervenierenden europäischen Großmächte wurde im Gefolge dieser Auseinandersetzungen der administrative Konfessionalismus institutionalisiert, dessen Grundprinzipien bis heute gültig sind. Nach mehreren Anläufen wurde 1845 eine Lösung des Problems des maronitisch-drusischen Antagonismus versucht, deren Grundabsicht war, die Gemeinschaften, die ja ohnehin räumlich voneinander getrennt lebten (d. h. in verschiedenen Distrikten; in gemischten Distrikten in verschiedenen Städten und Dörfern; in gemischten Siedlungen in verschiedenen Vierteln), auch administrativ zu separieren. Kein Repräsentant einer der Gemeinschaften sollte als Steuereinnehmer, Richter, Polizist etc. „staatliche Gewalt" allein und in letzter Instanz über Angehörige einer anderen Gemeinschaft ausüben dürfen. Administrative und jurisdiktioneile Funktionen konnten also nicht mehr ohne Ansehen der Konfession des Funktionsträgers und des Adressaten seiner Verwaltungsakte ausgeübt werden. Aus Gründen, die hier nicht dargelegt werden können, war die Regelung von 1845 aber nicht imstande, den Bürgerkrieg von 1860 zu verhindern
Als nach dieser neuen Krise der autonome Distrikt „Libanon-Gebirge" unter europäischem Kollektivprotektorat geschaffen wurde, hielt man am Prinzip des administrativen Konfessionalismus fest; in den Reglements von 1861 und 1864 gab man ihm lediglich eine neue Gestalt: Der nur mit Zustimmung der europäischen Großmächte einsetzbare os-manische Gouverneur mußte stets ein Christ sein; als Zugeständnis an die drusische Minderheit, die in den folgenden Jahrzehnten zur demographischen und ökonomischen Bedeutungslosigkeit herabsank, durfte er aber kein libanesischer Christ sein. Ihm stand ein Verwaltungsrat zur Seite, in dem alle Gemeinschaften „angemessen" vertreten waren; er hatte vier maronitische, drei drusische, zwei griechisch-orthodoxe, ein griechisch-katholisches, ein sunnitisches und ein schiitisches Mitglied Sunniten und Schiiten spielten also, ihrer tatsächlichen numerischen Stärke entsprechend, eine völlig untergeordnete Rolle. Auf der Basis dieses Verhältnisses von sieben Christen zu fünf Nicht-Christen im Verwaltungsrat wurde der Mont Liban während des nächsten halben Jahrhunderts zu einer stabilen und prosperierenden christlichen, maronitisch dominierten „Insel im muslimischen Meer"
Zwei sich widersprechende Bestrebungen und ihre Verwirklichung im Rahmen des französischen Mandats nach dem Ende des Ersten Weltkriegs führten in die libanesische Sackgasse, aus der man auch im Bürgerkrieg der beiden vergangenen Jahre vergeblich einen Ausweg suchte: Angesichts des sich abzeichnenden Endes der osmanischen Herrschaft über die Araber war es das Bestreben vor allem der Maroniten, die christlich-libanesische Entität aus der Konkursmasse des Reiches in die Nachkriegszeit hinüberzuretten und unter französischem Schutz insbesondere ein Aufgehen des Libanon-Gebirges in einem syrischen (oder noch größeren) muslimisch-arabischen Staat zu verhindern.
Auf der anderen Seite aber erschien den durch ihre besonderen Bande zum „Westen" ökonomisch erstarkten sowie politisch und kulturell selbstbewußten maronitischen und griechisch-katholischen Gemeinschaften der Mont Liban als unabhängiger Staat allzu klein, ja, nicht lebensfähig. Er hatte nicht einmal einen Hafen. Der Ausbau des „natürlichen Hafens“ des maronitischen Kerngebiets, Dschunieh, der im Verlauf der gegenwärtigen Krise zum Tor des „christlichen Libanon" zur Außenwelt wurde, war im 19. Jahrhundert von Konstantinopel verweigert worden Deshalb sollten vor allem die drei Küsten-städte Saida, Beirut und Tripolis sowie die Biqa, die fruchtbare Hochebene zwischen Libanon und Anti-Libanon, mit dem Mont Liban zum „Größeren Libanon" (Grand Liban) vereint werden. Die Franzosen kamen derartigen Wünschen gerne entgegen. Der Libanon, wo sie zumindest von der Mehrheit der unierten Christen als Mandatsmacht willkommen geheißen, von einzelnen Gruppen sogar herbei-gefleht wurden, sollte zum Pfeiler französischer Präsenz im Ostmittelmeer werden. Je größer und tragfähiger dieser Pfeiler war, desto besser.
Doch die Rechnung, mit Hilfe der Maroniten einen möglichst großen Teil von Syrien fest in die Hand zu bekommen, war falsch aufgemacht. Der Grand Liban 1926 die konstitutionelle seit Republik Libanon — umfaßte nun einen signifikanten Bevölkerungsanteil von Schiiten (vor allem im Süden und Osten) und Sunniten (vor allem im Norden und in den Küstenstädten); besonders die Sunniten, partiell auch die Griechisch-Orthodoxen, waren alles andere als glücklich über ihre Loslösung von Syrien und ihre Eingliederung in den maronitisch-französisch dominierten Staat.
Die dadurch entstehenden Probleme hoffte man durch die Übertragung des administrativen Konfessionalismus vom Mont Liban auf den Grand Liban in den Griff zu bekommen. Das Prinzip wurde in Art. 95 der Verfassung von 1926 verankert in dem es (in der Änderung von 1943) noch heute heißt, daß „als vorläufige Maßnahme" die verschiedenen Gemeinschaften bei der Besetzung öffentlicher Ämter und im Ministerrat angemessen repräsentiert sein sollen. Auf dieser Grundlage sollte einerseits den Muslimen die Mitarbeit im neuen Staat ermöglicht werden, andererseits aber die Präponderanz der Christen erhalten bleiben, deren Mehrheit auch im Größeren Libanon durch die Volkszählung von 1922 dokumentiert worden war. So war beispielsweise das Verhältnis von Christen zu Muslimen in den libanesischen Kammern der Mandatszeit 17: 13 (1929), 10: 8 (1934), 22: 20 (1937)
Als der Libanon 1943 die formale Unabhängigkeit erlangte und die Franzosen dann 1946 endgültig abzuzi 13 (1929), 10: 8 (1934), 22: 20 (1937) 14).
Als der Libanon 1943 die formale Unabhängigkeit erlangte und die Franzosen dann 1946 endgültig abzuziehen gezwungen wurden, sicherte eben dieses System den Fortbestand des auf sich allein gestellten Staates; durch seine Aufrechterhaltung konnte verhindert werden, daß der Libanon an den divergierenden Loyalitäten seiner Bewohner zerbrach. Der ungeschriebene „Nationalpakt" von 1943, eine Vereinbarung zwischen dem maronitischen Staatspräsidenten und dem sunnitischen Ministerpräsidenten, war ein außen-wie innenpolitischer Kompromiß, der einerseits sowohl den arabischen Charakter des Libanon wie auch seine Bande zum Westen bestätigte, andererseits den administrativen Konfessionalismus fortschrieb. Vor allem wurde die Zuordnung der „drei Präsidentenschaften" zu drei religiösen Gemeinschaften, wie sie sich als Gewohnheitsrecht herausgebildet hatte, ungeschriebenes Gesetz: Der Staatspräsident muß Maronit, der Ministerpräsident Sunnit, der Parlamentspräsident Schiit sein.
Auf der Basis der Volkszählung von 1932 wurde der Konfessionsproporz im Ministerrat, in der Verwaltung und im Parlament festgelegt. Im letzteren müssen Christen und Muslime im Verhältnis 6: 5 vertreten sein. In der Administration bildete sich ein Besitzstandsdenken der Gemeinschaften auch hinsichtlich ganz bestimmter Positionen heraus. So sind etwa die Armeeführung und die Generaldirektionen des Innen-, Finanz-, Erziehungsund Außenministeriums christliche „Pfründe". Im Finanzministerium „gehört" die Generaldirektion den Griechisch-Orthodoxen, der Service du Budget den Maroniten, der Service des Impots den Sunniten, der Service de la Comptabilite Publique den Schiiten 15). Dabei sind Maroniten, Griechisch-Katholische und Sunniten in der Verwaltung überrepräsentiert, vor allem auf Kosten der heute zahlenmäßig stärksten Gemeinschaft, der Schiiten, die jedoch das niedrigste Ausbildungsniveau hat. Im Jahre 1958 z. B. waren 139 Schlüsselpositionen in der Verwaltung und im diplomatischen Dienst mit 53 Maroniten, 36 Sunniten, 17 Griechisch-Orthodoxen, 15 Griechisch-Katholischen, 9 Schiiten und 9 Drusen besetzt 16).
In seiner Auswirkung auf die politische Entwicklung erwies sich der Konfessionalismus als Status-quo-Ideologie, was u. a.seinen Ausdruck in der Tatsache findet, daß eine für jeden modernen Staat unabdingbare Volkszählung nach 1932 nicht mehr stattfinden konnte. Eine solche wurde schon dadurch verhindert, daß seitens der Maroniten die Einbeziehung der mehrheitlich christlichen Auslandslibanesen 17) gefordert wurde — woraufhin einige Muslime die Einbeziehung der Palästinenser in einen neuen Zensus verlang-ten Alle Angaben zur demographischen Entwicklung sind daher Schätzungen, die extrem unterschiedlich ausfallen, je nachdem, wer sie vornimmt. Zwei Tatsachen sind allerdings kaum mehr zu bestreiten: daß sich das zahlenmäßige Verhältnis von Christen zu Muslimen inzwischen umgekehrt hat und daß die Schiiten zur größten Gemeinschaft des Libanon geworden sind.
Aus dem drusisch-maronitischen Antagonismus des 17., 18. und Jahrhunderts wurde also über den politischen Konfessionalismus im Jahrhundert ein institutionell verankerter muslimisch-christlicher Antagonismus. Da diese Hypothek dem Libanon im 19. Jahrhundert von den europäischen Mächten und im 20. Jahrhundert von der französischen Mandatsmacht aufgebürdet wurde, hat die in der aktuellen Krise zentrale Forderung nach Aufhebung des Konfessionalismus partiell den Charakter einer Forderung nach endgültiger Dekoionisation. Doch darf die Einmütigkeit und Vehemenz, mit der sie vorgetragen wird, nicht darüber hinwegtäuschen, daß sie doch nur den kleinsten gemeinsamen Nenner der arabisch-nationalistischen, sozialistisch-kommunistischen und palästinensischen Bürgerkriegskoalition darstellt. Nur eine Minderheit ist bereit, logisch zu Ende zu denken und nicht nur negativ die „Dekonfessionalisierung", was immer auch einzelne Gruppen konkret darunter verstehen, sondern positiv die „Säkularisierung“ des Libanon anzustreben 19). Wäre letzteres ein ernsthaftes Ziel, dann hätten zumindest Teile beider Konfliktparteien eine gemeinsame Basis, auf der sie einen neuen Libanon bauen könnten. Doch weder die Mehrheit des maronitischen Klerus noch die muslimischen religiösen Würdenträger haben für eine solche Idee etwas übrig.
Dem muslimischen Teil der herrschenden Schicht geht es in erster Linie um eine Neuverteilung der Machtpositionen auf der Basis eines für sie günstigeren Proporzes. Für sie wäre der zwischen dem syrischen und dem damaligen libanesischen Staatspräsidenten ausgehandelte und am 14. Februar 1976 als Ausweg aus der Krise vorgeschlagene „Neue Nationalpakt" 20) durchaus akzeptabel: Sein Kern ist die Aufteilung der Parlamentssitze und der höchsten Verwaltungsämter im Verhältnis von 1: 1 (statt bisher 6: 5) unter Christen und Muslime sowie eine Stärkung der Position des sunnitischen Ministerpräsidenten gegenüber dem maronitischen Staatspräsidenten.
Die politisch-ideologische Dimension
Der Konfessionalismus ist nun aber nicht ein bloßer administrativer Mechanismus, den man ohne weiteres durch ein anderes System ersetzen kann, wenn die Situation dies verlangt. Er ist vielmehr Ausdruck fundamentaler Meinungsverschiedenheiten über Identität und Bestimmung des Libanon im arabischen Orient und der Versuch, daraus entspringende divergierende politische Zielvorstellungen und Machtansprüche zu kanalisieren und zumindest ihre extremen Manifestationen zu neutralisieren.
Als sich im autonomen Libanon-Gebirge in den letzten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts eine Art maronitisch-libanesisches Nationalbewußtsein herausbildete, entstand gleichzei-tig, besonders unter griechisch-orthodoxen Intellektuellen in Beirut, ein säkulares, auf eine arabische kulturelle Renaissance hin orientiertes syrisches Nationalbewußtsein. Nach der jungtürkischen Revolution von 1908 bildete sich als Gegenströmung gegen die einsetzende Turkifizierungspolitik im Osmanischen Reich eine vor allem von Muslimen getragene politische arabische Nationalbewegung heraus Vom Klima des syrisch-arabischen Nationalismus war nun die Bevölkerung der Gebiete geprägt worden, die 1920 gleichsam zum Libanon-Gebirge geschlagen wurde. Dieser neue Libanon war nicht ihr Staat; er hatte nicht nur einen Geburtsfehler, seine ganze Existenz war fragwürdig.
Dessenungeachtet machten sich die christlich-libanesischen Nationalisten (Maroniten und Griechisch-Katholische) daran, den neuen Staat seinem unverwechselbaren Charakter und seiner einzigartigen Bestimmung entsprechend zu vervollkommnen — wie sie diese sahen. Von ihren engen kulturellen Beziehungen vor allem zu Frankreich und der Verflechtung ihrer ökonomischen Interessen mit denen Europas und Amerikas (vermittelt durch die libanesischen Handelskolonien in Übersee) ausgehend, wollten sie dem Libanon eine Sonderrolle in der Region zuweisen. Das „phönizische Erbe" sollte dazu reaktiviert, der „phönizische Charakter" des Libanon rekonstituiert werden Zumindest bei einer Minderheit faßte diese Ideologie feste Wurzeln. Noch heute trifft man Libanesen, die nichts mit den Arabern gemein haben wollen, weil sie sich als Nachkommen der Phönizier verstehen.
War dies ideologischer Extremismus auf der einen Seite, so entsprach ihm auf der anderen
Seite die Lehre eines griechisch-orthodoxen Deutschlehrers, der 1932 die faschistische, syrisch-chauvinistische, in erster Linie im Libanon aktive Syrische Sozial-Nationalistische Partei gründete. Nach ihr könne es weder einen Libanon noch Libanesen geben. Die einzige Realität sei die syrische Nation, die sich nur in einem großsyrischen Staat verwirklichen könne.
Die weniger extremen Zielvorstellungen hatten größeres Gewicht: Auch die libanesischen Nationalisten, die sich nicht unbedingt als geborene Phönizier fühlten, wollten einen Größeren Libanon, der imstande sein würde, als Vermittler kultureller und ökonomischer Einflüsse des Westens zu fungieren, für die er daher offen bleiben mußte. Die Mehrheit der Muslime dagegen gab die Forderung nach einer Rückkehr der Küsten-und Randzonen des Libanon zu Syrien nicht endgültig auf. Als die Agitation für dieses Ziel 1936 einen neuen Höhepunkt erreichte, stellten beide Seiten paramilitärische Jugendorganisationen auf, in gewissem Sinne Milizen: die Maroniten die Kata’ib (Phalanges, 1936), die Sunniten die Nadschada (1937). Beide Gruppen konstituierten sich später im unabhängigen Libanon als Parteien, wobei die Kata'ib-Partei heute die wichtigste libanesisch-nationalistische politische Kraft darstellt, während die Nadschada praktisch bedeutungslos geworden ist; an ihre Stelle sind andere Gruppen getreten
Je länger nun aber der Staat existierte, um so mehr Muslime entwickelten ein politisches und ökonomisches Interesse an seinem Fortbestand. Ende der dreißiger und Anfang der vierziger Jahre gab es bereits eine genügend große Anzahl politisch aktiver Muslime, die einen unabhängigen Libanon mit anerkannt arabischem Charakter mitzutragen bereit waren. Nur so konnte der Nationalpakt von 1943 zustande kommen, der auf maronitischer Seite den Verzicht auf direkte französische „Protektion" implizierte, während die Muslime von panarabischen Experimenten Abstand nehmen wollten. Der besondere Status (arabischer Charakter auf der einen, Offenheit gegenüber dem Westen auf der anderen Seite) wurde bei der Gründung der Arabischen Liga, an der der Libanon beteiligt war, ausdrücklich anerkannt Der Nationalpakt blieb allerdings interpretationsfähig, d. h.seine Interpretation wandelte sich mit der Veränderung der Umwelt. Als die libanesischen Muslime besonders seit 1954 in den Sog des von Nasser verkörperten arabischen Einheitswillens gerieten, tauchte erneut das Problem auf, wie weit sich der Libanon in gesamtarabische Strömungen einzuordnen habe bzw. inwieweit er auf seiner Sonderrolle beharren könne, besonders wenn diese die Funktion eines „Vorpostens des Westens", eines „Brückenkopfes des Imperialismus" anzunehmen drohte. Diese Grundfrage versuchte man im Bürgerkrieg von 1958 gewaltsam zu entscheiden — was nicht gelang. Den unentschiedenen Ausgang definierte man als Bestätigung des Nationalpaktes.
Dieser latente Konflikt entzündete sich von neuem an der unterschiedlichen Haltung der Libanesen gegenüber dem Palästina-Problem und den Palästinensern im Libanon. Der bloß verbale libanesisch-arabische Gleichklang bei gleichzeitiger tatsächlicher Neutralität der Staatsorgane in dieser arabischen Schicksalsfrage mußte nicht nur den anderen arabischen Staaten, sondern auch der muslimischen Bevölkerung des Libanon manchmal als Provokation erscheinen. Der gesamtarabisch und pro-palästinisch denkende Teil der Libaneser glaubte sich in der Mehrheit; nur aufgrund der Struktur des politischen Systems vermeinte er, diesem Mehrheitswillen nicht Ausdruck verleihen zu können. An diesem Punkt verknüpft sich so das Problem des Konfessionalismus als dem politischen Ordnungsprinzip mit dem Problem der libanesischen Identität und dem Problem der palästinischen Präsenz im Libanon.
Das Gefühl der Ohnmacht, das sich schon lange der muslimischen Unterprivilegierten bemächtigt hat, ist auch eine Folge der Kluft, die zwischen ihnen und der schmalen muslimischen Oberschicht besteht. Die Klassengegensätze sind bei den Muslimen wesentlich ausgeprägter als bei den Christen, bei denen in Wirklichkeit die Mittelschicht den Ton angibt. Diese Kluft wird verstärkt durch den Charakter der parlamentarischen Repräsentation. Die meisten Parteien, vor allem die arabisch-nationalistischen und sozialistischen, sind keine Parlamentsparteien Wegen ih-rer — im Vergleich zu ihrem Rückhalt in der Bevölkerung — minimalen Vertretung im Parlament gleichen sie eher einer außerparlamentarischen Opposition. Die meisten Parlaments-parteien wiederum sind gar keine echten Parteien, sondern Gefolgschaften, Gruppierungen der Anhänger traditioneller politischer „Führer" (Zuama) und Clans, die diese zur Erringung und Stabilisierung ihrer Machtpositionen benötigen. Zudem sind die Mitglieder praktisch aller Parteien überwiegend Angehörige einer bestimmten religiösen Gemeinschaft; mit Ausnahme der beiden kommunistischen Parteien handelt es sich also um ab-grenzbare konfessionelle Gruppierungen.
Diese Situation resultiert aus dem Wahlsystem, welches wiederum eine Folge des Konfessionalismus ist. In jedem Wahlbezirk ist ja nicht nur die Anzahl der zu wählenden Kandidaten festgelegt, sondern auch die Verteilung der Sitze auf die verschiedenen Konfessionen, ihrer angenommenen Stärke im Wahlbezirk entsprechend. Die Vertreter der religiösen Gemeinschaften eines jeden Wahlbezirks müssen zusammengenommen im Parlament diese Gemeinschaften dann nach folgendem festgelegten Schlüssel repräsentieren: 30 Maroniten, 20 Sunniten, 19 Schiiten, elf Griechisch-Orthodoxe, sechs Griechisch-Katholische, sechs Drusen, vier Armenisch-Orthodoxe, ein Armenisch-Katholischer, ein Protestant, ein Vertreter sonstiger Minderheiten (— 99 Abgeordnete) Eine nationale, auf Parteiprogrammen (d. h. politischen, sozialen und ökonomischen Zielvorstellungen) beruhende parlamentarische Repräsentation wird dadurch unmöglich gemacht, einer personalistischen und nepotistischen Interessenvertretung jedoch Tür und Tor geöffnet.
So waren nur zwischen 13°/o und 38 0/0 der aus den Wahlen von 1951 bis 1968 hervorgegangenen Abgeordneten parteigebunden und dann noch überwiegend an Parteien, die lediglich persönliche Gefolgschaften sind. Vor allem aber waren die prononciert „arabischen" Parteien, gleich welcher spezifischen politischen Observanz (ob syrisch-nationalistisch, muslimisch, nasseristisch, syrischbathistisch oder irakisch-bathistisch orientiert), gar nicht oder insignifikant vertreten. Im gegenwärtigen Parlament sitzen 60 unabhängige und 39 parteigebundene Abgeordnete. Von den letzteren sind nur 16 Mitglieder echter Parteien (Phalanges: 7, Daschnak: 5, Bath (irakisch): 1, Nasseristische Organisation: 1, Libanesische Kommunistische Partei: 1, Syrische Sozial-Nationalistische Partei: 1). Die übrigen 23 parteigebundenen Parlamentsmitglieder sind Gefolgsleute Schamuns (9), Dschanbalats (9) und Iddis (5), die im Grunde ebenso wie die restlichen 60 Abgeordneten bestimmten „Führern" folgen, von denen diejenigen, die keine Parteigründer sind, als Ersatz parlamentarische „Blöcke" organisiert haben
Das Parlament und der Ministerrat, wie schwach sie auch immer gegenüber dem Präsidenten sein mögen, mußten so als Instrumente einer kleinen christlich-muslimischen Machtelite erscheinen, deren Vertreter sich gegenseitig Pfründe abzujagen versuchten, ohne daß den politischen Hoffnungen und den sozialen Bedürfnissen vor allem der muslimischen Unterschicht Rechnung getragen wurde. Zumindest das unterprivilegierte, unterrepräsentierte städtische Proletariat und die Landbevölkerung der unterentwickelten Regionen zog auch mit diesem Bewußtsein in den Bürgerkrieg.
Die sozio-ökonomische Dimension
Das Fatale ist, daß die simplifizierenden Gleichungen christlich = wohlhabend und privilegiert, muslimisch = arm und unterprivilegiert einen Wahrheitskern enthalten, auch wenn natürlich zu Recht immer wieder darauf hingewiesen wird, daß es schließlich auch eine „muslimische Bourgeoisie" und ein „christliches Proletariat" gebe. Doch mit solchen Hinweisen lassen sich die Tatsachen, die aus der historisch-politischen Genese von Wirtschaftsstruktur und Bildungssystem resultieren, nicht wegdiskutieren.
Die libanesische Wirtschaft ist gekennzeichnet durch eine starke Kopflastigkeit des tertiären Sektors, ja man könnte sie geradezu als Dienstleistungswirtschaft bezeichnen. Der libanesische Kapitalismus ist kein Industrie-, sondern ein Handels-und Finanzkapitalismus. Im Jahre 1966 entfielen 11, 4% des Bruttoin-* Endprodukts auf die Land-und Forstwirtschaft, 13, 2% auf Industrie und Handwerk, 6 0/0 auf die Bauwirtschaft und 69, 4 °/o auf Dienstleistungen (30, 6% auf den Handel) Nur rund ein Viertel der Kredite libanesischer Banken kam um die gleiche Zeit der Industrie, der Bau-und Landwirtschaft zugute, über die Hälfte dem Handel
Auch zur Deutung dieses Phänomens wird gern Bezug auf das „phönizische Erbe“, den „phönizischen Handelsgeist" genommen Doch ist es nicht ein bestimmter „Wirtschaftsgeist", sondern es sind die objektiven Bedingungen der historischen Entwicklung des libanesischen Kapitalismus und die aktuellen Profitchancen, die dieses Phänomen hervorbrachten. Die Institutionen, die eine mögliche andere Entwicklung hätten forcieren können — nämlich Regierung und Verwaltung —, werden nun aber von den Repräsentanten der Handels-und Finanzinteressen dominiert. Solange sich der Staatsapparat mit einer Art Nachtwächterrolle im Rahmen des spezifisch libanesischen Wirtschaftsliberalismus begnügt und solange der Markt zu keiner anderen ökonomischen Orientierung zwingt, d. h. solange keine innerlibanesischen revolutionären Veränderungen und regionalen ökonomischen Strukturwandlungen der „Dienstleistungsrepublik" den Boden entziehen, wird sich dieser „Geist" weiter entfalten können und werden die Interessen der Industrie zu denen des tertiären Sektors im Widerstreit stehen.
Zu dieser Hypertrophie des Dienstleistungssektors kommen regionale Disparitäten der landwirtschaftlichen Produktivität und des Industrialisierungsgrades hinzu. Besonders der drusische und schiitische Süden, der schiitische und sunnitische Osten sowie der sunnitische Norden sind in dieser Hinsicht Entwicklungsregionen. Im maronitischen Zentrallibanon sind dagegen nicht nur die wenigen Industriebetriebe außerhalb der Stadtregionen Beirut und Tripolis konzentriert hier ist auch die Landwirtschaft „moderner“ und effektiver organisiert. Die darauf basierende größere Prosperität dieses Landesteils ist auch eine Folge der regelmäßigen Rimessen der überwiegend christlichen, heimatverbundenen Auslandslibanesen. Die ökonomische Bedeutung dieser Überweisungen sollte nicht unterschätzt werden
Die Binnenemigration aus den unterentwikkelten Landesteilen vor allem in die Großräume Beirut und Tripolis wurde zu einem drükkenden sozialen Problem. Die Abwanderung aus dem schiitischen Süden schwoll nach 1967 geradezu lawinenartig an, als das Gebiet Opfer fortgesetzter israelischer Militäraktionen wurde. Der Strom der aus der Landwirtschaft Abwandernden, in den sich natürlich auch christliche Bauern, vor allem des Ost-libanon, einreihten, konnte nun aber nicht von einem expandierenden industriellen Sektor aufgefangen werden. Der Dienstleistungssektor jedoch ist nicht beschäftigungsintensiv genug, um die notwendigen Arbeitsplätze zur Verfügung stellen zu können. Auf diese Weise entstand ein großes städtisches Proletariat, das mehrheitlich muslimisch ist In Ermangelung einer starken Gewerkschaftsbewegung sieht es seine Interessen in erster Linie von den arabisch-nationalistischen und sozialistisch-kommunistischen Parteien und Gruppierungen vertreten, denen jedoch ein wirksamer Einfluß auf die Gestaltung der Wirtschafts-und Sozialpolitik bisher versagt blieb. Auf der anderen Seite ist nicht zu übersehen, daß die ökonomisch dominante Schicht überwiegend christlicher Konfession ist. So waren von den 207 Unternehmern einer 1962 veröffentlichten repräsentativen Untersuchung 166 Christen, 34 Muslime, vier Juden und drei Drusen Da Angehörige der christlichen Gemeinschaften vor allem die Schlüsselpositionen im Handels-, Finanz-und sonstigen Dienstleistungsbereich innehaben (der jetzige maronitische Staatspräsident Sarkis war zuvor Präsident der Zentralbank), steht potentiellen muslimischen Unternehmern daher vor allem nur der unterentwickelte Industriesektor offen — dessen Interessen wiederum nicht identisch sind mit denen des Handels.
Diese Position von Angehörigen der verschiedenen christlichen Gemeinschaften in der libanesischen Wirtschaft hat sich in einem langen historischen Prozeß entwickelt; entscheidend waren die intensiven kulturellen und ökonomischen Beziehungen zu Europa und Amerika. Die Perpetuierung christlicher Überrepräsentation in den ökonomischen und administrativen Spitzenpositionen ist aber auch eine Folge des libanesischen Bildungssystems. Wie überhaupt die relative „Abwesenheit des Staates" ein Merkmal der sozioökonomischen Struktur des Libanon ist, so erweist sich auch das Bildungswesen, vor allem im Sekundarschulbereich, noch immer als eine Domäne privater Initiative und nicht-staatlicher Institutionen. Die Oberschulen sind noch immer überwiegend konfessionell und/oder ausländisch geprägt Die beiden bedeutendsten Hochschulen des Landes haben einen missionarischen Ursprung: die amerikanisch-protestantische „American University of Beirut" und die französisch-katholische „Universite St. Joseph".
Da die Privatschulen überwiegend von christlichen und die Staatsschulen überwiegend von muslimischen Schülern besucht werden, heißt das konkret, daß den christlichen Gemeinschaften zahlreichere und bessere Schulen zur Verfügung stehen als den Muslimen und Drusen und daß die Forderung nach mehr staatlichen Schulen der Forderung nach mehr Schulen für die Muslime gleichkommt — weshalb die Christen an einer Expansion des staatlichen Bildungssektors auch kein sonderliches Interesse haben. Damit fehlt dem Libanon ein wichtiges soziales Integrationsinstrument.
Diese sozio-politische Situation: die räumliche Separierung der Gemeinschaften, zementiert durch den politischen Konfessionalismus, und das plurale Rechtssystem (jede Gemeinschaft hat ihr eigenes, religiös fundiertes Personenstandsrecht), das u. a. interkommunitäre Heiraten erschwert, wenn nicht unmöglich macht, das Fehlen eines Grundkonsenses über Identität und Bestimmung der staatlichen Einheit Libanon, die allzu schwache Ausbildung potentieller Integrationsinstitutionen wie staatliche Schulen, nationale Parteien oder auch die Streitkräfte, die allesamt konfessionalistisch geprägt sind — diese Faktoren verhinderten bislang, daß aus dem „sozialen Mosaik" des Libanon eine pluralistische Gesellschaft entstand. Sozialer Wandel ist in einer so charakterisierten Gesellschaft ein extrem langsamer, von Konvulsionen begleiteter Prozeß, da er immer wieder an Tabu-Schranken stößt. Und weil politische Orientierung, sozio-ökonomische Disparitäten und regionale Ungleichheiten bis zu einem gewissen Grade den gleichen (konfessionell bestimmten) Grenzen folgen, ist es nicht verwunderlich, wenn während des Bürgerkriegs auf der einen Seite nach Teilung der Macht, auf der anderen aber nach Teilung des Landes gerufen wurde — eine Idee, die bereits vor der syrischen Intervention unter den Maroniten an Boden gewann, die in Erinnerungen an das „Goldene Zeitalter" des autonomen Mont Liban schwelgten.
Nach der Krise von 1958 hatte der neue Staatspräsident Schihab versucht, dem Prozeß des sozialen Wandels einen entscheidenden Impetus zu geben: „Der Staat", d. h.der Präsident und die Administration, sollten ein größeres Maß an Verantwortung für die planerische Beseitigung der administrativen Ineffektivität, der sozialen Mißstände und des regionalen Ungleichgewichts übernehmen. Es wurde ein sozio-ökonomisches Entwicklungsprogramm eingeleitet, das jedoch nur in einem sehr bescheidenen Ausmaß realisiert werden konnte. Mit dem Auslaufen der Präsidentschaft Schihabs im Jahre 1964 kam auch die Planungsaktivität wieder zum Erliegen. Die etablierten administrativen Strukturen und ökonomischen Interessen erwiesen sich als resistent. Auf der wirtschaftlichen Ebene hatte zwar ein Boom eingesetzt (angeheizt durch den verstärkten Zufluß von Olgeldern), doch er stellte sich als ein Spekulationswunder heraus, das 1966 mit einem Banken-Krach (ausgelöst durch den Zusammenbruch der Intra-Bank) endete.
Als Präsident Farandschiyya 1970 die Macht übernahm, ging die Ära des „Schihabismus" endgültig zu Ende Die großen Entwicklungsprogramme waren vergessen — nicht aber die Hoffnungen, welche die Unterprivilegierten in sie gesetzt hatten. Der laufende Sechsjahresplan (1972— 1977) verdient seinen Namen nicht, und auch ohne Bürgerkrieg hätte er die fragile, auf Dienstleistungen für das Ausland basierende Wirtschaft nicht transformiert Handel und Banken profitierten gerade in den letzten Jahren stärker als je zu-vor vom Geschäft mit den Petrodollars, während die dadurch ausgelöste galoppierende Inflation die materielle Existenz von immer mehr Libanesen immer prekärer gestaltete.
Das Scheitern des „Schihabismus" als eines sozialen und ökonomischen Reformprogramms ist einer der wesentlichen Gründe für die Bitterkeit und Totalität, mit der der Bürgerkrieg der beiden vergangenen Jahre geführt wurde, dessen Hauptschlachten nicht nur um Palästinenser-Lager in Beirut, sondern gleichsam symptomatisch um Elendsquartiere einerseits und Luxushotels andererseits geschlagen wurden — und der sehr schnell bewußt auch die Banken-und Geschäftsviertel nicht mehr verschonte.
Die translibanesische Dimension
Das innerhalb des osmanischen Reichsverbandes de facto autonome „Fürstentum Libanon" zerbrach im Spannungsfeld innerer, regionaler und internationaler Antagonismen endgültig im Jahre 1842. Seit der vorübergehenden Herrschaft des ägyptischen Vizekönigs Muhammad Ali über Syrien (1831— 1840), der sich gegen seinen Souverän, den Sultan in Konstantinopel, auflehnte und mit dem sich der libanesische Emir verbündete, bzw.seit der Vertreibung der Ägypter durch englische, österreichische und osmanische Truppen, konnten die innerlibanesischen Konflikte nicht mehr ohne die Einmischung regionaler und interna-tionaler politischer Kräfte ausgetragen werden. Ohne das Plazet der europäischen Groß-mächte, zu deren kollektiven Quasi-Protektorat der Libanon geworden war, konnte auch der Sultan keine grundlegenden sozio-politischen Veränderungen mehr durchführen.
Dabei kam Frankreich wegen seiner besonderen Beziehungen zu den unierten libanesischen Christen eine Vorrangstellung zu. Diese fand schon bald ihren Ausdruck darin, daß ein französisches Expeditionskorps nach dem Bürgerkrieg von 1860 im Libanon an Land ging, um im Namen des Europäischen Konzerts „die Ruhe wiederherzustellen" Der 1861 geschaffene autonome Distrikt Mont Liban stand dann unter der Aufsicht der Groß-mächte und unter dem unausgesprochenen besonderen Schutz Frankreichs. Das vorrangige französische Interesse wurde nach dem Ersten Weltkrieg in der Form anerkannt, daß der Völkerbund Frankreich im Jahre 1920 als Mandatar für den Libanon (und Syrien) ein-setzte. Bis zur Unabhängigkeit im Jahre 1943 war das Land nun eine französische Quasi-Kolonie.
Nach dem Zweiten Weltkrieg übernahmen die USA weitgehend das französisch-englische koloniale Erbe im Nahen Osten. Nun hatten sie die „Interessen des Westens" dort durchzusetzen. Im Libanon wurden sie 1958 dazu aufgerufen: Nach dem Suez-Krieg von 1956 drohten die „pro-westlichen" Regierungen der Region von der von Ägypten ausgehenden anti-imperialistischen Welle hinweggespült zu werden. 1958 schien auch die Basis der Existenz des Libanon von Panarabismus und arabischem Sozialismus bedroht (Vereinigung Ägyptens und Syriens, Revolution im Irak). Präsident Schamun, der die Annahme der Eisenhower-Doktrin 1957 im Libanon durchgesetzt und dadurch nach Ansicht seiner Gegner den Nationalpakt von 1943 verletzt hatte, rief amerikanische Truppen zu Hilfe, als sich die regionalen, internationalen und internen Spannungen in einem Bürgerkrieg entluden. Zwar griffen die US-Marines nicht direkt in die Kämpfe ein, doch unter dem Druck ihrer Präsenz fand man einen politischen Ausweg aus der Krise, die „Rückkehr zum Nationalpakt", d. h. Verzicht auf Inkorporierung des Libanon in ein westliches Bündnissystem einerseits und in eine arabische Staatenkonföderation andererseits.
Auch in den Jahren 1975 und 1976 gab es Rufe nach amerikanischer oder französischer Intervention (sogar Dschanbalat forderte ein militärisches Eingreifen Frankreichs, als reguläre syrische Verbände im Libanon einmarschierten); doch sie mußten ungehört verhallen. Die internationale und regionale Situation hatte sich seit 1958 grundlegend gewandelt. Die potentiellen Verteidiger der „Interessen des Westens" waren nicht mehr fähig und auch nicht mehr willens, diese Interessen mit den Zielvorstellungen einer der beiden Bürgerkriegsparteien zu identifizieren. Die Maroniten etwa hörten von französischen, amerikanischen und vatikanischen Vermittlern nichts als Kompromißvorschläge, die teilweise auch noch mit dem syrischen Nachbarn abgesprochen waren.
Im Zeichen der Detente wurde versucht, die internationale Dimension der Krise zu „regionalisieren". Dies war um so leichter möglich, als einerseits die internationale Dimension der libanesischen Krise nicht die Auseinandersetzung um die politische Ordnung des Landes ist (etwa „Moskau-Kommunismus" versus „westliche Demokratie") sondern ihre Verknüpfung mit dem arabisch-israelischen Konflikt, und als andererseits Syrien in einer Weise zu handeln bereit war, die den „Interessen des Westens" entgegenkam, wenn nicht ihnen sogar entsprach.
Die Frage nach der Zukunft des Libanon nach einer syrischen Intervention erschien belanglos angesichts der Chance, ein gravierenderes Problem — den Palästina-Konflikt — aus der Welt schaffen zu können. Die Opferung der Souveränität des Libanon auf dem Altar nahöstlicher Stabilität erschien schon deshalb keineswegs skandalös, weil die Maroniten, bevor reguläre syrische Truppen Anfang Juni 1976 als „Retter der Christen" die Grenze überschritten, sich in höchster Bedrängnis befanden — dies nicht zuletzt aufgrund früherer syrischer Unterstützung für die Bürgerkriegsgegner der Maroniten.
Die grundsätzlichen syrischen Intentionen liegen ebenso wie diejenigen der anderen im Libanon-Konflikt engagierten arabischen Staaten trotz des verwirrenden Augenscheins ziemlich klar auf der Hand: Es geht in erster Linie um die Ermöglichung einer Verhandlungslösung des Palästina-Konflikts. Für einen solchen Weg plädieren vor allem Ägypten, Saudi-Arabien, Jordanien — und Syrien. Dagegen arbeiten besonders Libyen und der Irak, die daher die Pax Syriaca im Libanon mit allen Mitteln zu verhindern trachteten. Dadurch, daß sich Ägypten vorübergehend „auf die falsche Seite" stellte, sollte das syrische Regime gezwungen werden, seine Aktionen mit gleichgesinnten Regierungen zu koordinieren; ein allzugroßer Machtzuwachs für Syrien sollte verhindert werden.
Eine Verhandlungslösung setzte aber die Domestizierung des palästinischen Widerstands, insbesondere der „Ablehnungsfront'' voraus, die ihre Basis im Libanon hatte und die jede nicht-maximalistische, nicht-revolutionäre Lösung des Palästina-Problems verwarf. Da die syrische Politik, aber auch auf den Widerstand der PLO stieß, forderte der syrische Staatspräsident — vorerst vergeblich — die Ablösung des Vorsitzenden des Exekutivkomitees der PLO, Arafat, der wohl durch Muhsin, den Chef der Syrien ergebenen Widerstandsorganisation Saiqa, ersetzt werden sollte. Am 24. November 1976 schlug die Damaszener Parteizeitung Bath sogar vor, die PLO von der nächsten Sitzung des Palästinischen Nationalrats auszuschließen, weil sie einerseits diskreditiert und andererseits unfähig sei, über eine Beteiligung an der Genfer Konferenz und die Etablierung eines palästinensischen Staates (Westjordanien und Gazastreifen) zu diskutieren — inzwischen ist sie dazu fähig.
Natürlich verfolgt Syrien auch direkte Interessen im Libanon, die sich hinter den Begriffen Vermittlung, Wahrung des Gleichgewichts und Verhinderung der Teilung des Landes verbergen; sie sind noch nicht eindeutig zu erkennen. Solange die Maroniten auf dem Vormarsch waren — bis Ende 1975 —, „vermittelte" die syrische Regierung zugunsten der Gegner der Maroniten. Als sich die Waagschale allzusehr auf die Seite der „Nationalen Bewegung" und der Palästinenser neigte, „vermittelte" Damaskus für die maronitische Sache. Der nicht gerade exorbitante Preis dafür war der „Neue Nationalpakt" vom Februar 1976 mit seinem schihabistischen Programm, auf dessen Basis der syrische Kandidat für die Präsidentschaft, Sarkis, sein Amt ausüben sollte
Ein auf den syrischen Schiedsrichter angewiesenes, gesamtarabisch denkendes und handelndes „progressives" Regime (Sarkis ist neben Schihab selbst der bekannteste „Schihabist") sollte etabliert, die „Nationale Bewegung" auseinanderdividiert, die libanesischen und palästinischen „Extremisten" isoliert werden. Da die „Nationale Bewegung" und die Palästinenser diese syrische „Vermittlung" jedoch nicht akzeptierten, wurden sie in der zweiten Hälfte des Jahres 1976 militärisch unterworfen. Wie intensiv Syrien die Rolle des Protektors zu spielen gedenkt, wird die Zukunft zeigen. Die Spekulation darüber ist keineswegs erleichtert worden, als im Januar 1977 mit der Verhängung der totalen Zensur ein Vorhang des Schweigens vor dem Libanon niederging.
Die palästinische Dimension
Die Präsenz palästinischer Flüchtlinge und Vertriebener im Libanon, die überwiegend in Lagern lebten und von denen nur eine Minderheit im ökonomischen und intellektuellen Leben des Landes (nicht im politischen) wirklich Fuß fassen konnte, war bis zur Gründung der PLO im Jahre 1964 relativ unproblematisch. Die militärisch-politische Bedeutung, welche palästinische Organisationen nach dem Juni-Krieg von 1967 gewannen, warf schließlich ernsthafte Probleme auf, zumal sie seit Oktober 1968 Operationsfreiheit im Süd-libanon für sich in Anspruch nahmen und darin von anderen arabischen Regierungen, insbesondere der syrischen, unterstützt wur-den. Die herrschende Schicht des Libanon, vor allem christliche Politiker, stand einer solchen Operationsfreiheit ablehnend gegenüber, da sie die seit 1949 verfolgte Politik des Heraushaltens aus den direkten arabisch-israelischen Auseinandersetzungen gefährdet hätte. Doch die überwiegende Mehrheit der muslimischen Bevölkerung und eine wachsende Anzahl junger, mehr oder weniger revolutionärer christlicher Intellektueller hielt diese „Neutralität" im palästinischen und gesamtarabischen Schicksalskampf für zunehmend unerträglich und unterstützte daher den Anspruch der Palästinenser. Die alte Auseinandersetzung um Rolle und Identität des Libanon war in neuem Gewände akut geworden.
Christliche Politiker und hohe Militärs argumentierten vor allem mit dem Begriff der Souveränität des Libanon, die unantastbar und unverzichtbar sei. Doch ging es dabei natürlich nicht um ein abstraktes Prinzip. Vielmehr hatte die Auseinandersetzung auch eine reale innenpolitische, d. h. machtpolitische Bedeutung. Eine Integration der Palästinenser, gar die Gewährung der Staatsbürgerschaft nach jordanischem Vorbild, hätte den konfessionellen Status quo endgültig zerstört, da die Palästinenser zu 80 °/o Muslime sind. Nur wenige voll integrierte Angehörige der zumeist christlichen palästinischen Bourgeoisie, die außerhalb der Lager lebten, hatten die Chance, libanesische Staatsbürger zu werden. Der Versuch, das politische System zu konservieren, hatte nur Aussicht auf Erfolg, wenn die Palästinenser in ihren Lagern blieben. Sie in den Wirtschaftsprozeß einzugliedern, d. h. ihnen Arbeitsplätze zu beschaffen, wäre man ohnehin nicht imstande gewesen. So durfte die Bevölkerung der Flüchtlingslager nicht einmal ihre Kinder in libanesische Regierungsschulen schicken.
In den Augen der Angehörigen der libanesischen Oligarchie jedweder Konfession zeichnete größere aber eine noch Gefahr ab: Das revolutionäre Potential der Palästinenser wurde erkannt und genutzt, zuerst wohl von den libanesischen Kommunisten, dann aber auch von anderen „fortschrittlichen Kräften". Ihr zahlenmäßiges Gewicht und vor allem ihr militärisches Potential wurde im Wege einer Bündnispolitik für den innerlibanesischen Machtkampf erschlossen.
Auch wenn „bürgerliche" Palästinensertührer zunächst Vorbehalte gegen eine zu enge Liierung mit der libanesischen Linken anmeldeten, blieb ihnen nach der Liquidierung der palästinischen Präsenz in Jordanien 1970/71 keine andere Wahl als die Hand eines jeden zu ergreifen, der sie ihnen entgegenstreckte. Der Libanon, vor allem der Süden des Landes („Fatahland"), war zu ihrem letzten Refugium geworden, zum letzten Gebiet, in dem sie sich noch relativ ungehindert bewegen konnten. In keinem anderen arabischen Land genossen sie noch ähnliche Freiheiten, und im Libanon wurden diese nun von den Maroniten bedroht. Selbst auf die Gefahr hin, als Palästinenser in innerlibanesische Auseinandersetzungen hineingezogen zu werden, mußten die Chancen eines Bündnisses mit möglichst vielen politischen Gruppierungen im Libanon genutzt werden, auch mit den Kommunisten. Zur Feier des 50jährigen Bestehens der Libanesischen Kommunistischen Partei im Oktober 1974 betonte daher die PLO, daß „die Libanesische Kommunistische Partei ein essentieller Verbündeter der palästinischen Revolution" sei
Doch weder die palästinische Bewegungsfreiheit noch erst recht diese Bündnispolitik waren die christlichen Politiker und Armeeführer hinzunehmen bereit. Ihnen schwebte letztlich eine Lösung des Problems vor, wie sie 1970/71 in Jordanien durchgesetzt wurde. Die erste Runde der bewaffneten Auseinandersetzungen zwischen christlichen Milizen und Armee-Einheiten einerseits und Palästinensern und ihren libanesischen Sympathisanten andererseits endete im November 1969 mit der viel-zitierten „Vereinbarung von Kairo" welche den Palästinensern Autonomie in ihren Lagern und weitgehende Bewegungsfreiheit an der „Front" brachte.
Doch so wie diese Runde durch den israelischen Überfall auf den Zivilflughafen von Beirut Ende Dezember 1968 ausgelöst worden war, so setzten die Israelis durch ihre Vergeltungsschläge gegen tatsächliche oder angebliche Palästinenserstützpunkte im Libanon stets aufs neue Feuer an die Lunte. Die Ermordung von drei Palästinenserführern durch ein israelisches Kommando im April 1973 trieb das Land erneut an den Rand des Bürgerkriegs. Zwar wurde daraufhin, im Mai 1973, das Abkommen von Kairo (Rechte und Pflichten der Palästinenser im Libanon) in modifizierter Form bestätigt. Doch das Grundproblem war natürlich nicht gelöst. Während die israelischen Angriffe auf den Libanon von der einen Seite als Argument dafür vorgebracht wurden, die Bewegungsfreiheit der Palästinenser drastisch zu beschneiden, hielt die andere Seite es für geboten, die Palästinenser nun endlich uneingeschränkt zu unterstützen und den Libanon durch den Ausbau der Armee in Verteidigungsbereitschaft zu versetzen. Die israelischen Aktionen hatten auch zur Folge, daß einerseits die schiitischen Flüchtlinge aus dem Süden buchstäblich in die Arme der kommunistischen Parteien gebombt wurden und daß andererseits die traditionellen muslimischen „Führer" zunehmend zu Gefangenen der muslimischen „Massen" wurden.
Daß sich Unheil zusammenbraute, war daran zu erkennen, daß sich alle Seiten hektisch bewaffneten. Der Bürgerkrieg begann mit Massakern und schweren Kämpfen zwischen Kataib-Milizen und Palästinensern am 13. April 1975. Als diese anfänglich maronitisch-palästinischen Zusammenstöße im Mai die Form einer innenpolitischen Kraftprobe annahmen, versuchte Arafat mit größter Anstrengung, die PLO offiziell aus den Auseinandersetzungen herauszuhalten, indem er sie als rein libanesische Angelegenheit deklarierte. Bis zum Ende des Jahres 1975 trat er fortwährend als „Vermittler" auf und die von ihm befehligten Militäreinheiten allenfalls als „Ordnungskräfte". Wie hätte er sonst auch die Vision von einem künftigen demokratischen, säkularisierten Palästina, in dem Juden, Muslime und Christen brüderlich miteinander leben würden, weiter verkünden können, wenn die Palästinenser in ihrem multi-konfessionellen Gastland offen Partei gegen eine der Gemeinschaften ergriffen hätten! Doch jedermann wußte, daß zumindest Waffen auch aus den Arsenalen der Fatah in die Hände ihrer libanesischen Verbündeten gelangten (ebenso wie bekannt war, daß die christliche Armeeführung den Phalanges schwere Waffen zuspielte, weil die Armee selbst nicht in den Konflikt eingreifen konnte, ohne zu zerbrechen, — was schließlich doch nicht zu verhindern war).
Anfang 1976 zwangen die christlichen Milizen durch ihre Angriffe auf Flüchtlingslager die PLO-Führung, ihre bisherige Haltung aufzugeben, „die Maske fallen zu lassen", wie man sagte. Nicht nur die „Ablehnungsfront", die sich ohnehin nicht um die PLO-Politik gekümmert hatte, die Palästinenser insgesamt sollten als Bürgerkriegspartei „demaskiert" werden. So gelang es der PLO nicht, die „palästinische Revolution" in dieser Krise zwischen Scylla und Charybdis hindurchzusteuern; das Ergebnis scheint zu sein, daß sie jede Hoffnung auf „revolutionäre" Lösungen des Palästina-Problems aufgeben muß.
Die Bürgerkriegsparteien
Bevor die direkte syrische Militärintervention die Koalition der panarabischen, syrisch-nationalistischen, muslimischen, sozialistischen, kommunistischen und palästinischen Gruppen in ein großes anti-syrisches und ein kleines pro-syrisches Lager spaltete, gehörten zu die-ser Koalition, um mit dem militärisch wichtigsten Teil zu beginnen, alle palästinischen Organisationen, ob marxistisch oder „bügerlich", ob „unabhängig", pro-syrisch oder pro-irakisch orientiert. Zu den im Libanon stationierten Kampfverbänden der einzelnen Gruppen kamen Anfang 1976 drei Brigaden der -ungsarmee Palästinas aus Syrien, dem Irak und Ägypten hinzu.
Die libanesische „Nationale Bewegung" bestand vor allem aus der a) Fortschrittlich-Sozialistischen Partei Dschanbalats, der auch als Sprecher der Gesamtbewegung fungierte, b) der Libanesischen Kommunistischen Partei, der Organisation der Kommunistischen Aktion (unabhängige Marxisten, die besonders den Führungsanspruch Moskaus ablehnen) sowie einigen marxistischen Splittergruppen, c) fünf verschiedenen nasseristischen Gruppen (vor allem der Nasseristischen Bewegung und der Union der Kräfte des Arbeitenden Volkes), d) der allerdings in verschiedene Richtungen gespaltenen Syrischen Sozial-Nationalistischen Partei (die seit einigen Jahren mit der libanesischen Linken zusammenarbeitet), e) der syrischen und der irakischen Bath-Partei im Libanon, f) der Nadschada-Partei, g) der Bewegung des 24. Oktober (auf Tripolis beschränkt), h) der Bewegung der Entrechteten des schiitischen Imans Musa as-Sadr (der sich aber bereits im Januar 1976 von der „Nationalen Bewegung" abwandte und direkte Verbindungen zu Syrien anknüpfte). Die meisten dieser Parteien und Gruppen schickten Kampfverbände in den Bürgerkrieg, zu denen noch „Kämpfer" anderer Gruppen (z. B.der Muslimbrüder) und Privatmilizen mehr oder weniger zweifelhafter Natur hinzukamen. Die wichtigsten Verbände waren die Milizen der Kommunisten und der Sozial-Nationalisten, die Murabitun der Unabhängigen Nasseristen, die Drusen Dschanbalats und schließlich Teile der zerfallenen libanesischen Armee, vor allem die sog. Armee des arabischen Libanon.
Dieser Vielfalt von Parteien und Milizen stand auf der anderen Seite die „Libanesischen Front" gegenüber, in erster Linie bestehend aus der Kataib-Partei, welche die überwiegende Mehrheit der maronitischen Gemeinschaft repräsentiert, den Nationalliberalen Schamuns, der großbürgerlichen Maronitischen Liga und dem Orden der Maronitischen Mönche. Der Nationale Block Iddis hielt sich von dieser Front fern; sein Führer wollte sich wohl für eine Übernahme der politischen Führung nach dem Bürgerkrieg bereithalten. (Ein ähnliches Kalkül konnte man auch bei traditionellen muslimischen „Führern" wie Karami und Salam entdecken.) Der wichtigste militärische Arm der „Libanesischen Front" waren die Kataib-Milizen; hinzu kamen die „Tiger" (die Privatmiliz Schamuns), die Befreiungsarmee von Zagharta des ehemaligen Präsidenten Farandschiyya, die „Wächter der Zeder" (klerikal-extremistische Maroniten), ein Teil der zerfallenen libanesischen Armee sowie eine Reihe kleinerer, meist lokaler bzw. maximalistischer Gruppen und Kampfverbände.
Beide Bürgerkriegsparteien, insbesondere aber die anti-maronitische Koalition, waren also sehr heterogen zusammengesetzt. Die einzelnen Gruppen auf beiden Seiten verfolgten teilweise sehr unterschiedliche langfristige Ziele. Das jeweils gemeinsame kurzfristige Minimalziel konnte nur allgemeiner Natur sein. Wollte man gemeinsame Ziele haben, durfte man sich nicht auf Details einlassen. Das allgemeinste Ziel der „Libanesischen Front" war ein weitgehendes Festhalten am Status quo, an den grundlegenden Prinzipien der libanesischen Existenz. Die „Nationale Bewegung" erstrebte aber eine grundlegende Veränderung des Status quo. Das eigentliche Ziel war, in historischer Perspektive zu verdeutlichen, was Wahrung und Revision des Status quo jeweils bedeuten: Revision, das heißt Abschaffung des Konfessionalismus (im Sinne einer prinzipiellen Transformation des politischen und administrativen Systems); deutliche Stärkung des arabischen Charakters des Libanon, konkret etwa durch aktive Unterstützung des Kampfes der Palästinenser; Beseitigung der sozialen, ökonomischen und regionalen Ungleichheiten, u. a. durch eine Agrarreform, durch Industrialisierung, durch eine Steuerreform, durch den Ausbau des staatlichen Schulsektors. Aufrechterhaltung des Status quo bedeutet: keine grundlegende Veränderung des politischen Systems; Wahrung des unverwechselbaren Charakters des Libanon und der Grundprinzipien seiner liberalen Wirtschaftsordnung; Verteidigung der Integrität und Souveränität des Landes auch gegenüber den „Anmaßungen der Palästinenser", d. h. aber Zerschlagung des Bündnisses der „Nationalen Bewegung" mit den Palästinensern und Liquidierung ihrer Militärbasen auf libanesischem Boden.
Ausblick
Als eindeutige Verlierer der Auseinandersetzungen der beiden vergangenen Jahre sind der Libanon als sozio-politische Entität und die Palästinenser hervorgegangen. Keine der beiden libanesischen Bürgerkriegsparteien hat jedoch eine Entscheidung zugunsten der eigenen Zielvorstellungen herbeiführen können. Gemeinsam stehen sie nun vor einem Massengrab von mindestens 70 000 Menschen inmitten eines Trümmerfeldes. Man braucht kein Prophet zu sein, um sagen zu können, daß es weder möglich sein wird, den alten Libanon zu restaurieren, noch daß sich ein neuer wie Phönix aus der Asche erheben wird, wie dies der Mystiker Dschanbalat immer wieder zu suggerieren versuchte Die syrische Intervention hat nicht nur die maxi55) malistischen Träume von einem sozialistischen, revolutionär-avantgardistischen Libanon einerseits und von einer unverfälschten und unberührbaren maronitischen Republik andererseits zunichte gemacht; sie hat auch jene martialischen Ideologen desavouiert, nach deren Vorstellungen der Krieg „eine gereinigte Ausdehnung der Politik" ist
Zunächst hat nun ein Kabinett unpolitischer Experten, teilweise ehemaliger Schihabisten, die Aufgabe, unter syrischer Leitung den Wiederaufbau des Landes in die Wege zu leiten. Aber wie lange und in welcher Form auch immer die Syrer im Libanon präsent bleiben werden, bei der politischen Neuordnung des Landes wird man erneut nach Kompromißformeln suchen müssen, auch wenn es nicht mehr die alten Formeln sein können. Die traditionellen „Führer" und Clans werden diese aber nicht mehr allein aushandeln können; der Krieg hat sie in den Hintergrund gedrängt. Die „lebendigen Kräfte des Landes" als welche sich die Aktivisten beider Bürgerkriegsparteien verstehen, werden diese in erster Linie zu finden und zu verwirklichen haben — ob in Abhängigkeit oder in Unabhängigkeit.