„The interest of this country is now and always — Peace", schrieb Premierminister Balfour im Dezember 1903 an seinen König und formulierte damit die fundamentale Maxime britischer Außenpolitik seit der Mitte des 19. Jahrhunderts Wenn britische Politiker in der Zeit zwischen den Weltkriegen, insbesondere angesichts der auf Expansion zielenden nationalsozialistischen Außenpolitik, nicht nachließen, Anstrengungen für die Erhaltung und Sicherung des Friedens zu machen, so war dies ein Zeichen der Kontinuität außenpolitischen Konfliktverhaltens, das die schiedlich-friedliche Konfliktlösung einem kriegerischen Konfliktaustrag vorzog. Großbritannien als Handelsmacht und Schnittpunkt finanzieller Transaktionen mit weltweiten Verbindungen lief unabhängig vom Ausgang des Konflikts im Kriegsfall, wenn Waren-und Finanzverkehr Beschränkungen erfuhren oder gar zu erliegen drohten, Gefahr, im internationalen Vergleich Positionseinbußen zu erleiden und langfristig seinen Status als Großmacht zu verlieren Es ist bezeich-nend, daß darauf auch und gerade in einer Erklärung der Regierung aus dem Jahr 1935 zu Rüstungsfragen verwiesen wird. Flauptziel britischer Politik sei die Erhaltung des Friedens. Sicherster Schutz britischer Interessen resultiere nicht in erster Linie aus militärischer Abschirmung und einem Vorsprung im Rüstungswettlauf, sondern aus internationaler Stabilität, die die interkontinentalen Marktbeziehungen zur Entfaltung kommen lasse und damit den Außenbeziehungen der Staaten ihren eigentlichen Inhalt gebe
Im folgenden soll zunächst der Versuch gemacht werden, das britische Interesse am Frieden auf seine strukturellen Bedingungen innen-wie außenpolitischer Art zurückzuführen. Im zweiten und dritten Teil der Studie werden sodann die Methoden beschrieben, mit denen die britische Regierung gegenüber Deutschland vergeblich versuchte, das eigene Friedensbedürfnis in eine Politik der Friedenssicherung umzusetzen. Die britisch-deutschen Beziehungen, deren Gestaltung in den dreißiger Jahren über Krieg und Frieden im internationalen System entschied und die darum hier als Exempel für britische Konflikt-strategie dienen, standen vor dem Zweiten Weltkrieg im Zeichen eines prinzipiellen Gegensatzes: Friedensbedürfnis des Handels-staats und der saturierten Weltmacht auf britischer Seite, Militarisierung und Kriegsvorbereitung in Deutschland.
I. Appeasement als Krisentherapie
Während man von einer Kontinuität in den britischen Zielvorstellungen sprechen kann, ist gleichzeitig auf die Diskontinuität in der Verfügbarkeit britischer Machtmittel zur Durchsetzung des Friedens zu verweisen. Das zentrale Problem britischer Außenpolitik zwischen den Weltkriegen bestand in der Disparität von Weltmachtsanspruch und Machtmitteln zur Erhaltung dieser Position. Während der Friede im 19. Jahrhundert dem nationalen Interesse in optimaler Weise entsprach und darum als wünschbar und erstrebenswert erschien, war seine Aufrechterhaltung in den dreißiger Jahren des 20. Jahrhunderts zur absoluten Notwendigkeit geworden. Die daraus resultierende Politik, die sogenannte Appeasementpolitik, war Ausdruck des relativen Machtverlusts einer absinkenden Großmacht, die als internationale Ordnungsmacht überbürdet, gleichzeitig aber in ihrer Existenz auf die Aufrechterhaltung dieser Ordnung angewiesen war. Veränderungen im internationalen Gefüge galt es folglich auf dem Weg des „peaceful change" durchzuführen, um den Besitzstand des global in die Krise geratenen Weltreichs zu erhalten.
Die Momente der Krise, die hier nur aufrißartig behandelt werden können umfaßten sowohl den innen-wie den außenpolitischen Bereich. Im Grunde war es die Frage nach der Leistungsfähigkeit der parlamentarischen Demokratie und der liberal-kapitalistischen Wirtschaftsordnung, die sich die Zeitgenossen angesichts der Herausforderung durch die nicht liberal-demokratisch verfaßten Staaten stellten Die Krise Großbritanniens als Weltmacht war eingebettet in die Krise des „liberalen Systems". Das liberale Friedensmodell, wie es von Präsident Wilson in seinen Vierzehn Punkten vom Januar 1918 oder von Premierminister Lloyd George in seinem Fontainebleau-Memorandum vom März 1919 programmatisch formuliert worden war geriet mit seinen innen-und außenpolitischen Ord-nungsvorstellungen am Ende der dreißiger Jahre für jedermann sichtbar an die Grenzen seiner Wirksamkeit. Das psychologische Moment des Krisenbewußtseins prägte das Konfliktverhalten der Entscheidungsträger, die stets davon auszugehen hatten, daß Großbritannien seinen Vorsprung als Industrie-und Handelsmacht und damit als Weltmacht gegenüber seinen Konkurrenten — insbesondere den USA — verloren hatte, zugleich aber meinten, nur in der Bewahrung der liberalen Friedensordnung ihre Interessen sichern zu können.
Alle außenpolitischen Entscheidungen britischer Regierungen in den dreißiger Jahren müssen stets im Kontext der britischen Weltpolitik gesehen werden. Europa-und Deutschlandpolitik sind nicht zu isolieren von den überseeischen Interessen und Verpflichtungen Londons. Von entscheidender Bedeutung erwies sich, daß Großbritannien durch seine weltweite Präsenz als einzige Großmacht von allen internationalen Konflikten der Zwischenkriegszeit tangiert war Nacheinander sah es sich mit der revisionistisch-expansiven Politik Japans, Italiens und Deutschlands konfrontiert. Ziel britischer Politik mußte es nicht nur sein, das Zusammenwachsen von zwei Konfliktherden in Form einer Allianz der Aggressoren zu verhindern, sondern kriegerischen Konfliktaustrag überhaupt zu unterbinden, um die negativen Folgen eines dann nicht auszuschließenden britischen militärischen Engagements für britische Herrschaftspositionen in der Welt abzuwenden.
Die globale Defensive Großbritanniens fiel zusammen mit Desintegrationserscheinungen im Weltreich und Commonwealth, mit nachlassender militärischer Schlagkraft und Zweifeln an der friedenssichernden Funktion traditioneller Rüstungs-und Gleichgewichtspolitik.
Großbritannien konnte nach dem Ersten Weltkrieg seiner gewohnten Rolle als internationale Vermittler-und Ordnungsmacht — wenn es auch tatsächlich trotz der Diskrepanz von Weltmachtanspruch und zur Verfügung stehendem Machtpotential daran festzuhalten versuchte — schon darum nicht mehr gerecht werden, weil es in erheblichem Umfang mit den inneren Problemen seines Weltreichs in Anspruch genommen war. Primär stellte sich die Aufgabe, den Zusammenhalt der Commonwealth-Länder zu sichern, die voneinander abweichende außenpolitische Vorstellungen hatten und unterschiedliche Prioritäten setzten. Wenn das Mutterland auch — schon weil es den militärischen Schutz bereitstellte — in der internationalen Diplomatie gegenüber den Dominions führend blieb und diese auch Entscheidungsprozesse in der britischen Regierungszentrale nicht eigentlich durch direkte Intervention beeinflußten oder zu steuern versuchten, so bildete doch das Wissen um den Standpunkt der Dominions in London einen Faktor von erheblichem Gewicht
Als die Empire-Konferenz im Mai 1937 zu vermehrten Anstrengungen für ein „international appeasement" aufrief, bedeutete dies insbesondere, daß in Europa die Kriegs-schwelle nicht bereits durch Revision der territorialen Bestimmungen des Versailler Vertrags erreicht sein durfte Solange Großbritannien auf die Commonwealth-Ressourcen zurückgreifen wollte, galt es stets zu beachten, daß diese Länder niemals britische Verpflichtungen etwa im Sinne der französischen Sicherheitspolitik in Europa billigen würden Nach vorherrschender Meinung der Dominions stände ein Krieg zur Zementierung des Status quo in Mitteleuropa in keinem adäquaten Verhältnis zu dem dann geforderten Einsatz. Schon 1936 widersprach Kanada energisch eventuellen, freilich ohnehin nicht ins Auge gefaßten Sanktionen gegen die Remilitarisierung des Rheinlands Während der Sudetenkrise wollten die Dominions einen „höheren Preis für den Frieden" zahlen als die britische Regierung Eine militärische Aktion hätte 1938 das Commonwealth einer Zerreißprobe unterworfen. Dies war der Grund, warum Vansittart, bis 1937 oberster Beamter im Foreign Office, in der Existenz des Weltreichs eher eine Belastung als eine
Kraftquelle sah und ein Grund, warum die britische Regierung den Ausgleich mit Deutschland auch auf Kosten der kleineren Staaten in Ostmitteleuropa suchte 1939 schließlich gab es, von Neuseeland abgesehen, eher Kritik als Unterstützung für die Rußlandpolitik der Regierung, die versuchte, mit der UdSSR zu einer vertraglichen Regelung über europäische Sicherheitsfragen zu kommen
Aber nicht nur als Haupt des Commonwealth, auch als direkte Kolonialmacht sah sich Großbritannien akuten Problemen in Gestalt emanzipatorischer Unabhängigkeitsbewegungen wie in Indien oder Palästina gegenübergestellt die beispielsweise auch Hitler in Rechnung stellte, wenn er eine britische Intervention in Mitteleuropa nicht erwartete
Auch aus militärischen Gründen war mit einer derartigen Intervention nicht zu rechnen Großbritannien hatte nach dem Ersten Weltkrieg in großem Umfang abgerüstet. Prämisse der Verteidigungspolitik war nach der „Ten-Year-Rule“ die Annahme, in den nächsten zehn Jahren werde kein „größerer Krieg" zu führen sein. Auch als diese Grundannahme nach der Mandschureikrise aufgegeben wurde, kam die Wiederaufrüstung im Rahmen einer auf Defensive abgestellten Strategie nur langsam in Gang. Noch 1938 waren die britischen Inseln gegen die in einem Krieg zu erwartenden Luftangriffe nicht vollständig abwehrbereit. Hinzu kam zweifel-los eine Überschätzung der deutschen Luftwaffe und eine Angstpsychose angesichts der neuen Dimensionen des Luftkriegs Aus militärischer Sicht war Großbritannien 1938 infolge mangelnder Kriegsbereitschaft zum Stillhalten gezwungen
Die Defensivstrategie war Ausdruck einer Krise der traditionellen Gleichgewichtspolitik, mit deren Hilfe Großbritannien bis zum Ersten Weltkrieg den Frieden Europas zu organisieren versucht hatte, weil der Zustand des kontinentaleuropäischen Gleichgewichts, der zugleich eine indirekte Herrschaft über Europa implizierte, britischen Interessen am dienlichsten war. Doch Anfang 1939 konstatierte ein britischer Diplomat die neue Situation: „The Pax Britannica is no longer respected in Central Europa, and Great Britain can no more hope to be the policeman of Europe." Nicht nur, daß eine neue Koalition der Alliierten des Ersten Weltkriegs nicht praktikabel war: mit Italien und Japan gab es keine gemeinsame Basis für ein Bündnis Frankreich galt als innenpolitisch instabil und geschwächt dasselbe traf für die Sowjetunion zu, der man politisch mißtraute und die man militärisch für wenig schlagkräftig hielt mit einem Engagement der Vereinigten Staaten von Amerika schließlich glaubte man nicht rechnen zu können
Ein weiterer Punkt trat hinzu, der den Über-gang von der Noncommitment-Politik zu einer den Aggressor abschreckenden Allianzpolitik verhinderte, wie sie etwa von Churchill propagiert wurde: Man glaubte, im System der Allianzverflechtungen, Blockbildungen und Rüstungswettläufe eine wesentliche Ursache für den Ausbruch des Ersten Weltkriegs erkannt zu haben. Aus diesem Grund lehnte man die französische securife-Doktrin ab und noch 1939 beeinflußte dieser Gedanke nachhaltig die britische Verhandlungsführung in den Gesprächen mit der sowjetischen Regierung, die eine direkte Allianz anstrebte. Gegenüber der Zeit vor 1914 gelte es, so wurde argumentiert, die Offenheit eines multipolaren internationalen Systems als Voraussetzung für die Erhaltung des Friedens zu erkennen. In diesem System wären Reibungsursachen auf dem Verhandlungsweg zu beseitigen und die dann saturierten Großmächte in einer „natürlichen Balance" zu vereinen. Das neue Gleichgewicht hätte dann die „sinister significances" und den infolge des britischen Machtverlusts bedrohlichen circulus vitiosus der herkömmlichen Gleichgewichtspolitik überwunden
Nur vor diesem Hintergrund ist eine Politik zu verstehen, die in Zentraleuropa einen deutschen Machtzuwachs konzedierte, im Mittelmeerraum das italienische Ausgreifen über die eigenen Grenzen und im Fernen Osten ein begrenztes Vordringen Japans in China duldete. Angesichts „neuer Realitäten" bemühte man sich um ein Einverständnis der Großmächte über deren natürliche Interessensphären. In diesem Konzept bildeten die USA und die UdSSR zwei in sich geschlossene, relativ abgelegene Einheiten, die man nur bedingt in das Kalkül der eigenen außenpolitischen Strategie einbeziehen wollte. In gleicher Weise sollten das sozialrevolutionäre Element der Sowjetunic-n wie das überlegene Wirtschaftspotential der Vereinigten Staaten von Amerika aus dem „inneren
Kreis' der Mächte ferngehalten werden. Mit Japan hoffte man ein Abkommen erzielen zu können, das alle britischen Interessen im pazifischen Raum respektierte. Die unmittelbare Gefahr für den Frieden lag in Europa, wo die Interessen der vier Großmächte Deutschland, Italien, Frankreich und Großbritannien aufeinanderprallten. Seit den Locarno-Verträgen galt das Zusammenwirken der „großen Mächte Westeuropas" als wesentliche Voraussetzung für die Erhaltung des Friedens. Die Koexistenz der vier Großmächte blieb bis zum Kriegsausbruch ein erstrebtes Ziel, da man in ihm allein die Basis für ein „general scheme of appeasement in Europe" für ein „general European Settlement" erblickte.
Ein in einem „general settlement'pazifiziertes Europa sollte vordringlich eine Reduktion der nationalen Rüstungen und ein Abkommen über Rüstungsbegrenzung ermöglichen. Von der finanziellen Bürde der Aufrüstung und der Furcht vor einem Krieg befreit, wäre man in der Lage gewesen, die krisenanfällige britische Wirtschaft umzustellen, die Handels-und Zahlungsbilanz günstiger zu gestalten und das gesellschaftliche Gefüge durch Reformen stabil zu erhalten. Der Rüstungswettlauf, so fürchtete man, werde die englischen Finanzen möglicherweise noch vor Eintritt des Ernstfalls ruinieren Die Kosten für hohe Rüstungsaufwendungen drohten die beginnende Überwindung binnenwirtschaftlicher Strukturprobleme der britischen Wirtschaft, die sich um der internationalen Wettbewerbsfähigkeit willen in einem Anpassungs-und Umbildungsprozeß befand, zu bremsen. Jeglicher Krieg mußte diesen Prozeß unterbrechen, vbn der dann drohenden Abschnürung des Außenhandels ganz abgesehen. Großbritannien war auf den Austausch mit einem politisch stabilen Mitteleuropa angewiesen, in dem Deutschland die Schlüsselrolle einnahm. „Für*
ein mageres Deutschland', so formulierte es im Februar 1935 Ashton-Gwatkin, der Leiter der wirtschaftspolitischen Abteilung im Foreign Office, „haben wir selbst zu zahlen durch Verluste in unserem Warenverkehr, da das Verhungern Deutschlands nicht nur einen direkten Verlust im Handel nach Deutschland, sondern auch, so dominierend und zentral ist seine Position, gleichzeitig den Hungertod eines großen Teils Europas bedeutet" Darum überrascht es nicht, wenn Premierminister Neville Chamberlain nach der eben bereinigten Sudetenkrise Hitlers Aufmerksamkeit auf den in seinen Augen zentralen Punkt zu lenken versucht: Hand in Hand mit einer „Beruhigung der politischen Leidenschaften“ müsse man zu einem „Abbau der internationalen Handelshemmnisse“ kommen
Die britische Weltpolitik der Zwischenkriegszeit und in ihrem Rahmen die Deutschland-politik war der Versuch des „Troubled Giant" gefährdete Positionen durch Stabilisierung des Friedens zu retten. Der zugrunde liegende Friedensbegriff entsprang einem Kalkül nationaler Politik. Nur im Frieden glaubte man ein Krisenrezept entwickeln zu können. Voraussetzung für den Erfolg dieser Politik war, Veränderungen im internationalen System, wie sie die revisionistischen Mächte anstrebten, stets derart unter Kontrolle zu behalten, daß sie für Großbritannien unterhalb der Schwelle zum Krieg blieben, daß für Großbritannien gar nicht erst der Verteidigungsfall eintrat. Was abgekürzt unter dem heute pejorativ gebrauchten Schlagwort „Ap-peasement’ historisch zu fassen ist war jedoch keine Beschwichtigungspolitik des Friedens um jeden Preis, sondern enthielt durchaus die Bereitschaft, die Kriegsschwelle zum Zweck der Verteidigung nationaler Interessen zu überschreiten.
In grundsätzlich gehaltenen Ausführungen zur britischen Politik nach dem Münchener Abkommen bestimmte Außenminister Lord Halifax diese Interessen mit der Vorherrschaft Großbritanniens und Frankreichs in Westeuropa, der Präsenz im Mittelmeerraum, der gesicherten Herrschaft im Empire und der Aufrechterhaltung der imperialen Verbindungswege Appeasement bedeutete weder Aufgabe eigener Positionen, um einen Aggressor zu beschwichtigen, noch die Ablenkung der Aggression gegen dritte von Hitlers „Programm" bedrohte Großmächte, z. B. gegen die Sowjetunion oder gar Frankreich, um den eigenen Frieden durch freie Hand für Hitler auf dem europäischen Kontinent zu erkaufen. Vielmehr lag der britischen Politik eine Doppelstrategie zugrunde, wie der damalige Erziehungsminister Halifax schon 1935 unterstrich: „the dual policy of peace and the other half of it, the obligations of defence" Sprach, wie oben erwähnt, die Empire-Konferenz 1937 einerseits die Verpflichtung zum Frieden aus, so formulierte sie doch gleichzeitig die Grenzen der Friedensbereitschaft Immer wieder signalisierten britische Regierungsmitglieder für Hitler die „twin foundation" ihrer Politik um der deutschen Seite weder Anlaß zu einem neuen Einkreisungskomplex noch die Illusion eines leichten Beutezugs in Europa zu geben.
Um verteidigungsbereit zu sein, mußte aufgerüstet werden. Um vor Abschluß des Rüstungsprogramms, dessen Tempo durch das Festhalten an den Grundsätzen einer „liberalen“ Finanz-und Wirtschaftspolitik freilich beeinträchtigt wurde, keinen Angriff zu provozieren, war es nötig, mit einer flexiblen Politik den Ausbruch eines Krieges zu verhindern. Wenn ihr ein „general settlement" gelingen würde, war das eigentliche und erhoffte Ziel britischer Politik erreicht; wenn nicht, sollte wenigstens Zeit gewonnen werden, um einem Angriff nicht ungerüstet gegenüberstehen zu müssen oder die eigene Militärmacht als Abschreckungsinstrument einsetzen zu können In diesem ganz rationalen Kalkül und nicht in der vermeintlichen Kurzsichtigkeit irrender einzelner an der Spitze der Regierung ist die Erklärung für den Kurs der britischen Politik vor Ausbruch des Zweiten Weltkriegs zu suchen.
II. Deutschland als Unruheherd in Mitteleuropa
Im folgenden soll unter weitgehendem Verzicht auf ereignisgeschichtliche Vollständigkeit anhand exemplarischer Vorgänge gezeigt werden, wie die britischen Regic. ngen der dreißiger Jahre die allgemeinen Grundsätze ihrer Politik in konkrete Schritte der Deutschlandpolitik umzusetzen versuchten. Innerhalb des Konzepts der „dual policy’ dominierten zunächst die Anstrengungen, bessere Bedingungen für den Frieden zu schaffen. Man wollte die aus dem Versailler Vertrag herrührenden deutschen Beschwerden ausräumen, um das nationalsozialistische Deutschland für europäische Vertragsregelungen geneigt zu machen. Dies sollte zunächst auf dem Gebiet der Rüstung geschehen. Unter Revision von Teil V des Versailler Vertrags wurde die deutsche Wiederaufrüstung in der Hoffnung legalisiert, als Gegenleistung ein allgemeines Abkommen über Rüstungsbegrenzungen zu erhalten. Im Gegensatz zur französischen Haltung plädierte London während der gesamten Zwischenkriegszeit für eine Reintegrierung Deutschlands in den Kreis der europäischen Großmächte. Locarno bezeichnet den ersten Höhepunkt auf diesem Weg, dessen Richtung nach britischer Auffassung 1938 während der Konferenz von München immer noch dieselbe war. Dabei bildeten weniger Deutschfreundlichkeit oder ein positives Deutschlandbild die Antriebsfeder, sondern die Formulierung eigener Interessen und Ziele, die nach einer Stabilisierung Deutschlands als Ordnungsfaktor in Mitteleuropa verlangten.
Aufstieg und Herrschaft des Nationalsozialismus in Deutschland änderten grundsätzlich an dieser Haltung nichts. Auf diplomatischer Ebene schien auf deutscher Seite zunächst vollkommene Kontinuität durch die Beibehaltung der alten Mitglieder des Auswärtigen Dienstes gewährleistet. Außenminister von Neurath blieb im Amt. Solange Hitlers Forderungen als Verlangen nach Revision des Versailler „Diktatfriedens" verstanden werden konnten, stellte das nationalsozialistische Regime kein Hindernis für gute britisch-deutsche Beziehungen dar, denen über das Jahr 1933 hinweg entscheidende Bedeutung für die Sicherung des europäischen Friedens beigemessen wurde. Dies schloß jedoch eine Verurteilung der innenpolitischen Vorgänge in Deutschland nicht aus. Das britische Deutschlandbild wandelte sich zum Negativen und steigerte sich im Lager der politischen Linken zum antifaschistischen Affekt, hatte aber keine direkten Konsequenzen für die Außenpolitik der Regierung Im März 1933 unter-strich Baldwin die Bereitschaft der britischen Regierung, „auch mit einem neugeordneten Deutschland vertrauensvoll weiterzuarbeiten"
Ergebnislose Verhandlungen der Abrüstungskonferenz und der Austritt Deutschlands aus dem Völkerbund ließen es aus britischer Sicht um so dringlicher erscheinen, zu vertraglichen Regelungen mit Deutschland zu kommen. Eden, damals Lordsiegelbewahrer und vornehmlich mit außenpolitischen Fragen befaßt, hielt nach seiner ersten Begegnung mit Hitler im Februar 1934 eine Gesprächsbasis durchaus für gegeben: „The new Germany of Hitler and Goebbels is to be preferred to the old of Bülow.“ Eden anerkannte „das Verlangen des deutschen Volkes nach Gleichberechtigung" und entwickelte Perspektiven, die deutsche Aufrüstung zu akzeptieren und gleichzeitig einen Rüstungswettlauf zu verhindern Man sah sich auf britischer Seite vor die Aufgabe gestellt, die Dynamik der nationalsozialistischen Außenpolitik durch Verträge zu zähmen, die die von Deutschland seit jeher angefochtene Ordnung des Versailler Vertrags ersetzen sollten. Deutschland als „fons et origo of all our European troubles and anxieties", wie der damalige Schatzkanzler Neville Chamberlain im Herbst 1934 formulierte galt es von möglichen kriegeri-sehen Plänen abzubringen und von der Attraktivität friedlicher Konfliktlösungen zu überzeugen.
Um das erstrebte Rüstungsabkommen vorzubereiten, mußte London, das gegenüber Paris zusehends eine dominierende Rolle zu spielen begann, die Aufgabe zu lösen versuchen, zwischen dem deutschen und dem französischen Standpunkt zu vermitteln. Einen Höhepunkt in diesen Bemühungen bildete eine britisch-französische Konferenz, die vom 1. bis 3. Februar 1935 in London stattfand und deren Abschlußkommunique einer Aufhebung der militärischen Bestimmungen des Versailler Vertrags gleichkam. Die britische Seite legte ein Programm vor, das die „Verbesserung der europäischen Situation" und eine „gewisse Aussöhnung mit Deutschland" vorsah. Man habe zu wählen zwischen einem Deutschland, „das ohne Einschränkung und ohne Abkommen seine Aufrüstung fortsetzt, und einem Deutschland, das aufgrund einer Anerkennung seiner Rechte und gewisser Änderungen der Friedensverträge in die Gemeinschaft der Nationen eintritt und in dieser oder jener Weise seinen Beitrag zur europäischen Stabilität leistet. Es kann wohl kaum zweifelhaft sein, welcher von beiden Wegen der klügere istl"
Nach der Konferenz konnte Außenminister Simon zufrieden feststellen, man habe „eine ganze Menge von den französischen Freunden erreicht und den Weg für eine neue Annäherung an Deutschland geebnet" Die französische Regierung stimmte zu, ein „general Settlement” in Verhandlungen zwischen Deutschland und den anderen Mächten anzustreben. Im einzelnen wurde ein Rüstungsabkommen, die Rückkehr Deutschlands in den Völkerbund, regionale Sicherheitspakte in Osteuropa und im Donauraum sowie ein Luft-pakt mit gegenseitiger Beistandsverpflichtung zwischen Großbritannien, Frankreich, Deutschland, Italien und Belgien vorgeschlagen
Hitlers einseitige Aufkündigung des Versailler Vertrags zwei Wochen später, als die allgemeine Wehrpflicht in Deutschland eingeführt wurde, hinderte Simon und Eden nicht daran, am 25. /26. März 1935 mit Hitler in Berlin die Fragen des Londoner Kommuniques zu besprechen Methode und Zeitpunkt der deutschen Aktion fanden britischen Widerspruch, nicht aber die Sache selbst. Simon hielt an seinem Kurs fest, Deutschland in den Kreis der europäischen Großmächte zurückzuholen, weil nur dadurch eine „konstruktive Lösung" für Europa zu erzielen sei und nicht durch etwaige Sanktionen des Völkerbunds gegen Deutschland Um der „konstruktiven Lösung“ willen war der britische Außenminister bereit, auch in Zukunft Konzessionen zu machen. Obwohl er nicht damit rechnete, daß die deutsche Wunschliste bereits abgeschlossen war, wollte er in Berlin verhandeln — „wie klein auch die Aussicht auf ein positives Ergebnis sein mag"
Simon gab dem Versailler Vertrag und der lange unnachgiebigen Haltung Frankreichs gegenüber Deutschland die Hauptschuld an der bestehenden Situation. Als er kurze Zeit später zur Konferenz von Stresa reiste, war er fest entschlossen, dem britischen Standpunkt zum Durchbruch zu verhelfen Stresa durfte keine Abkehr vom „englisch-französischen Programm zur Befriedung Europas" bringen Die Resolution von Stresa verurteilte zwar jede einseitige Aufkündigung von Verträgen, blieb aber ebenso wie die folgende Verurteilung Deutschlands durch den Völkerbund eine reine Deklamation. Die Entschließung der Stresa-Mächte sollte zukünftige Verhandlungen mit Deutschland über ein „general settlement" nicht blockieren, an dessen rasche Verwirklichung Simon nach den Gesprächen in Berlin zwar nicht glaubte, dessen Bedeutung für einen dauerhaften Frieden er jedoch hervorhob Großbritannien befand sich damit im Gegensatz zur französischen Grundhaltung. Paris hielt auch nach der Londoner Konferenz im Prinzip an seiner Sicherheitspolitik fest, deren starres Status-quo-Denken die britische Regierung durch eine beweglichere Politik des „peaceful change" überwinden wollte. Andererseits gebot die internationale Lage, auf Frankreich immer wieder Rücksicht zu nehmen, um das Glacis westlich des Rheins nicht einzubüßen. Aus diesem Grund intervenierte London auch nicht gegen den französisch-sowjetischen Beistandspakt vom Mai 1935 obwohl es den „entsetzlichen Vertrag" wie alle französischen Bündnisverbindungen mit den östlichen Nachbarn Deutschlands als entspannungsfeindlich ansah. Die französische Politik förderte in britischer Sicht die im Interesse der Friedenssicherung zu überwindende Tendenz, „to divide Europe into separate and hostile camps" Welche Lösungsvorschläge auch immer für Westeuropa unterbreitet wurden, meinte Lord Halifax, „we should still have to turn the ugly comer of France's relations with Soviet Russia and other East European countries"
Im gesamten britischen Regierungsapparat herrschte 1935 Einigkeit über die Notwendigkeit einer umfassenden vertraglichen Regelung mit Deutschland, wenn man die Realisierungschancen auch unterschiedlich beurteilte. Die Auffassung von Kabinettssekretär Hankey, Hitlers Politik sei nicht antibritisch ausgerichtet, sondern vielmehr an der Aufrechterhaltung des Friedens interessiert, vermochte Vansittart nicht zu teilen. Für ihn war Deutschland genuin kriegerisch. Das änderte aber nichts an der gemeinsamen Bereitschaft, Verhandlungen mit Deutschland aufzunehmen. Deren spektakulärstes Ergebnis war das deutsch-englische Flottenabkommen vom 18. Juni 1935, in dem Großbritannien im Alleingang, ohne Konsultation der französischen Regierung, seine Vorstellungen einer Pazifizierung Europas durch Rüstungsabkommen zum Ausdruck brachte Wichtiger als die „sogenannte französisch-sowjetische Al-lianz" war der Ausgleich mit Deutschland und Italien. Das Flottenabkommen galt als ein Beitrag dazu. Eden verteidigte es gegen französische Vorhaltungen mit dem ausdrücklichen Flinweis auf den ebenfalls zweiseitigen französisch-sowjetischen Vertrag, den die britische Regierung auch nicht kritisiere Das Flottenabkommen, das nur als ein erster Schritt gedacht war, blieb freilich Stückwerk. Es gelang nicht, es zu einem allgemeinen Rüstungsabkommen weiterzuentwickeln. Insbesondere blieb das in britischen Augen weit wichtigere Abkommen über die Luftwaffe aus, das Hitler vertraglich fixierte Bindungen auferlegt hätte
Der zweite Ansatz in den britischen Bemühungen, zu einer „friedlichen Koexistenz" der europäischen Großmächte zu kommen, berührte die territorialen Bestimmungen des Versailler Vertrags einschließlich der Kolonialfrage. Nachdem sich die Unrealisierbarkeit des im Londoner Kommunique vom Februar 1935 formulierten umfassenden und gesamteuropäischen Programms und besonders eines osteuropäischen Regionalabkommens herausgestellt hatte, konzentrierte sich die britische Regierung vornehmlich auf einen Ausgleich in Westeuropa und die Frage territorialer Zugeständnisse an Deutschland im Rahmen eines „general settlement". Seit November 1935 fand im Foreign Office eine intensive Diskussion statt, die mögliche britische Verhandlungsinitiativen in der Deutschlandpolitik erarbeitete Ausgangspunkt dieser Überlegungen, die Vansittart im Februar 193b in einem umfangreichen Memorandum für das Kabinett zusammenfaßte* war die Überzeugung, Deutschland werde in nicht ferner Zukunft einen Expansionskurs einschlagen, der nur eine Frage der Zeit und des Ortes sei. Um Einfluß auf die Entwicklung zu behalten, solle die Regierung mit einem Verhandlungsangebot an Deutschland herantreten und ihm die Wiederherstellung als Kolonialmacht anbieten. Im Gegenzug sollte Deutschland in den Völkerbund zurückkehren, Rüstungsbegrenzungen zustimmen und ausdrücklich auf territoriale Ansprüche in Europa, einschließlich Österreichs und der Tschechoslowakei, verzichten. Nach Abschluß eines solchen Settlement wäre Vansittart auch zur offenen Anerkennung Mitteleuropas als „special area" für die wirtschaftliche Expansion Deutschlands bereit gewesen.
Die Aussicht auf Verwirklichung eines solchen umfassenden Abkommens betrachtete er freilich mit großer Skepsis. Er fürchtete, Deutschland wolle sowohl in Europa wie in Afrika expandieren. Doch nahm er das „kleinere von zwei Übeln”, die Expansion in Afrika, in Kauf, um den Versuch einer Entspannung in Europa — begleitet von energischen Aufrüstungsmaßnahmen Großbritanniens — zu wagen und um zumindest einen Zeitgewinn für sein Land zu erzielen.
Die ohnehin erwartete Remilitarisierung des Rheinlands änderte nichts an der Verhandlungsbereitschaft des ranghöchsten Foreign Office-Beamten. Zusammen mit Eden war er der Meinung, Großbritannien stehe unter Zeitdruck und müsse Verhandlungen initiieren, ehe der beste Zeitpunkt dafür verpaßt sei Es dauerte jedoch mehr als ein Jahr, bevor die britische Regierung — inzwischen durch die Thronkrise und den Regierungswechsel von Baldwin zu Chamberlain in Anspruch genommen — es unternahm, den deutschen Krisenherd in Mitteleuropa durch ein Kolonial-angebot zu entschärfen Zu diesem Zeitpunkt freilich glaubte Vansittart nicht mehr an die Tragfähigkeit seiner Vorschläge zumal die Regierung Chamberlain wesentlich weitergehen wollte und Hitler auch Zugeständnisse in Mitteleuropa zu machen bereit war. Daß Mitteleuropa faktisch außerhalb des britischen Einflußbereichs lag, konnte auch Vansittart nicht bestreiten. Doch wollte er keine Positionen aufgeben Der Premierminister andererseits wollte Realitäten anerkennen und erhoffte sich davon den Anfang einer Entspannung.
Der erste größere Versuch nach Chamberlains Amtsantritt, von Hitler die Bedingungen für ein „general settlement" zu erfahren, wurde im November 1937 unternommen, als Lord Halifax Hitler in Berchtesgaden aufsuchte. Halifax unterbreitete seinem Gastgeber einen umfangreichen Katalog, der Grenzrevisionen in Mitteleuropa und Zugeständnisse auf kolonialem Gebiet vorsah, zugleich aber Hitler keine freie Hand gab. Halifax äußerte die Erwartung, Deutschland werde im Gegenzug einem allgemeinen und umfassenden Abkommen zustimmen In diesem entscheidenden Punkt machte Halifax die Beobachtung, daß beide Seiten völlig unterschiedliche Zielvorstellungen hatten Das britische Angebot verstand sich als Teil eines „general settlement", dessen Ordnungsfunktion für das internationale System auch Hitler anerkennen sollte. Durch Annahme der kolonialen Offerte sollte sich Hitler zur Respektierung der europäischen Grenzen verpflichten, die nach dem „Anschluß" Österreichs und der Lösung der deutschen Minderheitenprobleme in einem allgemeinen Abkommen festzulegen wären. Großbritannien verhielt sich damit, gemessen an Hitlers „Programm", unprogrammgemäß Denn Hitler strebte Bewegungsfreiheit auf dem Kontinent an und wollte die Kolonialfrage zunächst zurückstellen Hitler aber um den Preis des kolonialen Verzichts freie Hand in Europa zu geben, wollte Halifax weder verantworten noch erschien es ihm po-litisch vernünftig Statt dessen versuchte er, die Kolonialfrage zum Gegenstand einer Absprache zu machen, die Hitler zum Stillhalten in Europa verpflichtet hätte Die „aktive Diplomatie" zu der sich Neville Chamberlain im Winter 1937/38 entschloß, hatte keinen Adressaten. Das „general settlement" unter Einschluß eines Rüstungsabkommens das die Planer im Foreign Office beschäftigte und die Beratungen in Kabinettsausschüssen bestimmte mußte endgültig als gescheitert angesehen werden, als Botschafter Henderson am 3. März 1938 mit Hitler eine ergebnislose Unterredung hatte
III. Koexistenz und Containment 1939
Die anstehenden Veränderungen in Mitteleuropa vollzogen sich nicht im Rahmen von Konsultationen der Großmächte, sondern waren das Resultat der deutschen Vormachtstellung in diesem Gebiet, die Großbritannien im Münchener Abkommen sanktionierte, um zugleich von neuem die Chancen von Verhandlungen über den eigentlichen Kern des projektierten Settlement, ein Rüstungsabkommen, auszuloten Gleichzeitig aber wuchs in britischen Regierungskreisen die Unsicherheit über Hitlers tatsächliche Ziele. Neben die Politik der Friedenssicherung trat verstärkt das Kriegskalkül, neben die Vermittlungsaktion die Abschreckungsmaßnahme, neben die Suche nach Koexistenz die Bereitschaft zum Containment des möglichen Aggressors. Entgegen einer häufig anzutreffenden Meinung können wir aber nicht von einer Wende der britischen Politik als Folge der deutschen Besetzung Prags im März 1939 und des italienischen Griffs nach Albanien im April 1939 sprechen, wenn darunter eine qualitative Veränderung dieser Politik verstanden werden soll. Verbindlich blieb das nationale Interesse am Frieden, wenn auch die „dual policy" gegenüber Deutschland 1939 über weniger Spielraum verfügte, weil die deutsche Politik — da sie sich nicht in ein allgemeines Abkommen einpassen ließ und ihr darum auch ein direkter Angriff auf britische Positionen zugetraut wurde — die Entwicklung in die gefährliche Nähe der Kriegs-schwelle brachte Die gelegentliche Skepsis britischer Politiker über die Erfolgsaussichten ihrer Friedensanstrengungen steigerte sich, als sich nach dem Münchener Abkommen keine Ansatzpunkte für eine weitergehende Entspannung zeigten Die deutsche Seite hielt an ihrer Drohpolitik fest Im November und Dezember 1938 stellten sich dem britischen Beobachter entscheidende Fragen: Wie würde sich das Kräfteverhältnis von Gemäßigten und Extremisten in Hitlers Umgebung gestalten In welche Richtung würde eine weitere deutsche Expansion gehen: nach Osten oder nach Westen
Die bisherige Grundannahme, die deutschen Ziele lägen ausschließlich im Osten, gerieten endgültig ins Wanken, als im Januar 1939 zahlreiche Gerüchte auftauchten, Hitler plane einen Angriff im Westen Am 19. Januar 1939 leitete Lord Halifax dem außenpolitischen Ausschuß des Kabinetts ein umfangreiches Dossier zu, nach dessen Lektüre die Möglichkeit eines deutschen Angriffs auf Belgien, die Niederlande, die Schweiz oder gar Großbritannien selbst nicht augeschlossen werden konnte Die Entlassung Schachts als Reichsbankpräsident schien darauf hinzudeuten, daß die einen Krieg befürwortenden Extremisten in Deutschland an Boden gewannen Die Regierung war sich klar darüber, daß eine deutsche Westexpansion — bei-spielsweise ein Angriff auf die Niederlande — den sofortigen britischen Kriegseintritt zur Folge haben müßte Entscheidend ist nicht, ob Hitler — was nicht der Fall war — tatsächlich zu diesem Zeitpunkt Angriffspläne in Westeuropa hatte, sondern daß seine Politik der britischen Regierung unkalkulierbarer denn je erschien. Hitler schien in den Augen britischer Beobachter einem zutiefst undurchschaubaren und irrationalen Prinzip zu folgen, während in London die Aufgabe der Friedenssicherung aus wohlverstandenem nationalem Interesse als einzig vernünftiges Ziel vor Augen stand.
In dieser Atmosphäre der Unsicherheit genügten Gerüchte und Befürchtungen, um die britische Regierung zu verstärkten Akzentsetzungen ihrer Containment-Versuche zu veranlassen und der deutschen Seite das komplementäre Element zur Koexistenzpolitik deutlich zu signalisieren. Zwei Falschmeldungen lösten verstärkte Aktivität der britischen Diplomatie aus und führten schließlich am 31. März 1939 zur Garantieerklärung für Polen, die exemplarisch den Aktionsradius der im Rahmen der britischen Voraussetzungen möglichen, im gegebenen internationalen Kontext der Vorkriegszeit aber unzureichenden Bemühungen um die Sicherung des Friedens verdeutlicht. Die erste Fehlinformation kam am 17. März 1939 vom rumänischen Gesandten in London, Tilea. Rumänien sehe sich mit ultimativen deutschen Forderungen konfrontiert Sofort ließ London in Moskau, Warschau, Ankara, Athen und Belgrad anfragen, wie sich die dortigen Regierungen bei einem deutschen Angriff auf Rumänien verhalten würden Auch nach einem rumänischen Dementi das eine unmittelbare Bedrohung Rumäniens ausschloß, bemühte sich die britische Regierung weiterhin um Klarstellung, wer zusammen mit Großbritannien gewillt war, sich einem weiteren deutschen Vordringen entgegenzustellen.
Im britischen Kabinett gingen die Meinungen auseinander, welcher osteuropäischen Macht besondere Bedeutung bei der VerteidigungsPlanung für Rumänien zukomme. Während im Urteil Premierminister Chamberlains Polen einnahm, die Schlüsselstellung sahen andere Kabinettsmitglieder Gespräche mit der Sowjetunion als vorrangig an Zumindest vorübergehend gelangten diese Meinungs-Verschiedenheiten zum Ausgleich, als Chamberlain selbst den Plan einer Viermächteerklärung entwickelte, die Großbritannien, Frankreich, Polen und die Sowjetunion unterzeichnen sollten und die Konsultationen dieser Mächte vorsah, wie einer möglichen Bedrohung der Unabhängigkeit eines europäischen Staates begegnet werden könnte Nur Frankreich stimmte vorbehaltlos der geplanten Erklärung zu Die UdSSR wollte unter der Bedingung unterzeichnen, daß auch Polen und Frankreich ihr Einverständnis erklärten Schwierigkeiten ergaben sich aus Einwänden Polens gegen eine gemeinsame Erklärung mit der Sowjetunion. Polen müsse bei seiner Mittelstellung zwischen Deutschland und der UdSSR eine Gleichgewichtspolitik gegenüber beiden Staaten verfolgen und daher jedes öffentliche Paktieren mit Moskau ablehnen
Damit war der britische Plan gescheitert. Polen und die Sowjetunion ließen sich nicht zu einer gemeinsamen Front vereinigen. Gleichzeitig jedoch erkannte die britische Regierung klar, daß jede Maßnahme der Westmächte zugunsten Rumäniens — und davon geht die ganze Uberlegungsreihe ja aus — politisch und vor allem militärisch wertlos wäre, wenn keine Unterstützung wenigstens von einer der stärksten Mächte an der Ost-flanke Deutschlands erlangt werden konnte.
Außenminister Lord Halifax wollte zwar möglichst vermeiden, der sowjetischen Regierung nach dem Ausschluß der UdSSR von der europäischen Politik während der Sudetenkrise von neuem das Gefühl des Isoliertseins zu geben. Er konnte jedoch nicht an dem Einwand Chamberlains vorbeigehen, der die polnischen Bedenken gegen Maßnahmen anerkann\ te, bei denen eine sowjetische Beteiligung vorgesehen war. Man gab schließlich Polen, dessen Bündniswert zudem insgesamt höher eingeschätzt wurde den Vorrang bei der Schaffung eines Sicherheitssystems in Osteuropa
Dies fand seine Bestätigung am 27. März durch eine auch von der französischen Regierung gebilligten Entscheidung des außenpolitischen Kabinettsausschusses in London. Die polnische Unterstützung bei der Sicherung der rumänischen Unabhängigkeit sollte mit einer Defensivallianz zwischen Großbritannien, Frankreich, Polen und Rumänien sichergestellt werden. Unter der Voraussetzung, daß Polen oder Rumänien einer Bedrohung ihrer Unabhängigkeit Widerstand leisten und die Westmächte über alle Phasen einer solchen Entwicklung vollständig informieren würden, erklärten sich Großbritannien und Frankreich zu einer Garantie Polens und Rumäniens bereit. In Verhandlungen mit Warschau wollte man erreichen, daß Polen sich sowohl zum Beistand für Rumänien als auch für die Westmächte im Falle eines westeuropäischen Krieges verpflichtete
Doch bevor noch die Gespräche darüber beginnen konnten, überstürzte sich die Entwicklung abermals durch eine Falschmeldung. Der Berliner Korrespondent des „News Chronicle", Ian Colvin, überbrachte im Foreign Office am 29. März die Mitteilung, ein deutscher Schlag gegen Polen stehe unmittelbar bevor. Damit war das eben noch als Garantiemacht für Rumänien vorgesehene Polen selbst zum Bedrohten geworden. Hitler schien — was tatsächlich nicht zutraf, wie wir heute wissen — einen abermaligen Handstreich durchführen zu wollen. Um ihn davon abzuschrecken, entschlossen sich Chamberlain und Halifax, obwohl sie nicht vollständig von der Richtigkeit der vorliegenden Meldungen überzeugt waren und der Premierminister sie sogar bezweifelte, zu einer als Zwischenlösung verstandenen kurzfristigen Garantie für Polen, die am nächsten Tag vom Kabinett gebilligt wurde Auch Paris stimmte trotz fehlender Bestätigung der Gerüchte über unmittelbar bevorstehende Pressionen gegen Polen der Garantieerklärung zu die Chamberlain am 31. März im Unterhaus verkündete
Bedeutsam erscheint Chamberlains Hinweis zu Beginn seiner Erklärung, Gerüchte über einen deutschen Angriff auf Polen seien ohne Bestätigung geblieben. Ferner unterstrich er die Generallinie seiner Politik, die für die Lösung von Konflikten auf dem Verhandlungsweg eintrete. Er schloß also auch zukünftige Verhandlungen nicht aus. Erst danach formulierte er das britisch-französische Hilfeleistungsversprechen für Polen, das in Kraft treten sollte, wenn die polnische Unabhängigkeit zweifelsfrei bedroht wäre, das aber zugleich Grenzkorrekturen und eine Lösung der Danzig-Frage im deutschen Sinn keineswegs ausschloß
Die Politik der Garantien, die im April auf Rumänien und Griechenland ausgedehnt wurden stellte den Versuch dar, Deutschland die Grenzen der Friedensbereitschaft deutlich vor Augen zu führen. Der eigentliche Anstoß zu den im Fall Polens improvisiert und überstürzt, in den anderen Fällen aber kalkuliert ausgesprochenen Garantien lag in der Befürchtung, Deutschland könnte nach der Unterwerfung Mittel-und Südosteuropas die westeuropäischen Mächte angreifen. Darum galt die Garantie in einem realen Sinn auch gar nicht Polen und Rumänien, die von Großbritannien und Frankeich — so wurde deutlich gesehen — im Ernstfall doch nicht vor einer deutschen Invasion geschützt werden konnten Die einzig relevante Frage lautete, wie der deutsche Versuch — falls es sich um einen solchen handelte —, Europa zu beherrschen, gestoppt, wie das die britische Sicherheit gefährdende Verlangen Hitlers nach Weltherrschaft eingedämmt nicht, ob Polen oder Rumänien sofortige direkte Hilfe geleistet werden konnte. Die Garantie erfolgte also nicht im Sinne einer Politik der kollektiven Sicherheit, sondern „einzig und allein aus Selbstschutz" Daraus aber war die Folgerung zu ziehen, daß das britische Engagement im östlichen Europa in dem Maß zurückgehen würde, wie die westliche Sicherheit wiederhergestellt wäre.
Unverändert bestimmte „dual policy" 1939 die die Konzeption Entscheidungen der der britischen Regierung. Deutschland erhielt weder freie Hand im Osten, noch sollte es „eingekreist" werden Alle Vorgänge, die — wie die Einführung der allgemeinen Wehrpflicht im April 1939, verstärkte Rüstungsanstrengungen oder Verhandlungen mit der Sowjetunion — antideutsche Züge trugen, sollten Deutschland unter Druck setzen und doch noch zu dem angestrebten Settlement bereit machen, niemals aber isoliert und als Selbstzweck an die Stelle der Ausgleichsbestrebungen treten. Die Garantie für Polen schuf keine irreversiblen Tatsachen. Deutschland konnte sich noch immer als „guter Nachbar" erweisen Während der britisch-französisch-sowjetischen Verhandlungen gab Chamberlain zu verstehen, dies alles sei als „Notbehelf" zu verstehen, „dessen Vereinbarkeit mit dem deutsch-englischen Ausgleich er dauernd im Auge zu behalten suchte" Solange wie möglich wehrte sich Neville Chamberlain gegen den sowjetischen Wunsch, einen britisch-französisch-sowjetischen Beistandspakt abzuschließen, der in seinen Augen eventuelle friedensfördernde Kommunikationsmöglichkeiten mit Deutschland gänzlich unterbunden hätte
Der „dual policy" gelang es weder Hitler abzuschrecken noch Stalin zu gewinnen. Schließlich erklärte Großbritannien zusammen mit einem zögernden Frankreich Deutschland den Krieg weil Hitler sich nicht mit der ihm zugestandenen halb-hegemonialen Stellung begnügen wollte. Die Kriegserklärung widersprach fundamental dem Interesse der saturierten und in die Krise geratenen britischen Weltmacht am Frieden und resultierte aus dem anderen Interesse, den eigenen Besitzstand zu verteidigen. In diesem zweistufigen Interesse der britischen Nation lag die „dual policy" begründet, die vergeblich versuchte, den internationalen Status Großbritanniens und seine politisch-soziale Verfassung ohne Abstriche zu erhalten.