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Strategiekritik als Sisyphusarbeit. Zur Kunst des überlebens im Abschreckungszeitalter | APuZ 13/1977 | bpb.de

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APuZ 13/1977 Strategiekritik als Sisyphusarbeit. Zur Kunst des überlebens im Abschreckungszeitalter Die Cruise Missile und ihre Folgen Britische Deutschlandpolitik vor dem Zweiten Weltkrieg. Friedensbedürfnis und gescheiterte Friedenssicherung

Strategiekritik als Sisyphusarbeit. Zur Kunst des überlebens im Abschreckungszeitalter

Christian Potyka

/ 45 Minuten zu lesen

Zusammenfassung

Strategiekritik ist keine sonderlich populäre, aber eine überlebenswichtige „Disziplin“. Gerade in Zeiten kaum mehr durchschaubarer Bedrohungs-und Verteidigungsdebatten liegt ihre erste Aufgabe darin, die Übertreibungen der verschiedenen Extrempositionen zu analysieren und zu relativieren. Zweitens hat Strategiekritik die geltenden strategischen Doktrinen, nach denen — falls die Abschreckung versagt — ein bewaffneter Konflikt ablaufen dürfte, auf deren Widersprüche hin abzuklopfen und in dem Sinne zu „verunsichern“, daß sie den Verantwortlichen nicht als politisch mit Gewinn verwendbare Mechanismen erscheinen. Solch hohen Ansprüchen kann Strategiekritik aber nur genügen, wenn sie — und das ist ihre dritte Aufgabe — zu permanenter Selbstkritik bereit und fähig ist. Selbstkritik ist einmal gegenüber den zentralen Begriffen der eigenen Theorien nötig; sie macht Kontinuität, aber auch Grenzen bisheriger strategiekritischer Überlegungen deutlich. Zum anderen ist Selbstkontrolle gerade dann vonnöten, wenn die Kritik von Strategien in die Entwicklung von sogenannten Alternativdoktrinen mit neuen Übertreibungen und Überforderungen umschlägt. Damit wird nicht gesagt, daß es a priori unmöglich sei, widerspruchsfreie funktionierende Alternativstrategien zu entwickeln; doch wird gefordert (und gegenüber der Modellstrategie des Weizsäcker-Mitarbeiters Horst Afheldt in Ansätzen praktiziert), daß auch Alternativstrategien zu Ende gedacht und unter Anlegung strengster Maßstäbe überprüft werden müssen. So bleibt schließlich die Forderung nach immer neuen Alternativstrategien und deren Durchleuchtung bzw. Widerlegung ohne Garantie (aber auch ohne die Unmöglichkeit!), daß eines Tages vielleicht doch eine „echte" Alternativ-strategie gefunden wird. Strategiekritik wird zur Sisyphusarbeit; sie ist in der Regel ohne spektakuläre Erfolge — aber deshalb noch keineswegs sinnlos.

Wer sich in der aktuellen Situation hitziger Dauerdebatten über die „Bedrohung" der westlichen Welt sowie über die Mängel ihrer Strategien und Militärpotentiale an einem Kreuzungspunkt relevanter Informationsströme befindet, kann vielerorts eine weitreichende Verunsicherung registrieren. Ihr zu entgehen fällt wohl deshalb so schwer, weil all jene düsteren Lagebeurteilungen (die ihren Ursprung in westlichen Geheimdienstmeldungen über den angeblich wachsenden Stand der sowjetischen Rüstung haben) mit den Mitteln der Kritik zwar relativiert, aber nicht mit endgültiger Sicherheit als Zweckpropaganda abgetan werden können. Natürlich gab es dieses Wissens-und Informationsproblem zu allen Zeiten, da sich feindliche Militärblöcke gegenüberstanden und gegenseitig „abzuschrecken" suchten. Noch nie aber stellte es sich in dieser Schärfe mit so weitreichenden Konsequenzen für alle Bereiche unseres Lebens.

Eine Durchdringung des komplexen Materials zur Gewinnung eigener Gewißheit ist kaum mehr möglich: All die Experten zweiter, dritter und n-ter Kategorie sind immer weniger in der Lage, die entscheidenden Informationen auf Stimmigkeit oder Realitätsgehalt zu überprüfen. Diese mit der Entfernung von der eigentlichen Informationsquelle zunehmende Unfähigkeit zur Kontrolle läßt sich durch ein Beispiel aus der jüngsten Bedrohungsdebatte in den Vereinigten Staaten illustrieren: die öffentliche Diskussion, die sich zu Beginn des Jahres an einem Interview des Luftwaffengenerals a. D. George Keegan mit der New York Times vom 4. Januar entzündete. In diesem Interview hatte Keegan behauptet, die Sowjetunion habe bereits „militärische Überlegenheit" über die Vereinigten Staaten gewonnen. Keegans Lagebeurteilung stieß auf den Widerspruch der Chiefs of Staff, der höchsten militärischen Kommandoebene im Pentagon. Die Generale waren von Senator William Proxmire um einen Bericht gebeten worden, der dann relativ differenziert ausfiel. Diesen Report schickte der Vorsitzende der Vereinigten Stabschefs, General George S. Brown, am 28. Januar mit einem Begleitbrief an Proxmire. Der Bericht umfaßt 25 Punkte, die sich mit einzelnen Behauptungen Keegans detailliert auseinandersetzen. Die Generale kommen, wie es im ersten Punkt des Brown-Briefes heißt, zu dem Ergebnis, viele der von Keegan angeführten Urteile seien im wesentlichen korrekt (der Kritisierte war in seiner aktiven Zeit Nachrichtenoffizier); einige der Aussagen würden jedoch nicht dem Bild entsprechen, das sich die Stabschefs selbst von der Lage machten. Vor allem wurde die uneingeschränkte These von der militärischen Überlegenheit der Sowjetunion abgelehnt.

Gehen wir einmal davon aus, daß es grundsätzlich möglich sei, mit geheimdienstlichen Mitteln gegnerische Potentiale korrekt zu erfassen. Unterstellen wir weiter, daß dies den amerikanischen Diensten gegenüber der Sowjetunion zur Zeit gelungen ist. Dann wären also die Stabschefs im Besitz des tatsächlichen Bildes der Lage, sie wären Experten erster Kategorie. Auch Proxmire, im Besitz und Verständnis des vollen Berichtes, könnte noch als Experte dieses Grades gelten. Da aber Teile des Berichtes aus Sicherheitsgründen nicht freigegeben wurden, erhielt der Senator einen „gereinigten" Report samt einem geheimen Anhang, in dem sich dann die ausschlaggebenden Fakten finden. Anfang Februar veröffentlichte Proxmires Büro diese gereinigte Fassung Wer sie aufmerksam liest und zudem über Vorkenntnisse, Kombinationsgabe und einschlägige Kontakte verfügt, kann aus ihr zwar mehr herauslesen, als eigentlich in ihr steckt; aber das Wissen und die Gewißheit jener Experten der ersten Kategorie erreicht er hie. Bezeichnen wir ihn demnach als Experten zweiter Kategorie.

Nun gibt es von dieser gereinigten Fassung des Berichts noch einmal mindestens eine geglättete und zusammenfassende englische Version und davon wiederum „Reproduktionen" deutscher Nachrichtenagenturen, die dann schließlich, in journalistisch redigierter Form, den deutschen Zeitungsleser erreichten Welche Kategorie von Informiertheit soll man noch dem zubilligen, der sich auf derlei Unterlagen stützt? Und was geschieht wohl, wenn solche verkürzten Informationen in der politischen Auseinandersetzung noch einmal interpretiert und vereinfacht werden?

Mit unserer Unterstellung waren wir allerdings von dem Idealfall ausgegangen, daß Geheimdienste wirklich in der Lage sind, gegnerische Potentiale korrekt zu erfassen und gewonnene Informationen objektiv weiterzugeben. Doch brauchen wir die Dinge gar nicht bis zu diesem Grade zu komplizieren. Komplex wird das Problem schon durch die Tatsache, daß die Einschätzung gegnerischer Potentiale erst einen einzigen, wenn auch gewichtigen Aspekt der Strategiediskussion ausmacht. Um das Bild abzurunden, sind vielfältige politische, wirtschaftliche und anthropologische Faktoren einzubeziehen. Sie alle fließen dann in ein Szenario unter mehreren möglichen ein. Es mag „Kriegsbilder" geben, die zwingender sind als andere, keines aber ist so wahrscheinlich, daß man sich auf es allein kaprizieren könnte. Während beispielsweise vor knapp einem Jahrzehnt der sogenannte begrenzte Angriff aus dem Osten auf „Faustpfänder" in der Bundesrepublik eifrig diskutiert wurde, scheint heute etlichen westlichen Strategen der sowjetische Blitz-krieg in Form eines raschen Vorstoßes an den Rhein plausibler zu sein

Als der belgische Panzergeneral Robert Close, einer der zur Zeit konsequentesten Verfechter einer solchen Blitzkriegstheorie, mit seiner Warnung vor einem „wehrlosen Europa" wiederholt an die Öffentlichkeit getreten war, widersprach ihm schließlich der NATO-Oberkommandierende US-General Alexander Haig mit der bemerkenswerten Behauptung, Close sei bei seinen Schlußfolgerungen von falschen Voraussetzungen ausgegangen, da er über seit Jahren veraltete Informationen verfüge Close ist Kommandierender General der 16. Belgischen Panzerdivision in Deutschland, also ein Militärhandwerker erster Ord-nung. Gibt es auch hier wieder ein Expertentum verschiedener Kategorien? Blufft Haig, um Closes Kalkulationen nicht in aller Öffentlichkeit zu bestätigen, oder weiß er es wirklich besser? Wenn aber nicht einmal mehr ein Kommandierender NATO-General wie Close auf dem jeweils neuesten Stand der Dinge sein sollte, wer ist dann überhaupt noch in der Lage, zur Sache Relevantes zu sagen?

Möglicherweise ist die Frage so falsch gestellt. Closes Pioblem dürfte weniger in der Stimmigkeit seiner Informationen als in ihrer Verallgemeinerung und Verabsolutierung liegen. Ebenso fehlt ihm die Gesamtsicht der Dinge. Damit wären wir wieder bei der Vielzahl der Faktoren, die es jeweils zu berücksichtigen gilt und die ein politischer Kopf wie Haig oder auch der ehemalige NATO-Oberkommandierende Europa-Mitte, General a. D. Ernst Ferber, eher sieht, als dies der Troupier Close vermag (der freilich, wie sein Buch belegt, mehr ist als ein simpler Haudegen). Es scheint jedoch, als lebten wir in einer Zeit, da man in der Öffentlichkeit, zumindest für den militärischen Bereich, „klare" Antworten und „eindeutige" Schlußfolgerungen „komplizierten" Analysen vorzieht. Wer die Dinge nur einfach genug erklärt, findet bei der gegenwärtigen Stimmungslage Zustimmung und Gefolgschaft. Hinzu kommt, daß die zunehmende Kürzel-sprache der Medien komplizierten Darstellungen immer weniger Raum läßt und damit die Konsumenten regelrecht — und hier entsteht ein Teufelskreis — zur Aufnahme abgehackter Informationen erzieht. Eine Rolle mag auch spielen, daß der einzelne bei der Vielzahl beruflicher und persönlicher Probleme immer weniger Zeit findet, sich mit verzwickten Fragen auseinanderzusetzen — und seien sie noch so überlebenswichtig. Schließlich wird die Situation dadurch erschwert, daß die Fragen von Krieg und Frieden sowie die Herausforderungen der Sicherheitspolitik im Zentrum innenpolitischer Auseinandersetzungen stehen, also permanent emotionalisiert werden. Auch scheint es, als würden persönliche Ängste und Hoffnungen in diesen Bereich projiziert. Die nach wie vor widersprüchlichen Meinungsumfragen zu diesem Thema sprechen eine beredte Sprache So entsteht ein Klima der Gereiztheit, wo doch gerade — angesichts der Kompliziertheit der Materie — eine sachliche, unvoreingenommene Diskussion vonnöten wäre. Wer sich in dieser Situation um eine selbständige Meinung und Position bemüht, wer auf übertriebene Schreckens-, aber auch „Hoffnungsgemälde" verzichtet, wer Meldungen von allen Seiten zwar zur Kenntnis nimmt und mit seinen bescheidenen Mitteln zu prüfen sucht, sich aber auch Korrekturen, Lernprozesse und Widersprüche in dieser höchst widersprüchlichen Materie vorbehält, der gerät bald in das Feuer von beiden Seilten. Während ihm die einen dann Verharmloasung der sowjetischen Potentiale vorwerfen, gsprechen die anderen von Dramatisierung.

JBeide tun, als seien sie im Besitz der absolujten Wahrheit. Dabei besteht ihr Problem meist darin, daß sie sich von einem bestimmiten Punkt an mehr oder weniger geweigert haben, neue Informationen überhaupt noch 5 aufzunehmen und zu verarbeiten, weil sie nun seinmal nicht ins vorgefaßte Bild passen. Damit soll nicht gesagt werden, daß die „mittleire" Linie unbedingt immer die richtige sein muß. Auch sei nicht behauptet, daß diese Situation des Gemäßigten zwischen den Fronten /völlig neu ist. Was jedoch auffällt, ist die zunehmende Aggressivität der Argumente von den beiden Extrempositionen her: Während die einen sich offenbar durch nichts auf der /Welt von ihren Vorstellungen von Rationali-Ität, Friedensliebe und Fortschritt allerorten abbringen lassen wollen, scheinen die andeiren regelrecht auf eine Verschlechterung der Lage zu brennen — nur um sich in ihren pesasimistischen Prognosen bestätigt zu sehen Iln einer solchen Situation wird Strategiekritik s zu einer Notwendigkeit gegenüber den Über-1 treibungen beider Seiten. Zweitens bleibt ihr als klassische Aufgabe die konsequente Aus-9 einandersetzung mit jenen militärischen Grundsätzen und Dogmen, nach denen ein IKrieg zwischen NATO und Warschauer Pakt ablaufen könnte; deren Verunsicherung ist Pflicht: Ein Krieg wird unter anderem in den Köpfen der Verantwortlichen in letzter Konasequenz erst dadurch möglich (und eben auch „verantwortet"), daß man an seine Führbar-

j keit, das heißt das Funktionieren der beste-1 henden Militärmaschinerien unter dem . Aspekt eines relativ guten Ausgangs für die eigene Seite glaubt. Die dritte und nicht unwichtigste Aufgabe der Strategiekritik folgt aus der Eigengesetzlichkeit aller Kritik: Sie [liegt in der dauernden Überprüfung der eigeinen Grundlagen und Alternativvorschläge — i in der Selbstkritik.

Nun ist die Entwicklung von militärischen Alternativstrategien für die Bundesrepublik -------. — kein allzu häufiges Ereignis. Am innenpolitisch spektakulärsten war wohl der Ansatz von Bonin in der Gründungsphase der Bundeswehr Den bisher durchdachtesten Lösungsvorschlag präsentierte — ohne allzu großes Echo — der Militärschriftsteiler Otto Heilbrunn Mitte der sechziger Jahre Erwähnenswert bleibt noch die sogenannte abschreckende Verteidigung die freilich eine Skizze blieb. Anregungen wie diejenigen von Uhle-Wettler oder Woller bedeuteten nur eine -Modifizierung der bestehenden Doktrinen während reine Strategien des zivilen Widerstandes ohnehin von anderen Grundlagen ausgehen. So gesehen ist der Alternativvorschlag, der nun aus dem Starnberger Weizsäcker-Institut kommt, ein Novum. Dabei wird freilich George F. Kennans so brisante wie provozierende Idee aus dem Jahre 1957, „eine Art Territorialmiliz nach dem Vorbild der Schweiz" für Westeuropa zu schaffen, von dem Weizsäcker-Mitarbeiter Horst Afheldt leider nicht zur Kenntnis genommen. Die Erfahrungen Kennans mit dem Echo auf seinen Vorstoß hätten für Afheldt sehr lehrreich sein können Das Modell des deutschen Wissenschaftlers knüpft an die Kriegsfolgenstudie von 1971 an. Ihre Autoren mußten sich seinerzeit vorwerfen lassen, sie besäßen selbst keine Alternative zu der von ihnen so heftig kritisierten NATO-Strategie der flexiblen Erwiderung (flexible response). Aber ist es denn unbedingt Sache des Strategiekritikers, eine eigene, „bessere" Lösung vorzulegen? Jedenfalls haben Weizsäcker und sein Mitarbeiter die Herausforderung angenommen. Afheldt präzisierte seine Kritik an der bestehenden Strategie und präsentiert eine Alternative Dabei stützt er sich auf Gedanken des Franzosen Brossollet Im Sinne der selbstkritischen Funktion der Strategiekritik soll das Alternativmodell hier nicht nur vor dem Hintergrund der aktuellen Lage entwickelt und skizziert (Teil II), sondern auch problematisiert werden (Teil III), Abschließend werden noch einmal Möglichkeiten und Grenzen der Strategiekritik zusammengefaßt (Teil IV). Da nun aber der Vorschlag Afheldts von einer flankierenden Arbeit des Philosophen und Atomphysikers Carl Friedrich von Weizsäcker begleitet wird die gleichsam den gesamtpolitischen Kontext für die Alternativstrategie liefert, wird mit einem Blick auf dieses Buch begonnen (Teil I). Im Vordergrund steht dabei, mehr feststellend als wertend, die Frage, ob wir uns vor einem Wiederaufleben althergebrachter Theorien und Begriffe in diesem Bereich befinden, ob die Phänomene „Macht" und „Mensch" wieder stärker in den Vordergrund der Betrachtung rücken und welche Konsequenzen dies für das „Menschenbild“ der (Alternativ-) Strategien hat.

I. Nitzsche und Weizsäcker

Ausgerechnet von Friedrich Nietzsche, dessen Verhältnis zum Krieg mit Recht als mehrdeutig gilt, stammt eine der entschiedensten, moralisch begründeten Forderungen nach einseitiger Abrüstung. In einer 1880 veröffentlichten Schrift meinte dieser Denker, die doppelte Moral aller Verteidigungspolitik durchschaut zu haben. „Keine Regierung gibt jetzt zu“, klagte er, „daß sie das Heer unterhalte, um gelegentliche Eroberungsgelüste zu befriedigen; sondern der Verteidigung soll es dienen." Jene Moral, welche die Notwehr billige, werde als „ihre Fürsprecherin angerufen". Das heiße aber: sich selbst die Moralität und dem Nachbarn die Immoralität Vorbehalten, weil er ja „angriffs-und eroberungslustig gedacht werden muß, wenn unser Staat notwendig an die Mittel der Abwehr denken soll“. Und weiter: „überdies erklärt man ihn, der genau ebenso wie unser Staat die Angriffslust leugnet und auch seinerseits das Heer vorgeblich nur aus Notwehrgründen unterhält, durch unsere Erklärung, weshalb wir ein Heer brauchen, für einen Heuchler und listigen Verbrecher, welcher gar zu gern ein harmloses und ungeschicktes Opfer ohne allen Kampf überfallen möchte." In diesem Sinne würden nun alle Staaten die „schlechte Gesinnung des Nachbarn und die gute Gesinnung bei sich" einfach voraussetzen. Dies aber sei eine Inhumanität, so schlimm und schlimmer als der Krieg, im Grunde sei sie schon die Aufforderung und Ursache zu Kriegen, eben weil sie dem Nachbarn die Immoralität unterschiebe und dadurch die feindselige Gesinnung und Tat zu provozieren scheine. „Der Lehre von dem Heer als einem Mittel der Notwehr muß man ebenso gründlich abschwören als den Eroberungsgelüsten." *

Ersetzt man in diesem Text Nietzsches das Wort „Eroberungsgelüste" durch „Stabilisierung der Herrschaft", „innere Repression" oder ähnliches, dann hätte diese „Entlarvung einer Verteidigungsideologie" ebensogut ein knappes Jahrhundert später von einem Vertreter der „kritischen Friedensforschung" verfaßt werden können. Auch wenn Nietzsche nicht zu den erklärten Ahnherren linker (Abschreckungs-) Kritik zählt, schwebte ihm damals als Ausweg aus dem Dilemma ein Schritt vor, wie er ernsthaft erst wieder im Atomzeitalter ins Gespräch gebracht wurde: eine totale, freiwillige Vorleistung. „Und es kommt vielleicht ein großer Tag", schreibt Nietzsche mit dem ihm eigenen Pathos, „an welchem ein Volk, durch Kriege und Siege, durch die höchste Ausbildung der militärischen Ordnung und Intelligenz ausgezeichnet und gewöhnt, diesen Dingen die schwersten Opfer zu bringen, freiwillig ausruft: , wir zerbrechen das Schwert'— und sein gesamtes Heerwesen bis in seine letzten Fundamente zertrümmert."

Wie weit wir heute von einer solchen Haltung entfernt sind, braucht nicht betont zu werden. Ein einziger aktueller Hinweis mag genügen: Als der amerikanische Präsident Jimmy Carter am 20. Januar 1977 in seiner Inaugurationsrede den bemerkenswerten Satz formulierte, er wolle in der Frage der Abrüstung „dieses Jahr einen Schritt auf unser letztes Ziel hin tun — die Abschaffung aller Atomwaffen auf der Erde" —, und nur wenige Tage später in den Verdacht geriet, er habe eine Studie in Auftrag gegeben, mit der ein drastischer einseitiger Abbau von Interkontinentalraketen geprüft werden solle, dementierte sein Pressesprecher am 27. Januar: Carter habe keinerlei Studie dieser Art bestellt, jede Reduzierung von Raketen könne nur in Ausgewogenheit mit der Sowjetunion vorgenommen werden; und was jenen Satz aus der Antrittsrede angehe, so erwarte der Präsident die Abschaffung der Atomwaffen nicht für seine Amtsperiode, vielleicht nicht einmal mehr zu seinen Lebzeiten

Wer einwendet, daß Nietzsches Gedanken über „Das Mittel zum wirklichen Frieden" kaum mehr zeitgemäß seien und der Komplexität der Situation im Atomzeitalter eben nicht gerecht würden, der prüfe erst die Argumente des Philosophen. Sie bestehen aus der Begründung für den einseitigen Schritt zur Abrüstung, aus einer Teilerklärung für das bisherige Ausbleiben eines solchen Schrittes und aus der Spekulation darüber, unter welchen Umständen eines Tages eine solch einzigartige Aktion möglich werden könnte. Nietzsche hält nämlich, um mit diesem dritten Punkt zu beginnen, den von ihm ins Auge gefaßten einseitigen Verzicht nur in der Ausnahmesituation nach einer (militärischen) Katastrophe für denkbar: „Erst wenn diese Art Not am größten ist, wird auch die Art Gott am nächsten sein, die hier allein helfen kann. Der Kriegsglorien-Baum kann nur mit einem Male, durch einen Blitzschlag zerstört werden: der Blitz aber kommt, ihr wißt es ja, aus der Wolke und aus der Höhe."

Glaubt man an prophetische Sehergabe, dann mag man darüber sinnieren, ob mit jenem Blitz das Atom unserer Tage „gemeint" sein könnte. Bedeutsamer ist die Motivation, die Nietzsche bei dem einseitig Abrüstenden voraussetzt: Sich wehrlos machen, während man einmal der Wehrhafteste gewesen sei, aus einer Höhe der Empfindung heraus, das sei das Mittel zum wirklichen Frieden, welcher immer auf einem Frieden der Gesinnung ruhen müsse: während der sogenannte bewaffnete Friede, wie er jetzt in allen Ländern einhergehe, der Unfriede der Gesinnung sei, der sich und dem Nachbarn nicht traue und halb aus Haß, halb aus Furcht die Waffen nicht ablege: „Lieber zugrunde gehen als hassen und fürchten, und zweimal lieber zugrunde gehen als sich hassen und fürchten machen, — dies muß einmal auch die oberste Maxime jeder staatlichen Gesellschaft werden!" Hieße der Autor nicht Nietzsche, man möchte diese Auffassung „christlich" nennen

Führt uns solche „Friedenstheologie" nicht weit weg von den Problemen unsere Zeit? Ja und nein. Die kritische Friedensforschung beispielsweise bot immer Raum für Überlegungen zu einem „Frieden der Gesinnung", der jeder relevanten technischen Abrüstung vorauszugehen habe. Denn nur, wer mit sich selbst und seiner sozialen Umwelt im reinen sei, seine alltäglichen Ohnmachtserfahrungen überwunden habe — so argumentieren die Vertreter dieser Richtung —, könne überhaupt erst Lösungen im globalen Bereich in Angriff nehmen. Freilich hatte diese stillere Fraktion der Friedensforschung weit weniger öffentliche Resonanz als jene Gruppierungen, die spektakulär gegen das gesamte Abschrekkungssystem Sturm liefen. Es mag diesen beim einzelnen ansetzenden „Gemeinwesen" -Friedensforschern wie eine Ironie der Entwicklung erscheinen, wenn nun auch der Philosoph und Atomphysiker Carl Friedrich von Weizsäcker, der bei seiner systemimmanenten Kritik am westlichen Abschreckungssystem einst Makro-Probleme und -Lösungen angepeilt hatte, Fragen der Mikro-Friedensforschung in den Vordergrund stellt. Weizsäkkers neuer Zielpunkt heißt Bewußtseinsänderung.. Gewiß hatte der Wissenschaftler die Bedeutung von Bewußtsein und Öffentlichkeit für alle Kriegsverhütungspolitik schon in der Kriegsfolgen-Studie betont, doch schienen die konkreteren Hoffnungen damals doch noch auf „transnationale Bindungen" in Richtung auf einen Weltstaat zu setzen Inzwischen ist für Weizsäcker ein „umfassender Bewußtseinswandel" zur Bedingung für die „Überwindung der Hindernisse einer Kriegs-Verhütungspolitik* geworden, wie er in These vier seines neuen Buches postuliert. Ziel dieses Bewußtseinswandels sollte es noch nicht sein, den Weltstaat zu errichten; vielmehr sollte der Wandel »Strukturen wachsen lassen, die ihn (den Weltstaat) vielleicht ersetzen können, und die ihn, wenn er käme, erträglich machen würden" Die „Verinnerlichung" Weizsäckers, die Hinwendung zu Fragen der Kriegsverhütung am Rande des Religiösen hat bei der Kritik einige Irritation hervorgerufen Mit Sicherheit macht dieser Ansatz praktische Friedenspolitik nicht einfacher; deshalb muß er aber noch nicht falsch sein. Ähnlich »konservativ* muten Weizsäckers Überlegungen zur Theorie der Macht an — einem (neben »Bewußtsein* und »Vernunft“) zentralen Begriff seines neuen Buches. Vereinfacht darf man sagen, daß sich für Weizsäcker Macht gegenüber Vernunft restriktiv verhält: Macht setzt der Vernunft Schranken. Anders gesagt: Ohne Machtstreben wäre manches einfacher — nicht zuletzt die Realisierung einer tatsächlichen Abrüstungspolitik. Zwischen den Macht-Theorien von Nietzsche und Weizsäcker gibt es bedeutsame Unterschiede; doch bleiben die Gemeinsamkeiten erstaunlich. Beiden ist Macht der entscheidende Antrieb zum (politischen) Handeln. „Alles Geschehen aus Absichten", sagt Nietzsche, „ist reduzierbar auf die Absicht der Mehrung von Macht“ Beide erkennen als Eigenart der Macht deren Tauglichkeit zur „Akkumulation", wie Weizsäcker es ausdrückt Nietzsche spricht von „gesteigerter und organisierter Macht" betont also ebenfalls den Akkumulationscharakter. Im Vermögen, Machtmittel zu akkumulieren, um Herrschaft zu schaffen und zu sichern, läge so gesehen der entscheidende Antrieb zum Wettrüsten: zum Anhorten von

Waffensystemen, den Machtmitteln par excellence, in einer von Gewalt geprägten Welt Bleibt noch Nietzsches Erklärungsversuch dafür nachzutragen, warum seiner Meinung nach unter den herrschenden Bedingungen Friedenspolitik in seinem Sinne nicht praktiziert wird: Er macht dafür die Ignoranz der Politiker verantwortlich: „Unsern liberalen Volksvertretern fehlt es, wie bekannt, an Zeit zum Nachdenken über die Natur des Menschen: sonst würden sie wissen, daß sie umsonst arbeiten, wenn sie für eine . allmähliche Herabminderung der Militärlast'arbeiten." Und dann folgt das Bild von jenem Blitz, der in größter Not allein den Kriegsglorien-Baum zerstören könnte. Werden „unsere liberalen Volksvertreter" hier richtig gesehen? Sicher setzen sie lieber auf eine Politik der kleinen Schritte; den großen Blitz im Sinne einer Katastrophe wollen sie nach Möglichkeit ja gerade vermeiden. Aber allzuoft — und dies ist wohl entscheidender — scheinen sie selbst an die kleinen Schritte auf diesem Gebiet nicht zu glauben. Kiderlen-Wächter beispielsweise, ein geradezu klassischer Verfechter einer Politik der kleinen Schritte, resignierte in der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg als Staatssekretär des Auswärtigen Amtes regelrecht vor der deutsch-französischen Abrüstungsproblematik, die uns heute angesichts von SALT und MBFR lächerlich einfach anmutet. „Sie sehen", sagte Kiderlen-Wächter damals im Gespräch mit einem überaus vernünftigen (französischen) Gesprächspartner, „welche praktischen Schwierigkeiten sich aufbäumen, sobald man das Problem zu lösen versucht" Die Komplexität oer Probleme und die auf Machtsicherung bedachte Vorsorge lassen nach wie vor alle von Vernunft getragenen Ansätze leerlaufen. Nietzsche könnte sich weitgehend bestätigt fühlen durch unsere Abrüstungsrealität zwischen Macht und Vernunft, selbst wenn er die Nachdenklichkeit mancher Politiker unterschätzt.

Gerade heute wirkt der Mittelweg der kleinen Schritte in der Abrüstung mehrfach gefährdet und gefährlich. Es fehlt an der Zeit, auf die man im Zweifelsfall sonst so gern setzt. Es fehlt aber auch an verläßlichen Maßstäben für die Stärke des Gegners und damit die ei-gene. Die Kalkulierbarkeit militärischer Hardware scheint selbst im kleinen kaum noch möglich. Natürlich läßt sich im Nachhinein vieles begründen; Planung und Vorausschau aber wirken nahezu willkürlich Im Bereich der Strategie scheint dies besonders kraß — auch das ist ein Motiv für das Unbehagen an der offiziellen NATO-Strategie. Unter solchen Umständen nimmt das Gefühl, in einer Sackgasse zu stecken, gerade unter jenen zu, die an Rationalität in der Politik glauben. Sie müssen sich über die Irrationalität der Gegenwart empören. So ist es nur ein Schritt zum Entwurf einer militärstrategischen Gegenwelt. Afheldt hat diesen Schritt getan. Ehe wir seinen Entwurf ausbreiten und prüfen, sei die Frage nach der „Gemeinnützigkeit" der Strategiekritik gestellt. Sie führt mitten in die Problematik der gegenwärtigen militärstrategischen Lage.

II. Ein Prinzip Hoffnung

Strategiekritik ist hierzulande nicht populär. Sie hat weder in der Öffentlichkeit den nötigen Raum noch in der wissenschaftlichen Diskussion, wo sie aufgrund ihres akademischen Charakters zunächst hingehört. Gerade unter Wissenschaftlern und Intellektuellen trifft Strategiekritik weitgehend auf Abneigung, wenn nicht Verachtung. Beschäftigung mit militärtheoretischen Fragen wird für unnötig, ja unmoralisch gehalten — vor allem wegen der dabei verwandten Kriegsbilder, Szenarios und Schadensanalysen von Waffenwirkungen. „Man denkt so etwas einfach nicht", lautet eine offenbar naheliegende Reaktion. Gelegentlich mündet sie in den Vorwurf, der Strategietheoretiker oder -kritiker sei ein Zyniker und ein Wichtigtuer dazu: Er wolle sich in Wirklichkeit nur öffentliche Aufmerksamkeit verschaffen, sich bei den Mächtigen, insbesondere den Militärs, anbiedem, indem er ihre Kalkulationen und Planungen noch zu übertrumpfen suche Die Gefahr solcher gedanklicher Kriegsspiele, lautet der Vorwurf frei nach Nietzsche weiter, liege in einer Art Zauberlehrlingseffekt: Die Kriegs-Geister, die man rufe, werde man nicht mehr los; je mehr man vom nächsten Krieg rede, desto wahrscheinlicher sei er usw.

Wer solchen Verdacht ausspricht, übersieht, daß der Strategiekritiker nicht aus Lust an seinem Gegenstand arbeitet (auch nicht aus Masochismus), sondern aus Sorge. Er möchte die bestehenden Militärstrategien nicht perfektionieren, sondern entschärfen. Er sieht in den Strategien nicht ein pikantes Spielzeug, sondern einen höchst explosiven Mechanismus. Den professionellen Strategen in Politik und Militär ist sein Interesse an ihren Problemen im übrigen gar nicht so willkommen, wie Außenstehende gelegentlich meinen. Denn Strategiekritik, befürchten die Profis, weckt nur schlafende Hunde und verunsichert Soldaten wie Bevölkerung, indem sie Schwächen des eigenen Militärsystems einseitig herausstellt.

Ein zweites Argument gegen die Strategiekritik läßt sich in dem uns schon bekannten Vorwurf zusammenfassen, jede militärische Verteidigungsplanung bedeute eine Verteufelung des potentiellen Gegners, weil sie ihm Angriffsabsichten unterstelle, die er zunächst gar nicht habe; die Sowjetunion und der Warschauer Pakt hätten die NATO bisher nicht angegriffen und würden es auch künftig nicht tun. Darauf muß man nicht nur antworten, daß dieses Argument logisch nicht zwingend ist — denn selbst wenn es drei Jahrzehnte zutraf, braucht es nicht immer gültig zu bleiben —, sondern auch, daß sich die Experten über die letzten Ziele und Absichten der Sowjetunion nicht einig sind. Solche Einigkeit dürfte auf Dauer nicht einmal in der sowjetischen Führungselite selbst herrschen. Auf der anderen Seite erlauben die Rüstungspotentiale der Sowjetunion den Schluß, daß sie nicht ohne Grund unter großen Opfern niemand aufgebaut werden. Zumindest kann garantieren, daß sie nicht eines Tages direkt oder indirekt gegen den Westen eingesetzt werden. Strategische Planung jedoch ist Vorsorge auf mehrere Möglichkeiten — auch und gerade auf sonst verdrängte. dies oft genug getan: Gerade darin bestehe ja die Tragik der Abschreckung, daß beide Parteien nicht mehr aus dem Teufelskreis der gegenseitigen Bedrohungsvorstellungen heraus-fänden; jeder unterstelle dem anderen das Schlimmste und baue deshalb sein Verteidigungssystem immer weiter aus. Je mehr aber jeder rüste, desto leichter falle es dem anderen, ihm Aggressionsabsichten zu unterstellen und wieder selbst seine Rüstung zu forcieren usw. Den nächsten Schritt in dieser Argumentation bildet dann die Vermutung, das nach außen gerichtete Abschreckungssystem werde von den „Herrschenden" in Ost und West dazu benötigt, ihre Macht im Inneren zu stabilisieren und auszubauen.

Selbst wenn diese Hypothese richtig wäre, bliebe davon unabhängig das Problem bestehen, daß die beiderseitigen Militärstrategien in sich falsch oder richtig beziehungsweise gefährlich oder weniger gefährlich sein können. Eben darum geht es der Strategiekritik. Sie befaßt sich mit vorhandenen, tatsächlichen Gefahren und mag sich nicht darauf verlassen, daß die bestehenden Militärsysteme vielleicht eines Tages abgebaut oder „überwunden" werden. Strategiekritik ist in diesem Sinne systemimmanente Kritik. Sie hält es für geboten, das herrschende strategische Kalkül zu Ende zu denken und auf Widersprüche hin zu untersuchen. (Weitergehende Ansätze schließt dieses Vorgehen nicht aus.) Strategiekritik ist nichts Neues. Selbst in der Bundesrepublik gab es immer wieder fundierte Zweifel an der Tauglichkeit der NATO-Strategie zur Verteidigung Mitteleuropas — insbesondere was den Einsatz taktischer Atomwaffen durch den Westen angeht. Soll man sich aber als Nicht-Experte auf dieses offenbar hochkomplizierte militärstrategische Glasperlenspiel einlassen? Die Antwort lautet: Man muß, und zwar schon deshalb, weil wir alle (und nicht etwa nur der Wehrpflichtige oder der Berufssoldat) in das Abschreckungssystem integriert sind.

Konkret gesagt, sind wir Tag und Nacht eingespannt in das Abschreckungssystem zwischen Ost und West, bleiben betroffen von der Verteidigungsplanung von NATO und Warschauer Pakt, leben als Geiseln im atomaren Raketenkalkül der anderen Seite, befinden uns im „Visier" programmierter Atomwaffenträger. (Im Osten geht es unseren atomaren Antipoden unter der Drohung westlicher Waffen nicht besser.) Aber kaum jemand empört sich noch über diese Art der millionenfachen Geiselnahme durch souveräne Mächte. Und eben diese Gleichgültigkeit ist gefährlich. Denn die Experten haben kei-neswegs die beste aller Abschreckungswelten geschaffen; sie sind nicht unfehlbar. Wir dürfen unser Schicksal nicht ihnen allein überlassen. Noch immer gilt, was der Philosoph Karl Jaspers in den fünfziger Jahren über „Die Atombombe und die Zukunft des Menschen" schrieb: daß es in der Atombomben-frage kein Ressortdenken geben dürfe, weil sie nicht durch die „besonderen Maßnahmen der Sachkundigen" auch schon eine Lösung finde: „Sie ist heute nicht eine Frage unter anderen, sondern die Daseinsfrage überhaupt, die Frage nach Sein oder Nichtsein. Sie wirft ihre Schatten auf alles, was wir noch sonst tun und fragen können."

Mit solchen Worten wird nicht der Hysterie das Wort geredet, sondern der kritischen Vernunft. Eine vernünftige, umfassende Sicht unserer Lage im Atomzeitalter ist selten. Wird sie gewagt, kann sie zu wichtigen Einsichten führen. Die neuesten Arbeiten Weizsäckers und Afheldts schärfen den Blick für die Realitäten im Atomzeitalter, die gelegentlich zu verschwimmen drohen. Selbst Begriffe wie „Gleichgewicht des Schreckens" oder „Logik der Abschreckung" können in die Irre führen, weil sie eine Stabilität und Stimmigkeit unterstellen, die im Schwinden begriffen ist — wenn sie überhaupt je vorhanden war. In Wirklichkeit müssen wir uns damit abfinden, daß unsere Erwartungen in die erzieherische Funktion der Atomwaffen überzogen waren. Unter ihrer „Schreckensherrschaft" wurden weder eine neue Politik noch ein „neuer Mensch" geboren. Vielmehr bewegt sich das Weltgeschehen weiter in den Mechanismen der Machtpolitik. Weizsäcker sieht darin eine der entscheidenden Entstehungsquellen für einen dritten Weltkrieg. Das ist gewiß eine pessimistische Sicht der Dinge. Doch ist die Welt nun einmal immer explosiver und illusionsloser geworden.

Illusionsloser mußte sie werden, weil sich die großen Friedensversprechungen der Vergangenheit, wie der Pazifismus in seinen vielfältigen Schattierungen, als überfordert zur Lösung der globalen Friedensfrage erwiesen. So ehrenwert der einzelne Pazifist sein mag, als Gesamtrezept bleibt seine Philosophie untauglich in einer Welt mit so unterschiedlichen Spielräumen an Freiheit für das Individuum. Gescheitert sind ebenso die demokratisch-liberalen oder sozialistischen Träume von der Errichtung des Weltfriedens, die freilich allesamt mehr oder minder offen auf Weltherrschaft hinausliefen. Aber auch be-28 scheidenere Pläne in Richtung auf eine Weltregierung unter Bewahrung des Status quo stimmen wenig hoffnungsfroh. Sie sind — wie ein Blick auf die Vereinten Nationen zeigt — bestenfalls im Schneckentempo zu erreichen. Eben diese Zeit aber ist uns wohl nicht mehr gegeben.

Explosiver wird die nördliche, hochtechnisierte und -gerüstete Welt mit jedem Tag in einem doppelten Sinn: Im Namen der jeweiligen Friedenspolitik aus einer Position der Stärke wachsen die beiderseitigen Waffenpotentiale an. Aber sie heben sich nicht etwa gegenseitig auf oder stabilisieren sich, sondern können in kriegsfördernde Instabilität umschlagen. Die wachsenden Zweifel an der Aufrechterhaltung der Zweitschlagskapazitäten unterstreichen dies. Lange Zeit hat die Bewahrung von MAD als eine Art Rückversicherung gegolten. Hinter diesem Kürzel steht die Fähigkeit, den Aggressor auch noch in einem zweiten Schlag mit Atomwaffen tödlich zu treffen, wenn er einem zunächst einen überraschenden ersten Schlag versetzt hat. (Mutual Assured Destruction = MAD; Verächter dieser Theorie pflegen darauf hinzuweisen, daß „mad“ im Englischen „verrückt'heißt.) MAD brachte zwischen den Supermächten die Übertragung einer Western-Wahrheit in die internationale Politik: „Wer zuerst schießt, stirbt als zweiter.'Freilich kann man aus jenem Genre auch lernen, daß häufig derjenige überlebt, der als erster geschossen hat, ja daß die Kunst des überlebens darin besteht, schneller und präziser zu schießen als der andere. Diese zweite Western-Weisheit kann sich gegenüber der ersten durchsetzen, je präziser mit Hilfe neuartiger Lenkflugkörper atomare Schüsse abgegeben werden. Wenn es möglich wird, dem Gegner gleichsam die atomare Pistole aus der Hand zu schießen, droht der nukleare Erst-schlag wieder zu einem Mittel der Politik zu werden.

Noch ist dies nicht der Fall, noch besitzen Ost und West — nicht zuletzt aufgrund ihrer schwer ortbaren Atom-U-Boote — die MAD-Fähigkeit. Aber die Kriegstechnik schreitet voran. Extrem gesteigerte Zielgenauigkeit verbunden mit perfekteren Aufklärungs-und Jagdmethoden (insbesondere gegenüber U-Booten) können MAD eines Tages hinfällig machen. Dem atomaren Aggressor winkt dann die Weltherrschaft als Prämie. Beim Andauern der Rivalität im sogenannten Duopol zwischen den beiden Supermächten hält Weizsäcker die pessimistische Prognose für unwiderlegbar: „Der dritte Weltkrieg wird dann stattfinden, wenn er gewonnen werden

kann.' Wobei noch die vielfältigen Risikofaktoren aus dem Arsenal der Mißverständnisse, technischen Pannen und politischen Panikreaktionen einzukalkulieren wären. Die Stabilität auf der strategischen Ebene zwischen den Supermächten ist keineswegs gesichert.

Die Aushöhlung des MAD-Prinzips wird noch nicht offen angesprochen; doch ist bereits eine Verunsicherung der Supermächte spürbar. Anders wäre es schwer zu erklären, warum das Pentagon seit Jahren atomare Kriegführungsoptionen (Schlesinger-Doktrin) in immer größere Anzahl erarbeitet und warum Autoren wie Professor Stefan T. Possony von der Hoover Institution in Kalifornien so beredt den Einsatz von sogenannten kleinen und sauberen Atomwaffen propagieren und bei allen, die dem nicht zu folgen vermögen, eine „nukleare Neurose“ feststellen Auch die (angeblich beträchtlichen) Anstrengungen der Sowjetunion auf dem Gebiet des Zivilschutz-baus wären eher beunruhigend und destabilisierend, weil sie die eigene Bevölkerung der Drohung der anderen Seite (weitgehend) entziehen und damit MAD erschweren Schließlich mögen auch die schrillen Warnungen Pekings vor einem dritten Weltkrieg in diesem Punkt einen rationalen Kern haben. Daß eine Destabilisierung auf der strategischen Ebene Europa in einen Krieg hineinziehen kann, ist bekannt. Weniger verbreitet ist die Einsicht, daß die angedeuteten Probleme unserer Schutzmacht USA genügend eigene Uberlebensfragen stellen. Sie erfordern die volle Aufmerksamkeit der USA und lassen europäische Interessen in den Hintergrund treten. (Wo sie im Falle eines Falles leicht stehen bleiben können). Zur Verbesserung unserer Lage reichen immer neue Bittgänge nach Washington um weitere Zusicherungen der Vereinigten Staaten nicht aus. Es bedarf vielmehr eigener Anstrengungen — zuallererst intellektueller Art: Auch in der für Mitteleuropa gültigen NATO-Strategie bestehen ähnlich gravierende Widersprüche wie auf der strategischen Ebene zwischen den Supermächten.

Nun hat es wiederholt Kritik an der NATO-Strategie gegeben. Manches kritische Wort

an dieser Doktrin wurde sogar schon von ihr „integriert". Kaum ein kundiger Offizier würde heute noch die Strategie der flexiblen Erwiderung als Wunderwerk der Logik bezeichnen. Spätestens seit der Weizsäcker-Studie von 1971, in der diese Doktrin als „Mystifikation" entschleiert wurde, macht man aus der Not eine Tugend und behauptet verstärkt, gerade in ihrer Unbestimmtheit bestehe der Vorzug der Strategie, denn ein Aggressor wisse nie, womit er rechnen müsse Leider gilt dies umgekehrt ebenso: Auch die NATO weiß vor einer Eskalation nicht, wie der Gegner darauf reagieren wird. Sie kann nur bestimmte Reaktionen erhoffen. So ist die flexible response eine Art Prinzip Hoffnung. Sie steht damit im Widerspruch zu dem gerade von deutschen Verteidigungsministern gern zitierten Grundsatz: „Man muß kämpfen können, um nicht eines Tages kämpfen zu müssen." Wie aber will man kämpfen können, wenn man dem Gegner mit dem eigenen „Selbstmord" droht? „Wir werden eines Tages gezwungen sein", schreibt Weizsäcker, „die Drohung einzulösen oder sie als Bluff entlarven zu lassen."

Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang, daß sich mittlerweile auch innerhalb der NATO Zweifel an der Tauglichkeit der eigenen Strategie mehren. Zwar sind sie nie so radikal wie die Einwände Weizsäckers oder Afheldts, sondern sollen in der Regel Vorschläge zur Verbesserung der flexible response sein, aber indirekt dokumentieren sie doch eine erhebliche Unzufriedenheit der Eingeweihten mit dem bestehenden strategischen Lösungsversuch. Am spektakulärsten aus deutscher Sicht ist in diesem Zusammenhang die Anregung von General a. D. Karl Schnell, dem ehemaligen Oberbefehlshaber der NATO im Bereich Europa-Mitte (und jetzigen Rüstungsstaatssekretär im Bonner Verteidigungsministerium), man solle die Grundsätze der westlichen Allianz für den defensiven Einsatz bestimmter taktischer A-Waffen ändern. Er regte an, für den Einsatz von soge-nannten atomaren Sperrmitteln („Atomminen ”) und Luftabwehrraketen mit nuklearen Sprengköpfen auf und über dem Boden der Bundesrepublik das zeitraubende (über den amerikanischen Präsidenten laufende) Freigabeverfahren zu vereinfachen. Sie sollen schneller als bisher eingesetzt werden können. Nur so sieht der General die Abschrekkung gewahrt. Nach den geltenden Kriterien scheint ihm die Freigabe zu spät zu kommen

Wie verbreitet zur Zeit in der NATO der Wunsch nach der militärischen Einsatzgewalt über kleine Atomwaffen mit angeblich konventioneller Wirkung ist, zeigen auch die Äußerungen des dänischen Generalmajors P. O. W. Thorsen, der Befehlshaber der NATO-Landstreitkräfte Schleswig-Holstein und Jütland ist. Auch seiner Ansicht nach dauert derzeit der politische Entscheidungsprozeß für den Einsatz selbst kleiner Atomwaffen zu lange. Den militärischen Befehlshabern müßten deshalb die Mittel zur Verfügung gestellt werden, die sie zur Lösung ihrer Aufgaben bräuchten; sonst könnten sie die ihnen auferlegte Verantwortung nicht tragen Daß nicht nur Generale mit dem Einsatzverfahren von Atomwaffen im Rahmen der NATO-Strategie unzufrieden sind, demonstrierte ebenfalls Anfang Dezember der FDP-Wehrexperte Jürgen Möllemann. Freilich setzte der Bundestagsabgeordnete mit seiner Kritik an einem anderen Punkt an. Er forderte — über die bestehenden Regelungen hinaus — ein stärkeres Mitspracherecht der Bundesregierung beim Einsatz von Atomwaffen auf dem Gebiet der Bundesrepublik Sicher sind Anmerkungen zur NATO-Strategie wie diejenigen von Schnell und Thorsen einerseits sowie von Möllemann andererseits in Ansatz und Ziel grundverschieden. Gemeinsam ist ihnen aber ein erhebliches Unbehagen an der gültigen Militärstrategie — ein Unbehagen, das zumindest von einigen Wissenschaftlern und Experten seit Jahren artikuliert wird. Offiziell werden solche Zweifel nicht geteilt. Wer das Verteidigungsweißbuch der Bundesregierung freilich aufmerksam liest, kann feststellen, wie wenig sie selbst hinter diplomatischen Formulierungen zu verbergen sind. In dieser Publikation werden atomare .Reaktionsformen* angesprochen, die mit erheblichen Hoffnungen und Spekulationen verbunden bleiben.

Die erste, kaum mehr aufrechtzuerhaltende Hoffnung besteht darin, daß die „furchtbare Zerstörungskraft nuklearer Waffen, die bis zur vollständigen Vernichtung der Menschheit führen kann", einen Krieg überhaupt als Mittel der Politik ausschließt In berechtigtem Widerspruch dazu setzt dann die zweite Hoffnung — falls es doch zu einem Krieg gekommen sein sollte — auf die Möglichkeit der „vorbedachten Eskalation", also darauf, daß es machbar sei, den einmal eingeleiteten Einsatz von Atomwaffen zu kontrollieren. Daß diese Erwartung irreal ist, machen nicht nur Theoretiker wie Weizsäcker und Afheldt plausibel; auch ein Mann zwischen Politik und Theorie wie der ehemalige Chef der amerikanischen Abrüstungsbehörde, Fred C. Ikl, weist darauf hin, daß wir nicht genau genug I wissen, welche materiellen und psychologischen Folgen ein gezielter Nuklearwaffeneinsatz im Krieg haben wird Am schwersten wiegt hier das Urteil eines Militärs: Der ehemalige stellvertretende Oberbefehlshaber der amerikanischen Truppen in Europa, Generalleutnant a. D. Arthur S. Collins, bezeichnet den Einsatz taktischer Atomwaffen im Land-krieg, selbst für den Verteidiger, als „irrational": „Aus meiner Kampferfahrung heraus sehe ich keinen Weg zur Beherrschung der Eskalation, weil es im entscheidenden Moment an Informationen und Zeit mangelt, und weil beide Seiten unter dem Eindruck der tödlichen Resultate des Kampfes stehen."

Mit der so angezweifelten zweiten Weißbuch-Hoffnung ist die dritte Erwartung eng verbunden. Sie bezieht sich auf den Eindruck, den der taktische A-Waffen-Einsatz durch die westliche Allianz auf den Aggressor machen soll. „Der Angreifer soll veranlaßt werden", steht im Weißbuch, „seine Absichten zu ändern, seinen Angriff aufzugeben und sich zurückzuziehen." Klarer gesagt: Er soll seine Niederlage eingestehen, obwohl er sich doch als derjenige, der die Initiative ergriff, schon vorher seine späteren Schritte genau überlegen mußte. Warum aber hätte er dann das riskante Unternehmen überhaupt beginnen sollen, wenn er nun zurückstecken sollte? Hält man im Westen die Pakt-Strategen nicht für fähig, jeweils um die nächste Ecke zu denken? Das Weißbuch argumentiert, dem Gegner würde vor „Augen geführt, daß er das Risiko einer weiteren Eskalation eingeht, wenn er seinen Angriff fortsetzt". Diese weitere Eskalation würde für den Angreifer bedeuten, „daß nuklear-strategische Waffen gegen sein eigenes Territorium eingesetzt werden". Wenn damit gesagt werden soll, daß ein Angriff auf die Bundesrepublik den Schlag von US-Fernraketen auf die Sowjetunion (und das Risiko eines sowjetischen Gegenschlages auf die Vereinigten Staaten) automatisch nach sich zöge, dann ist auch dies nur eine kühne Spekulation ohne Berücksichtigung der Hauptbeteiligten und vor allem des potentiell Hauptgeschädigten (der Vereinigten Staaten).

Wie die Weißbuch-Autoren das Gewicht dieser Hauptakteure in einem Konfliktfall unter Einschluß nuklearer Waffen unterschätzen, so verharmlosen sie auch durch Abstraktion die Wirkung eines Atomwaffeneinsatzes in Mitteleuropa. Sie schreiben, „daß die Qualität des Abwehrkampfes durch den Einsatz nuklearer Waffen gesteigert oder der Konflikt räumlich ausgedehnt wird". Würde die Folge dieser „Qualitätssteigerung" — wie schon in „Kriegsfolgen und KriegsVerhütung" dokumentiert — nicht eher auf die Zerstörung als die Verteidigung der Bundesrepublik hinauslaufen? Bei einem atomaren Schlagabtausch wäre in diesem dichtbesiedelten Land schon bald nicht mehr säuberlich zwischen zivilen und militärischen Zielen zu unterscheiden. Man mag einwenden, daß auch in jeder Kritik der Weißbuch-Hoffnungen etliche Annahmen enthalten sind, die sich theoretisch nicht beweisen lassen. Das ist richtig; doch sollte eine Uberlebensstrategie, die mit dem Einsatz von Atomwaffen kalkuliert, nicht in so zentralen Fragen auf schwankendem Boden ruhen, wie es die Probleme der Zerstörungsanfälligkeit Mitteleuropas und der amerikanischen Nuklearhilfe (um den Preis der Vernichtung der USA) nun einmal sind.

Selbst wenn man die Verteidigungschancen der NATO nach einem Überraschungsangriff des Warschauer Paktes nicht so pessimistisch beurteilt wie der belgische General Close, läßt sich unschwer ausmalen, daß die westliche Allianz sehr früh zum „Stopfen" konventioneller Löcher Atomwaffen einsetzen muß und daß diese Schläge außer Kontrolle geraten — freilich wohl nur bis zu jener Grenze,

deren Einhaltung im gemeinsamen Interesse der Vereinigten Staaten und der Sowjetunion liegt und einen Schlagabtausch zwischen den beiden Supermächten unwahrscheinlich macht. Die Bundesrepublik aber dürfte dann — auch ohne den Ausbruch eines totalen Atomkrieges — längst zerstört sein. Weil dieses Dilemma in unserer offiziellen Verteidigungspolitik erkannt ist und mit einer Stärkung der konventionellen Verteidigungsfähigkeit (Wehrstrukturreform) gelöst werden soll, lassen sich für die NATO in Mitteleuropa auch freundlichere Szenarios als das eben angedeutete vorstellen.

Gehen wir einmal von einem „günstigeren" Fall aus. Unterstellen wir, daß das Aufklärungs-und Warnsystem vorzüglich funktionierte, daß auch die Mobilisierung planmäßig ablief, daß die westlichen Luftwaffen in den ersten Stunden den komplizierten Aufmarsch der NATO-Armeen hinreichend deckten und auch noch Zeit fanden, den Aggressor empfindlich zu treffen und seinen Nachschub zu stören. Gehen wir weiter davon aus, daß die Solidarität innerhalb der NATO nicht erschüttert wurde, daß sich Frankreich früh in die konventionelle Verteidigung einreihte, daß die westlichen Verbände — allen voran die Bundeswehr — optimal kämpften, daß sich ihre Waffensysteme den östlichen als überlegen erwiesen, daß die Bevölkerung die Nerven behielt — kurz, daß es zu einem westlichen Verteidigungswunder kam: Nach einer

Woche stehen die östlichen Truppen also nicht am Rhein, sondern relativ weit östlich auf dem Boden der Bundesrepublik, sind allein mit konventionellen Mitteln zum Stehen gebracht worden und haben nur geringe örtliche Einbrüche erzielt. An diesen Stellen setzen die NATO-Verbände — getragen vom Elan ihres Abwehrerfolges — zu Gegenstößen an, um den verlorenen Boden zurückzugewinnen. Die westlichen Politiker geben zwar schon Verhandlungssignale, wollen aber den Erfolg der Gegenoffensive abwarten. Was würde wohl die sowjetische Führung in einem solchen Augenblick tun? Würde sie sich getreu der NATO-Philosophie verhalten, die Truppen zurückziehen, ihre Niederlage eingestehen und damit das Ende der eigenen Macht wie der sowjetischen Herrschaft in Osteuropa riskieren? Oder würde diese Führung nicht versuchen, mit atomaren Waffen eine Bresche in die westliche Verteidigung zu schlagen, da sie es ja war, die den Entschluß zum Kriegsbeginn faßte, da sie den Atomkrieg auf fremdem Boden führt, da ihre gepanzerten Truppen dieses Vorgehen oft genug in Manövern geübt haben und da schließlich ein Angriff auf das Gebiet der Vereinigten Staaten nach wie vor nicht die letzte Konsequenz ist? Ein Vernichtungskrieg auf deutschem Boden scheint unter den gegebenen strategischen und militärischen Bedingungen in einer solchen Situation unvermeidbar zu sein.

III, Verteidigung ä la Afheldt

Angesichts solcher Perspektiven erleben wir zur Zeit — über jene bereits erwähnten Anregungen zur „Verbesserung" der flexible response hinaus — einen regelrechten Boom an Vorschlägen für neue, bessere NATO-Strategien. Sie reichen vom Verlangen nach einer weiteren konventionellen Stärkung über die Forderung nach einer konsequenteren Nutzung neuartiger, den Verteidiger begünstigender Waffensysteme bis hin zu dem Versuch, das atomare Dilemma zu lösen. Einen interessanten Vorschlag letzterer Art hat eine Studien-gruppe bei der Stiftung Wissenschaft und Politik in Ebenhausen unter Mitarbeit des ehemaligen NATO-Befehlshabers Europa Mitte, Graf Kielmansegg, erarbeitet — bei einer Organisation immerhin, die zur Beratung der Bundesregierung tätig ist Da sich die meisten der angesprochenen Lösungsversuche aber in den eingefahrenen Gleisen strategischen Denkens bewegen, vermögen sie keine neuen Wege zu weisen. Interessanterweise stammen „revolutionäre“ Ansätze von Denkern, die außerhalb oder am Rande der westlichen Allianz stehen. Dies gilt für den österreichischen Armeekommandanten Emil Spannocchi und sein schwerlich übertragbares Konzept wie für die Alternativstrategien zweier Franzosen: des ehemaligen Militärattaches in den Vereinigten Staaten, Marc A. Geneste und des derzeitigen Militärattaches in der Volksrepublik China, Guy Brossollet, von dem sich wiederum Afheldt anregen ließ * Für Afheldt liegt der Haupteinwand gegenüber der offiziellen NATO-Strategie darin, daß sie praktisch Selbstabschreckung bewirkt, das heißt: sie droht der anderen Seite mit einem Übel (dem Einsatz von Atomwaffen), das im günstigsten Fall beiden, möglicherweise vor allem aber dem Drohenden selbst, unkalkulierbaren Schaden zufügt. Eine solche Drohung mit dem eigenen „Selbstmord" jedoch ist nicht glaubhaft — zumindest ist sie nicht rational. Dieses irrationale Element kommt in die NATO-Strategie durch den Automatismus des Einsatzes von Atomwaffen. Wollte man also eine rationale Strategie schaffen, die nicht mit dem eigenen Untergang droht, müßte man die Möglichkeit eines Einsatzes von Atomwaffen in der Bundesrepublik auszuschließen suchen. Will man den Einsatz von Atomwaffen vermeiden, darf man dem Gegner keine lohnenden militärischen Ziele für seine Atomwaffen auf dem Boden der Bundesrepublik bieten. Dies wurde auch schon vor Afheldt erkannt und ist theoretisch unter Militärs nicht strittig, bei der derzeitigen Struktur von Streitkräften aber kaum zu verwirklichen.

Brossollet sucht das Problem dadurch zu lösen, daß er der „Schlacht" — dem Aufeinandertreffen hochtechnisierter Waffensysteme in großer Zahl — ihre kriegsentscheidende Rolle nimmt beziehungsweise darauf hinweist, daß die Schlacht diese Rölle im Atomzeitalter an sich längst verloren hat. Denn, so argumentiert Brossollet, wenn es in erster Linie ohnehin darauf ankommt, den Angreifer auf die Ernsthaftigkeit seiner Absichten hin zu testen, Zeit für die eigene politische Führung zu gewinnen und Zerstörungen im eigenen Land zu vermeiden, warum dann überhaupt noch Schlachten im Stile des Zweiten Weltkrieges schlagen? Eben deshalb propagiert Brossollet die „Non-bataille", die Nicht-Schlacht. Daß ohne den Zwang zum Schlagen von Schlachten, zur Bildung von Fronten und Massierungen für Gegenstöße keine soge-nannten lohnenden Atomziele entstehen und damit auch die Gefahr von Zerstörungen in einer Industrielandschaft sinkt, leuchtet ein. Wie aber gewinnt man im Rahmen einer solchen Strategie die für die politische Führung (zu Beratungen und Verhandlungen) so wichtige Zeit und wie verhindert man eine dauernde militärische Besetzung des Landes durch den Aggressor? Eine auf die Bundesrepublik bezogene Antwort sucht Afheldt geben.

Sein Strategievorschlag hat eine konventionelle und eine atomare Komponente. Frei nach Brossollet sucht die neue Doktrin den Automatismus zum Einsatz von Atomwaffen dadurch zu unterlaufen, daß sie keine Schlachten mehr anstrebt und Truppenmassierungen, aber auch Kommandozentralen und Stäbe als Atomziele vermeidet. Die atomare Drohung kommt zudem bei Afheldt ohne die Stationierung von Atomwaffen auf deutschem Territorium aus, verringert angeblich das Risiko der Bundesrepublik, selbst zum Atomziel zu werden, und richtet sich nicht gegen Territorium und Bevölkerung der Sowjetunion, was wiederum das Risiko für die Vereinigten Staaten erträglicher macht. Außerdem scheint die neue Strategie für den konventionellen Bereich weniger rüstungsintensiv als bisherige Lösungen zu sein, da sie auf schwere Waffen in großer Zahl verzichtet. Folglich enthält sie einen geringeren Zwang zum Wettrüsten.

Diese und andere Forderungen will Afheldt mit kleinen, beweglichen, heimatnah eingesetzten Kampfgruppen mit hochmodernen Panzerabwehrmitteln erfüllen, die er Technokommandos nennt. Die atomare Droh-und Schildkomponente (covering force) bleibt in amerikanischer Regie und entzieht sich auf Raketen-U-Booten in den Weltmeeren dem präventiven Nuklearschlag eines Angreifers.

In einem bedeutsamen Punkt konventioneller Verteidigung nähert sich die neue Strategie bestehenden Bundeswehrplanungen an: im Aufbau eines Potentials zum schnellen Verminen und Sperren von panzergängigen Flä'chen. Während die offizielle Rüstungspolitik in dieser Frage zögernd arbeitet — denn Minenfelder hemmen nicht nur den Aggressor, sondern auch die eigene Truppe (bei Rückzug oder Gegenstoß) —, kann die neue Strategie mit Sperren weit großzügiger verfahren; nach ihr braucht es keine weiträumigen Bewegungen eigener Großverbände mehr zu geben.

Der Gegner stieße nach dem (wahrscheinlich verlustreichen) Durchbrechen immer neuer Minenfelder mit seinen Panzern nie auf eine Front, sondern auf das Netz aus „Technokommandos”, das gleichmäßig verteilt über der gesamten Bundesrepublik läge. Ein solches Kommando besteht aus 15 ortskundigen Einzelkämpfern mit starken Panzerabwehrraketen. Jeweils drei Mann erhalten ein Fahrzeug.

Bei einem dieser Dreier-Teams befindet sich der Kommandoführer mit Fahrer und Funker.

Das Gebiet, in dem das Kommando operiert, könnte rund 20 Quadratkilometer umfassen.

(Dies entspricht einem Kreis mit einem Radius von etwa 2, 5 Kilometern.) Die Einheit ist bereits im Frieden in diesem Gebiet stationiert. Sie hat Stellungen für ihre Panzerabwehrwaffen vorbereitet, ohne dadurch unflexibel zu werden. Ihr Kampfauftrag im Kriege ist begrenzt. Nach seiner Erfüllung mag sie sich auflösen und untertauchen. Geht man beispielsweise von 10 000 solcher leichten Kommandos in der Bundesrepublik aus und unterstellt, daß jedes von ihnen im Schnitt drei Panzer zerstört, dann würde die Sowjetunion bei einer Invasion mehr Tanks verlieren, als sie zur Zeit in Nord-und Mitteleuropa stationiert hat. Gegen das Netz ist dem Invasoren weder der Einsatz von Atomwaffen möglich (der träfe auch die Invasionstruppen), noch kann es schnell durchbrochen werden. Würde es durch sogenannte schwere Kommandos mit weitreichender Panzerabwehr (60 000 Mann), durch Luftabwehrgruppen (50 000 Soldaten) und Mobilisierungsstreitkräfte aus Reservisten (mit einer Kader-truppe von 50 000 Mann) ergänzt, dann ergäbe dies im Frieden einen Gesamtbedarf zwischen 300 000 und 350 000 Mann, also weit weniger als nach der derzeitigen Strategie. (Rolle und Umfang von Luftstreitkräften in diesem Konzept sind noch unklar.) Gegen Luftlandungen hält Afheldt sein Abwehrnetz für gefeit. Ein langsames Zerreißen und Aufrollen des Netzes durch im Schrittempo mit begleitender Infanterie vorgehende Panzer widerspräche dem Hauptgrundsatz der sowjetischen Strategie: dem Blitzvorstoß. Auch ein Schlagen von Korridoren und Schneisen dürfte für den Angreifer verlustreich und zeitraubend werden.

Während der Verteidiger also vor Überrumpelung sicher ist und Zeit gewinnt, stellt sich die Frage, wie er die Invasoren wieder los wird. Hält das Netz, was es verspricht, liegt darin schon ein Teil der Antwort. Denn der Angreifer verliert mit jedem Kampftag, der ihm nicht die politische Herrschaft über das „besetzte" Land bringt, an Panzern und Material, aber auch an Prestige bei seiner Bevölkerung und den osteuropäischen Alliierten, durch deren Gebiete seine Nachschublinien laufen. Gegen sie richtet sich nun die zweite Komponente, die atomare Drohung mit der covering force. Sie gilt indirekt der kleinen Gruppe, die den Angriff ausgelöst hat, der sowjetischen Regierung, und deren Herrschaftsbereich in Osteuropa. Die Drohung soll nach Afheldt die entsprechende, gegen die sowjetische Herrschaft gerichtete Unruhe in den „angesprochenen" Gebieten auslösen — eine Herrschaft, die sich in erster Linie auf Panzer stützt, Panzer, die nun aber im Netz gegnerischer Technokommandos dezimiert werden.

Nur wer Afheldts Entwurf liest, kann feststellen, wie exakt oft ein Element ins andere greift. Erst das sorgfältige Studium dieses Konzeptes mit allen innen-und außenpolitischen Folgerungen, Verästelungen, widerlegten Einwänden, Komplikationen, aber auch Schwächen kann freilich zeigen, ob hier wirklich eine rationale Strategie vorliegt. Eine Kurzkritik dieses im besten Sinne utopischen Strategievorschlages ist problematisch — wie natürlich auch jede allzu knappe Vorstellung das Afheldtsche System widersprüchlicher und angreifbarer erscheinen läßt, als es in Wirklichkeit ist. Andererseits soll keine Kritik an dem Konzept unterdrückt werden. Vor allem sei gesagt, daß es immer mehr Einwände provoziert, je länger man sich mit ihm auseinandersetzt.

Erstens erhebt sich der Verdacht, daß die konventionelle Komponente der Modellstreitmacht (Technokommandos) nach Berücksichtigung auch nur der wichtigsten Hilfs-und Unterstützungsfunktionen mit Sicherheit komplizierter, schwerfälliger und verletzlicher ausfällt, als Afheldt sich das heute vorstellt.

Damit verlöre die Konzeption aber jene Einfachheit, mit der sie jetzt besticht. Ihre ohnehin nur grob kalkulierten Kosten würden steigen. Der Wissenschaftler deutet dies an, wenn er von einer Ausweitung seines Konzeptes in die Bereiche des Bevölkerungsschutzes und der zivilen Verteidigung spricht.

Auch wenn man die Frage des Übergangs von der bestehenden zu einer neuen Strategie mit dem Nebeneinander und überlappen zweier Verteidigungssysteme außer acht läßt, scheint Afheldt — und dies ist der zweite Einwand — die Bevölkerung der Bundesrepublik zu überfordern. So ist trotz aller Hinweise auf das Unterlaufen atomarer Einsätze einer breiten Öffentlichkeit sicher nur schwer plausibel zu machen, daß man zur Verteidigung des Landes den Gegner erst einmal hereinläßt, um ihn dann zu dezimieren und auf Umwegen — über indirekt ausgeübten atomaren Druck — wieder hinauszudrohen. Wer garantiert, daß der eingedrungene Aggressor rational „mitspielt", daß das Rausschmeiß-System funktioniert? Bürger und Soldaten — wird hier ein „Übermensch" in Uniform gefordert? — bräuchten viel Mut, Selbstvertrauen und Opferbereitschaft, um sich rollengerecht zu verhalten. Die Bundesrepublik — ob Afheldt dies* nun will oder nicht — müßte wohl erst durch-organisiert, ja diszipliniert werden, um den Forderungen der neuen Strategie zu entsprechen. Die innenpolitischen, gesellschaftlichen Kosten der neuen Strategie wären also erheblich und kaum auf der Basis von Freiwilligkeit zu leisten.

Außenpolitisch erfordert das Strategie-Modell nicht zwingend eine Neutralisierung der Bundesrepublik. Schließlich wäre das Land nach wie vor (wegen der atomaren Drohkomponente) auf ein enges Zusammenwirken mit den USA angewiesen. Wenn Afheldt aber als Folgen seiner Strategie ein größerer politischer Spielraum der Bundesrepublik sowie ein Hineinwirken durch deren Modellcharakter in den osteuropäischen Raum und damit eine Herausforderung Moskaus vorschweben, muß man konsequent über mögliche Gegenmaßnahmen der Sowjetunion nachdenken. Hier liegt die dritte Gruppe von Einwänden.

Zunächst könnte ein Aggressor auf der vordergründigen Ebene bekannter Methoden gegen das strategische System Afheldts ankämpfen. Da er sich im besetzten Land befindet, steht ihm eine breite Palette von der politischen Propaganda und Verunsicherung bis zum blutigen Terror zur Verfügung. Moralische Skrupel pflegen Invasoren nicht zu haben. Folglich wären zur Bekämpfung der Technokommandos — um nur ein Beispiel zu nennen — auch chemische Kampfstoffe von besonderer Raffinesse (Nervengifte) denkbar. Sicher besäße der Eindringling eine spezifische Gegenstrategie. Warum sollten die innovativen Fähigkeiten der Sowjetunion auf diesem Gebiet geringer sein als die der Bundesrepublik? Damit würde der bisherige Wettlauf zwischen Waffensystemen aber lediglich durch eine Konkurrenz zwischen immer neuen strategischen Systemen ersetzt.

Sollte allerdings der potentielle Aggressor wirklich zu der Überzeugung kommen, daß das gegnerische defensive System nicht aufzubrechen ist, müßte er dann nicht mit allen Mitteln bestrebt sein, dessen Einführung zu verhindern? Auf diese Weise bekäme das neue System eine fatale Wirkung: statt Stabilisierung würde es Risiken schaffen. Sicher ist dies immer nur der schlimmste Fall, doch legt gerade Afheldt selbst diesen strengen Maßstab gegenüber der NATO-Strategie an. Bei etwas Glück und gutem Willen des Gegners läßt sich mit ihr überleben. Darin liegt ja ihr fataler Reiz.

IV. Sisyphus im Atomzeitalter

Wir kehren zurück zu der Frage: Wie gefährlich ist die NATO-Strategie der flexible response wirklich? Theoretisch scheint dieses Problem lösbar zu sein. Man wird die Kritik Weizsäckers und Afheldts — die umfangreicher und differenzierter ist, als hier dargestellt — sorgfältig prüfen müssen. Dies könnte eine allgemein anerkannte, von der Bundesregierung einberufene Kommission tun. Hält die Kritik der NATO-Strategie dieser Durchleuchtung stand, wäre in einem zweiten Durchgang Afheldts Strategievorschlag auf seine Tauglichkeit hin zu untersuchen. Besteht er den Test nicht, ist nach einer anderen Alternativstrategie zu forschen.

Praktisch liegt ein Problem freilich darin, eine wirklich unvoreingenommene Prüfung einzuleiten. Betrachtet man die drei an dieser Stelle gegen Afheldts Plan vorgebrachten Argumente genauer, dann erweisen sie sich keineswegs als für alle Zeiten unwiderlegbar. Vielmehr handelt es sich um Einwände aus unserer aktuellen militärpolitischen Situation und den entsprechenden Denkgewohnheiten. Dieses Denken ist wandelbar; Bewußtseinswandel lautet denn auch die entscheidende Forderung von Weizsäcker und Afheldt. Sie kann gar nicht dringend genug sein, wenn es nur eine Alternative zu ihr gäbe: den atomaren Tod oder die Zerstörung der Bundesrepublik. Das gesamte Kalkül der Wissenschaftler beruht jedoch — und hier liegt ein grundsätzliches Problem — auf einer Voraussetzung: daß Abschreckung und Verteidigung im Atomzeitalter nach Gesetzen der Logik funktionieren Ist dies der Fall, dann besteht Aussicht, eines Tages eine realisierbare Alternativstrategie im Sinne von Afheldt zu finden. Allein diese Aussicht lohnt weitere Stra-tegieforschung und -kritik. Ist dies aber nicht der Fall — lassen sich also Militärstrategien im Atomzeitalter wohl am Reißbrett entwerfen, aber keineswegs verbindlich auf ihre Tauglichkeit überprüfen und damit auch nicht perfektionieren —, erweist sich dann nicht alle Strategieforschung und -kritik eines Tages als sinnlose Sisyphus-Arbeit? Die Antwort lautet: Nein.

Mag Sisyphus auch ein absurder und tragischer Held sein, so sind sein Schicksal und seine Arbeit doch nicht sinnlos. Neben der Ohnmacht des Helden steht seine permanente Rebellion. Er „kennt das Ausmaß seiner unseligen Lage" und denkt darüber nach: „Das Wissen, das seine eigentliche Qual bewirken sollte, vollendet gleichzeitig seinen Sieg. Es gibt kein Schicksal, das durch Verachtung nicht überwunden werden kann." Befreit von aller philosophischen Abstraktheit hat dies für die drei eingangs erwähnten Aufgaben der Strategiekritik handfeste Folgen: Erstens bleiben die im Prozeß der Strategieforschung wie -kritik gewonnenen Kriterien wichtig zur Beurteilung und Eindämmung extremer Forderungen und Ansichten im Bereich der Militärpolitik. Allein als Medizin für militärstrategische Hysteriker sind die Bücher von Afheldt und Weizsäcker weiterhin wertvoll. Zweitens bilden die von ihnen erarbeiteten Grundsätze ein wichtiges Korrektiv gegenüber dem Selbstbewußtsein der professionellen Strategen und deren offiziellem Abschreckungssystem. Sie im Zweifel zu halten über das Funktionieren ihres Instrumentes und seine Tauglichkeit zum Einsatz in einem Ernstfall dürfte die überlebenswichtigste Aufgabe der Strategiekritik überhaupt sein. Drittens aber kann all dies nur geleistet werden bei einem hohen Maß von Selbstkritik unter den Strategiekritikern selbst. Der Strategie-kritiker als Über-Stratege wird leicht zur tragischen Figur. Wenn Afheldt in seinem Alternativsystem Soldaten und Zivilisten — wenn auch unter anderen Vorzeichen — ähnlich überfordert, wie dies orthodoxe Strategie-schöpfer tun, dann ist dagegen zu protestieren. Im Prinzip muß man Afheldts insgesamt bewundernswertes Unternehmen begrüßen, weil es wichtige Fragen aufwirft. Entscheidende Elemente der Afheldtschen Alternativ-strategie dagegen sind mit Vorsicht zu genießen.

Daneben müssen sich die Strategiekritiker immer bewußt bleiben, daß ihre Überlegungen nicht im luftleeren Raum schweben. Die Einbeziehung der Sowjetunion, ihrer militärischen Potentiale und strategischen Doktrinen bleibt eine der unvermeidbaren Aufgaben für die Strategiekritik. Sich ihr zu stellen, gebietet intellektuelle Redlichkeit. Wobei nun aber auch vor einer Fixierung auf den „potentiellen Gegner" zu warnen ist, wenn dabei falsche Prioritäten entstehen und bedeutsame nichtmilitärische Probleme unserer Gesellschaften ungelöst bleiben Wird Selbstkontrolle in diesen und anderen Fragen gewahrt, braucht sich die Strategiekritik keine Sorge um ihre „Existenzberechtigung" zu machen. Minderwertigkeitskomplexe sind nicht angebracht; übertriebenes Selbstbewußtsein verbietet sich angesichts des Gegenstandes ohnehin.

Fussnoten

Fußnoten

  1. JCS Report on US-Soviet Military Strength. United States Information Service (im folgenden USIS). Fernschreiben EUR-41 vom 1. Februar 1977. Siehe auch Wireless Bulletin from Washington (WBfW) vom 2. Februar 1977 No. 23, S. 14— 22.

  2. Proxmire Release on Keegan Assessment of Soviel Strength. USIS, EUR-10 vom 31. Januar 1977. Vgl. zum Beispiel die Wiedergabe einer AP-Meldüng in der Süddeutschen Zeitung (SZ) vom 1. Februar 1977 unter der Überschrift: US-Stabschefs: keine Unterlegenheit.

  3. Typisch für diese Sicht der Lage ist etwa die Darstellung von US-Senator Sam Nunn: Deterring War in Europe: Some Basic Assumptions Need Revising, in: NATO Review No. 1/1977, S. 4— 7.

  4. Robert Close, L'Europe sans Defense?, Brüssel 1976 (erst im Januar 1977 ausgeliefert). Closes Theorie wurde schon seit Sommer 1976 in der Öffentlichkeit diskutiert. Haig widersprach ihr nach einer Meldung der Nachrichtenagentur ddp am 10. Januar 1977. Zu einer ersten Kritik vgl.: „Das Katastrophen-Kalkül von General Close" in der SZ vom 29. Januar 1977, S. 11. — Zum Folgenden: General a. D. Ernst Ferber kritisierte Close am 25. Januar 1977 in einem Vortrag vor dem AmerikaHaus München und anschließend im Gespräch mit dem Verfasser.

  5. Allensbacher Jahrbuch der Demoskopie 1976, hrsg. von Elisabeth Noelle-Neumann, Wien-München-Zürich 1976, S. 289— 291.

  6. In indirekter Form zeigt sich dies etwa in Le-i serbriefen. Relativ gemäßigt sind noch die beiden I Beispiele in der SZ vom 12. Februar 1977, S. 103.

  7. Bogislaw von Bonin, Opposition gegen Adenauers Sicherheitspolitik. Eine Dokumentation, zusammengestellt von Heinz Brill, Hamburg 1976.

  8. Otto Heilbrunn, Konventionelle Kriegführung im Nuklearen Zeitalter, Frankfurt 1967. Die englische Originalausgabe ist 1965 erschienen.

  9. VDW-Wissenschaftlergruppe, Eine andere Verteidigung?, München 1973, insbes. S. 63— 68.

  10. Franz Uhle-Wettler, Leichte Infanterie im Atomzeitalter, Darmstadt 1966; Rudolf Woller, Der unwahrscheinliche Krieg, Stuttgart 1970.

  11. Zum Inhalt des Vorschlags siehe George F. Kennan, Memoiren 1950— 1963, Frankfurt 1973, S. 253 ff.; zu. Kennans späterer Position: S. 262 ff. Vgl. dazu auch das Gespräch Kennans mit dem Encounter (vom September 1976), S. 37.

  12. Horst Afheldt, Verteidigung und Frieden, München 1976. Bei der Studie von 1971 handelt es sich um: Carl Friedrich von Weizsäcker (Hrsg.), Kriegsfolgen und Kriegsverhütung, München 1971.

  13. Guy Brossollet, Essai sur la Non-Bataille, Paris 1975; deutsche Ausgabe: Das Ende der Schlacht, in: Verteidigung ohne Schlacht (Spannocchi und Brossollet), München 1976.

  14. Carl Friedrich von Weizsäcker, Wege in der Gefahr, München 1976.

  15. Das Mittel zum wirklichen Frieden. Menschliches, Allzumenschliches, zweiter Band: Der Wanderer und sein Schatten, zitiert nach der von Karl Schlechta herausgegebenen Werkausgabe, Band I, München 1973, 7. Auflage, S. 986/987. Auf die grundsätzliche Bedeutung dieser Stelle hat schon J. Glenn Gray, Homo furens oder Braucht der Mensch den Krieg?, Hamburg 1970, S. 186 ff., hingewiesen.

  16. In seiner Antrittsrede sagte Carter nach einem Hinweis auf das Andauern des Wettrüstens: „We will move this year a Step toward our ultimate goal — the elimination of all nuclear weapons from this earth." President Carter's Inaugural Ad-dress. WBfW, January 21, 1977, No. 15, S. 3. Das Dementi des Pressesprechers wurde am 27. Januar 1977 vom USIS, EUR-62 gemeldet.

  17. Ungewöhnlich war sie seinerzeit nicht; zum Beispiel war erst vier Jahre zuvor erschienen: Annuarius Osseg, Der europäische Militarismus, Am-berg 1876 — ein Buch, das Weltregierung und Re-Christianisierung („Ein oberstes Völkertribunal" und „Die Rückkehr des Staates zum christlichen Charakter") als „einzige Hilfe" und Mittel zum Frieden fordert. Vgl. insbesondere die Seiten 269— 297.

  18. Am überzeugendsten artikulieren dies Hans-Eckehard Bahr und Reimer Grönemeyer, Konflikt-orientierte Gemeinwesenarbeit, Darmstadt und Neuwied 1974. Zum neuesten Stand dieser Richtung siehe Marianne Grönemeyer, Motivation und politisches Handeln, Hamburg 1976.

  19. So in der Einleitung zu: Kriegsfolgen und Kriegsverhütung, S. 20, 21.

  20. Weizsäcker, Wege in der Gefahr, S. 262, 263: These 4 wird auf den Seiten 135— 139 entwickelt.

  21. Georg Wolff im Spiegel Nr. 53 vom 27. Dezember 1976 meinte, Weizsäckers Buch sei (selber) ein „Versuch, Wissenschaft und Meditation miteinander zu vereinen — ein äußerst schwer durchschaubarer Versuch freilich". Und als der Philosoph im Januar 1977 vor der Evangelischen Akademie Tutzing in einem Vortrag zur Theorie der Macht entscheidende Thesen seines Buches wiederholt hatte, schrieb Malte Buschbeck in der SZ vom 21. Januar 1977 unter der Überschrift „Wettrüsten von Mensch zu Mensch": „Kein Zweifel, daß Weizsäcker sich hier nicht nur in philosophische, sondern weitgehend sogar in theologische Argumentationsbereiche hineinbewegte."

  22. Aus dem Nachlaß der achtziger Jahre, Nietzsche Werke Bd. III, S. 500.

  23. Weizsäcker, Wege in der Gefahr, S. 149.

  24. Aus dem Nachlaß der achtziger Jahre, Werke III, S. 681,

  25. Ernst Jäckh (Hrsg.), Kiderlen-Wächter — Der Staatsmann und der Mensch. Briefwechsel und Nachlaß, Berlin und Leipzig 1924, Zweiter Band, S. 240, 241. Zur Politik der kleinen Schritte s. S. 238: „Die . große Politik'ist nur geeignet, Enttäuschungen herbeizuführen. Wenn man etwas erreichen will, so muß dies in der Art der Präriejäger geschehen, die auf jedem Schritt von der Gefahr umlauert sind, und langsam, geduldig vorwärts schreiten."

  26. Ein interessantes Beispiel in diesem Zusammenhang ist das MRCA-Tornado. Vgl. dazu die noch unveröffentlichte Dissertation von Alfred Mechtersheimer, Die politischen Entscheidungsbedingungen und die Konkurrenz der militärischen und nichtmilitärischen Interessen bei dem trinationalen Rüstungsprogramm MRCA, München 1977 (Schreibmaschinen-Manuskript), vgl. etwa S. 294: „Unter den Bedingungen des atomaren Abschrekkungssystems eignen sich strategische Doktrinen, vor allem ihre vermeintlichen Änderungen, zur Scheinrationalisierung von Rüstungspolitik in besonderer Weise."

  27. Vgl. etwa Golo Mann, Ist der Krieg zu retten?, in: Neue Rundschau 74. Jg. (1963), Erstes Heft, S. 3— 23, insbes. S. 16, 17. Hierauf läßt sich wieder mit Nietzsche einwenden — und die Friedensforschung hat

  28. Karl Jaspers: Die Atombombe und die Zukunft des Menschen, München 19583, S. 30.

  29. Weizsäcker, Wege in der Gefahr, S. 118; zum Vorhergehenden S. 109— 118 und 123 ff., sowie Afheldt, Verteidigung und Frieden, S. 75 ff.

  30. Stefan T. Possony, Die NATO und das Aufkommen neuer Technologie, in: Europäische Wehrkunde vom September 1976 Jg. XXV, S. 433— 441, Zitat S. 436.

  31. Zum Stand der Diskussion in den USA: Civil Defence, The New Debate, in: Survival vom September/Oktober 1976, S. 217— 224.

  32. Am differenzierendsten entwickelt diesen Gedanken Erhard Rosenkranz, Abschreckung durch flexible response — eine Mystifikation?, in: Rosenkranz-Jütte, Abschreckung contra Sicherheit?, München 1974. Dagegen: Weizsäcker, Wege in der Gefahr, S. 235 (Fazit), und ausführlicher bei Afheldt. Wo nicht eigens vermerkt, stützt sich meine Kritik an der flexible response weitgehend auf Weizsäcker und Afheldt.

  33. Weizsäcker, Wege in der Gefahr, S. 235.

  34. Schnells Überlegungen wurden durch einen Bericht der Frankfurter Rundschau vom 13. November 1976 bekannt. Leider fühlte sich Schnell in einem Gespräch mit dem Verfasser (am 14. Februar 1977 in Bonn) zu weiteren Auskünften in dieser Frage nicht berechtigt, so daß die Verbindlichkeit der ihm zugeschriebenen Gedanken ungeklärt bleibt.

  35. Nach einer Meldung der Nachrichtenagentur dpa, abgedruckt in der SZ vom 4. Dezember 1976.

  36. Möllemanns Kritik wurde wiedergegeben von der Nachrichtenagentur ddp; nach SZ vom 6. Dezember 1976.

  37. Weißbuch 1975/1976 zur Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland und zur Entwicklung der Bundeswehr, Bonn 1976, S. 20. Zu den folgenden Weißbuch-Thesen S. 21— 23.

  38. Fred C. Ikle, Nukleare Abrüstung: Eine Über-lebensfrage für die Menschheit, in: Amerika-Dienst 20/1974, 15 Seiten; siehe insbesondere S. 4 ff.

  39. Arthur S. Collins: Tactical Nuclear Warfare and NATO: Liable Strategy or Dead End?, in: NATO's Fifteen Nations, June—July 1976, S. 72 bis 87.

  40. Im einzelnen bei Afheldt, Verteidigung und Frieden, S. 188 ff.

  41. Emil Spannocchi, Verteidigung ohne Selbstzerstörung, in: Verteidigung ohne Schlacht, S. 17— 91.

  42. Marc A. Geneste, The City Walls: A Credible Defense Doctrine for the West, in: Orbis Sommer 1975, Vol. XIX, No. 2, S. 477— 496.

  43. Diese Ableitung und Eigenschöpfung entwikkelt Afheldt auf den Seiten 234— 298.

  44. Diese Überforderung dürfte noch extremer sein als im bisherigen System, wo sie nur selten so eindeutig erkannt und kritisiert wird wie von Collins (siehe Anmerkung 39). Daß bei älteren Autoren, die unter dem Eindruck praktischer Kriegserfahrungen standen, das Gefühl für solche menschlichen Faktoren oft ausgeprägter war, zeigt etwa Karl Pintschovius, Die seelische Widerstandskraft im modernen Kriege, Oldenburg 1936, ’vgl. insbesondere S. 11 ff. Dies bedeutet natürlich nicht, daß ich mit allen dort aufgestellten Behauptungen und Thesen übereinstimme.

  45. In diesem Zusammenhang scheint die mißverständliche Einengung des Clausewitzschen Begriffs der „Friktionen" durch Afheldt von Bedeutung. Wenn Afheldt auf Seite 42 seines Buches zusammenfassend feststellt, die Technisierung des modernen Krieges habe die Friktionen beseitigt, „die nach Clausewitz in der Realität den Zwang zum Äußersten hemmen", dann bezieht sich dies zu ausschließlich auf die Vernichtungskraft. Friktionen anderer Art sind nach wie vor —-und man muß sagen: zum Glück — denkbar (siehe: Carl von Clausewitz, Vom Kriege, hrsg. von Werner Hahlweg, Bonn 1973 18, S. 262, 263) und verhindern den „perfekten" Krieg.

  46. Albert Camus, Der Mythos von Sisyphos, rdeTaschenbuch 90, S. 98, 99.

  47. In überspitzter Form bringt Kennan diese Gefahr auf die Formel: „Isn’t it grotesque to spend so much of our energy on opposing such a Russia in order to save a West which is honeycombed with bewilderment and a profound sense of internal decay?“ (Encounter September 1976, S. 36).

  48. Sie-müssen zwangsläufig dort entstehen, wo man die Kritik überfordert. Siehe Claus Koch, Wehrkraftzersetzung. Wider die Entpolitisierung der Sicherheitspolitik, in: Vorgänge, Zeitschrift für Gesellschaftspolitik. Nr. 23, 15. Jg. (1976) Heft 5, S. 6— 11.

Weitere Inhalte

Christian Potyka, Dr. phil., geb. 1942; nach Bundeswehrzeit und Absolvierung der Deutschen Journalistenschule Studium der Politikwissenschaft, Ethnologie und Neueren Geschichte; von 1970 an Redaktionsmitglied der Süddeutschen Zeitung (Schwerpunkt Militärpolitik). Veröffentlichungen zur äthiopischen Zeitgeschichte, zum Verhältnis von Streitkräften und Öffentlichkeit in der Bundesrepublik sowie zur Strategiediskussion.