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Die Auswirkungen eines Parteitages. Vom XX. zum XXII. Parteitag der KPdSU | APuZ 4/1977 | bpb.de

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APuZ 4/1977 Artikel 1 Vorbemerkung Artikel 3 Stalinismus Die Auswirkungen eines Parteitages. Vom XX. zum XXII. Parteitag der KPdSU

Die Auswirkungen eines Parteitages. Vom XX. zum XXII. Parteitag der KPdSU

Roy Medwedew

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Zusammenfassung

Der XX. Parteitag der KPdSU im Februar 1956, auf dem Nikita S. Chruschtschow mit seiner berühmt gewordenen Rede „über den Personenkult und seine Folgen" die soge-nannte Entstalihisierung eingeleitet hatte, scheint heute in der amtlichen sowjetischen Öffentlichkeit vergessen zu sein. Obwohl mit diesem Parteitag die Befreiung und Rehabilitierung von mehreren Millionen Menschen begann, werden diese Maßnahmen offiziell verschwiegen, dies offenbar, weil sie einst als Voraussetzung für die Erneuerung der Partei und für die Reform des öffentlichen Lebens gedacht waren. Jedoch hatte bereits Chruschtschow selber nach dem Parteitag von 1956 die an die Entstalinisierung geknüpften Hoffnungen auf eine Liberalisierung bald gedämpft. Der Verfasser erläutert die Motive Chruschtschows für seine Kritik an Stalin sowie die Hintergründe für den wechselvollen Verlauf des Entstalinisierungsprozesses. Erst nach dem XXII. Parteitag von 1961 konnte auch in der Öffentlichkeit deutlichere Kritik an Stalin geübt werden, wie sie beispielsweise in A. Solschenizyns Erzählung „Ein Tag im Leben des Iwan Denissowitsch" zum Ausdruck kam. Seither ist die Möglichkeit einer Erinnerung an die Stalinschen Verbrechen und die Schuld der Partei ein Indikator für das jeweils herrschende Maß an politischer Freiheit in der Sowjetunion.

Über Gedenktage

Ein Großteil der ideologischen Arbeit der KPdSU in den letzten zehn Jahren ist auf die Feiern der zahlreichen Gedanktage gegründet. Fast in jedem Monat während dieser Jahre hat unser Land eines Jubiläums gedacht oder einen Gedenktag anläßlich irgendeines bedeutenden Ereignisses vorbereitet, das vor 20 oder 25, 30 oder 50, 100 oder 150, ja gar vor 200 oder 250 Jahren stattfand. Die Leidenschaft für Gedanktage ist, nach Meinung einiger Historiker, ein Anzeichen für das Altern eines Menschen oder des ganzen gesellschaftlichen Organismus. Leider war die nüchterne Betrachtung sowohl der gelösten als auch der ungelösten Probleme — Erfolge und Mißerfolge — nicht das hauptsächliche Merkmal der Gedenkmonate und der „Gedenkjahre"; es überwog die mehrtägige und mehrmonatliche politische Geschäftigkeit, der Leerlauf der festlichen Reden und Sitzungen, die Publikation von nichtssagenden Thesen und Hunderten von „Jubiläums " -Artikeln, Broschüren und Büchern, allesamt inhaltlos und schnell vergessen. Selbst nicht besonders „runde" Daten wie der 40. Jahrestag des VII. Komintern-Kongresses (1935) oder der 40. Jahrestag des 1. Kongresses der Sowjetschriftsteller wurden zum Anlaß für Feierlichkeiten und Auszeichnungen, die weder der gegenwärtigen Lage der kommunistischen Weltbewegung noch der Situation der Sowjetliteratur entsprachen. Es gibt allerdings inmitten dieser Vorliebe für Gedenktage auch wichtige Ausnahmen. Wir denken dabei an solche Jubiläumsdaten, die, bei all ihrer Bedeutung, fast unmerklich vorbeigingen, obwohl gerade sie hinreichende Gründe zu ernsthaftem Nachdenken und belehrenden Schlußfolgerungen boten. So wurde z. B. in der Auslandspresse des 10. Jahrestages des Oktoberplenums des ZK der KPdSU [1964, Anm. d. üb. ] gedacht; die wirtschaftlichen und politischen Ergebnisse des Jahrzehnts 1964— 1974 wurden ausführlich kommentiert. In der Sowjetpresse jedoch blieb dieses Datum nahezu unbeachtet. Sogar in der wirtschaftlichen Fachliteratur wurde der 10. Jahrestag der Wirtschaftsreform von 1965 nicht vermerkt, vom 20. Jahrestag des Septemberplenums des ZK der KPdSU [1953; Anm. d. üb. ] ganz zu schweigen.

Zur gleichen Zeit, als viele Organisationen und die Presse im Ausland (darunter auch die kommunistische Presse) nicht wenig Aufmerksamkeit dem 20. Jahrestag des XX. Parteitags der KPdSU widmeten, hat die sowjetische Presse dieses Datum fast gänzlich mit Schweigen übergangen. Weder die Februar-Ausgaben der Zeitschrift Agitator des ZK der KPdSU noch die Nr. 2 der Zeitschrift Politische Weiterbildung, noch die in Prag von vielen kommunistischen Parteien herausgegebene Zeitschrift Probleme des Friedens und des Sozialismus verloren ein Wort darüber. Lediglich in der Prawda vom 14. Februar konnte man im Leitartikel Der folgerichtige Leninkurs, der im wesentlichen der Vorbereitung des XXV. Parteitages gewidmet war, einige Zeilen über die große Bedeutung des XX. Parteitages der KPdSU finden. Es hieß dort, der XX. Parteitag habe „die in der Vergangenheit aufgetretenen Erscheinungen des Personenkults und die mit ihnen verbundenen Übertretungen der Normen des Parteilebens und der Grundsätze der Leitung der Partei sowie der revolutionären Gesetzlichkeit einer prinzipiellen Kritik unterzogen".

Die Mehrheit der Parteimitglieder und Prawda-Leser werden diese in dem Leitartikel ziemlich isolierten und verwischten Formeln wohl gar nicht wahrgenommen haben. Im übrigen aber gibt es unter den Historikern und den politischen Beobachtern aller Richtungen keinerlei Zweifel, daß gerade der XX. Parteitag der KPdSU einer der wichtigsten Wendepunkte in der Geschichte der KPdSU, der UdSSR und der ganzen Kommunistischen Bewegung war.

Am 14. Februar 1956, wurde in Moskau der XX. Parteitag der KPdSU eröffnet. Es war der erste Parteitag nach Stalins Tod; deshalb erhoben sich die Delegierten und die Gäste sogleich nach der Eröffnung von ihren Plätzen, um ihres unlängst verstorbenen „Vaters und Lehrers" zu gedenken. Obwohl seit dem XIX. Parteitag erst weniger als vier Jahre vergangen waren [5. — 14. 10. 1952; Anm. d. üb. ], hatte sich die Zusammensetzung der Delegierten erheblich verändert. In dem Auftreten der vielen neuen Delegierten spiegelten sich die Wandlungen in der zentralen Parteileitung und in den lokalen Parteiorganisationen wider. Der Parteitag dauerte elf Tage, die voll ausgefüllt waren: Die Delegierten hörten viel Neues, sowohl in den offiziellen Vorträgen und Reden als auch hinter den Kulissen des Parteitags. [Anm. d. üb.: Es ist nie bekanntgegeben worden, wie viele von den 1359 Delegierten des XIX. Parteitags unter den 1436 Delegierten des XX. Parteitags waren. ]

In der Tat konnte die Parteiführung einiges unter ihren Aktiva verbuchen. Der Fortschritt in der Landwirtschaft — in den letzten Jahren der „Stalin-Epoche" von einer schweren Krise heimgesucht — war schon 1954/55 deutlich geworden. Die landwirtschaftliche Produktion war nach dem Septemberplenum des ZK [1953; Anm. d. üb. ] um 20— 30% angewachsen. Auch die Einnahmen der Kolchosniki waren im Durchschnitt um fast das Doppelte gestiegen. Während die unermeßlichen Steuern, die das Dorf lähmten, abgeschafft oder drastisch reduziert wurden, waren die Einkaufspreise für die Produkte der Kolchosen merklich angestiegen. Die Pläne für die Industrieproduktion wurden überprüft: der Wohnungsbau sollte Vorrang erhalten, die Dienstleistungen und die Konsumgüterproduktion sollten entwickelt werden.

Die Partei nahm die Arbeit der Organe der Staatssicherheit unter eine strenge und effektive Kontrolle; Bestand und Funktionen dieser Organe wurden erheblich eingeschränkt. Während seiner Indienreise 1955 erklärte N. S. Chruschtschow in einer seiner Reden, daß es „in der Sowjetunion keine politischen Gefangenen" gebe. Diese Erklärung entsprach jedoch nicht der Wahrheit. Auch im Februar 1956 saßen Millionen von politischen Gefangenen in den Gefängnissen und Lagern, die wie ein dichtes Netz über dem Land geknüpft waren. überprüft wurde bis dahin nur die soge-nannte „Leningrader Affäre", die 1949/50 konstruiert worden war. Allerdings begann 1954/55, wenn auch sehr langsam, die Rehabilitierung einiger anderer Opfer aus einer weitaus früheren Periode. Zu Beginn des XX. Parteitags waren etwa 12 000 Personen, im wesentlichen aus dem Partei-und Komsomolaktiv der dreißiger Jahre, befreit und rehabilitiert; einige von ihnen wurden sogar zum Parteitag eingeladen. Die Mehrheit der Parteimitglieder jedoch war post mortem rehabilitiert worden.

N. S. Chruschtschow sagte in seinem Rechenschaftsbericht nichts über Stalin, er erwähnte lediglich die Vernichtung der „Berija-Bande". Das Thema „Personenkult" wurde immerhin in der Rede A. I. Mikojans berührt, der in vorsichtigen Ausdrücken die schweren Folgen des Kults schilderte und die Rehabilitierung solcher bedeutender Parteiarbeiter wie S. Kossior und W. Antonow-Owssejenko bekanntgab.

Nicht wenige positive Veränderungen erfuhr auch die Außenpolitik der UdSSR; auch darüber wurde auf dem XX. Parteitag gesprochen. Die entscheidende Wende in den Beziehungen zu Jugoslawien, zu Indien, zu Ägypten, zu anderen Ländern der „Dritten Welt" — dies alles war ein sichtbares Verdienst der neuen Führung.

Nicht zuletzt die Beziehungen zu den westlichen Ländern begannen sich zu verändern. An vielen Stellen zerriß der von den beiden Seiten errichtete „Eiserne Vorhang". Die Aufnahme der diplomatischen Beziehungen zur Bundesrepublik Deutschland und die Entlassung der deutschen Kriegsgefangenen, der Staatsvertrag mit Österreich, die Genfer Begegnung Chruschtschows, Bulganins und Schukows mit den Regierungschefs der USA, Englands und Frankreichs bezeichneten den Anfang einer Wendung von der Konfrontation zur Zusammenarbeit. In seinem Bericht vor dem XX. Parteitag sprach N. S. Chruschtschow nicht nur über die Notwendigkeit der „friedlichen Koexistenz", sondern sogar von den Möglichkeiten der Kooperation zwischen Kommunisten und Sozialdemokraten sowie von einem möglichen parlamentarischen Weg zum Sozialismus in Westeuropa. Es wurde gesagt, daß die These von der Unvermeidbarkeit der Weltkriege unter dem Imperialismus jetzt nicht mehr gelte, daß ein neuer Weltkrieg zwischen den Großmächten vermieden werden könne und müsse; daß das Wettrüsten dem friedlichen wirtschaftlichen Wettstreit zwischen Kapitalismus und Sozialismus Platz machen müsse.

Dem stenografischen Protokoll zufolge, das im Sommer 1956 [13. 6. 1956; Anm. d. üb. ] herausgegeben wurde, endete der XX. Parteitag am 25. Februar, nachdem die Direktiven zum 6. Fünfjahrplan angenommen und das Zentralkomitee und die Zentrale Revisionskommission gewählt worden waren. Tatsächlich jedoch ging der Parteitag formell am Abend des 24. Februar zu Ende. Von 125 ZK-Mitgliedern, die auf dem XIX. Parteitag gewählt worden waren, kamen in das neue ZK nur 79; 54 neue ZK-Mitglieder stärkten dort nun die Position und den Einfluß N. S. Chruschtschows. Während im Kreml das erste Plenum des neuen ZK stattfand, auf dem das Präsidium und das Sekretariat des ZK gewählt wurden, tauschten die Delegierten in ihren Hotelzimmern ihre Meinungen über die Ergebnisse des Parteitags aus und packten ihre Koffer.

Die unerwartete nichtöffentliche Kongreß-Sitzung

Kurz vor Mitternacht wurden diese Gespräche und Reisevorbereitungen unerwartet unterbrochen. Die Parteitagsdelegierten wurden wieder in den Kreml gerufen. Ihnen wurde mitgeteilt, daß die bevorstehende Nachtsitzung des Parteitags nicht öffentlich sein würde. N. S. Chruschtschow bestieg die Tribüne und verlas vier Stunden lang, im Namen des soeben gewählten ZK sein berühmtes Referat über den Personenkult und seine Folgen.

Die erschütterten Delegierten hörten den Vortrag schweigend an; hin und wieder wurde Chruschtschow durch Ausrufe der Verwunderung und der Empörung unterbrochen. Chruschtschow sprach über die ungesetzlichen Massenrepressalien, durch Stalin sanktoniert, über die grausamen Foltern, denen viele der Verhafteten, Politbüromitglieder eingeschlossen, unterworfen wurden, über ihre letzten Briefe und Eingaben. Er sprach über den Konflikt zwischen Stalin und Lenin in Lenins letzten Lebensmonaten. Chruschtschow sprach über die vielen zweifelhaften Umstände im Zusammenhang mit der Ermordung S. M. Kirows 1934 und gab zu verstehen, daß Stalin möglicherweise an diesem Mord beteiligt war. Chruschtschow sprach über Stalins Ratlosigkeit in den ersten Kriegstagen und über seine faktische Desertion von seinem Posten in jenen Tagen. Insbesondere Stalin gab der Redner die Schuld an den schweren Niederlagen der Roten Armee in der ersteh Periode des Krieges; er machte Stalin für die Besetzung riesiger Gebiete unseres Landes durch die feindlichen Truppen verantwortlich. Nach dem Zeugnis Chruschtschows war Stalin auch der Initiator der Massenrepressalien in der Nachkriegszeit. Nachdem Stalin die meisten ZK-Mitglieder der dreißiger Jahre liquidiert hatte, bereitete er sich auf eine neue Vernichtung des ZK vor. 1952 waren Molotow, Kaganowitsch, Woroschilow und Mikojan faktisch aus der Parteileitung ausgeshaltet worden. Chruschtschow machte Stalin für die tiefe Krise der sowjetischen Landwirtschaft und für viele grobe Fehlkalkulationen der sowjetischen Außenpolitik haftbar. Er berichtete, daß Stalin selbst die Entstehung des Personenkults begünstigte und daß er eigenhändig ganze Seiten in seine eigene Biographie hineinschrieb.

Eine Diskussion über Chruschtschows Referat fand nicht statt. In den Beschlüssen, die aber erst einige Monate später publiziert wurden, hieß der Parteitag Chruschtschows Vortrag gut und beauftragte das ZK der KPdSU, „konsequent die Maßnahmen zu verwirklichen, die die vollständige Überwindung des dem Marxismus-Leninismus fremden Personenkults garantieren und seine Folgen auf allen Gebieten der Partei-, Staats-und ideologischen Arbeit zu beseitigen".

Bekanntlich ist es nicht gelungen, den nichtöffentlichen Vortrag Chruschtschows geheim-zuhalten. Schon Stalin hatte gesagt, daß ein Geheimnis nur innerhalb des Politbüros gewahrt werden könne, daß, wenn man irgendeine Frage im ZK-Plenum erörtern würde, dies dem „Austragen dieser Frage auf der Straße" gleichkäme. Chruschtschow aber hatte seinen Vortrag nicht im ZK-Plenum, sondern sogar auf einer Sitzung des Parteitags gehalten, vor fast fünfzehnhundert Delegierten aus allen Regionen. Es ist also nicht verwunderlich, daß nicht nur die Tatsache einer nicht-öffentlichen Parteitagssitzung, sondern auch die Hauptthesen des „geheimen" Referats schon nach wenigen Tagen im Ausland bekannt und in der nichtkommunistischen Presse publiziert wurden. Dem — nicht sehr beharrlichen — Leugnen Chruschtschows glaubte niemand, um so weniger, als schon nach einigen Wochen das US-State-Department den vollen Text der Rede von N. S. Chruschtschow in englischer Übersetzung verbreitete.

Den beträchtlichen Einfluß des Referats von Chruschtschow auf die öffentliche Meinung der Welt und insbesondere auf die kommunistische Bewegung will ich hier nicht näher erörtern. Ich möchte nur anerkennen, daß die zahlreichen Vorwürfe gegen seinen Vortrag — er sei ungenügend theoretisch fundiert gewesen, habe es an der historischen Analyse der Ursachen und Bedingungen, die den Stalinkult entstehen ließen und den Massenterror gegen unschuldige Menschen erleichterten, fehlen lassen, er habe die Kritik an Stalin unzulässig auf die Periode 1934— 1953 begrenzt und die verbrecherische Tätigkeit vieler engster Helfer Stalins u. v. a. mehr außer acht gelassen — unbegründet sind. Die Situa-B tion innerhalb des ZK-Präsidiums und innerhalb des ZK selbst, auch die Lage der internationalen kommunistischen Bewegung war im Februar 1956 so, daß Chruschtschow keine längeren wissenschaftlichen Forschungen anstellen, keine detaillierten Begründungen und Erörterungen unternehmen konnte. Vieles mußte er heimlich betreiben, nicht nur ohne Wissen zahlreicher Mitglieder des Zentralkomitees oder der Kommission für Parteikontrolle, sondern auch solcher Mitglieder des ZK-Präsidiums wie Molotow, Kaganowitsch, Malenkow und Woroschilow. Auch konnte er sich auf viele Mitarbeiter der Untersuchungsorgane und der Parteiapparate nicht verlassen. Zwar wurden nach der Erschießung von Berija in einzelnen Städten der UdSSR (Baku, Leningrad, Tbilissi) Prozesse gegen Berijas wichtigste Mitarbeiter (Abakumow, Ruchadse, Bagirow, Rapawa, Paramonow u. a.) durchgeführt, wobei die schrecklichen Verbrechen, die mit ausdrücklicher Billigung Stalins geschehen waren, entlarvt wurden; der Name Stalins jedoch wurde in diesen Prozessen nicht genannt. Der größere Teil der Leitung des ZK suchte offensichtlich die ganze Verantwortung für die Gesetzlosigkeiten der vergangenen Jahre ausschließlich den Organen der NKWD-MGB aufzubürden. Deshalb konnte sich Chruschtschow damals auf den kollektiven Willen des ZK bzw. auf die Ergebnisse der — ein Jahr vor dem XX. Parteitag geschaffenen — Molotow-Pospelow-Kommission zur Erforschung der „Fehler“ Stalins stützen. Chruschtschow ging bei der Vorbereitung und Abwägung seines Parteitagsauftritts zweifellos ein ungeheures persönliches Risiko ein — wahrscheinlich ein größeres Risiko als jenes, das er einging, als er die Verhaftung Berijas und die Zerschlagung von Berijas Stab heimlich vorbereitete. Man mußte schnell, entschieden und selbständig handeln, man konnte sich nur auf wenige vertrauenswürdige Leute stützen (damals waren es Bulganin, Schukow, Furzewa, Serow und einige andere). Das große Risiko für Chruschtschow bestand ja picht zuletzt darin, daß weder er noch seine „Mitverschworenen" schuldlos waren. Auch sie trugen ihren Teil Verantwortung für die Verbrechen der Stalin-Epoche, obschon dieser Teil wesentlich kleiner war als der anderer Mitglieder der Parteileitung. Würde sich die Entlarvung Stalins nicht gegen sie selbst wenden? Wenn man „den Wind säte", würde man dann nicht „den Sturm ernten"? Dies konnte niemand im voraus wissen. Selbstverständlich wären die Hindernisse für den von Chruschtschow geplanten entscheidenden Schritt viel geringer gewesen, wenn die Verurteilung Stalins und seiner Verbrechen nicht so plötzlich oder sogar auf einem KPdSU-Parteitag, sondern vor igendeinem repräsentativen internationalen kommunistischen Forum formuliert worden wäre. Dies aber war 1956 irreal und unmöglich. Man mußte entweder so handeln wie Chruschtschow — und so handeln konnte damals nur er allein — oder überhaupt nicht. Die unmittelbaren Gefahren eines derart entscheidenden Versuchs konnten hoch bedeutsam sein und waren in ihrem Umfang schwerlich vorhersehbar. Dennoch: Obwohl das Risiko sehr groß war, war es jedenfalls gerechtfertigt. Langfristig mußten die Endergebnisse einer solch dramatischen und unerwarteten Entlarvung der Verbrechen Stalins die unzweifelhaften unmittelbaren Gefahren überwiegen. Chruschtschow zog es vor, das Risiko einzugehen, und wir können ihm dafür nur dankbar sein. Die Diskussionen über die Motive, die Chruschtschow bewogen haben, dem XX. Parteitag über Stalins Verbrechen zu berichten und dadurch den fest in unserem Lande und in der Partei verwurzelten Stalinkult zu stürzen, dauern in der kommunistischen Presse des Auslandes und in den Arbeiten von Sowjetologen aller Richtungen bis heute an.

Die Frage nach den Motiven ist kompliziert; sie kann nicht eindeutig beantwortet werden. Der Entschluß Chruschtschows war wohl durch viele miteinander verflochtene Beweggründe bestimmt; wahrscheinlich war er sich sogar selbst nicht über alle im klaren.

Oft wird die Meinung vertreten, daß die Verurteilung der besonders krassen (wenn auch längst nicht aller) Verbrechen Stalins auf dem XX. Parteitag hauptsächlich dem Zweck diente, das System der bürokratischen Verwaltung zu rationalisieren, ja die Privilegien und die Macht der Partei zu festigen. Deshalb habe Chruschtschow in erster Linie die ungesetzlichen Repressalien gegen Parteikader verurteilt, während die Rehabilitierung jener Zehntausende revolutionärer Kommunisten, die in den zwanziger Jahren den verschiedenen innerparteilichen Oppositionsgruppen angehörten und die Ende der dreißiger Jahre fast allesamt auf Stalins Anweisungen umgebracht worden waren, auf dem XX. Parteitag nicht einmal erörtert wurde. Mit anderen Worten: Chruschtschow wollte angeblich die höheren Schichten der Bürokratie von der Angst befreien und auf diese Weise das totalitäre System perfektionieren. Wir wissen heute mit Sicherheit, daß es für niemanden gegen den Terror Stalins eine Versicherung gab; gerade die Spitzen der Partei und des staatlichen Apparates waren in all den Jahren der Stalin-Ära besonders harten Säube-rungen ausgesetzt. Wie Napoleons Marschälle schließlich der Kriege müde geworden waren und sich nach einem ruhigen Leben in ihren Palästen oder Königreichen sehnten, so wurden auch die Gebietsparteisekretäre, Minister, Generale und Marschälle Stalins, die ihren Aufstieg ausschließlich ihm verdankten, der ewigen Furcht vor Repressalien müde, müde des krankhaften Mißtrauens Stalins, müde der Verpflichtung, nächtelang in ihren Arbeitszimmern zu sitzen und auf einen Anruf des fast immer mit irgend etwas unzufriedenen Stalin zu warten. Viele dieser „Soldaten Stalins" waren auch der Notwendigkeit müde, Gewalt und Drohungen in ihren Regionen und Ämtern anwenden zu müssen, um maßlose Beschaffungspläne für landwirtschaftliche Erzeugnisse zu erfüllen oder Anweisungen zu irgendwelchen fälligen „Hexenjagd" -Kampagnen zu befolgen. Diese Stimmungen haben ohne Zweifel Chruschtschow bei der Zerstörung des Stalinkults geholfen; sie garantierten ihm in der ersten Phase die Unterstützung der meisten Parteikader.

Dies ist aber nur die eine und wohl nicht einmal die wichtigste Seite der Wahrheit. Natürlich wünschte die Bürokratie die Beseitigung der Auswüchse des Stalinregimes; an einer offenen Entlarvung, die letzten Endes ihre Macht und ihre Autorität untergraben konnte, war sie jedoch nicht interessiert, zumal auf der höheren und mittleren Ebene der Partei-und Staatsführung der fünfziger Jahre es nur wenige Leute gab, die nicht — direkt oder indirekt — an den zahlreichen Ungesetzlichkeiten der Vergangenheit beteiligt waren. Sie fürchteten, dafür zur Verantwortung gezogen zu werden; selbst die mit vielen Ausflüchten gespickte Rede Chruschtschows schien ihnen in diesem Zusammenhang äußerst riskant und gefährlich.

Noch häufiger wird die Ansicht vertreten, daß Chruschtschows Auftritt vor dem XX. Parteitag eine entscheidende Episode im Kampf um die Macht zwischen den Spitzen der Partei und des Staates gewesen sei. Als Chruschtschow die Initiative zur Entlarvung von Stalins Verbrechen ergriff, habe er einigen „Mitstreitern" Stalins wie Molotow, Kaganowitsch, Malenkow, Woroschilow, Mikojan und anderen einen Schlag versetzt — jenen, die, nach ihrer eigenen Meinung, mehr Rechte hatten, die Macht des verstorbenen Despoten zu „erben", als Chruschtschow. Obwohl Chruschtschow in seiner Rede kein einziges dieser Mitglieder des ZK-Präsidiums beschuldigte, war doch für alle offenkundig, daß diese Leute an den ungeheuerlichen Verbrechen, von denen in der geschlossenen Sitzung die Rede war, beteiligt gewesen sein mußten. Durch einen unerwarteten und schnellen Vorstoß habe Chruschtschow diesen Leuten den Boden entzogen. Sie hätten nur noch die Wahl gehabt, entweder das Haupt vor seiner Macht zu neigen oder aus den gewohnten „Machtkorridoren" hinausgeworfen zu werden. Gewiß, auch in dieser Auffassung steckt ein Stück Wahrheit.

Nicht nur aus der Rede vor dem XX. Parteitag, sondern auch aus allen späteren Äußerungen Chruschtschows, die sich mit dem „Personenkult" befaßten, geht hervor, daß die — beim jungen Chruschtschow noch vorhandene — Ergebenheit gegenüber Stalin längst einer sorgfältig verschwiegenen Abneigung, der Angst, ja, dem Haß gewichen waren. Die Wende setzte anscheinend bereits vor dem Krieg ein und vollzog sich in den Kriegs-und in den ersten Nachkriegsjahren endgültig. Mehrfach hatte Stalin den ihm simpel und beschränkt scheinenden „Nikita" verspottet, oft ihn erniedrigt und beleidigt. Ich hörte es mehr als einmal, daß Stalin während der langen Mittag-und Abendessen — die M. Djilas in seinem Buch Gespräche mit Stalin plastisch schildert — Chruschtschow zwang, den Gopak zu tanzen [Anm. d. üb.: ein ukrainischer Tanz, bei dem der Tanzende in die Knie gehen muß]. „Nikita, tanze!" rief Stalin, als während eines solchen Gelages die Nachricht von der Einnahme Kiews durch die Rote Armee eintraf.

Chruschtschow selbst hatte gelegentlich erzählt, daß Stalin ihn manchmal von weither in seine südliche Datscha bestellte, ihn im Vorzimmer stundenlang warten ließ, um dann, im Vorbeigehen, grob zu fragen: „Wozu bist Du gekommen? Fahre zurück." Ich habe mir auch die Geschichte notiert, wie Stalin während des Krieges, mit Chruschtschow wegen einer ungenauen Mitteilung unzufrieden, diesen mit dem Telefonhörer zu schlagen begann. Auch in der Rede vor dem XX. Parteitag sagte Chruschtschow, daß, wenn Stalin jemanden zu sich rief, dieser nie wissen konnte, ob er nach Hause zurückkehren oder verhaftet würde. Unzweifelhaft suchte dieser lange und sorgfältig geheimgehaltene Haß auf Stalin eine Gelegenheit, sich offen zu zeigen. Dies war in dem Moment möglich, als Chruschtschow nunmehr selbst an der Spitze der Partei stand.

Vieles in Chruschtschows Verhalten 1956 ist mit seinen lobenswerten persönlichen Qualitäten verbunden. A. Solschenizyn hat zweifellos recht, wenn er meint, daß ein solches Wunder wie die Auflösung der Lager und die Befreiung von Millionen Gefangenen auch das Resultat einer „Bewegung der Seele* Chruschtschows gewesen sei, die noch in der abstumpfenden Situation in Stalins Umgebung die Fähigkeit zu guten Taten und zur Reue sich bewahrt habe. Auch war bei Chruschtschow weitaus stärker als bei anderen Mitgliedern des Stalinschen ZK-Präsidiums die Bindung an die Arbeiter und, vor allem, an die Dorfbevölkerung erhalten geblieben. Die schwere, oft sogar tragische Lage der ukrainischen und russischen Bauern bedrückte Chruschtschow tatsächlich; oft genug war er, innerlich gepeinigt, gezwungen, eine für die Landwirtschaft unerträgliche Anordnung Stalins oder Malenkows über immense Ablieferungen und Lebensmittelbeschaffungen in den ohnehin elenden und menschenleeren Dörfern ausführen zu lassen.

Annahme, daß Ich neige jedoch zu der viele der Handlungen Chruschtschows in seinen ersten Jahren an der Spitze der Partei in einem gewissen Grade auch durch jene Eigenschaft eines Kaderarbeiters der Partei und eines Berufsrevolutionärs bestimmt wurden, die für die lokalen Parteiführer in den zwanziger Jahren charakteristisch waren und die Chruschtschow — im schlimmsten Falle nur partiell — ebenfalls sein ganzes Leben hindurch bewahrte. Um den Preis einer gewissen Vereinfachung der Wirklichkeit damals, kann man wohl sagen, daß die erste Generation der Parteiführer die an der Spitze der Revolution stand, nicht genug zusammenhielt; sie trug den Stempel der harten Fraktionskämpfe der vorrevolutionären Jahre, der Emigrantenquerelen, der theoretischen Meinungsverschiedenheiten und persönlichen Ambitionen. Lenin war zwar eine allgemein anerkannte Autorität und der unumstrittene Parteiführer; der Kampf unter den höchsten Führungsspitzen der Partei war nach seinem Tode jedoch unausweichlich, nicht nur wegen der Meinungsunterschiede über den künftigen Kurs, sondern auch als Kampf um die Macht.

Die zweite Generation der Parteiführer, die in den Jahren der Revolution, des Bürgerkrieges, des Zusammenbruchs der Wirtschaft und in den schwierigen NEP-Jahren nach oben gekommen war, hielt mehr zusammen, obwohl sie theoretisch weniger gebildet waren als ihre Vorgänger. Da diese Leute in einer anarchischen, ja, ihnen feindlichen Umgebung arbeiten mußten, hatten sie in der Regel volles Vertrauen zueinander. Es war jene besondere Freundschaft der revolutionären Funktionäre, die der Kameradschaft unter Soldaten oder der Freundschaft kampferfahrener Offiziere verwandt war, zumal sie auch die gleichen Interessen hatten. Dieser Schicht der Parteiführer gehörten solche Leute wie Kirow, Kuibyschew, Ordschonikidse, Kossior, Tschubar u. a. an, die zu Beginn der Revolution von 1917 etwa 30 Jahre alt waren. Ihr sind auch jene jüngeren Mitarbeiter zuzurechnen, die wie Chruschtschow zu Beginn der Revolution erst etwa 23— 25 Jahre alt waren. An diese Schicht schlossen sich dann unmittelbar noch jüngere Revolutionäre an wie A. Kossarew oder N. Ostrowski. Die äußere Einfachheit und sogar Grobheit Stalins imponierte dieser Mittelschicht der Partei mehr als die verfeinerte Bildung und der Hochmut Trotzkis oder als der lehrhafte Dogmatismus und die intellektuelle Unentschlossenheit Kamenews und Sinowjews. Dies alles hat denn auch den Sieg Stalins über die „linke" Opposition nachdrücklicher begünstigt als die theoretischen Differenzen.

Die zweite Generation der Parteiführer setzte sich hauptsächlich nicht aus Theoretikern, sondern aus „Männern der Tat" zusammen, wenn auch nicht alles, was sie getan haben, Lob verdient. Es gab, übrigens, unter diesen auch junge Theoretiker, eine neue Parteiintelligenz, die allerdings nicht dazu kamen, ihre Fähigkeiten zu entfalten. Diese Menschen hatten also viele Vorzüge und viele Mängel, jedoch zählten weder bürokratischer Stumpfsinn noch speichelleckerische Schmeichelei zu ihren Verhaltensmerkmalen. Noch in den zwanziger Jahren versuchte Stalin, die Solidarität dieser Schicht von Parteifunktionären zu zerstören; es gelang ihm allerdings nur teilweise. Diese Schicht kam fast vollständig in den Terrorjahren 1936— 1939 um. Chruschtschow überlebte, indem er unterwürfige Verhaltensweisen, durch Stalin aufgezwungen, angenommen hatte; aber er wurde nie ein „echter" Stalinist; in der Tiefe seiner Seele zweifelte er immer an der „Schuld" seiner alten Freunde; er fand sich mit ihrer Vernichtung nicht ab, die auch ihm die Chance, eines schnelleren Aufstiegs zur Macht eröffnet hatte. Als Chruschtschow an die Spitze des ZK-Sekretariats der KPdSU kam und im Bündnis mit Malenkow, Bulganin und Schukow die Berija-Gruppe ausgeschaltet hatte, war er nicht nur besorgt um die wirtschaftlichen Probleme, sondern ebenso um die Wiederherstellung des guten Namens seiner früheren Freunde. Sehr bald holte er die Familie seines alten Freundes aus dem Stadtparteikomitee Moskau, S. S. Korytnys, aus der Verbannung zurück, desgleichen die am Leben gebliebenen Familienmitglieder von A. Kossarew, S. Kossior u. a.

In vieler Hinsicht ist auch, diese Motivation ein Auslösen für die Rede Chruschtschows vor dem XX. Parteitag gewesen. Er hielt diese Rede so, wie er es konnte; es steht uns nicht zu, die „ungenügende theoretische Fundierung" seines Referats zu bemängeln. Eine entscheidende Entlarvung der Verbrechen Stalins — wenn auch nicht aller — ging von Chruschtschow aus und ist sein persönliches Verdienst. Dies bleibt die bedeutsamste Handlung seines Lebens, die alle seine vorherigen und späteren Fehler überdeckt. Chruschtschow ging insbesondere durch den XX. Parteitag in die Geschichte ein, und er bleibt dank dieser Rede in der Geschichte; dies kann auch das nun schon 12 Jahre dauernde völlige Verschweigen seines Namens durch die sowjetische Presse nicht verhindern.

Die ersten Monate nach dem XX. Parteitag der KPdSU

Auch für die Menschen der Sowjetunion blieb die Rede Chruschtschows nur für kurze Zeit ein Geheimnis. Zwar wurde sie weder in den Zeitungen noch in den Zeitschriften veröffentlicht, doch wurde bald nach dem Parteitag der in einer Spezialdruckerei gedruckte Rede-text an alle Kreis-und Stadtparteikomitees versandt. Bereits einen Monat nach dem Ende des Parteitags verlasen die Vertreter der Kreisparteikomitees in kleineren und größeren Versammlungen die Rede, ohne Auslassungen, vom ersten bis zum letzten Wort. Zu diesen Versammlungen wurden sowohl Parteimitglieder als auch Parteilose eingeladen. Es gab keine Diskussionen; die anwesenden Mitarbeiter der Kreisparteikomitees beantworteten keine Fragen — sie wußten ja gar nicht, was sie hätten sagen sollten. In der Regel wurde die Versammlung für geschlossen erklärt, nachdem die Broschüre im roten Umschlag vorgelesen war. Laut Instruktion war die Broschüre nach Benutzung zu vernichten. Ich werde eine dieser Versammlungen niemals vergessen; sie fand im Klub eines Ziegelwerkes statt, unweit der Station Pribylowo im Gebiet Leningrad, wohin nicht nur Arbeiter des Werks und des Bahnhofs, sondern auch die Lehrer der kleinen Dorfschule eingeladen worden waren, deren Direktor ich damals war. Ich wußte damals schon einiges über die Verbrechen der dreißiger Jahre.

Mein Vater, ein Lehrer an der Militärpolitischen Akademie, war 1938 verhaftet worden und starb drei Jahre später, erschöpft von der ungewohnten Arbeit in den Goldgruben von Kolyma. Kurz vor seinem Tode gelang es ihm, meiner Mutter einen Brief zu schicken, in dem er detailliert die harten Foltern, denen er und seine Genossen im Butyrka-Gefängnis unterworfen wurden, ebenso beschrieb wie die unsinnigen Beschuldigungen, die man gegen sie erhob.

Das schreckliche Regime in den Lagern an der Kolyma schilderte mir 1947 der Altbolschewik I. P. Gawrilow, eine Genosse meines Vaters. Gawrilow wurde während des Krieges plötzlich befreit; er ging als Soldat an die Front und arbeitete nach dem Sieg als Agronom auf einer Sowchose unweit von Moskau. Ein Jahr nach unserer Begegnung wurde er wieder verhaftet.

Auch für mich war die Rede Chruschtschows in vieler Hinsicht eine Offenbarung gewesen. Einen besonders starken Eindruck machte auf mich die Tatsache, daß die Geheimrede offen vor allen Werktätigen vorgelesen wurde — heute meine ich, daß auch dies auf die Initiative von N. S. Chruschtschow zurückging. Es war so, als ob die Partei sich an das ganze Volk wenden würde, mit der Bitte, ihr bei der Beseitigung der Folgen des Stalinkults zu helfen, und um eine Lage zu schaffen, die eine Wiederholung der früheren Verbrechen ausschließen würde. Einige Tage nach der Versammlung beantragte ich meine Aufnahme in die Partei.

Heute wäre es gewiß Unsinn zu sagen, daß die Entlarvung der ungeheuerlichen Verbrechen der Stalin-Epoche das Prestige der Parteiführung gefestigt hätte. Auch die Autorität der KPdSU ist dadurch nicht erhöht worden, und zur Weiterentwicklung der kommunistischen Weltbewegung hat es ebenfalls nichts beigetragen. Nein, der XX. Parteitag war ein schwerer Schlag für das Ansehen unserer ganzen Parteiführung, und es war eine schwere Prüfung für die gesamte kommunistische Weltbewegung. Viele Kommunisten in den westlichen Ländern traten aus der Partei aus. Alle fragten: „Wie konnte es geschehen?", bekamen aber keine vernünftige Antwort. Bekanntlich schrieb die bürgerliche und die sozialdemokratische Presse — von den Zeitungen und Zeitschriften der Emigranten ganz zu schweigen — seit langem über bolschewistische „Missetaten" aller Art, über den Massenterror, über Hunderte von KZ's im Osten und Norden des Landes, die überfüllten Gefängnisse, die physische Vernichtung seiner politischen Opponenten und Gegner durch Stalin. Nicht selten hat man die Methoden des NKWD-MWD-MGB in der westlichen Presse mit denen der Gestapo verglichen, die Opfer des Stalinterrors mit Millionen beziffert. Sowohl die Kommunisten als auch viele westliche Liberale wiesen diese Daten und Vergleiche als vorsätzliche Lüge und Verleumdung zurück. Und nun kommt plötzlich aus Moskau vom Parteitag die Nachricht, daß vieles von dem, worüber die bürgerlichen Zeitungen geschrieben haben, der Wahrheit entspricht, um so mehr, als Chruschtschow Fakten vor dem Parteitag ausbreitete, von denen selbst die Gegner der UdSSR kein Bild hatten. Dies war ohne Zweifel eine harte Probe für alle Freunde der UdSSR und die Anhänger des Sozialismus. Man kann heute mit Bestimmtheit sagen, daß der XX. Parteitag und die mit ihm verbundenen Ereignisse, z. B. die Unruhen in Polen und der Aufstand in Ungarn, in der kommunistischen Weltbewegung eine schwere Krise hervorgerufen haben. Angesichts dieser Krise haben viele ehrliche und aufrichtige Kommunisten oft sich selbst und andere gefragt, ob es denn notwendig war, offen, vor aller Welt über die schweren Verbrechen Stalins zu reden, zumal dafür in einem bedeutenden Maße die Partei als Ganzes verantwortlich war, von ihren Führern gar nicht zu reden. „Was soll ich tun?" fragte mich 1956 ein guter Bekannter, damals Rayonparteisekretär in Leningrad, „wenn im nächsten Monat bekanntgegeben wird, daß selbst Sinowjew, Trotzki und Bucharin völlig unschuldig waren, daß auch ihre Hinrichtung zu den Verbrechen Stalins gezählt werden muß, daß er selbst die Ermordung von S. M. Kirow organisiert hat? Wie soll ich das alles den Arbeitern oder Studenten erklären?" Für mich war das kein Problem. Ich war davon überzeugt, daß die Wahrheit über die Verbrechen der vergangenen Jahre vor Partei und Volk offengelegt werden mußte. Die Krise, die der XX. Parteitag in der kommunistischen Weltbewegung ausgelöst hatte, war die unausweichliche Quittung für die Vergangenheit. Diese Vergangenheit konnte man ja ohnehin nicht verborgen halten — früher oder später wäre sie auf irgendeinem anderen Weg bekanntgeworden. Dann aber wären die Folgen noch schlimmer gewesen.

Um den tiefen Schock, ausgelöst durch den Zusammenstoß mit der harten Wahrheit über die Folgen des Stalinkults, zu überwinden, mußte man zweifellos die politische Atmosphäre und die Arbeitsmethoden von Partei und Parteiführung deutlich verändern, die Linie des XX. Parteitags offen und ehrlich fortsetzen. Doch leider verlief die weitere politische Entwicklung im Lande und in der Partei in einem komplizierten Zick-Zack-Kurs, was der Regeneration unseres gesellschaftlichen Lebens wenig genützt hat.

Schon in den ersten Monaten nach dem XX. Parteitag entwickelten sich einige Dinge ganz anders, als man erwarten konnte. Als im April und Mai die Kommunisten auf den Parteiversammlungen in Leningrad wieder die Frage nach dem Stalinkult stellten, wurde sie entschieden zurückgewiesen. Ein Altbolschewik, der auf der Parteikonferenz der Leningrader Universität eine große Rede über die Verbrechen Stalins gehalten hatte, wurde einige Tage später aus der Partei ausgeschlossen. Ein mir bekannter Dozent für Marxismus-Leninismus, der in einer seiner Vorlesungen die Ursachen des Personenkults erörtert hatte, wurde zum Büro des Stadtparteikomitees zitiert und erhielt einen strengen Verweis. Als in der Zeitschrift Fragen der Geschichte im März 1957 der Artikel von E. N. Burdschalow mit einer ziemlich vorsichtigen Kritik der Fehler Stalins erschien, gab das ZK der Partei eine besondere Verordnung heraus: Die Zeitschrift wurde gerügt, fast das ganze Redaktionskollegium auseinandergejagt.

Die Prawda druckte zwei große Artikel aus der offiziellen chinesischen Zeitung Jen Min Jih Bao nach (und veröffentlichte sie als Sonderdrucke), in denen die unmenschlichen Verbrechen Stalins als „Fehler" und als „Übertretungen der revolutionären Gesetzlichkeit" bezeichnet wurden. Der Autor (man verheimlichte in Parteikreisen nicht, daß Mao Tsetung persönlich sie redigiert oder gar geschrieben hatte) der Artikel versuchte, unter Zuhilfenahme sophistischer Überlegungen zu beweisen, daß viele von Stalin begangenen „Fehler" sogar nützlich gewesen waren, da sie die historische Erfahrung der Diktatur des Proletariats „bereicherten". Am 30. Juni 1956 faßte das ZK der KPdSU einen besonderen Beschluß über die Überwindung des Personenkults und seiner Folgen, der am nächsten Tag in allen Zeitungen publiziert wurde. Dem Inhalt und der Formulierung nach war dieser Beschluß im Vergleich zu der Rede von Chruschtschow auf dem XX. Parteitag ein eindeutiger Schritt zurück. Und einige Monate später [Silvester 1956; Anm. d. üb. ] sah selbst Chruschtschow sich gezwungen zu erklären, daß Stalin ein „großer Marxist-Leninist" und ein „großer Revolutionär" gewesen sei, und daß die Partei es nicht zulasse, „den Namen Stalins an die Feinde des Kommunismus abzutreten". Bei dieser Gelegenheit verurteilte Chruschtschow selbst scharf den Gebrauch des Begriffs „Stalinismus" als Erfindung der antisowjetischen Propaganda. Gewiß, in dieser Zeit gab es in unserem Lande auch andere Ereignisse, die unter allen Gesichtspunkten weit wichtiger waren, als diese ideologischen Schwankungen. Das größte dieser Ereignisse war die Entlassung fast aller politischen Gefangenen und die nicht minder schnelle Überprüfung der Akten und Rehabilitierung nahezu aller 1935/55 umgekommener Häftlinge der Lager und Gefängnisse Stalins. Aufgrund einer persönlichen Anweisung von Chruschtschow wurden etwa 100 Sonderkommissionen eingerichtet, um die Rehabilitierung zu beschleunigen. Die Kommissionen setzten sich zusammen aus Vertretern der Staatsanwaltschaft und des ZK der KPdSU, sie reisten von Moskau aus zu allen Gulag-„Inseln". Die Akten der Häftlinge wurden am Ort überprüft; zur Rehabilitierung und Befreiung genügte fast immer eine flüchtige Durchsicht der Anklageschrift und eine kurze persönliche Unterhaltung mit dem Beschuldigten. Es ging ja nicht nur um Tausende, und die Kommissionen hatten keine Zeit, monatelange Überprüfungen und Prüfungen der Überprüfungen zu veranstalten. Bereits im Sommer 1956 wurden mehrere Millionen politischer Gefangener entlassen und rehabilitiert. Zuerst kamen Parteimitglieder und Familienangehörige der erschossenen und umgekommenen Kommunisten frei. Millionen von Sträflingen, deren Fristen längst abgelaufen waren und die trotzdem in den Lagern oder in der Verbannung festgehalten wurden, sind ebenfalls damals freigelassen worden. In komplizierteren Fällen wurden sie ohne Rehabilitierung freigelassen, mit dem Vorschlag, sie sollten später ihre Rehabilitierung selbst durchfechten. Befreit wurden auch fast alle Parteilosen, die aufgrund falscher Anschuldigungen wegen „antisowjetischer Tätigkeit" verurteilt worden waren. Die Freiheit erlangten auch die wenigen am Leben gebliebenen Mitglieder der Parteien der Sozialrevolutionäre [Anm. d. üb.: Lenins Koalitionspartner 1917/18], der Menschewiki und der Anarchisten, die zuweilen schon seit 25 oder 30 Jahren in den Lagern saßen. In denselben Monaten wurden schließlich alle Kriegsgefangenen und von den Deutschen „verschleppten" sowjetischen Bürger befreit und rehabilitiert, die sich während des Krieges nicht durch Zusammenarbeit mit dem Feind kompromittiert hatten.

Für das innere Leben der UdSSR war die Heimkehr von Millionen Inhaftierten zu ihren Familien sowie die Rehabilitierung der Millionen ermordeter und verstorbener Opfer des Stalinterrors eine weitaus wichtigere Folge des XX. Parteitags der KPdSU als die öffentliche politische Verurteilung Stalins. Gerechterweise muß man allerdings anmerken, daß die Arbeit der Rehabilitierungskommissionen in Moskau und vor Ort von Kompromissen und Unentschlossenheit nicht frei war.

Die Rehabilitierung der verstorbenen und erschossenen Gefangenen — deren Zahl weitaus höher war als die der überlebenden — wurde in der Regel nur aufgrund der Eingaben von Verwandten und Freunden betrieben.

Wenn es keine Eingabe gab, so gab es gewöhnlich auch keine Rehabilitierung. Auch suchte niemand die Verwandten oder die Kinder der Verstorbenen auf, um ihnen die Rehabilitierung mitzuteilen und wenigstens eine kleine Entschädigung für das konfiszierte Eigentum, die weggenommene Wohnung und das vernichtete Leben anzubieten. Die Rehabilitierung geschah gewöhnlich individuell, obwohl die Opfer einst nahezu ausnahmslos wegen der Zugehörigkeit zu irgendeiner der mythischen „antisowjetischen" Organisationen verurteilt worden waren. Namenslisten der Rehabilitierten und Ermordeten wurden nirgendwo veröffentlicht. Obwohl die überlebenden Anhänger der oppositionellen Gruppen der zwanziger Jahre freikamen, ist die Mehrheit von ihnen nicht rehabilitiert worden, von den Menschewiki oder Sozialrevolutionären ganz zu schweigen. Doch auch sie haben jahrzehntelang schuldlos in den Gefängnissen und Lagern gesessen. Eine Überprüfung der gefälschten politischen Prozesse von 1928/31 und von 1936/38 wurde ebenfalls nicht vorgenommen. Die Frau von N. N. Krestinski, der zusammen mit N. Bucharin züm Tode verurteilt worden war [der dritte Prozeß im März 1938; Anm. d. üb. ], hat nach dem XX. Parteitag sieben Jahre lang versucht, die Rehabilitierung ihres Mannes zu erwirken. Als man ihr telefonisch aus dem ZK der KPdSU mitteilte, daß ihr Mann rehabilitiert und wieder Parteimitglied sei, brach sie neben dem Telefon tot zusammen — Herzinfarkt. Bucharins Frau durfte nach 17 Jahren der Haft und der Verbannung nach Moskau zurückkehren; sie wurde rehabilitiert, nicht aber ihr Mann — bis heute nicht. Selbst der Prozeß, in dem M. Tuchatschewski, I. Jakir und andere Militärführer zum Tode verurteilt worden waren [Juni 1937; Anm. d. üb. ], wurde erst 1957 überprüft.

Die Untersuchungsrichter des NKWD, die schuld waren an den Foltern und Qualen der Menschen, wurden nicht zur Rechenschaft gezogen, die Chefs von Gefängnissen und von Lagern wurden nicht bestraft, die Namen von Verleumdern und Denunzianten wurden nicht publiziert — weder die Rehabilitierungskom-B missionen noch die Staatsanwaltschaft noch die Parteiorgane waren dazu bereit. Nur in seltenen Fällen haben diese Leute, die manchmal Dutzende oder Hunderte von Ermordeten und zu Tode Gequälten auf ihrem Gewissen hatten, Parteirügen bekommen: für „Machtmißbrauch" oder wegen der „Anwendung von unerlaubten Untersuchungsmethoden" u. ä. m. Als die Massenrückkehr der ehemaligen Gefangenen einsetzte, erfaßte viele Denunzianten und Untersuchungsrichter, die zumeist bereits pensioniert waren, die Panik. Es gab Fälle von Wahnsinn und von Selbstmord. Ein ehemaliger Oberst des NKWD erkannte einen seiner Angeklagten auf der Straße wieder, fiel vor ihm auf die Knie und bat um Vergebung. Ein Untersuchungsrichter starb an einem Schlaganfall, als er einem seiner Opfer begegnete und es erkannte. Es gab aber auch andere Fälle. Als ein ehemaliger Schuldirektor nach langjähriger Haft im Volksbildungsministerium von Nord-Ossetien [Autonome Republik im Kaukasus, gehört zu Rußland; Anm. d. üb. ] erschien und im Minister seinen ehemaligen Untersuchungsrichter wiedererkannte, bekam nicht der Minister, sondern der Ex-Direktor den Infarkt. In Kiew schoß ein rehabilitierter Offizier auf der Straße auf seinen Untersuchungsrichter, der ihn einst tagelang hatte foltern lassen. Solche Fälle waren jedoch selten. Die Unruhe unter den ehemaligen NKWD-Funktionären legte sich bald. Die Mehrheit der Menschen; die sie irgendwann verurteilt hatten, lag ja längst auf den Massenfriedhöfen, und viele der Zurückgekehrten empfanden in den ersten Jahren eher Furcht vor einer erneuten Verhaftung als Zorn oder Rachedurst. Wie schrieb doch ein anonymer Dichter?

Ohne Trauerilaggen auf den Amtstürmen, Ohne Gedenkreden, ohne Kerzen, Verzieh Rußland den unschuldigen Opfern, Den Opfern und ihren Henkern.

Bald nach dem Parteitag wurden im ZK der KPdSU Kommissionen eingerichtet, die alle Umstände der Ermordung von S. M. Kirow und der Organisierung der „offenen" politischen Prozesse 1936/38 untersuchen sollten.

Diese Kommissionen arbeiteten von Anbeginn sehr langsam; viele Hindernisse wurden ihnen vom Apparat des KGB selbst, aber auch von der Staatsanwaltschaft der UdSSR und vom Apparat des ZK der KPdSU in den Weg gelegt. Es kam vor, daß wichtige Dokumente, ohnehin nur unter großen Schwierigkeiten zu beschaffen, aus den Panzerschränken der Kommissionen spurlos verschwanden.

Nach den Ereignissen in. Ungarn 1956 wurde das Problem der Stalinschen Verbrechen und das Problem der Vertiefung der Vorstellungen des XX. Parteitags der KPdSU zweitrangig. Innerhalb des ZK der KPdSU verschärfte sich der Kampf um die Macht. Es gab zwei Gruppen: die erste wurde von N. S. Chruschtschow angeführt, die zweite Gruppe bildeten die ehemaligen engen Mitarbeiter Stalins, Molotow, Malenkow, Kaganowitsch und Woroschilow, ihr schlossen sich bald Bulganin, Perwuchin, Saburow, Schepilow und einige andere an.

Obwohl in diesem Machtkampf vordergründig Wirtschaftsprobleme eine gewichtige Rolle spielten, war der springende Punkt die Frage der Fortsetzung und Entwicklung der Linie des XX. Parteitags. Diesen an dramatischen Episoden reichen Machtkonflikt hat Chruschtschow nur mit der Hilfe von G. K. Schukow und I. A. Serow, die an der Spitze der Sowjet-Armee und der KGB standen, bestehen können. Der innerparteiliche Kampf war damit aber keineswegs beendet: die nächste Etappe war die Pensionierung von Schukow und Serow, denen Chruschtschow es zwar verdankte, daß er auf seinem Posten blieb, die aber danach, nach Chruschtschows Meinung, in den Staatsgeschäften zu einflußreich geworden waren. Nach Molotow, Malenkow, Kaganowitsch und den anderen wurde alsbald auch Bulganin aus dem ZK-Präsidium der KPdSU entfernt. Obwohl N. S. Chruschtschow nun nicht nur der Leiter der KPdSU, sondern auch Vorsitzender des Ministerrats der UdSSR in Personalunion war, wagte er es gleichwohl längere Zeit nicht, neue Enthüllungen der Stalinschen Politik vorzutragen. Stalins Leichnam ruhte nach wie vor in einem Sarkophag im Mausoleum auf dem Roten Platz. Viele Städte, Tausende von Straßen, Plätzen, Werken, Fabriken, Kolchosen und Instituten trugen weiterhin seinen Namen. Und zwischen 1956 und 1960 erschienen in der Sowjetpresse keinerlei Jubiläums-Gedenkartikel, die auf das Leben und die Tätigkeit der bedeutendsten Partei-und Staatsführer eingingen, die Opfer der Stalinschen Repressalien geworden waren, obwohl man sie post mortem als Personen und als Parteimitglieder rehabilitiert hatte. Stalins 80. Geburtstag jedoch am 21. 12. 1959 wurde von unserer Presse ausführlich begangen.

Die zentrale Parteizeitschrift Kommunist publizierte in ihrer Nr. 18, 1959, einen großen Artikel, worin, u. a., folgendes zu lesen stand: „Am 21. Dezember ist der 80. Geburtstag von J. W. Stalin, einem der bedeutendsten und ak-tivsten Streiter unser Kommunistischen Partei und der internationalen kommunistischen Bewegung. [.. . ] J. W. Stalin war ein bedeutender marxistischer Theoretiker und Organisator, ein beharrlicher Kämpfer für den Kommunismus, dem Marxismus-Leninismus treu und den Interessen der Werktätigen ergeben. Er führte hohe Parteiaufträge aus, er hatte mehr als drei Jahrzehnte lange den Posten eines Generalsekretärs des Zentralkomitees inne. Seine Verdienste um die Partei, die sowjetische Heimat und das Volk, um die internationale kommunistische und die Arbeiter-Bewegung sind groß" (S. 47).

Die Lage im Lande vor dem XXII. Parteitag der KPdSU

Die Periode zwischen dem Juni-Plenum des ZK [1957; Anm. d. üb. ] und dem XXII. Parteitag der KPdSU ist durch viele Umorganisationen und „Bewegungen" gekennzeichnet. Umorganisiert wurde das System der Verwaltung von Industrie und Landwirtschaft, verändert wurde das System der Volksbildung. Die Maschinen-Traktoren-Stationen (MTS) wurden aufgelöst, eine Massenkampagne zur Steigerung der Fleisch-und Milchproduktion wurde durchgeführt usw. Um den noch nicht zu Ende gegangenen sechsten Fünfjahresplan durch den neuen Siebenjahresplan zu ersetzen, wurde 1959 der außerordentliche XXL Parteitag [der einzige in der KPdSU-Geschichte— Anm. d. üb. ] der KPdSU einberufen. Auch die internationale Lage der UdSSR komplizierte sich zu Beginn der sechziger Jahre. Der vom XX. Parteitag verkündete Kurs der „friedlichen Koexistenz", des wirtschaftlichen Wettbewerbs und der Entspannung wurde nicht konsequent verfolgt. Daher wechselten sich in jenen Jahren Perioden der „Erwärmung" mit denen der Verschärfung des „kalten Krieges" ab. Die Beziehungen zur BRD, zu den USA und zu den anderen westlichen Ländern verschlechterten sich rapide. Das Verhältnis zu Jugoslawien verhärtete sich erneut. Die Beziehungen zu China wurden frostiger und feindseliger. Sicherlich gingen viele dieser Komplikationen auf das Konto der westlichen Länder und Chinas; nicht weniger davon hatten jedoch ihre Ursache in der Instabilität der Außenpolitik der UdSSR, die das Unstete in Chruschtschows Verhalten widerspiegelte; seine Reaktionen auf manche Ereignisse in der Welt waren diesen Ereignissen nicht adäquat gewesen. Chruschtschows persönliche Macht wuchs kontinuierlich, die sogenannte „kollektive Führung" wurde zunehmend zu einer leeren Phrase.

Je größer nun die Macht Chruschtschows wurde, um so weniger Geduld, Zurückhaltung und vernünftiges politisches Kalkül zeigte er in seiner Politik, seinen Initiativen und Unternehmungen. Wären bei uns Meinungsumfragen möglich gewesen (im Stile von Gallup oder Harris), so hätten sie unzweifelhaft ein bedeutendes Absinken der Popularität Chruschtschows in den meisten Schichten der Bevölkerung unseres Landes registrieren können. In dieser komplizierten Situation begann die Vorbereitung des für den Herbst 1961 einberufenen XXII. Parteitags der KPdSU.

Das wichtigste Thema, das der XXII. Parteitag erörtern sollte, war das neue Programm der KPdSU. Das zweite Parteiprogramm, das noch aus dem Jahre 1919 stammte, war längst veraltet und hatte nur noch historische Bedeutung. Deshalb war auf dem XX. Parteitag eine besondere Kommission für die Ausarbeitung des Entwurfs eines neuen Parteiprogramms ins Leben gerufen worden [auch schon auf dem XIX. Parteitag 1952, unter Stalins Vorsitz; Anm. d. Üb. ]. Die Richtlinien wurden dieser Kommission von N. S. Chruschtscnow vorgezeichnet.

Es ist hier nicht unsere Aufgabe, die Vorzüge und Nachteile des neuen Parteiprogramms der KPdSU zu analysieren. Wir vermerken nur den prahlerischen und irrealen Charakter ihrer Hauptlosung — innerhalb von zehn Jahren müßten die USA wirtschaftlich nicht nur eingeholt, sondern überholt werden, d. h. in der Produktion von Waren und Dienstleistungen pro Kopf der Bevölkerung. Und in zwanzig Jahren müßte „in der UdSSR im wesentlichen der Aufbau einer kommunistischen Gesellschaft vollendet" sein.

Ich erinnere mich, als stellvertretender Chefredakteur des wichtigen Verlages Bildung an einer ideologischen Sitzung Ende 1960 teilgenommen zu haben. Das Hauptreferat hielt der spätere ZK-Sekretär der KPdSU, L. F. Iljitschow. Nach dem Vortrag beantwortete er schriftlich eingereichte Fragen. Eine der Fragen lautete: „Genosse Iljitschow! Können Sie sagen, in wie vielen Jahren in der UdSSR der Aufbau des Kommunismus vollendet sein wird?" Allgemeines Gelächter im Saal. Iljitschow antwortete lächelnd, daß dieses Problem nicht derart vereinfacht erörtert werden könne. Niemand könne konkrete Fristen für den Aufbau des Kommunismus, nennen. Vielleicht werde man dazu 40 oder 50 Jahre, viel-B leicht aber auch wesentlich mehr benötigen. Nicht einmal ein Jahr später gab N. S. Chruschtschow die Parole aus: „Die gegenwärtige Generation der Sowjetmenschen wird im Kommunismus leben." Der veröffentlichte Entwurf des Programms der KPdSU nannte eine ganz konkrete Frist für den Aufbau des Kommunismus — zwanzig Jahre, d. h. 1980. Diesem Programm gemäß wurden einige der Kontrollziffern für die Industrie-und Landwirtschaftsproduktion in ein Schema gepreßt, dessen Irrealität man unschwer ermessen kann, wenn man diese Daten mit den Zahlen für 1980 vergleicht, die vom XXV. Parteitag der KPdSU bestätigt wurden.

Die Veröffentlichung des Entwurfs des neuen Programms der KPdSU stieß bei der Bevölkerung nicht auf sonderlich viel Enthusiasmus. Die Landwirtschaft trat 1959/61 auf der Stelle, die Versorgung der Städte mit Fleisch und Milch verschlechterte sich zusehends, die Einnahmen der Kolchosniki gingen zurück. Und es ist ganz natürlich, daß die Stimmung der Leute durch die wachsenden Schwierigkeiten der Gegenwart stärker beeinflußt wird als durch die ferne Perspektive allgemeinen Überflusses. Das Hauptproblem für Chruschtschow war jedoch der Verfall seiner Autorität in fast allen Bereichen des Partei-und Staatsapparates. Unter diesen Umständen regten sich nun auch die Kräfte, die man als „neostalinistische Reaktion" bezeichnen könnte. Sowohl N. S. Chruschtschow als auch sein „Schattenkabinett" spürten die wachsende prostalinistische (und entsprechend antichruschtschowistische) Stimmung innerhalb des Machtapparates. Dies hat Chruschtschow dazu bewogen, die Stalinfrage auf dem XXII. Parteitag der KPdSU zu erörtern.

Der XXII. Parteitag der KPdSU. Ein neuer Schritt zur Entlarvung Stalins und des Stalinismus

Es ist aus glaubwürdigen Quellen bekannt, daß während der Erörterung der Tagesordnung und der wichtigsten Themen des bevorstehenden Parteitages im ZK-Präsidium der KPdSU beschlossen wurde, auf dem Parteitag weder die Stalinfrage noch das Problem der „Antiparteigruppe von Malenkow, Molotow, Kaganowitsch und des ihnen angeschlossenen Schepilow" zu diskutieren. Gleichwohl hatte N. S. Chruschtschow am 17. Oktober 1961, sobald er die Tribüne des Parteitags betreten hatte, nicht nur die Frage des Stalinkultes erneut scharf, entschieden und für viele Präsidiumsmitglieder überraschend gestellt, sondern außerdem offen und direkt das Problem der Stalin-Mitarbeiter aufgeworfen. „Zunächst", sagte Chruschtschow, „haben Molotow, Kaganowitsch, Malenkow und Woroschilow der Parteilinie der Verurteilung des Personenkults und der Entfaltung der innerparteilichen Demokratie, der Verurteilung und Korrektur aller Machtmißbräuche, der Entdeckung aller konkret Schuldigen an den Repressalien scharfen Widerstand geleistet. Diese ihre Position war nicht zufällig; sie tragen selbst persönliche Verantwortung für viele Massenrepressalien gegenüber Partei-, Wirtschafts-, Militär-und Komsomolkader und für andere Erscheinungen ähnlicher Art zur Zeit des Personenkults."

Die überraschende Wendung in der Rede Chruschtschows wurde hinter den Kulissen des Parteitags lebhaft kommentiert. Einer meiner Bekannten, der im Serviceapparat des Parteitags arbeitete, hörte M. A. Suslow in der Pause am zweiten Tage des Kongresses im Erfrischungsraum zu seinen Gesprächspartnern sagen: „Warum hat er die überflüssige Beschäftigung mit dieser toten Katze der Antiparteigruppe wiederaufgenommen. Wir hatten uns doch entschieden, diese Fragen auf dem Parteitag nicht zu behandeln."

Jetzt konnte man jedoch der Erörterung der Verbrechen Stalins und seiner nächsten Helfer nicht mehr ausweichen. Alle Redner aktualisierten eilig ihre vorbereiteten Texte für den Parteitag. K. T. Masurow berichtete als einer der ersten Redner detailliert, wie Malenkow die belorussischen Parteikader vernichtet hatte. Z. A. Furzewa sprach über die Verbrechen Kaganowitschs und Molotows. D. S. Poljanski bekundete, wie Kaganowitsch die Parteikader am Kuban zerschlagen hatte. M. A. Scholochow, der am 24. Oktober sprach, trat unzweideutig dafür ein, die Mitglieder der Fraktionsgruppe aus der Partei auszuschließen.

„Jetzt auf dem Parteitag", sagte Scholochow, „sind uns neue Details über ihre verbrecherische Tätigkeit bekanntgeworden, und nun stellt sich die Frage von selbst: Wie lange werden wir in den Reihen der Partei Arm am Arm mit jenen stehen, die der Partei soviel nicht wieder gut zu machenden Schaden zugefügt haben? Sind wir nicht zu geduldig mit jenen, die Tausende von Söhnen der Heimat und Tausende vernichteter Leben ihrer Nächsten auf dem Gewissen haben? Sie müssen und sie werden für die begangenen Verbrechen gegen das Volk und die Partei zur Verantwortung gezogen werden. Dies ist ein allgemeinmenschliches Gesetz." Der Applaus des Parteitages begleitete diese Sätze.

Besonders präzise Angaben über die Verbrechen Stalins und seiner engsten Helfer machten L. F. Iljitschow, N. M. Schwernik, A. N. Schelepin und S. T. Serdjuk. Schelepin war 1961 Vorsitzender des KGB, Serdjuk war Erster Stellvertreter des Vorsitzenden des Komitees für Parteikontrolle; ihre Ausführungen enthielten für die damalige Zeit sensationelle Einzelheiten über die Ereignisse von 1936/39. Als N. S. Chruschtschow in seinem Schlußwort zur Debatte seines Rechenschaftsberichts das Fazit der Beratungen im Plenum zog, ging er wiederum auf die Verbrechen Stalins und seiner nächsten Umgebung ein, wobei er dieser Thematik noch mehr Zeit und Aufmerksamkeit widmete als in seinem eigentlichen Rechenschaftsbericht. Er schilderte genau die Umstände des Todes von Ordschonikidse, er sprach über die Erschießung von A. Swanidse, über die Ermordung der Führer der Roten Armee und der ZK-und Politbüro-mitglieder, über die äußerst fragwürdigen Umstände des Kirow-Mordes. Unter einmütiger Zustimmung des Parteitages schlug Chruschtschow vor, das „Andenken der Genossen, die Opfer der Willkür wurden", zu verewigen, indem man ihnen in Moskau ein Denkmal errichte.

Bevor der XXII. Parteitag zu Ende ging, forderten I. W. Spiridonow von der Leningrader Parteiorganisation, P. N. Demitschew von der Moskauer, G. D. Dschawachischwili von der Georgischen und N. W. Podgorny von der Ukrainischen Parteiorganisation, den Sarkophag mit dem Leichnam Stalins aus dem Mausoleum zu entfernen, denn, so sagte Demitschew, „ihn noch länger dort zu belassen, wäre eine Missetat". Nach der Rede der Parteitagsdelegierten D. A. Lasurkina, die 17 Jahre in den Lagern und Gefängnissen Stalins verbracht hatte, beschloß der Parteitag, Stalins Leichnam aus dem Mausoleum zu entfernen. In dem Beschluß stand, u. a. folgendes: „Die weitere Aufbewahrung des Sarkophages [. . . ] im Mausoluem wird als nicht zweckmäßig angesehen, da die ernsthaften Verstöße Stalins gegen Lenins Vermächtnis, sein Machtmißbrauch, die Massenrepressalien gegen ehrliche Sowjetmenschen und andere Handlungen während der Periode des Personenkults es unmöglich gemacht haben, seinen Sarg im Mausoluem von W. I. Lenin zu belassen." Dieser Beschluß wurde am 30. Oktober morgens gefaßt. Er wurde in der Nacht zum 31. Oktober ausgeführt. Der Dichter J. A. Jewtuschenko schrieb in seinem in der Zeitung Prawda [am 23. 10. 1962; Anm. d. Uh. ] veröffentlichten Gedicht Die Erben Stalins, das viel diskutiert worden ist:

Stumm war der Marmor.

Stumm flimmerte das Glas.

Stumm stand die Wache, bronzefarben im Wind.

Und über den Sarg glitt kaum ein Dunst.

Durch die Ritzen floß der Atem, als man ihn durch die Mausoleumstür hinaus-trug. Leise schwebte der Sarg, mit seinen Enden die Bajonette berührend.

Er verharrte in Schweigen ebenfalls — ebenfalls! — aber in drohendem Schweigen.

Mürrisch die balsamierten Fäuste geballt, im Sarge an der Ritze horchend, simulierte er den Toten.

Sie alle, die ihn hinaustrugen, wollte er im Gedächtnis behalten:

die noch ganz jungen Rekruten aus Rjasan und Kursk, um einmal später, wieder zu Kräften gekommen, aus dem Sarg aufzustehen, und mit ihnen, den Unvernünftigen, abzurechnen. Er führt etwas im Schilde.

Er hat nur zum Ausruhen sich hingelegt. Und ich wende mich an unsere Regierung mit der Bitte:

die Wachen an diesem Grabstein, zu verdoppeln, zu verdreifachen, damit Stalin nicht aufsteht, und mit ihm die Vergangenenheit .

Es wurde keine Wache in der Nähe der Platte, unter der Stalins Leiche ruht, aufgestellt. Dies wäre für Stalin ja auch eine zu große Ehre gewesen. Unweit vom Mausoleum wurde eine Grube ausgehoben, in die der Sarg mit Stalins Leichnam gesenkt wurde. Das Grab wurde nicht mit Erde zugeschüttet. An die offene Grube wurden einige Behälter mit verdünnter Betonlösung herangefahren, der Beton auf den auf dem Boden der Grube liegenden Sarg gegossen. Darüber wurde eine Granitplatte angebracht, die später eine einfache Inschrift bekam: , J. W. Stalin.“ Als N. S. Chruschtschow den XXIII. Parteitag am 31. Oktober 1961 für beendet erklärte, gab es im Mausoleum auf dem Roten Platz keinen Sarkophag mit dem Leichnam Stalins mehr.

Für die Entlarvung und Verurteilung des Stalinismus war der XXII. Parteitag im Vergleich zum XX. Parteitag ein großer Fortschritt. Es ging nicht nur darum, daß auf den XXII. Parteitag neue, früher unbekannte Tatsachen über die Verbrechen Stalins bekannt-gegeben wurden, obwohl auch dies sehr wichtig war; auf dem Parteitag wurde viel Aufmerksamkeit ehemaligen Mitarbeitern Stalins wie Molotow, Kaganowitsch, Malenkow und Woroschilow gewidmet. Die Hauptsache aber war, daß der Parteitag diese Frage nun nicht in einer geschlossenen, sondern in den offenen Sitzungen behandelt hatte. Alle Redetexte wurden jeweils am nächsten Tage in den zentralen Zeitungen publiziert. Ich erinnere mich, mit welcher Aufmerksamkeit wir damals diese Zeitungen lasen und dort in erster Linie immer neue Enthüllungen fanden. Man sprach überall darüber; es entstand der Eindruck, daß der Parteitag eigentlich nicht der Erörterung und der Annahme eines neuen Parteiprogramms wegen einberufen worden war, sondern um die Verbrechen Stalins zu verurteilen. Erst nach dem XXII. Parteitag wurde es möglich, mit vielen Symbolen des Stalinkultes zu brechen. Alle Städte, die Stalins Namen trugen, wurden umbenannt. Die „Stalinplätze" und „Stalinstraßen“ verschwanden, Zeitungen wie Stalinez oder Jungstalinist bekamen einen anderen Namen. Stalins Name verschwand aus den Bezeichnungen vieler Tausende von Werken, Betrieben, Kolchosen und Sowchosen.

Der XXII. Parteitag eröffnete die Möglichkeit für wissenschaftliche Untersuchungen und Publikationen, die bis dahin verboten waren. 1962/64 wurden in der UdSSR Dutzende von Büchern und Hunderte von Artikeln veröffentlicht, die neue Tatsachen über die Verbrechen Stalins und seiner Mitarbeiter enthalten. In den Zentralzeitungen, in den Zeitungen der Unions-und der Autonomen Republiken, in den Regional-und Gebietszeitungen erschienen zahlreiche Nachrufe zum Gedächtnis der in den dreißiger und vierziger Jahren umgekommenen Partei-, Staats-, Wirtschafts-und Militärarbeiter, auch der Intellektuellen und Künstler. Allein in meinem Privatarchiv besaß ich bis Ende 1971 (im Oktober 1971 wurde mein Archiv beschlagnahmt) etwa eintausend Zeitungsartikel, die mit den Worten endeten: „Wurde ein Opfer von grundlosen Repressalien während der Periode des Stalinkults. Nach dem Tode rehabilitiert", oder: „In den Jahren des Personenkults tragisch umgekommen. Die Partei gab ihm seinen guten Namen zurück.“

Nach dem XX. Parteitag haben sich nur einige wenige entschlossen, unter tiefster Geheimhaltung ihre Erinnerungen an die von ihnen erlebte Tragödie aufzuzeichnen; nach dem XXII. Parteitag wurden solche Erinnerungen von Dutzenden und Hunderten von Menschen niedergeschrieben — natürlich aus verschiedenen Blickwinkeln und von unterschiedlicher Qualität. Das Thema Stalinkult, das Thema Machtmißbrauch, das Gefängnis-und Lagerthema fand auch in der Belletristik seine Widerspiegelung. Das weitaus bedeutendste und größte Ereignis dieser Art war ohne Zweifel die Veröffentlichung der Erzählung Ein Tag im Leben des Iwan Denissowitsch von A. I. Solschenizyn in der Zeitschrift Nowy mir unter A. T. Twardowski. Aber auch andere Werke zu dieser Thematik, wovon ein Teil publiziert (z. B. die Memoiren von General A. Gorbatow), ein anderer Teil in Abschriften schnell im ganzen Land verbreitet wurde (z. B. Harte Marschrichtung von Je. S. Ginsburg oder Erzählungen von Kolyma von W. Schalamow), hinterließen im Bewußtsein derer, die sie gelesen haben, eine unauslöschliche Spur. Obwohl die Entwicklung nicht ausreichend konsequent war, unterschied sich die Situation der Gesellschaftswissenschaften und der Literatur nach dem XXII. Parteitag wesentlich von der nach dem XX. Parteitag. Die komplizierten und schwierigen Prozesse der Klärung und der Umwertung vieler Werte, die in der internationalen kommunistischen Bewegung bereits nach dem XX. Parteitag der KPdSU klar zutage traten, können für unser Land hauptsächlich erst nach dem XXII. Parteitag registriert werden. Deswegen sprechen wir gewöhnlich von der „Linie des XX. und des XXII. Parteitages". Und deswegen haben wir unseren Beitrag, der dem 20. Jahrestag des XX. Parteitages der KPdSU gewidmet ist, mit dem Bericht über den XXII. Parteitag abgeschlossen.

Moskau, im Februar 1976 Aus dem Russischen übersetzt von Michael Morozow.

Fussnoten

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Roy Medwedew, geb. 1925 in Tiflis, Sohn eines während der Stalinschen . Säuberungen'umgekommenen Philosophen; 1956 Beitritt zur KPdSU; Geschichtslehrer, Parteiausschluß wegen Dissidententätigkeit; Arbeit im Verlagswesen. Gegen Ende der sechziger Jahre begann Medwedew, an einer Geschichte des Stalinismus zu schreiben; er arbeitet derzeit in Moskau an einer Studie über das Jahr 1918. Veröffentlichungen u. a.: Die Wahrheit ist unsere Stärke. Geschichte und Folgen des Stalinismus, Frankfurt/M. 1973; Sowjetbürger in der Opposition, Hamburg 1973; Solschenizyn und die sowjetische Linke, Berlin 1976.