I. Vorbemerkung
Der Titel dieser Replik orientiert sich an dem 1971 in der Zeitschrift „Gruppendynamik" erschienenen Aufsatz von Brigitte Eckstein: „Kollektive Illusionsbildung bei Hochschullehrern" In ihrer ebenso knappen wie prägnanten Abhandlung nahm Eckstein seinerzeit eine kollektive Identitätskrise der Hochschullehrerschaft zum Ausgangspunkt ihrer Überlegungen. Sie schrieb diese Krise sowohl einem Funktionswandel der Hochschulen wie einer Verschiebung des sozialen Status der Professorengruppe zu und stellte die Hypothese auf, als Reaktionsweisen auf derartige Krisen sowie die damit „verbundenen Reifungsängste" seien Illusionsbildung und Realitätsverleugnung zu erwarten. Eckstein überprüfte dann ihre Annahmen und fand sie bestätigt im Hinblick aul das Festhalten der Hochschullehrermehrheit an drei Illusionen: die Illusion von der Freiheit der Forschung die Illusion von der hinreichenden Qualität der Lehre sowie die Illusion von der Eigenverantwortlichkeit der in ihrer Sozialisation geschädigten Studenten für erlittene soziale und psychische Schäden
Die vorliegende Replik geht davon aus, daß neue Rollenerwartungen und -anforderungen an die Professorengruppe zusätzlich entstehen bei der Durchführung von Hochschulreformen sowie einer (auch nur ansatzweisen) Ersetzung der Ordinarien-durch die Gruppenuniversität. Die Ausgangshypothese lautet, daß dadurch nicht nur die Identitätskrise großer Teile der Hochschullehrerschaft zunimmt; auch die konservativen Züge der Illusionsbildung werden verstärkt, mit der man auf diese Krise reagiert. Erörtert und belegt wird diese Hypothese nachstehend an Hand folgender, von Löw angeschnittener Fragenkomplexe: -„Die Ordinarienuniversität war effektiv" — „Der professorale Monolog ist unvermeidlich" — „Universitätskonflikte werden von linken Studenten erzeugt und nicht von Ordinarien" — „Kommunistische Zustände machen klar, wohin die Bestrebungen der Hochschullinken führen" -„Auf rechtsstaatlicher Basis sind Berufs-verbote rechtens."
In entsprechende Abschnitte sind die nachstehenden Überlegungen gegliedert. Eine zusammenfassende Wertung wird in einer kurzen Schlußbemerkung versucht.
II. „Die Ordinarienuniversität war effektiv'
„. .. Der Großbetrieb einer modernen Universität und vieler ihrer Institute erfordert einen Verwaltungsapparat, dem die herkömmli-chen . . . Einrichtungen nicht gewachsen sind . . . Als Beratungs-und Beschlußkörperschaften der akademischen Selbstverwaltung (werden die Fakultäten) immer schwerfälliger . . . Andererseits ist die Aufgabe noch ganz ungelöst, den heute stark erweiterten Kreis der wissenschaftlichen Mitarbeiter . . . an der Verantwortung für die Selbstverwaltungsangelegenheiten zu beteiligen. Dem Idealbild einer Gelehrtenrepublik’ steht in der Wirklichkeit eine Oligarchie der Lehrstuhlinhaber und eine Monokratie der Institutsdirektoren gegenüber."
Diese Sätze stammen aus den „Anregungen des Wissenschaftsrates zur Gestalt neuer Hochschulen" über den hierarchisch erstarrten, partikularistisch „versäulten" gegenüber strukturellem Wandel darum blokkierten Zustand der westdeutschen Hochschulen war somit durch den Wissenschaftsrat 1962 ein Urteil gefällt, dessen Schärfe nicht erst noch gesteigert zu werden brauchte, als 1966/68 die Studenten es waren, die in der „Diskussion um die Hochschulreformen den entscheidenden Anstoß" gaben und der Regierungschef der Großen Koalition, Kiesinger, vor dem Bundestag erklärte: „Zu den qualitativen Mängeln . . . gehört die vielfach überholte Verfassung unserer Hochschulen. Ferner ist der Studiengang in einigen Disziplinen ungeordnet, die Studiendauer zu lang und auch die Mitgestaltung des akademischen Lebens durch Dozenten, Assistenten und Stu-denten ungenügend. Das Drängen nach einer raschen Reform ist daher durchaus verständlich und berechtigt."
Zur Qualität der Lehre, insbesondere der Effektivität von Vorlesungen, hatte der Wissenschaftsrat sich in seinen Anregungen von 1962 noch sehr zurückhaltend und nur indirekt geäußert: die Einrichtung eines Vorstudiums in sog, Kollegienhäusern „würde es ermöglichen, das Studium rationeller zu gestalten. Die großen Vorlesungen, die entsprechend umgeformt werden müßten, könnten eingeschränkt und das Schwergewicht mehr auf Übungen und Seminare gelegt werden" Als Kiesinger seine Erklärung abgab, war inzwischen die vom Institut für Bildungsforschung der Max-Planck-Gesellschaft publizierte Untersuchung: „Studienweg und Studienerfolg" erschienen Damit lagen aufgrund einer repräsentativen statistischen Umfrage quantitative Unterlagen vor, die eine Urteilsgrundlage lieferten. Wesentlichste Ergebnisse waren:
Die Erlolgsquote (Examensabsolventen eines Jahrgangs in einem Fach: Studienanfänger des Jahrgangs . /. Fachwechsler) betrug in Medizin und Jura noch 87 bzw. 83 °/o der männlichen (71 und 74 °/o im Falle der weiblichen) Studenten, ging bei Natur-bzw. Wirtschaftsund Sozialwissenschaften auf 78 bzw. 76 °/o der männlichen (50 und 58°/o der weiblichen) Studierenden zurück und belief sich bei den Kulturwissenschaften (d. h., entsprechend dem Begriffsgebrauch des Statistischen Bundesamts, den Geistes-und Sprachwissenschaften der Philosophischen Fakultät) nur noch auf 55 (männliche) bzw. 37 °/o (weibliche Studierende)
Der Studienauiwand (Gesamtzahl der in einer Fachrichtung von einem Jahrgang — einschließlich Fachwechsler und Studienabbrecher — studierten Semester: Zahl der aus diesem Jahrgang erfolgreich abgelegten Prüfungen) lag nur in Medizin mit 13, 9 Semestern nicht wesentlich über der Mindeststudiendauer (11 Semester), war in Jura bzw. Wirtschafts-und Sozialwissenschaften dagegen schon nahezu doppelt so hoch (12, 5 und 1 gegenüber 7 bzw. 8 Semestern), betrug in den Naturwissenschaften mehr als das Doppelte und stieg im Falle der Kulturwissenschaften auf das fast Zweieinhalbfache (19, 1 gegenüber 8 Semestern) 14).
Daraus wurden in der Untersuchung folgende Schlüsse gezogen: 1. „In der (Philosophischen) Fakultät... ist der Studienaufwand so groß, daß nach der Funktionsfähigkeit des Systems überhaupt gefragt werden muß." 2. „Auf die . Effektivität'des akademischen Unterrichtes" liefert die Meßziffer „Studienaufwand" deutliche Hinweise, wenn auch mangels besonderer Untersuchungen keinen endgültigen Maßstab. „Zur befriedigenderen Gestaltung und Wirkung des Studiums . . . könnte . . . die Hochschuldidaktik . . . entscheidend beitragen." 3. „Die sogenannten Studienverlängerer, Fachwechs 1 gegenüber 8 Semestern) 14).
Daraus wurden in der Untersuchung folgende Schlüsse gezogen: 1. „In der (Philosophischen) Fakultät... ist der Studienaufwand so groß, daß nach der Funktionsfähigkeit des Systems überhaupt gefragt werden muß." 2. „Auf die . Effektivität'des akademischen Unterrichtes" liefert die Meßziffer „Studienaufwand" deutliche Hinweise, wenn auch mangels besonderer Untersuchungen keinen endgültigen Maßstab. „Zur befriedigenderen Gestaltung und Wirkung des Studiums . . . könnte . . . die Hochschuldidaktik . . . entscheidend beitragen." 3. „Die sogenannten Studienverlängerer, Fachwechsler und Studienabbrecher werfen aufgrund der Fehlinvestitionen und der Frustrationen, denen sie möglicherweise lebens-lang unterliegen werden, sozialpsychologische, bildungsökonomische und gesellschaftspolitische Probleme auf, die weit über die Universität hinausweisen." 15)
Zusammengefaßt: Löw erliegt einer konservativen Illusion, wenn er die Ausbildung an der Ordinarienuniversität für effektiv erklärt. Er sitzt einer interessenbedingten Abwehrbehauptung auf, die Professoren vom „Blauen Gutachten" des Jahres 1948 bis zu Heimpels Schrift: „Probleme und Problematik der Hochschulreform" 1956 nicht müde wurden zu wiederholen: „Die Hochschulen (sind) Träger einer alten und im Kern gesunden Tradition" 16) ... „Die deutsche Hochschule in ihrem Kern ist gesund." 17)
Die Ineffektivität der westdeutschen Universitätsorganisation und -ausbildung trat vielmehr zu deutlich zutage, als daß sie nicht auch in der Wirtschaft registriert worden wäre: „Ich kann aus der Sicht des Unternehmers nur feststellen, daß wegen unzureichender . Produktionsstätten'für Forschung und Lehre und vor allen Dingen wegen fehlender . marktgerechter Betriebsmittel'ungenügend und sehr häufig am Markt vorbei produziert wurde.“ 18) Damit lag die Gefahr nahe, daß man den diagnostizierten Mängeln des Studiums — wie schon vom Institut für Bildungsforschung der Max-Planck-Gesellschaft befürchtet — vornehmlich mit „organisatorische(n) Maßnahmen zur Straffung und Kontrolle des Studiums" 19) zu begegnen versuchen würde: Modernisierung und Rationalisierung, aber keine Strukturänderung des akademischen Unterrichts und keine Demokratisierung der Ordinarienoligarchie. Der 1957 errichtete „Gesprächskreis Wissenschaft und Wirtschaft" hatte 1964 empfohlen, „das Studium für alle Fakultäten ... bis zum erstmöglichen Studienabschluß (Diplom oder 1. Staatsexamen) auf höchstens vier Studienjahre" zu beschränken: „Das Studium sollte ein echtes Leistungsstudium sein. Es sollte durch Zwischenprüfungen einer entsprechenden Selbstkontrolle und Qualitätsauslese unterworfen werden." Der Wissenschaftsrat verabschiedete 1966 „Empfehlungen zur Neuordnung des Studiums an den wissenschaftlichen Hochschulen", die die GKWW-Vorstellungen aufnahmen: (1) Untergliederung der Ausbildung in ein berufsorientiertes „Studium für alle Studenten" und ein forschungsorientiertes „Aufbaustudium ... (für das) eine besondere Zulassung notwendig sein" wird; (2) Begrenzung der Studienzeit auf vier, Befristung der Immatrikulation auf viereinhalb Jahre, Einführung einer Zwischenprüfung, (3) in den Anfangssemestern wirksame „Führung und Kontrolle" der Studierenden, derer diese während ihrer ersten Studienphase „am dringendsten" bedürfen Der Hinweis konnte nicht ausbleiben, daß in dem (1957 durch ein Verwaltungsabkommen zwischen Bund und Ländern gegründeten) Wissenschaftsrat zwar 16 Professoren, aber auch 11 Länder-und 6 Bundesbeamte (mit zusammen Stimmen)
sowie 6 Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens saßen, die insgesamt zur einstimmig beschließenden Vollversammlung zusammentraten, und daß zur Zeit der Verabschiedung der Empfehlungen durch die letztgenannten 6 Mitglieder außer der Bundesbank mehrere große Industrieunternehmen repräsentiert waren 22).
Hintergrund der „Zwangsjacke für die Studienreform" in Gestalt dieser Empfehlungen, die die technokratische Seite der Hochschulreform einläuteten bildet ein — in den Worten der Westdeutschen Rektorenkonferenz — „sehr enge(r) Leistungs-und Effizienz-begriff .. ., bei dem der technische und wirtschaftliche Fortschritt im Vordergrund steht". Gegenüber dem Bundesverband der Deutschen Industrie hat die WRK 1971 darauf hingewiesen, daß „eine technisch und wirtschaftlich perfektionierte Gesellschaft zutiefst inhuman und ungerecht sein" kann und daß ein rein quantitativer Effizienzbegriff „nicht gleichermaßen (gilt) für so wesentliche Funktionen wie die Persönlichkeitsbildung des einzelnen, die Entwicklung eines kritischen Vermögens bei Lernenden und Lehrenden, die Förderung der Rationalität politischer Entscheidungen, den Beitrag zur Schaffung einer Gesellschaft, in der Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit bestehen, und zur Verbreitung von Toleranz und Frieden in der Welt"
Löws Kritik an der Gruppenuniversität liegt der in diesen Sätzen kritisierte enge Effizienz-begriff zugrunde („Die Gruppen-und Gremien-Universität ist teuer" ........... Schöpferische Kräfte wurden in der Selbstverwaltung verschlissen" .. . „Ein Semester lang (wurde) nur darüber diskutiert, ob es Sinn habe, sich mit Literaturgeschichte zu befassen"). Seinen Beispielen läßt sich leicht entgegenhalten, — daß Löws „Personalausgaben je Student“ keine statistische Größe darstellen, die die damit verbundenen Behauptungen verifiziert. Die „demokratisierte" Technische Universität Berlin hat ermittelt daß die Kosten für die akademische Selbstverwaltung 1975 in absoluten Zahlen 4, 1 Mio. DM, in anteiligen Ziffern genau 1, 34% des gesamten Universitätshaushalts ausmachten und daß die durch die Selbstverwaltung entstehende zeitliche Belastung sich für Hochschullehrer auf 10 %, für wissenschaftliche Mitarbeiter auf 2, 1 % und für nichtwissenschaftliche Bedienstete auf 0, 3 % ihrer Arbeitskapazität belief — daß die von Löw zitierte Behauptung des Bundes Freiheit der Wissenschaft, die Freie Universität Berlin sei „in großen Teilen zu einem Selbstbedienungsladen für Stellen-und Sachmittel degeneriert“, eine Schutzbehauptung darstellt, hält man sich den 1968 erstatteten Bericht der Landesrektorenkonferenz Nordrhein-Westfalen vor Augen, wonach der Haushalt der Ordinarienuniversität „kein funktionelles Instrument der Wissenschaftsfinanzierung innerhalb der Hochschule (war), sondern im wesentlichen die Akkumulation von Berufungszusagen des Kultusministers an die Lehrstühle und ihre Institute" (wofür „ordinarialer Selbstbedienungsladen" zweifelsohne ein unfeiner Ausdruck wäre); — daß nach einer für die Bundesrepublik repräsentativen Stichprobenerhebung des Hochschul-Informations-Systems (HIS) Hannover (Grundgesamtheit: Exmatrikulierte des Studienjahres 1974) bei durchschnittlich leicht erhöhtem — im Falle der Kulturwissenschaften dagegen leicht gesunkenem — Studien-aufwandje Examen die Studienabbruchsquote drastisch auf 12% gesunken ist Dies bestätigt den in „Hochschulreform als . Unruheherd'" resümierten Befund, wonach einerseits Änderungsansätze im Lehrbereich steckengeblieben sind (nach dem Erhebungsergebnis des HIS ist nach wie vor „eine grundlegende Überarbeitung der Studienordnungen" erforderlich, wobei „besonders rigide" Studienorganisationen den Studienverlauf ebenso wenig begünstigen wie „besonders wenig strukturierte" andererseits Ansätze zur Hochschulreform insgesamt — einschließlich einer begrenzten Demokratisierung im Entscheidungsbereich — im Hinblick auf Studienerfolg und Verweildauer keineswegs beeinträchtigend sich ausgewirkt haben.
Entscheidender ist jedoch ein anderer Gesichtspunkt, auf den die Westdeutsche Rektorenkonferenz in ihren zitierten Überlegungen zum Leistungsbegriff hingewiesen hat: daß es darum geht, Effizienz und Demokratie „unter demokratischem prius“ (Narr) miteinander zu verbinden. Dies geschieht dadurch, daß die Ausbildung ebenso Fragen der Verantwortung von Lehre und Forschung für die Gesellschaft wie der Verwertung beider durch die Gesellschaft einbezieht; daß sie Selbständigkeit des Urteils und kritische Einsicht fördert (auch durch eine einsemestrige Diskussion über den „Sinn" des Fachs, das man studiert); und daß sie eine aktive Beteiligung am organisatorischen Prozeß von Lehre, Lernen und Forschung ermöglicht Kurzfristig mag Demokratie, ob gesamtgesellschaftlich oder in sozialen Teilbereichen, tatsächlich mehr „kosten" als autoritäre Lösungen, als der vielbeschworene „Sachverstand" der einsamen Ent-Scheidung. Mittel-oder langfristig allerdings führen derartige „Lösungen" regelmäßig zu dem, was Dahrendorf in seiner (1965 verfaßten) Analyse des herrschenden „Kartells der Eliten" für die Bundesrepublik diagnostiziert hat: zu einer Scheinstabilität, die sich (so Dahrendorfs Prognose) als Stagnation entpuppen und in unverhoffte Richtungen hin explodieren könnte
Zusammengefaßt: Löw verfällt einer konservativen Illusion, wenn er einem „reinen" Kosten-und Leistungsbegriff das Wort redet. Wenn er darüber hinaus die Prüfungsergebnisse einer Hochschule mit den Wahlmeldungen autoritärer Regime vergleicht (die statt Zwang und Alternativlosigkeit ein hohes Maß an Freiwilligkeit und Unterstützung vorspiegeln wollen) — dann genügt ein Augenblick ruhigen Nachdenkens, um zu erkennen, daß es zwischen beiden (und zwar auch dann, wenn man die Kriterien der Notenfindung angreifen will) keine, aber auch nicht die geringste sachliche oder methodische, sondern nur eine suggestive Analogie gibt. Ein Urteil über die Weckung derartiger Suggestivvorstellungen zu fällen, erübrigt sich.
III. „Der professorale Monolog ist unvermeidlich"
„Daß eine Mutter ihren Kindern Geschichten vorliest, hat nur solange Sinn, als die Kinder noch nicht selbst lesen können. Sobald sie dazu in der Lage sind, verlieren sie in der Regel jegliches Interesse an solchen . Vorlesungen'und lesen die betreffenden Bücher lieber für sich selbst." Fazit: „Seiberlesen macht mündig."
Seifferts Plädoyer für den Wegfall der Vorlesung durch ihre — schriftliche oder akustische (Tonband) — Objektivierung mit dem Ziel, „daß der Student die Freiheit hat, ob, wann, in welchen Ausschnitten und wie oft er (sie) zur Kenntnis nehmen will wurde vor nunmehr sieben Jahren veröffentlicht. Seiffert bezog in seine Objektivierungsforderung die Seminarübung ausdrücklich ein: er regte an, der Dozent solle seine leitenden Gedankengänge in Form eines „Papiers" zur Diskussion anbieten, im übrigen die Vorbereitung derartiger Veranstaltungen mit interessierten Studenten gemeinsam betreiben und die Übungen anschließend als Tutorien, unterteilt in Plenar-und tutorenbetreute Kleinstgruppensitzungen, durchführen Der Wegfall der „Referateverlesestunde" durch vorherige Vervielfältigung und Durcharbeitung der Refera-te sowie die Wahrnehmung der Diskussionsleitung durch Studierende (entweder Mitglieder der Referatsgruppe oder eine Sitzung zuvor gewählte und vorbereitete andere Übungsteilnehmer) dienen nach diesem Konzept zusätzlich dem Zweck, die Zahl derjenigen Studenten zu verringern, die „vier bis sechs Jahre an der Universität (verbringen), ohne in einer einzigen Lehrveranstaltung den Mund aufgemacht zu haben, außer natürlich zum Gähnen"
Inzwischen existieren an mehr als fünfzehn westdeutschen Universitäten hochschuldidaktische Zentren, Institute oder Arbeitsgruppen. In den beiden Reihen „Blickpunkt Hochschuldidaktik" und „Hochschuldidaktische Materialien", herausgegeben von der Arbeitsgemeinschaft für Hochschuldidaktik (Hamburg) sind 39 bzw. 52 Hefte erschienen. Vor diesem Hintergrund erscheint es kaum glaublich, wenn Löw allen Ernstes ein „Diskussionsexperiment" verficht, bei dem die Studierenden sich auf der Basis eines „sehr ausführlichen" Vorlesungsmanuskripts das „notwendige Wissen" vorweg aneignen sollen, — ohne daß berücksichtigt würde, in welchem Maße erst die Veranstaltung selbst bzw. ihre detaillierte Vorbesprechung und Vorbe-reitung „aufschließende" Funktion für die Mit-und Weiterarbeit der Teilnehmer hat — ohne daß motivationsfördernde Anregungen erwähnt würden, die geeignet wären, durch Textgestaltung Neugier-oder Fragehaltung freizusetzen, durch Einführung von Kleingruppenarbeit an Affiliationsbedürfnisse der Studenten anzuknüpfen, durch Einteilung in mehrere Klärungsphasen, Stufung des Schwierigkeitsgrades, Zuordnung von Informationen zu verschiedenen, aufeinander aufbauenden Problemkreisen sach-bzw. erfolgs-motivierend zu wirken — ohne daß die Einrichtung von Kleingruppen und ihre Betreuung durch Tutoren zur Sprache käme, um die Gewöhnung an eigenverantwortliche Arbeit und eine angstfreie Debatte zunächst im kleinen Kreis zu fördern — ohne daß schließlich das grundlegende Problem reflektiert worden wäre, ob nicht die zeitliche Trennung von Faktenlernen und Kontroverse, Wissensaneignung und Problem-diskussion gerade behindert, daß die Notwendigkeit der Informationsaufnahme zur Erreichung eines Erkenntnisziels, ihr Wert für die Klärung eines Problems einsichtig wird und damit die Motivation zur weiteren Wissens-aneignung entsteht
Man könnte Löws Schilderung so sympathisch wie rührend (wegen ihrer Außerachtlassung aller vorliegenden motivationspsychologischen und hochschuldidaktischen Ergebnisse) finden, wäre seine Erfahrung für ihn Anlaß gewesen, sein „Experiment" nicht auch noch zu wiederholen, sondern sich anregen zu lassen zum eigenen methodisch-didaktischen Weiterfragen und zu dem — gemeinsam mit Studierenden unternommenen — Versuch, neue Arbeitsformen zu entwerfen und zu erproben. So, wie die Darstellung aber ausläuft — „Ein solches Anliegen der Studentenvertretung wurde nie wieder laut" —, ist sie schlicht ärgerlich.
In allen universitären Ausbildungsfächern sind seit einer Reihe von Jahren Bemühungen im Gange, Lernziele und Veranstaltungsmodelle zu entwickeln, die die Kleingruppenarbeit fördern, kognitive und affektive Aspekte kombinieren, Lernsituationen unter Motivierungsgesichtspunkten zu strukturieren versuchen, den sozialen Bezugsrahmen von Ausbildung und Beruf berücksichtigen sowie Sensibilität für die gesellschaftspolitischen Folgen des individuellen bzw.organisierten Tuns oder Unterlassens wecken wollen. Drei Beispiele sollen hier stellvertretend für viele andere angedeutet werden: 1. im Fach Rechtswissenschaft der Versuch, historische und rechtsdogmatische Einführungen zu ersetzen und durch die problematisierende Vermittlung zentraler Zusammenhänge zwischen Recht(sinstitutionen), Gesellschaftsordnung und juristischen Berufen. Formal erfolgte diese Vermittlung im Rahmen eines Veranstaltungsbündels aus Plenarveranstaltungen, betreuten Arbeitsgruppen sowie einem didaktisch-methodischen Begleitseminar; inhaltlich wurden der Analyse Problemkreise (Rechtsstaat, Sozialstaat, Gewaltenteilung, Sozialisationsprobleme, Willensbildungsprozesse) zugrundegelegt; als Materialbasis dienten ausgewählte Gerichtsentscheide und Literaturtexte 2. im Fach Medizin das Bestreben, a) Funktionsziele der Ausbildung zu entwerfen, die sich sowohl aus der Patientenbezogenheit der Arztrolle wie aus dem Beitrag der ärztlichen Tätigkeit zu einer humanen Gesellschaft (unter Einbeziehung selbst-, wissenschafts- und sozialkritischen Denkens) ergeben; daraus b) methodisch-organisatorische Direktiven abzuleiten (begrenzte Verantwortungsüber-nähme für Patienten schon im Studium, Erörterung — unter Hinzuziehung von Standes-Vertretern — sozialer Funktionen von Arzt und Medizin, stärkere Betonung der Psychosomatik, problem-orientiertes Lernen); daran anknüpfend c) ein erstes Unterrichtsmodell zu erarbeiten, bei dem vorbereitete Gruppenarbeit (Ausgabe von Thesen und Literaturhinweisen, kurze Einführungen der Dozenten am Sitzungsbeginn) und Plenarveranstaltungen (zur Bewertung, Ergänzung und Interpretation der Gruppenergebnisse) kombiniert wurden; inhaltlich lag ein Kerncurriculum der Medizinischen Psychologie zugrunde (Analyse psychologischer Einstellungen am Beispiel der Arzt-Patient-Beziehung, Bearbeitung psychophysiologischer Grundbeziehungen am Beispiel Depressivität sowie Fragen von Lernen, Intelligenz und Gedächtnis am Beispiel Prüfungsangst) 3. im Fach Physik das Bemühen um eine Neuordnung der Grundausbildung durch ein Modell, in dem eine integrierte und problemorientierte Veranstaltung Physik/Mathematische Physik kombiniert wird mit Verdeutlichung der Zusammenhänge zwischen theoretischen und experimentellen Aspekten der Physik in Gruppenarbeit bzw. sog. „open-end labs" zur Versuchsentwicklung und Hypothesenbildung
Neben derartigen Modellen sind in der hochschuldidaktischen Diskussion der letzten Jahre als weiterreichende Ansätze das Orientierungsphasen-und das Projektkoniept entwikkelt worden. Die Orientierungsphase — mögliche Lernbereiche: Selbst-, Gegenstands-und Praxiserfahrung — wird der fachspezifischen Ausbildung vorgeschaltet. Sie dient der Über-prüfung von Studienmotivation und Berufserwartung der Studenten, der Einführung in Struktur und Probleme universitären Lernens und der Thematisierung sozioökonomischer Determinanten von Ausbildung und Beruf; außerdem einer ersten erkundenden Konfrontation mit den Bedingungen der künftigen Berufs-praxis Im Projekt wird versucht, mehrere Prinzipien miteinander zu verbinden: Berufsfeldorientierung (Bezug der Veranstaltungsthematik auf historische Entwicklung und aktuelle Merkmale des späteren Tätigkeitsbereichs), Problemorientierung (Ausrichtung an einem berufsrelevanten Fragenraster statt am herkömmlichen Kanon einer Fachwissenschaft), Interdisziplinarität, Methodenpluralismus und schließlich Wissenschaftskritik, d. h. Überprüfung von Theorien auf ihr Problemlösungspotential und Herausarbeitung ihrer Funktionen vor dem Hintergrund sozialer Interessen
Zusammengefaßt: Löw hängt einer konservativen Illusion an, wenn er sich in „mindestens neun von zehn Fächern" nur den Vorlesungsmonolog als die sachlich gebotene Darstellungsform des Lehrstoffs vorstellen kann. Es gibt in den einzelnen Fächern zahlreiche experimentelle, bereits erprobte Anregungen — freilich keine durchgefeilten Planungsvorgaben — zur didaktisch reflektierten Anlage von Veranstaltungen. Sie belassen dem Dozentenreferat „dienende Aufgaben in einem Verbund von Lernsituationen" in Form kurzer Einführungen „zur Vorstrukturierung eines Themenkreises, zur Erläuterung spezieller wissenschaftstheoretischer und methodologischer Probleme, zur Erörterung von Spezial-fragen" Sie übersehen nicht, daß direktives (autokratisches, leiterzentriertes) und integratives (demokratisches, gruppenzentriertes) Dozentenverhalten unterschiedliche Lernziele fördern und deshalb — freilich gewichtet im Sinne des vorangehenden Satzes — fle-xibel einzusetzen sind Sie erfordern mindestens in der Eingewöhnungsphase erhöhten Arbeitsaufwand von allen Beteiligten. Sie kosten — wie jede Reflexion über Auswahl, Gegenstand und Methode der Lehre und jede damit verbundene Debatte — zusätzliche Zeit. Sie werden durch Hochschulkonflikte in erheblichem Maße beeinflußt. Sie werfen gruppendynamische Probleme auf, auf die die Beteiligten zunächst nicht vorbereitet sind.
Aber sie sind erstens ein Schritt zur „Demokratisierung des Wissens" in dem Sinne, daß sie Aussagen und deren Abfolge durchsichtig, Erlerntes auf neue Probleme anwendbar sowie Studierende kommunikations-, kritik-und kooperationsfähig zu machen versuchen Und sie bemühen sich zweitens wenigstens teilweise, soziale Macht und soziale Einflüsse auf Ausbildung und Wissenschaft in Rechnung zu stellen und damit jener Fassungslosigkeit zu begegnen, die in der von Jungk formulierten Existenzfrage einer Generation von Kernphysikern steckt: „Weshalb waren gerade sie, die doch ihren Beruf zuerst wählten, um einer chaotischen, gesetzlosen Welt den Rücken zu kehren, ins Zentrum des politischen Sturmes hineingeführt worden?"
IV. „Universitätskonflikte werden von linken Studenten erzeugt und nicht von Ordinarien"
„ . Die studentische Opposition ist erst groß geworden als Reaktion auf die autoritäre Art und Weise, mit der die etablierten Machtgruppen der Bundesrepublik ihren Besitzstand und ihre Ordnung gegen die Ansprüche auf Demokratisierung verteidigt haben . . . Die Erfahrung der eigenen Ohnmacht angesichts der etablierten Macht demokratisch fragwürdiger Verhältnisse trieb sie (die Studenten) zu immer neuen direkten Provokationen ..."
In Konsequenz dieser Einschätzung — verbunden mit dem Urteil: „Die Bundesrepublik hat sich in ihrem politischen Meinungsbild langsam, aber stetig nach rechts verschoben" — akzeptierte Sontheimer 1968, als das studentische Aufbegehren seine höchste Intensität erreicht hatte, die Studentenbewegung insgesamt (wenn auch -nicht uneinge schränkt) als „positive demokratische Herausforderung an unsere Demokratie, demokrati-scher zu werden" Ein Jahr darauf, 1969, konstatierte „Der Spiegel" in der Einleitung seiner Universitätsanalyse „Mit dem Latein am Ende", die „ultralinken Studenten" brächten „wenigstens einige Liberale auf Trab, die zwei Jahrzehnte über Reform nur geredet haben": „Ohne die radikalen Maximalforderungen . . . wäre kaum eine Diskussion darüber in Gang gekommen, daß die Wissenschaften ihre Position innerhalb der Gesellschaft ständig neu durchdenken müßten."
Und erneut zwölf Monate später, 1970, gab dieselbe Zeitschrift auf die — keineswegs nur selbstgestellten — Fragen: „Rote Universitäten? Freiheit der Wissenschaft ade?" die Antwort: „Ja — wenn es nach der , Welt'ginge .. . Nein — wenn die Entwicklungen au den westdeutschen Hochschulen realistisch gewertet werden: als Symptome eines längst fälligen Wandels, der ... im Anspruch mitunter revolutionär, im Erfolg eher reformistisch ist."
Wenn „Der Spiegel" aber gleichzeitig (1970) im Hinblick auf die neuen Hochschulmitbestimmungsmodelle warnte, sicherlich sei „jahrelanges Experimentieren" nötig so resü-mierte 1973 eine Autorengruppe um den 1970 gewählten und 1972 zurückgetretenen Rektor der Universität Heidelberg, Rendtorff, eigene Erfahrungen dahin gehend, „der Versuch, Demokratisierung und Emanzipation zu fördern, (habe) zur Verhärtung des Widerstandes gegen Reformbemühungen und damit letzten Endes zu deren Scheitern" geführt Und wenn „Der Spiegel" 1969 gegenüber der „im Kern so berechtigten Studentenbewegung" kritisch angemerkt hatte, daß ihr „ultralinker" Teil „sich in ideologischen Richtungskämpfen bis zur Richtungslosigkeit zerstritte" und „Argumentation durch Agitation ersetze" so wies Schmiederer 1972 darauf hin, die Zersplitterung der antiautoritären Bewegung in „eine Vielzahl miteinander konkurrierender, meist dogmatisch-sektiererischer Gruppen und Grüppchen" habe ihre Ursache auch darin, daß — weil „die Kräfte der Beharrung und der Restauration so stark und mächtig waren — die eigene Kraft, insbesondere auch die psychische, nicht ausreichte"
Löw übernimmt eine konservative Illusion, wenn er lediglich die professorale Belastung durch unbotmäßige Studenten vermerkt (den von ihm zitierten Juristen Schmitt-Glaeser haben hochschulpolitische Auseinandersetzungen angeblich „einen Teil der besten Jahre gekostet"). Dabei gerät zum einen das nachgerade „pathologische" Sozialklima ganzer Bereiche der Ordinarienuniversität (das auch danach noch weiterwirkte) außer Sicht, in dem professorale Selbstisolierung zur zwischenmenschlichen Kommunikationsunfähigkeit, professorale Eitelkeit zur extremen Kränkbarkeit führte vergeblich protestierte der Philologe Szondi 1967 dagegen, „daß einige meiner Kollegen einen Ausdruck wie . professorale Fachidioten'ernst nahmen oder doch als Vorwand, um zum Kadi zu laufen" Nicht ins Blickfeld gerät aber zum anderen auch die studentische Belastung durch — sicherlich nicht nur subjektiv empfundene, bedenkt man das unter Abschnitt (2) ausgebreitete Material — „schlechte Arbeitsbedingungen, miserable Vorlesungen, stumpfsinnige Seminare und absurde Prüfungsbestimmungen" die zu del Unbotmäßigkeit überhaupt erst geführt hat Nicht in den Gesichtskreis geraten schließlich Risiko und Beanspruchung, die hochschulpolitisches Engagement ganz grundsätzlich für Lernende weit mehr mit sich bringt als für Lehrende. An die Anteilnahme und Gelassenheit eines Wissenschaftlers, der im Ausbildungsbereich tätig ist, wird man mit Fug und Recht auf Grund von Alter, Erfahrung und Wissen erheblich größere Ansprüche zu stellen haben als an Studierende. Das gilt, wohlgemerkt, auch dann, wenn er Rechte nicht mehr nur „liberal" gewährt, sondern wenn weitergehende Rechte ihm und seinen Kollegen abgefordert werden • Grundlegend in diesem Zusammenhang ist die Einsicht, daß auf Seiten der Studentenschaft weder vor noch nach 1966/68 „autonome“ Entwicklungen stattgefunden haben, wie der frühere Präsident der Universität Frankfurt, Kantzenbach, zu meinen scheint, wenn er in seinem 1. Rechenschaftsbericht (1972) schreibt, innerhalb der „linksorientierten Studenten-gruppen" sei die Bereitschaft, „loyal mitzuarbeiten", ständig gesunken Aller Erfahrung nach vollziehen sich weder im zwischenmenschlichen noch im sozialen Bereich jemals Vorgänge gänzlich autonom; und wenn Kantzenbach in seinem 2. Rechenschaftsbericht (1973) darauf hinweist, er teile „die grundlegenden hochschulpolitischen Vorstellungen" der sog. liberalen Koalition an der Universität Frankfurt „vorbehaltslos" und für ihn sei „jeder Versuch ausgeschlossen, eine neutrale Stellung zu beziehen" dann stellt sich die Frage, wieweit Aktionen von seifen des Präsidenten sowie ihm nahestehender hochschulpolitischer Kräfte zu Verhaltensweisen der „Gegenseite" zumindest beigetragen haben könnten.
Genau dies ist mit ordinarialer Politik an „reformierten" Universitäten gemeint, wie sie nach Löws Ansicht beispielsweise in Frankfurt und Heidelberg nicht betrieben wird. Deshalb soll nachstehend durch Beispiele aus eben diesen Hochschulen versucht werden, eine Antwort zu geben auf die gerade aufgeworfene Frage nach „Aktion" und „Reaktion".
An der Universität Frankfurt war noch durch die Wirtschafts-und Sozialwissenschaftliche Fakultät 1971 eine wirtschaftswissenschaftliche Zwischenprüfung eingeführt worden — gegen die Stimmen der damals vergleichsweise wenigen studentischen Vertreter und mit insgesamt nur einer Stimme Mehrheit. Gegen die Form dieser Prüfung — nicht gegen die Prüfung an sich — richtete sich ein Beschluß anfangssemestriger Studenten, die erstmals angesetzten Zwischenprüfungsklausuren vom 4. — 11. 2. 1972 „aktiv" — unter Einsatz von Streikposten — zu bestreiken. Die Studenten forderten, die Prüfungsordnung nicht zu praktizieren, sondern eine neue Prüfungsordnung zu verabschieden, die insbesondere die Möglichkeit einer studienbegleitenden an Stelle einer einmaligen Kompaktprüfung vorsehen und dadurch kumulativen Prüfungsstreß abbauen sollte. Auf der Fachbereichskonferenz des nunmehrigen Fachbereichs Wirtschaftswissenschaften am 9. 2. 1972 wurde der Lehr-und Studienausschuß beauftragt, eine Beschlußvorlage zur Modifizierung der Zwischenprüfung zu erarbeiten. „Unbestreitbar ist", schrieben damals 40 wissenschaftliche Assistenten und wissenschaftliche Mitarbeiter der Fachbereiche Wirtschafts-und Gesellschaftswissenschaften an die Abgeordneten des Hessischen Landtags, „daß es erst eines studentischen Streiks bedurfte, um ernste Mängel der geltenden Prüfungsordnung ins Bewußtsein des Fachbereichs zu rufen und eine Bereitschaft zu ihrer Abstellung zu schaffen"
Für den Universitätspräsidenten hatte „damit der Fachbereich alles getan, was zur Erfüllung der von ihm anerkannten Forderungen in seiner Macht stand" Als am 11. 2. wiederum eine Klausur verhindert wurde, erklärte Kantzenbach am 15. 2., er habe in Ausübung seines Hausrechts entschieden, die für den 21. — 26. 2. neuerlich angesetzten Zwischenprüfungsklausuren unter Polizeischutz schreiben zu lassen. An den Polizeieinsatz schlossen sich gewaltsame Auseinandersetzungen an, die vom stellvertretenden Landes-vorsitzenden der hessischen CDU, Wagner, am 22. 2. als „erneuter Beweis des linksradikalen Terrors" an der Universität Frankfurt bezeichnet wurden.
Der Lehr-und Studienausschuß des Fachbereichs hatte in drei ganztägigen Sitzungen, die erst am 16. 2. begannen, eine Einigung zwischen Professoren, Assistenten und Studenten erzielt, die sich in Detailvorschlägen, jedoch noch nicht in einer fertigen Vorlage niederschlug. In ihrem Offenen Brief vertraten die Assistenten im Gegensatz zu Kantzenbach die Ansicht, „eine Basis für die Beilegung des Streiks" sei „unter der Voraussetzung gege-ben" gewesen, „daß die Ausschußvorschläge von der Fachbereichskonferenz rasch in einer außerordentlichen Sitzung behandelt, verabschiedet und dem Kultusminister zur Genehmigung vorgelegt wurden . . . Der nach Ansicht nicht nur der Studenten notwendige endgültige Schritt zur Lösung des Konflikts, nämlich der Beschluß einer Fachbereichskonferenz über die Vorschläge des Lehr-und Studienausschusses, war ausgelassen"
Die Assistenten bezeichneten den Polizeieinsatz als eine „eminent gravierende Verschärfung", die ebenfalls unbedingt in der Fachbereichskonferenz hätte diskutiert werden müssen. Sie wiesen darauf hin, daß statt dessen am 15. 2. eine Versammlung der wirtschaftswissenschaftlichen Hochschullehrer in Anwesenheit des Universitätspräsidenten über den Polizeieinsatz gesprochen hatte, und zogen daraus den Schluß: „Eine Erörterung im Fachbereich hat also stattgefunden, allerdings unter Ausschluß derjenigen Gruppen, deren Vertretung in den universitären Gremien die gültige Hochschulgesetzgebung gerade sichern will."
Die Auseinandersetzung, von Kantzenbach selbst als der „der Form nach härteste Konflikt der Jahre 1971/72“ bezeichnet beeinträchtigte das hochschulpolitische Klima an der Universität Frankfurt schwerwiegend und anhaltend.
Noch gravierendere Folgen für die Universität Frankfurt hatte 1973/74 der sog. „Engels-Konflikt". Engels (Professor für Wirtschaftswissenschaft in Frankfurt) hatte 1972 eine „Streitschrift 1 wider falsche Propheten mit Bart und Computer" (Untertitel) veröffentlicht, die vom Wirtschaftsrat der CDU — nicht zuletzt an Schulen — verteilt wurde (1t. „Der Spiegel" vom 22. 10. 1973 bis zum damaligen Zeitpunkt in 182 000 Exemplaren). In der Broschüre mit dem Titel: „Soziale Marktwirtschäft — verschmähte Zukunft?" wurde etwa die Behauptung, wer in einer Marktwirtschaft Macht ausüben wolle, müsse Einkommenseinbußen hinnehmen, damit zu belegen versucht, ein nordamerikanischer Unternehmer, der Weiße statt Schwarze beschäftige, müsse diesen höhere Löhne zahlen, so daß Diskriminierung unwahrscheinlich sei (Faktisch liegt der Grad der „schwarzen" Arbeitslosigkeit in den USA gleichbleibend erheblich über dem der „weißen", weil der Unternehmensgewinn nicht durch die Kosten, sondern durch die Spanne zwischen Erlös und Kosten bestimmt wird. Diese Spanne bleibt dann gleich, wenn — beispielsweise durch Ausübung von Marktmacht — mit den Kosten die Preise steigen.) Engels argumentierte auch, der Markt sei „eine äußerst demokratische Institution", die eine „Demokratisierung" der Wirtschaft überflüssig mache. Wenn etwa den Gästen der Frankfurter Speiselokale eine Speisekarte nicht gefalle oder ihnen die Preise zu hoch seien, blieben sie eben weg — auch ohne „Demokratisierung" der Speisekartenfestlegung durch den demokratisch gewählten Frankfurter Magistrat. Daraus folgerte Engels: „Wir haben heute in den Betrieben die Mitbestimmung der ersten Art: Die Arbeitnehmer entscheiden, ob sie in einem Betrieb arbeiten wollen, oder ob sie diesen verlassen . . . Paritätische Mitbestimmung im Aufsichtsrat wäre Mitbestimmung nach der zweiten Art. Sie entspricht dem Magistrats-beispiel."
Unter Verbreitung derartiger Zitate aus einem „Werk, das von Engels’ Kollegen am Fachbereich unverhohlen, belächelt wird" wurde Engels im Herbst 1973 von „linken" studentischen Hochschulgruppen angegriffen: man werde ihm bei „irgendwelche(n) reaktionären Mätzchen . . . kraftvoll auf die Finger klopfen" Zu Semesteranfang, am 5. 11. 1973, verlangten studentische Teilnehmer in der dreistündigen, von Engels gehaltenen Ein-führungsvorlesung ein Vorlesungsmanuskript, um sich vorzubereiten, sowie eine Diskussionsmöglichkeit während der Vorlesung. Engels sagte jedoch die Erstellung des Skripts erst für die Zeit „nach Beendigung der Vorlesung" zu erklärte: „Ich diskutiere hier nicht" brach, als Ruhe nicht eintrat, die Vorlesung ab und schrieb am 6. 11. 1973 an Universitätspräsident Kantzenbach einen Bericht (unter gleichzeitiger Übergabe an die Presse), in dem der Satz stand: „Ich selbst scheue die Konfrontation nicht, sie macht mir sogar Spaß." Engels’ Broschüre enthielt wissenschaftlich so anfechtbare und politisch-polemische Aussagen, daß eine Erörterung der grundsätzlichen Prämissen Engels'gerade in einer Einführungsveranstaltung eine Selbstverständlichkeit hätte sein sollen. Dennoch konnte der liberale Dekan des Fach-bereichs, Fleischmann, ihn erst nach drei Wochen zu einem Diskussionskompromiß bewegen: .. . „erste Häfte der Vorlesung zusammenhängender Vortrag durch Prof. Engels, wobei Verständnisfragen zugelassen sind, zweite Hälfte der Vorlesung steht ganz der Diskussion zur Verfügung" Als am 19. 11. 1973 von den Studenten die Wahl eines Diskussionsleiters gefordert wurde, stimmte Engels dem zunächst zu; als anschließend ein Student zum Diskussionsleiter gewählt wurde, brach er jedoch „seine" Veranstaltung wiederum ab
Statt den Abbruch zu rügen und die außeruniversitäre Öffentlichkeit über diese Zusammenhänge sogleich zu unterrichten, griff Kantzenbach am 3. 12. 1973 eine Forderung der Hochschullehrer des Fachbereichs Wirtschaftswissenschaften vom 28. 11. für den Fall „eines erneuten erzwungenen Abbruch(s) der Vorlesung von Prof. Engels" auf, setzte den Lehrbetrieb des Fachbereichs für eine Woche aus und richtete am 7. 12. 1973 einen Brief an alle Lehrenden der Universität Frankfurt, in dem er forderte, sie sollten „Diskussionen nicht aus der Hand geben. .. Und wörtlich: . Politische Diskussionen innerhalb von Lehrveranstaltungen sind ausnahmsweise nur dann vertretbar, wenn sie ... Gegenstände betreffen, die mit dem Lehrbetrieb in Zusammenhang stehen. Abstimmungen in Lehrveranstaltungen sind grundsätzlich unzulässig'". Darauf erklärten 44 Professoren, 15 Dozenten sowie 43 wissenschaftliche Bedienstete und Lehrbeauftragte in einer Stellungnahme: „... Die Anweisungen des Präsidenten sollen die Einführung demokratischer Lehr-und Studienformen verhindern .. . Kritisches Lernen ist nur möglich, wenn die Lernsituation im Kontext des Lehrstoffes mit thematisiert wird. Dabei ist es selbstverständlich, daß wir über die Vorgehensweise in unseren Veranstaltungen auch abstimmen und Diskussionsleiter wählen lassen."
Die einwöchige Schließung des Fachbereichs erwies sich als wirkungslos; darauf forderte Kantzenbach Polizeischutz für die Vorlesung von Engels an, zu der nur noch Studierende der Wirtschafts-, Rechts-und Sozialwissenschaften vom 1. — 4. Semester Zutritt erhielten. Als diese Maßnahme sich ebenfalls als unwirksam herausstellte, setzte Kantzenbach am 15. 1. 1974 alle Lehrveranstaltungen des wirtschaftswissenschaftlichen Grundstudiums bis zum Semesterende aus. Durch zwei Erklärungen wurden die gegensätzlichen Standpunkte zum Thema „Störung" noch einmal markiert: Am 17. 1. 1974 gab Dekan Fleischmann bekannt, er habe für die Einstellung der Vorlesung von Engels und „Einführung neuer Verhaltensregeln in den Vorlesungen mit großer Hörerzahl" plädiert, „so daß der Konflikt um die Frage, was unter , Störung'zu verstehen sei, gelöst werden kann". Als er bei Kantzenbach nicht durchgedrungen sei, habe er seinen „Rücktritt als Dekan erwogen . . . Aber der Rücktritt von einem Amt, das in erster Linie Last ist, ... hätte mein langfristiges Ziel, die Einführung neuer Verhaltensregeln, kaum gefördert" — Am 22. 1. 1974 wurde auf einer Pressekonferenz in Wiesbaden mitgeteilt: „Gegen die Störer soll mit allen zur Verfügung stehenden Maßnahmen vorgegangen werden. In enger Zusammenarbeit werden das Innenministerium, das Justizministerium und das Kultusministerium, die Universitätsleitung und die Frankfurter Polizeileitung Lösungsmöglichkeiten des Konflikts beraten . .. Strafanzeigen gegen Störer sollen vordringlich behandelt werden. Langfristig sollen wirkungsvollere Mittel zur Verhinderung von systematischen Störungen diskutiert werden."
Ein Vergleich dieser beiden, zu ihrem Verständnis ausführlich beschriebenen Konflikt-verläufe mit der schon zitierten Darstellung der Auseinandersetzungen an der Universität Heidelberg während des Rektorats Rendtorff 1970/72 ergibt eine signifikante strukturelle Ähnlichkeit: vom einjährigen Boykott des Großen Senats der Universität Heidelberg durch zahlreiche Dozenten und Professoren (nach der mit absoluter Senatsmehrheit erfolgten Einführung einer Paritätsänderung bei Berufungsangelegenheiten sowie der Mitwirkung von Studenten und Assistenten bei Prüfungsfragen) über den einsemestrigen „Conze-Konflikt" (wiederholter Vorlesungsabbruch als Folge von Auseinandersetzungen über die Möglichkeit einer Diskussion des Vorlesungsstoffs) bis zu den Vorfällen in der Fachgruppe Politische Wissenschaft (Einstellung der Selbstverwaltungstätigkeit durch die Habilitierten der Fachgruppe, Einstellung von Lehrveranstaltungen, Tutorenkonflikte) werden ordinariale oder von Ordinarien geprägte, konflikteskalierende Verhaltensmuster erkennbar, die — zusammengefaßt — Löws oben zitierte Ansicht als konservative Illusion enthüllen.
Dabei steht außer Zweifel, daß durch „Verwechslung von Symbol und Wirklichkeit" kollektive Illusionsbildungen in hohem Maße auch bei Studierenden erfolgt sind Aber Habermas wies bereits 1967 darauf hin, daß gerade die, die „mit Studenten täglich umgehen, ... einen psychologischen Zusammenhang" — nämlich den einer breiten studentischen Solidarisierung in Konflikten wie den beschriebenen — „von einer politischen Verschwörung" im Sinne einer Rädelsführertheorie zu unterscheiden in der Lage sein sollten Aus Auseinandersetzungen wie denen um Engels sind „linke" studentische Flugblätter hervorgegangen, in denen die „Politik" beispielsweise des Kommunistischen Studentenbundes (KSB) oder des Kommunistischen Studentenverbandes (KSV) schneidend kritisiert wurde: „Wen wundert es, daß die Mehrzahl der Studenten nicht an einem , aktiven Streik teilnimmt, der anscheinend nur dazu dient, die gesamte Universität unter die organisatorischen Fittiche des KSV/B zu nehmen?" „Die Voraussetzungslosigkeit der vorhandenen Politik (sc.des KSV/B), die in blinden Setzungen besteht, entspringt aus der Theoriefeindschaft der politischen Protagonisten." „. . . die (den Arbeitsgruppen) von außen (sc. von der durch KSV/B dominierten „Streikleitung") befohlenen Inhalte"
Doch eine Möglichkeit, sich kritisch-konstruktiv zu artikulieren, wie Fleischmann sie aus liberaler Sicht während des Engels-Konflikts im Auge hatte, erhielten solche Stimmen infolge der inneruniversitären Machtverhältnisse nicht. Die Universitätsspitzen verfuhren (sieht man ab von den häufig zunichte gemachten Bemühungen etwa Rendtorffs in Heidelberg, Kreibichs oder Wittkowskys in Berlin und Nascholds in Konstanz) stets so, daß ihr Handeln zweifelsohne „rechtlich nicht zu beanstanden" — eine in Abwandlungen wiederkehrende Formel — war Sie akzeptierten oder berücksichtigten nicht, daß Fragen, die sich als Rechtsprobleme auffassen und handhaben ließen, ihren politischen Ursprung in Bereichen einer noch nicht in Gang gekommenen, abgeblockten oder folgenlos gebliebenen Gremien-und Studienreform insbesondere auf Instituts-und Fachbereichsebene hatten.
Der Psychoanalytiker Horst-Eberhard Richter hat dem Sozialistischen Patientenkollektiv Heidelberg (SPK) Überlegungen gewidmet, die es wert sind, daß man ihre analoge Anwendbarkeit auf viele Hochschulkonflikte der letzten Jahre mit Ruhe und innerem Abstand reflektiert In einer gutachtlichen Stellungnahme zum SPK schrieb Richter 1970: „Dort, wo der Protest gegen die offizielle Psychiatrie schärfer und mit ausgeprägten politischen Akzenten artikuliert wird, bietet sich stets leicht das oberflächliche Urteil an, es handle sich hier nur um eine der vielen ferngesteuerten strategischen Attacken linksradikaler Kräfte. In Wirklichkeit werden diese Modelle z. T. nachweislich erst sekundär mit politischen Inhalten gefüllt, nachdem die Widerstände sich bedroht fühlender konservativer Kräfte sie auf eine verstärkte ideologische Absicherung hingedrängt haben . .. (Das Vorgehen der studentischen Basisgruppen in der Medizin) heißt m. E. nicht, daß sie die Psychiatrie kaputtmachen wollen, sondern daß sie im Grunde viel mehr von der Psychiatrie haben wollen" Und 1972, nachdem das SPK aufgelöst und teilweise verhaftet war, fügt er hinzu: „Die Frage bleibt offen, ob sich diese verhängnisvolle Wendung nicht durch entschlossene Hilfe von außen hätte verhüten lassen. In der Tat erlebte der Kreis von außen fortwährend Abweisungen, Bedrohungen, Bestrafungen ... Man fühlte sich ausgestoßen und geächtet.. . Diese Atmosphäre trug natürlich dazu bei, daß die therapeutischen Aktivitäten paralysiert wurden. Und sie förderte eine paranoide kämpferische Gruppenstimmung."
V. „Kommunistische Zustände machen klar, wohin die Bestrebungen der Hochschullinken führen"
„Während die formellen Rechte des Staatsbürgers in der DDR verkümmerten, fand die soziale Umsphäre dieser Rechte zugleich eine in der deutschen Geschichte bisher unerhörte Entfaltung... ist das System der sozialen Sicherheit in der DDR weiter ausgebaut worden ... ist es in der DDR gelungen, die zumal für Deutschland traditionelle Sozialschichtung der Bildungschancen zu beseitigen ... Schon pflanzt sich dieses Prinzip in die Berufe hinein fort... Während im Osten die sozialen Voraussetzungen der (Staatsbürger-) Rolle vorhanden sind, ihre formelle Entfaltung aber unterbunden wird, kennt die Bundesrepublik den Rechtsstatus des Staatsbürgers in seiner ganzen Fülle, aber es fehlen manche der sozialen Voraussetzungen seiner wirksamen Etablierung."
Schon mehrere Jahre vor seinem solchermaßen abwägenden, 1965 gefällten Urteil hatte Dahrendorf sich 1958 scharf und präzise gegen eine „mehr als irreführend(e)" Identifizierung von Demokratie bzw. Totalitarismus mit den politisch-militätischen Bündnissen dies-und jenseits der Elbe-Werra-Grenze gewandt („ganz von der Primitivität des Versuches abgesehen, jedes Land und jede Nation in diese Dichotomie hineinzupassen") Die differenzierte Analyse Dahrendorfs wurde bestätigt durch die detaillierten, von einer wissenschaftlichen Arbeitsgruppe unter Leitung von Peter Christian Ludz erstellten „Materialien zum Bericht zur Lage der Nation" 1971 und 1972. Danach sind in der DDR infolge des „ ausgebaute(n) Mütter-und Säuglingsschutzsystem(s)" Säuglingssterblichkeit sowie Sterblichkeit im ersten Lebensmonat niedriger als in der Bundesrepublik; die Zahl der Arbeitsunfälle liegt in der DDR auf Grund des „offenbar besser funktionierende(n) und intensiver kontrollierte (n) Arbeitsschutzsystem(s)" nur knapp halb so hoch wie in der Bundesrepublik; die (amtlich nicht registrierte) friktionale und Fluktuationsarbeitslosigkeit in der DDR dürfte auch im Durchschnitt „beträchtlich niedriger" sein als die konjunkturelle Arbeitslosigkeit in der Bundesrepublik; nachdem die Ausstattung der DDR mit Fachschulabsolventen bereits 1964 die der Bundesrepublik übertraf und sie bis 1961 etwa Vs ihrer Hochschulabsolventen durch Abwanderung an die Bundesrepublik verlor, hat sie inzwischen hinsichtlich der Qualifikationsstruktur ihrer Erwerbstätigen die „Bundesrepublik sehr wahrscheinlich überholt"; der BSP-Anteil der staatlichen Ausgaben für Bildung und Wissenschaft in der DDR übertrifft den in der Bundesrepublik um wenigstens ein Viertel; der Anteil der Frauen unter den hochqualifizierten Erwerbstätigen war 1964 „im Bundesgebiet deutlich geringer als in der DDR"; der Anteil der ungelernten Jugendlichen an den Berufsschülern betrug 1967 in der DDR nur 1, 8 °/o gegenüber 140/0 in der Bundesrepublik; der Anteil der Berufsschulausbildung an der Gesamtausbildungszeit ist in der DDR „fast doppelt so hoch wie in der Bundesrepublik ... , da man langfristig steigende Qualifikationsanforderungen in den Berufen erwartet"; in der Bundesrepublik waren 1969 noch 15, 3% der Lehrlinge im Handwerk beschäftigt (25, 2% in der Industrie), gegenüber 6, 1 % in der DDR (aber 43, 5 % in der Industrie); bei niedrigerer Nominal-wie Real-einkommenshöhe der Arbeiter-und Angestelltenhaushalte in der DDR gegenüber der Bundesrepublik ist die Einkommensverteilung gleichmäßiger
Zusammengefaßt werden können Dahrendörfs Resümee sowie die vorstehenden Angaben der „Materialien" zunächst einmal dahin, daß Löw mit pauschalen Aussagen nach dem Motto „Defizite der . sozialistischen'Länder in jedem Bereich" eine konservative Illusion vertritt — zumal, wenn er daran noch die Behauptung knüpft, damit verbinde sich äußere Militanz im Rüstungsbereich: Nach Statistiken des Institute for Strategie Studies (London), der amerikanischen Abrüstungsbehörde sowie des Friedensforschungsinstituts Stockholm (SIPRI) betrugen 1969/70 die Rüstungsausgaben der USA 78, 475 und die der Bundesrepublik 5, 301 Mrd. US-Dollar; die der UdSSR dagegen 42, 140 sowie die der DDR 1, 873 Mrd. US-Dollar; der prozentuale Anteil der kapitalistischen Staaten und ihrer Verbündeten an den Rüstungsausgaben der Welt belief sich auf 63, 8%, derjenige der kommunistischen Staaten (einschließlich Chinas) auf 32, 8 % Der Bezug der Rüstungsausgaben auf das gegenüber den USA geringere Bruttosozialprodukt der UdSSR bzw. die gegenüber der Bundesrepublik geringere Bevölkerung der DDR (1969: DDR 17, 076 Mill., Bundesrepublik 60, 848 Mill. Einwohner), den Löw herstellt, umgeht die entscheidende Frage nach der absoluten Rüstungshöhe sowie ihrer Angemessenheit in Relation zu der des potentiellen Gegners
Nur angemerkt kann hier werden, daß auch in Fragenbereichen wie etwa „Rechtliche Ordnung der öffentlichen Gewalt" zusammenfassende Aussagen über „sozialistische" Länder die Berücksichtigung fundierter Untersuchungen erfordern. Einzubeziehen wäre dann mindestens, wie dies in den „Materialien" geschieht, beispielsweise das Spannungsverhältnis zwischen Recht-und Zweckmäßigkeit im Begriff und in der Praxis „sozialistischer Gesetzlichkeit", einschließlich aktueller Ent-Wicklungstendenzen (Zur Reglementierung im Bildungswesen „sozialistischer" Länder hieß es 1968 noch im „Marburger Manifest" konservativer Professoren: „Weder in den USA noch in der UdSSR wird eine so unsachgemäße Methode", nämlich die in der Bundesrepublik angestrebte „sogenannte Demokratisierung" der Hochschulen, „praktiziert" Es mutet wenig amüsant an, wenn dieselbe Ordnung von der gleichen Seite einmal als positives, ein andermal als negatives Gegenbild ins Feld geführt wird — je nachdem, an welcher Stelle man den Gegner zu treffen hofft.
Nach dem am Anfang dieses Abschnitts zitierten Urteil Dahrendorfs bietet die Verkümmerung politischer Rechte im etablierten „Sozialismus" die Kehrseite einer Entfaltung sozialer Möglichkeiten. In „Hochschulreform als , Unruheherd'" wurde diese Frage unter dem Stichwort „Deformationen der sozialistischen Norm in der Praxis" berührt. Die damit zusammenhängenden Probleme sind von einem „linken" Standpunkt aus durch Biermann/Heinz Brandt/Dutschke/Negt 1973 in einer gemeinsamen Erklärung unzweideutig formuliert worden: „Befürchtungen und Ängste (vor dem Sozialismus) ... sind ja nicht unberechtigt, wenn man daran denkt, welche Wirkung die Moskauer Prozesse 1936— 39, der 17. Juni 1953, Ungarn 1956, die CSSR-Besetzung 1968 und die polnischen Streiks 1970 auf die Massen bei uns hatten und welche Fragen an sozialistische Politik von daher gestellt werden und von uns beantwortet werden müssen."
Werner Hoffmann hat 1956 den Stalinismus als System der exzessiven Machtorientierung, der gänzlichen Wahllosigkeit in den Mitteln, der strikten hierarchischen Gliederung und der bürokratischen Gesinnungslosigkeit bestimmt Wolfgang Abendroth hat 1965 die Anwendung „stalinistische(r) Methoden" in der sowjetischen Einflußsphäre nach 1949 beschrieben, bei der Todes-und Zuchthausurteile „in mörderischen Verfahren auf Grund erfundener Beschuldigungen" gefällt wurden (Hofmann und Abendroth werden hier genannt, weil ihnen 1968 durch den damaligen Forschungsminister Stoltenberg im Bundestag eine „radikale Haltung" vorgeworfen wurde, auf die die „Radikalisierung der Studentenschaft im wesentlichen zurückzuführen“ sei Herbert Marcuse stellte 1957 (deutsch 1964) fest, der Sowjetstaat übe „durchweg politische und Regierungsfunktionen gegen das Proletariat selbst aus. Herrschaft bleibt eine spezialisierte Funktion in der Arbeitsteilung und ist als solche das Monopol einer politischen, ökonomischen und militärischen Bürokratie." In dem 1975 von Dutschke/Crusius/Wilke herausgegebenen Sammelband: „Die Sowjetunion, Solschenizyn und die westliche Linke" schließlich wird die Inhaltsbestimmung linker Politik — „Links sind all die politischen, kulturellen und sozialen Strömungen, die durch ihre Praxis menschenwürdige Lebensmöglichkeiten tendenziell für alle Menschen herstellen wollen" — in Beziehung gesetzt zu dem Antikommunismus der Lohnabhängigen, wie er eben auch verursacht wurde durch jene „sozialistischen" Herrschaftsmerkmale, die Abendroth, Hofmann, Marcuse und andere kritisch untersucht haben
Zusammengefaßt: Natürlich gibt es „die" Linke als organisatorische oder programmatische Einheit an den westdeutschen Hochschulen nicht; von Apologien des institutionalisierten „Sozialismus", Vertuschungen und Retuschen war in „Hochschulreform als . Unruheherd’ ausdrücklich die Rede. Vergegenwärtigt man sich aber nur wenige der namhaftesten, unter „linken" Vorzeichen entstandenen Untersuchungen (wobei eine Auseinandersetzung mit dem Euro-Kommunismus noch einzubeziehen wäre), dann wird klar: Löw sitzt einer konservativen Illusion auf, wenn er meint, mit der Anwendung marxistischer analytischer Kategorien werde zugleich „einer solchen Ordnung" — der der UdSSR oder der DDR, im Bildungswesen oder anderswo — „mittelbar das Wort (ge) redet". Daß das „Geschäft des Kommunismus", die „Politik der SED" betrieben werde, ist in der Geschichte der kritischen Bewegung an den Hochschulen Berlins und der Bundesrepublik ein ebenso alter wie durchsichtiger Vorwurf Marcuse hat eben zugleich (und das macht ihn und seinesgleichen „anstößig") die „Eindimensionalität" spätindustrieller westlicher Gesellschaften seziert und bei seiner Analyse des Sowjetmarxismus auf die Prüfung der Frage nicht verzichtet, ob die Sowjetgesellschaft „eine innere Dynamik" besitzen könnte, „die den repressiven Tendenzen entgegenwirken und die Struktur (dieser Gesellschaft) umformen kann" Crusius/Wilke haben in ihrem zitierten Aufsatz den (offenbar immer noch nicht überflüssigen) Hinweis nicht unterlassen, daß es auch einen Antikommunismus aus dem Interesse heraus gibt, politische und wirtschaftliche Machtpositionen gegen Infragestellung zu verteidigen
Kritik an „vertrauten" Strukturen, Verhaltensweisen und Einstellungen der eigenen oder verbündeter Gesellschaften vermag aber Abwehrinstinkte zu mobilisieren, Intoleranz und Haß zu erzeugen: man weiß dies bei uns seit der Reaktion auf die Demonstrationen von Studenten der Freien Universität Berlin gegen die Vietnamkriegführung der USA — spätestens seit jenem 21. Februar 1968, an dem „die Freiheitsglocke Pogromstimmung wachgeläutet (hat). In Berlin wurden Studenten und Bürger, die aussahen wie Studenten, durch die Straßen gehetzt und geprügelt... Notwendig sind Diskussionen über die Methoden der studentischen Opposition. Jede Kritik jedoch muß verstummen, solange Studenten unter den Augen der Polizei wie Freiwild gejagt werden können. Der Deutsche Bundestag hat es versäumt, beizeiten gemäß seiner politischen Verpflichtung die Debatte über den Vietnamkrieg zu beginnen.'Der Protest der Jugend ist nicht zuletzt eine Reaktion auf solche Versäumnisse und auf die zunehmende Arroganz der politischen Macht." Der „Appell an den Berliner Senat", der dieses Urteil enthält, wurde 1968 von 120 Wissenschaftlern und Publizisten unterzeichnet. Zu ihnen gehörte Gerd Bucerius, der Verleger der „Zeit", ebenso wie der jetzige Bundesinnenminister Werner Maihofer
VI. „Auf rechtsstaatlicher Basis sind Berufsverbote rechtens“
• .. Nach Art. 3 Abs. 3 GG darf niemand u. a. . wegen seiner politischen Anschauungen benachteiligt oder bevorzugt werden'. .. Zunächst geht es nicht an, das Verbot in Art. 3 Abs. 3 GG nicht nur auf das bloße . Haben'einer politischen Überzeugung, sondern auch auf das Äußern und Betätigen dieser politischen Anschauung zu beziehen; denn Äußern und Betätigen einer politischen Überzeugung fällt eindeutig unter besondere Grundrechte..." 115
Diese Sätze stehen im Beschluß des Bundesverfassungsgerichts vom 22. Mai 1975, dem sog. „Radikalen-Urteil" Richard Schmid, bis 1964 Präsident des Oberlandesgerichts Stuttgart, hat ihnen folgende Überlegung gewidmet: „Zunächst muß man die in dem Satz enthaltene doppelte Verneinung auflösen, um (sich) über den Sinn klarzuwerden. Die Auflö-117 sung ergibt: Wenn Artikel s Absatz 3 die Benachteiligung wegen der politischen Anschauung verbietet, so meint er damit nur die Anschauung, die man hat, und nicht auch die geäußerte Anschauung. Also nur die, die man still im Busen hegt, nicht die, die man irgendwann, irgendwo oder irgendwem gegenüber geäußert hat. . . Einfach zu sagen, daß eine Anschauung in dem Augenblick den Schutz des Artikels 3 vor Benachteiligung verliert, in dem sie geäußert wird . . . , diesen Satz in einer Entscheidung unseres Bundesverfassungsgerichts, dem obersten Wahrer unserer Grundrechte, zu lesen, finde ich wahrhaft erschütternd." Schmid hat bereits vor sechs Jahren — in seiner Bilanz „Rechtswirklichkeit in der Bundesrepublik" — hervorgehoben, den „tiefsten Aufschluß über den Zustand einer Justiz" liefere „ihr Verhältnis zu den beiden sozial und politisch gleich wichtigen Rechten der freien Meinungsäußerung und der Koalition"; in seinem abwägenden Urteil über dieses Verhältnis gelangte er zu einer eher skeptischen Einschätzung Wenn Löw meint, es genüge, die Existenz von Rechtsstaat und Demokratie zu konstatieren, statt sie immer aufs Neue kritisch zu prüfen, dann hegt er eine konservative Illusion: mögliche Spannen zwischen Norm und Realität auszuloten, Verfassungsanspruch und Verfassungswirklichkeit miteinander zu konfrontieren, gehört zu den unabweisbaren Aufgaben sozialwissenschaftlicher Analyse (und übrigens auch demokratisch-freiheitlichen Engagements).
Warum dabei der Historische Rückgriff bis ins 19. Jahrhundert (wie in „Hochschulreform als Unruheherd’" angedeutet), möglicherweise noch darüber hinaus, sinnvoll ist, wird deutlich, wenn das Bundesverfassungsgericht in seinem zitierten Urteil die „Geschichte des deutschen Berufsbeamtentums seit dem Ende des 18. Jahrhunderts" heranzieht. Das Gericht erklärte, diese Geschichte kenne „ — unbeschadet von Veränderungen im Verständnis dieses Spezifikums je nach den wechselnden Verfassungsordnungen — eine besondere Bindung des Beamten, die auf einer mit dem Eintritt in das Beamtenverhältnis verbundenen und übernommenen Treuepflicht beruht" Eine derartige Konstante durch alle gesellschaftlichen und politischen Änderungen hindurch zu postulieren, wirft aber erhebliche Probleme auf. Bei seiner Analyse der Beamtengesetzgebung zunächst durch den Wirtschaftsrat, danach den Parlamentarischen Rat und schließlich den Bundestag hat Hans-Hermann Hartwich kritisch angemerkt, die nach 1948 erfolgte „Auswechslung des . Geistes'" — unter gleichzeitiger Anknüpfung an überkommene Regelungen oder auch selbst deren Beibehaltung — gehöre „zu den fragwürdigsten Grundlagen des nach den . hergebrachten Grundsätzen'(Art. 33 GG) gesetzlich restaurierten Berufsbeamtentums" Deutlich ist jedenfalls, daß derartige Konstanten sowie die von ihnen ausgehende „gesellschaftliche . . . Faktizitäten festigende Kraft des Normativen" ihre sozialen und politischen Folgewirkungen über mehrere historische Phasen hinweg entfalten können. Die Frage ist dann aber alles andere als unberechtigt, ob nicht ein bestimmter „Geist" in historisch wechselnder „Verkleidung" sich fortzupflanzen vermag; ob beispielsweise, wie Walter Jens (aber keineswegs nur er) vermutet hat, die — durch die spezifische Geschichte obrigkeitlichen Waltens über die „verspätete Nation" Deutschland (Plessner) gestärkte — Abneigung gegen Opposition, gegen Anders-denkende, gegen den, der nach herrschender Meinung „auf der falschen Seite“ steht, nacheinander die Gestalt des Antirepublikanismus (nach 1848), des Antisozialdemokratismus (nach 1871, aber auch nach 1918) und schließlich des Antikommunismus (nach 1918 und wieder nach 1945) annehmen kann Der ehemalige Bundeskanzler Brandt, der am Zustandekommen des sog. „Radikalenerlasses" der Regierungschefs von Bund und Ländern am 28. Januar 1972 mitwirkte, hat vier Jahre später „grobe Abweichungen und groteske Fehlentwicklungen" beklagt; sein Nachfolger Schmidt hat bei der gleichen Gelegenheit den seinerzeitigen Beschluß als überflüssig bezeichnet In dem Beschluß der baden-württembergischen Landesregierung vom 3. 12. 1974 bezüglich der Pflicht zur Verfassungstreue im öffentlichen Dienst — der „für den behördeninternen Gebrauch und nicht zur Veröffentlichung bestimmt“ ist — stehen die Sätze: „... 1. Alle Bewerber für den öffentlichen Dienst sind ohne Rücksicht auf die Art des Dienstverhältnisses vor der Einstellung zu überprüfen ... 7. ... Auf Veranlassung des Innenministeriums (wird) noch darauf hingewiesen, daß die Mitteilungen des Innenministeriums in sogenannten Erkenntnisfällen ihrem Inhalt nach zwar voll verwertbar sind, die Mitteilung als solche jedoch nur zum behördeninternen Gebrauch und nicht zur Aushändigung oder unmittelbaren Bekanntgabe an die betroffenen Bewerber bestimmt und geeignet ist." Nach einer Umfrage der „Welt" bei den Innenministerien der 11 Bundesländer wurden zwischen dem 1. 8. 1972 und dem 1. 3. 1976 insgesamt eine halbe Million Bewerber (genau 496 724) überprüft; in 5 434 Fällen wurden „Erkenntnisse" durch die Überprüfungsbehörden mitgeteilt, 430 Bewerber wurden abgelehnt Nach einer Aufstellung in der Zeitschrift des GEW-Landesverbandes Nordrhein-Westfalen, „Neue Deutsche Schule", gehören zu den Methoden, durch die Bewerber im Zusammenhang mit dem „Radikalenerlaß" belastet und benachteiligt wurden, die Anberaumung kurzfristiger Anhörungstermine, die der Teilnahme an Demonstrationen und von „Kandidaturen für bestimmte studentische Gruppierungen in den Jahren 1971 ff." als Erkenntnisse sowie die Heranziehung der Mitgliedschaft in einer als verfassungsfeindlich bezeichneten Partei als alleiniger Ablehnungsgrund; unter die Konsequenzen der Verfahren fallen mehrmonatige zeitliche Einstellungsverzögerungen, Verlängerung der Probezeit wegen noch nicht abgeschlossener Überprüfung sowie Nichteinstellung auch in den privaten Ersatzschuldienst
Das Bedrückendste ist noch nicht einmal die Angst, die auf diese Weise entsteht; das Bedrückendste ist die Deformierung der Verhaltensweisen, die dadurch bewirkt wird. Wenn nach einem Pressebericht der Rechtsanwalt eines angehenden bayerischen Realschullehrers die Scheidungsabsichten des Bewerbers von seiner Frau, die der DKP angehört, und damit die DKP-Mitgliedschaft dieser Frau von sich aus in das Überprüfungsverfahren einführt — dann ist das schlimmer, als wenn dem Rechtsanwalt anschließend (1t.demselben Bericht) aus dem Kultusministerium geschrieben wird: „Von Vorteil für Ihren Mandanten wäre es auch, wenn ein Nachweis über die Erhebung der Scheidungsklage und, falls die DKP-Mitgliedschaft der Ehefrau zur Mitbegründung des Scheidungsbegehrens herangezogen wurde, eine entsprechende Bestätigung beigebracht werden könnte." Wenn Schüler — wiederum nach einem Zeitungsbericht — vom Kultusminister des Landes Schleswig-Holstein in einem Brief die „schnellstmögliche Entlassung" einer Sozial-pädagogin aus dem öffentlichen Dienst fordern, weil sie „von Zeugen eindeutig als Mitglied oder Sympathisantin einer kommunistischen Organisation (entweder Kommunistischer Bund oder Kommunistischer Bund Westdeutschlands) identifiziert werden (konnte)" dann ist das schlimmer, als wenn darauf tatsächlich ein überprüfungsverfahren gegen die Lehrerin eingeleitet worden wäre.
Zunehmend greift eine extensive Handhabung von Verfahrensweisen, die mit dem sog. „Radikalenerlaß" Zusammenhängen, auf neue Be-reiche über: in den zivilrechtlichen Bereich seit der rechtskräftigen Entscheidung des Landgerichts Westberlin, wonach „die Unterschrift unter einen Wahlaufruf zugunsten einer nicht zugelassenen Partei" -— konkret:
der KPD— „eine solch schwerwiegende Vertragsverletzung im Zivilrecht bedeuten (kann), daß eine Autorin den Anspruch auf das vereinbarte Honorar aus einer bereits gelieferten und . unstrittig brauchbaren'wissenschaftlichen Arbeit verliert" (obwohl die Unterzeichnung des Wahlaufrufs auch noch nach Ablieferung der Arbeit erfolgte); andernfalls hätte „der Staat sich dazu . . . bekennen müssen, auf die Mitarbeit eines erklärten . . . Feindes der geltenden Verfassung zurückgreifen zu müssen" in den kirchlichen Bereich seit der Ablehnung der Bewerbung des früheren Referenten bei dem verstorbenen ehemaligen Bundespräsidenten Heinemann, Lotz, um eine Pfarrstelle durch den Evangelischen Regionalverband Frankfurt wegen „Zweifels an seiner Zuverlässigkeit", nachdem er (1t. Mitteilung des Sekretariats Heinemann, Essen) Fragen nach seiner Parteizugehörigkeit sowie nach seiner Bejahung des innerkirchlichen Radikalenerlasses mit dem Hinweis beantwortet hatte, „daß die Angst vor einer angeblich atheistisch-kommunistischen Unterwanderung ein schlechter Ratgeber sei" in den Bereich der kommunalen Versorgungsbetriebe mit dem (vom Arbeitsgericht Köln abgewiesenen) Versuch der Gas-, Elektrizitäts-und Wasser-werke Köln, einen technischen Angestellten zu entlassen mit der pauschalen Begründung des „Sicherheitsrisikos" wegen behaupteter direkter sowie indirekter (infolge Freundschaft mit der Schwester der in Stuttgart angeklagten Gudrun Ensslin) Beziehung zu einem „Komitee gegen Folter in der Bundesrepublik"
Generell haben sich Anzeichen für eine Tendenz ergeben, die Anwendung des „Radikalenerlasses" auszudehnen von den klassischen hoheitlichen (Militär, Polizei, Justiz) über die erzieherischen auf die technischen, therapeutischen und pflegerischen Funktionsbereiche des Staates, die ihrerseits in ständiger Erweiterung begriffen sind; mit ihnen steigt der Umfang der staatlichen Beschäftigtengruppen, denen mit Fug eher eine Auffassung vom staatlichen (häufig politisch und gewerkschaftlich engagierten) Arbeitnehmer denn vom Beamten als Hoheitsträger entspricht. Vom Senat der Hansestadt Hamburg wurden nacheinander wegen DKP-Mitgliedschaft bzw. -„Verbundenheit" ein Techniker nicht als Gerätewart eingestellt und eine angehende Krankenschwester nicht in ein Ausbildungsverhältnis übernommen (gegen das auf Einstellung lautende Arbeitsgerichtsurteil wurde vom Senatsamt für die Verwaltung Revision eingelegt) Die von der Bundesbahndirektion Nürnberg beabsichtigte Entlassung eines seit 1961 bei der Bahn beschäftigten Lokomotivführers wegen DKP-Mitgliedschaft sowie Landtags-und Kommunalwahlkandidatur für die DKP wurde wegen nicht fristgemäß erfolgter Anhörung des Bezirkspersonalrats zunächst nicht wirksam Einem Briefträger wurde von der Oberpostdirektion Frankfurt mitgeteilt, er könne „auf Grund (seiner) Aktivitäten in der DKP und ihren Hilfsorganisationen nicht mit der Verleihung der Eigenschaft eines Beamten auf Lebenszeit... rechnen"; seine Entlassung sei „unabweisbar", wenn es ihm nicht gelinge, Zweifel an seiner Verfassungstreue auszuräumen Den Versuch, diese Entwicklung wenigstens teilweise einzuschränken, stellen erst die am 19. 10. 1976 vom Senat in Hamburg im Grundsatz gebilligten „Richtlinien für das Verfahren bei Feststellungen zum Erfordernis der Verfassungstreue" dar: bei Angestellten, Arbeitern und sonstigen Beschäftigten, die keine hoheitliche Funktion wahrnehmen, wird (sofern es sich nicht um einen „sicherheitsempfindlichen" Bereich handelt oder „besondere Umstände" vorliegen) auf eine Anfrage beim Landesamt für Verfassungsschutz verzichtet
Die Problematik der einschlägigen Bestimmungen ist drastisch verdeutlicht worden durch die Ablehnung des Bayerischen Staats-ministeriums der Justiz, die Assessorin Charlotte Nieß in den höheren Justizdienst (Richterverhältnis auf Probe) zu übernehmen (17. 9. 1975), die Entscheidung der Landesregierung in Düsseldorf, Frau Nieß in den höheren Dienst des Landes Nordrhein-Westfalen (Beamtin auf Probe im Landwirtschafts-und Ernährungsministerium) einzustellen (4. 10. 1976), sowie die durch Urteil des Verwaltungsgerichts München ergangene Aufforderung an die bayerischen Justizbehörden, die Assessorin als Richterin einzustellen (21. 10. 1976). Nachdem in den Verfassungsschutzberichten 1973 und 1974 die „Vereinigung Demokratischer Juristen“ (VDJ) unter dem Stichwort „Volksfront ’-Politik" als Organisation aufgeführt wurde, die die DKP „unterstütze", wurde der Assessorin (die der SPD und der Arbeitsgemeinschaft Sozialdemokratischer Juristen angehört) im Ablehnungsbe -scheid vorgehalten, ihre Mitgliedschaft im Bundesvorstand der VDJ wecke Zweifel an ihrer Verfassungstreue, die sie (mangels Distanzierung von der VDJ) nicht habe ausräumen können. Berücksichtigt wurde weder, daß dem Vorstand der überparteilichen VDJ acht SPD-und ein FDP-Mitglied angehören, noch, daß sich unter den 23 Vorstandsmitgliedern (nach Feststellung des früheren Vizepräsidenten des BVerfG, Seuffert) 14 Beamte befinden, noch schließlich, daß auch laut Ablehnungsbescheid „der Wortlaut der Satzung (sc, der VDJ) . . , Ziele und Gedanken enthält, die mit unserer verfassungsmäßigen Grundordnung in Einklang stehen". Statt dessen wurde „aus der Fassung insbesondere der zitierten Sätze .. . geschlossen . . . , daß die verwendeten Begriffe nicht in einem den Wertvorstellungen des Grundgesetzes entsprechenden Sinn gebraucht werden"; und der einzige, der Assessorin Nieß vorgehaltene Punkt, der ihre eigene Meinungsäußerung betraf, nämlich die Unterzeichnung des Gründungsaufrufs der VDJ-Regionalgruppe München, wurde dergestalt interpretiert, der „unbefangene Leser" müsse dem Aufruf entnehmen, es seien „in Staat und Justiz maßgebliche faschistische Tendenzen vorhanden“, weil es „nämlich sinnlos (sei), Bestrebungen gegen etwas nicht Vorhandenes zu unterstützen“ Bundesinnenminister Maihofer erklärte auf der 427. Bundesratssitzung am 28. 11. 1975, wer argumentiere, alle Mitglieder einer Vereinigung wie des VDJ böten nicht die Gewähr der Verfassungstreue, „der schützt, meine ich, nicht sondern der -den Rechtsstaat, korrum piert ihn; der macht Bürger, die vielleicht unbequem, keinesfalls aber verfassungsfeindlich eingestellt sind, in Wahrheit erst zu Verfassungsfeinden".
Bundeskanzler Schmidt hat die Meinung vertreten, die Verfassung, die bestehenden gesetzlichen Regelungen sowie die Rechtsprechung reichten aus, um in diesem Zusammenhang „mit jeder konkreten Frage in der Wirklichkeit fertig zu werden" Nicht zuletzt angesichts einer Situation, in der die eingesetzten Mittel das verkündete Ziel bis zur Unkenntlichkeit zu deformieren drohen, ist dem zuzustimmen. Freilich hat die Ansicht des Bundeskanzlers politische Konsequenzen nicht gezeitigt: neu gefaßte „Grundsätze für die Prüfung der Verfassungstreue" sind am 19. 5. 1976 vom Bundeskabinett zustimmend zur Kenntnis genommen worden
VII. Schlußbemerkung
Die Verständnislosigkeit, mit der Löw den in „Hochschulreform als . Unruheherd'" vorgetragenen Gesichtspunkten noch dann gegenübersteht, wenn er sich scheinbar damit auseinandersetzt, wird abschließend deutlich an seiner Behandlung des Hinweises auf die Folgen der Studienzugangsbeschränkung im schulischen Bereich. Daß dem Prinzip nach erwerbbare an die Stelle zugeschriebener Positionen in der Gesellschaft getreten sind, ist inzwischen eine soziologische Binsenweisheit. Gerade weil das Bildungswesen deswegen eine „Verteilungsstelle für Sozialchancen" darstellt, geht es darum, daß erstens der einzelne nicht durch frühzeitige, einmalige und unwiderrufliche Einstufung in seinem Bildungs-und Lebensweg vorprogrammiert wird und daß zweitens nicht hinterrücks statt rationaler Reflexionsfähigkeit soziale Herkunft und Anpassungsbereitschaft prämiert werden Dies sollte eigentlich als Ergebnis aller Debatten um die Ganztags-und die kursdifferenzierte Gesamtschule nachgerade auf der Hand liegen; ebenso, wie auf der Hand liegt, daß der Hinweis, John Bright habe sich den Ansichten anderer nie gebeugt, anspielt auf den radikal aufklärerischen Impuls seiner Laufbahn und zugleich auf ein öffentliches Klima, in dem solche Art Radikalität reformerische Folgen haben konnte.
Das Hochschulrahmengesetz vom 12. Dezember 1975 schließlich hat in der Personalstruktur den Hochschulassistenten wieder eingeführt, der durch den Fachbereich „im Einvernehmen der Beteiligten" einem Professor zur wissenschaftlichen Betreuung zugeordnet wird (§ 47); es hat im Mitwirkungsbereich die absolute Stimmenmehrheit der Professoren-gruppe restauriert und zusätzlich bestimmt, daß in Forschungs-und Berufungsfragen nicht nur neben der Gremien-eine zusätzliche Professorenmehrheit erforderlich ist, sondern letztere nach dem zweiten Abstimmungsgang auch die zureichende „Regelmehrheit" darstellt (§ 38); es hat die entgeltliche Nebentätigkeit der Professoren lediglich an die Anzeige bei der Dienstbehörde, nicht aber bei dem Fachbereich oder der Universität geknüpft (§ 52); es hat die Bestellung von Tutoren gebunden an das Einvernehmen mit einem Professor oder Hochschulassistenten, dem die fachliche Verantwortung obliegt (§ 57); es hat die Regelstudienzeit durch Ausweitung auf einzelne Studienabschnitte dergestalt verschärft, daß die studentischen Rechte aus der Einschreibung immer dann erlöschen, wenn sich ein Student nach Aufforderung nicht zu einer vorgesehenen Vor-, Zwischen-oder Abschlußprüfung meldet (§ 17); es hat die Zusammensetzung von Studienreformkommissionen dergestalt geregelt, daß bei Studiengängen, die mit einer Staatsprüfung abgeschlossen werden, die Vertreter staatlicher Stellen bei Kommissionen auf Länderebene über mehr als die Hälfte, bei Kommissionen mehrerer Länder über mindestens zwei Drittel der Stimmen verfügen (§ 9); es hat schließlich ein Ordnungsrecht eingeführt, bei dem die Einschreibung zum Studium für eine Frist bis zu zwei Jahren an allen Hochschulen der Bundesrepublik einem Studenten auch dann versagt bzw. widerrufen werden kann, wenn er „wiederholt Anordnungen zuwiderhandelt, die gegen ihn von der Hochschule wegen Verletzung seiner Pflichten" getroffen worden sind, sich nämlich so zu verhalten, „daß niemand gehindert wird, seine Rechte und Pflichten an den Hochschulen wahrzunehmen" (§ 28 in Verb, mit § 36). Daß also der Status guo ante nicht restauriert werde, wie Löw behauptet, ist illusionär.
Zusammengefaßt: Diese Replik ist dort detailliert ausgefallen, wo in „Hochschulreform als . Unruheherd'" knapp und konzentriert argumentiert wurde. Es galt zu zeigen, daß eine zugleich umfangreiche und differenzierte Literatur die Aussagen abstützt, die dort getroffen wurden. Das heißt nicht, daß nicht auch hier, wie in Löws Erwiderung, gewichtet worden wäre; ein Vergleich der Herkunft der Verweise in beiden Abhandlungen ist aber sicherlich aufschlußreich.
Die „Reifungsängste", von denen Brigitte Eckstein — um damit auf die Vorbemerkung zurückzukommen — im Zusammenhang mit Identitätskrisen gesprochen hat, können nicht zuletzt soziopolitisch folgenreich erlebt werden als „Angst vor der Demokratie" (in einer abgewandelten Formulierung Erich Fromms). Daß Angst vor der Demokratie und die zur Selbstrechtfertigung damit einhergehende konservative Illusionsbildung die Reaktion eines großen Teils der westdeutschen Professorenschaft auf die Forderungen von Studenten und Assistenten seit 1966/68 bestimmt hat und weiter bestimmt, ist alles andere als eine bloße Annahme.