I. Die Forderungen Tindemans
Nachdem sich die Staats-und Regierungschefs der neun Länder der Europäischen Gemeinschaft zu einem Kompromiß durchgerungen und die Direktwahl des Europäischen Parlaments beschlossen haben, ist nach den Jahren der Stagnation wieder ein Silberstreifen am politischen Horizont der Neunergemeinschaft sichtbar. Es scheint sich allmählich die Erkenntnis durchzusetzen, daß auf dem Hintergrund einer der schwerwiegendsten Entwicklungskrisen der EG ein neuer Anlauf notwendig ist, um eine effektive gemeinsame Krisen-strategie entwickeln zu können.
Auf dem Treffen der Staats-und Regierungschefs in Den Haag im November 1976 war die Frage nach einer Überwindung der gegenwärtigen Wirtschaftskrise in der EG das beherrschende Thema. Weitreichende Beschlüsse sind zwar nicht gefaßt worden. Es kann jedoch als ein wichtiges Ergebnis des Gipfeltreffens gewertet werden, daß die EG-Regierungschefs sich die Schlußfolgerungen des Tinde-mans-Berichts bezüglich der „Notwendigkeit des Aufbaus der Europäischen Union durch eine Verstärkung der konkreten Solidarität zwischen den neun Mitgliedstaaten und ihren Völkern" zu eigen gemacht haben. In einer in Den Haag verabschiedeten Entschließung heißt es, daß der Rat die im Bericht Tindemans vertretene Auffassung teilt, durch eine Verstärkung der Solidarität der EG-Länder untereinander und in den Außenbeziehungen den Weg zur Weiterentwicklung der europäischen Institutionen mit größeren Kompetenzen für die Gemeinschaft fortzusetzen.
In seinem „Bericht über die europäische Union" geht der belgische Ministerpräsident Leo Tindemans von der Feststellung aus, daß Europa sich einer Reihe von Herausforderungen konfrontiert sieht, auf die die Einzelstaaten keine befriedigende Antwort mehr finden können: „Was mir bei meinen Gesprächen vor allem aufgefallen ist, war das allgemein verbreitete Gefühl unserer Verwundbarkeit und Ohnmacht. In der jüngsten Geschichte ist dies eine neue Erfahrung unserer Völker. Die ungleiche Verteilung der Reichtümer bedroht die Stabilität des Weltwirtschaftssystems, die Erschöpfung der Bodenschätze lastet schwer auf der Zukunft der Industriegesellschaft, und die Internationalisierung des Wirtschaftslebens vergrößert die Abhängigkeit unseres Produktionsapparates. Unsere Staaten sind wohl zu schwach, um allein diese Herausforderung anzunehmen. Welches Gewicht haben heute noch einzelne Stimmen, wenn es nicht die der Supermächte sind? Dennoch ist der Wille zu einer aktiven Teilnahme sehr stark. Dies bezeugen Zehntausende junger Europäer, die überall in der Welt in der Entwicklungszusammenarbeit tätig sind. Unsere Völker sind sich bewußt, Träger von Werten zu sein, die einen unschätzbaren Einfluß auf die Entwicklung der Zivilisation ausüben. Warum sollen wir aufhören, unser Gedankengut zu verbreiten, wie wir es immer getan haben? Wer von uns hat noch nicht mit Überraschung festgestellt, wie selbstverständlich für viele unserer ausländischen Gesprächspartner die europäische Identität ist? Der Aufruf an die Länder Europas, sich zu vereinigen, geht nicht nur von innen aus."
Tindemans resümiert, daß angesichts der internen und externen Herausforderungen „zunächst sechs, dann neun Länder beschlossen haben, gemeinsam zu handeln" Die erste der von Tindemans gestellten sechs Forderungen zielt daher darauf ab, daß die europäische Union „nach außen vereint" auftritt. Er läßt aber keinen Zweifel daran, daß „die Entwicklung der Außenbeziehungen der Union“ nicht denkbar sei „ohne die parallel laufende Entwicklung einer gemeinsamen Politik im Inneren, und beides ist undurchführbar ohne eine Stärkung der Autorität und der Leistungsfähigkeit der gemeinsamen Organe. In dieser umfassenden Sicht hängt alles eng zusammen, und die Summe der nebeneinander erzielten Fortschritte stellt die qualitative Veränderung dar, die der europäischen Union gerecht wird."
Hier scheint nun zugleich die Krise der Europäischen Gemeinschaft wie in einem Brennspiegel deutlich zu werden: Während es in den vergangenen Jahren zu einer verstärkten „Europäisierung" der Außenpolitik unter den europäischen Staaten gekommen ist, zerfiel andererseits die „Binnenpolitik" der europäischen Staaten. Ohne eine fortschreitende Integrationspolitik im Innern verliert aber eine gemeinsame europäische Außenpolitik an Kraft und Glaubwürdigkeit und büßt am Ende ihre Chance ein, ihre Ziele unter den Bedingungen der sich verändernden Weltpolitik durchsetzen zu können. Letztlich erfordert eine gemeinsame Außenpolitik der europäischen Staaten:
a) ein gemeinsames Entscheidungszentrum, das sich an gemeinschaftsbezogenen Interessen orientiert (transnationale Legitimationsgrundlage); b) eine fortschreitende Harmonisierung der Wirtschafts-, Währungs-und Sozialpolitk, ohne die das Wohlstandsgefälle innerhalb der Gemeinschaft noch größer würde; c) die Bereitschaft der Staaten, auf einen Teil ihrer Hoheitsrechte zugunsten der trans-nationalen Interessen der Gemeinschaft zu verzichten.
Alle drei Aspekte lassen sich in der These zusammenfassen, daß eine Europäisierung der Außenbeziehungen wie der Binnenpolitik innerhalb der Neunergemeinschaft als Weg zur Stärkung der politischen Macht Europas zu betrachten ist. Macht ist hier nicht in erster Linie als Herrschaftskriterium zu verstehen, sondern als politisches und geistiges Potential, um die transnationalen Interessen Europas in internationalen Krisen und Interessen-konflikten besser wahren und durchsetzen zu können. Im Zusammenhang damit stellt sich die Frage nach der Verfügung über qualitativ andere politische Optionen, mit denen eine langfristige und effektivere Krisenstrategie verbunden wäre, als sie mit den engen Möglichkeiten nationaler Interessenpolitik gegeben ist.
II. Die neue außenpolitische Dimension
Während der sechziger Jahre ließ sich kaum von einer europäischen Außenpolitik der EG sprechen. Auf der UNCTAD-Konferenz in -Neu Delhi 1968 wie auch auf der UNCTAD-
Konferenz in Santiago 1972 war die EG noch nicht mit einer Delegation vertreten, die mit einer Stimme hätte sprechen können. Erst die Verhandlungen über die KSZE, die von 1973 bis Mitte 1975 dauerten, stellten die Gemeinschaft vor die Notwendigkeit, sich außenpolitisch so abzustimmen, daß eine einheitliche Reaktion gegenüber dem Ostblock möglich war. Dabei ging es um eine Verhandlungsmaterie, die durch den Vertrag von Rom als Grundlage der EG nicht gedeckt war.
Das geschlossene Auftreten in Helsinki hat sich auf das Zustandekommen des Schlußdokumentes dieser Konferenz entscheidend aus-gewirkt, da die Absichtserklärungen des . Korbes 3'sonst nicht formuliert worden wären. Vielleicht hat dieses Ereignis politischer Geschlossenheit mit dazu beigetragen, daß Anfang Dezember 1975 die EG auf ihrer Ministerratstagung in Rom in der Lage war, ihre schwerste außenpolitische Krise seit der Erweiterung zu bestehen. Bisher war die Ge-meinschaft weitgehend nur an agrar-und finanzpolitische Krisen gewöhnt, doch im Dezember 1975 ging es um die Formulierung eines außenpolitischen Grundsatzes, an dessen Zustandekommen man bis dahin nicht mehr geglaubt hatte: Der Gemeinschaft der neun Staaten sollte ein außenpolitisches Alleinvertretungsrecht eingeräumt werden für eine Reihe lebenswichtiger Interessen wie Energieversorgung, Beziehungen zu den Entwicklungsländern etc.
Mit der Verankerung des Grundsatzes der außenpolitischen Alleinvertretung der Gemeinschaft als Ganzes — der auch von Tindemans in seiner Bedeutung hervorgehoben wird — wurde eine Praxis unterstrichen, die sich seit 1974 immer deutlicher abzeichnete: Die Gemeinschaft der Neun tritt in großen internationalen Konferenzen geschlossen auf; damit wird es möglich, die Gemeinschaft vom Ratspräsidenten oder von der Kommission vertreten zu lassen, nachdem sich die Mitgliedstaaten vorher auf eine gemeinsame Plattform geeinigt haben Unvergeßlich ist die politische Auswirkung der Geschlossenheit der EG in der Kennedy-Runde, in der sich die Gemeinschaft erstmalig in ihrer Geschichte einer Vielzahl von Staaten gegenübersah, nicht zuletzt der Super-macht Amerika, und in der ein gemeinsames Auftreten das Gebot der Stunde war. Damals ging es um Warenkontingente, um die Beseitigung von Handelsdiskriminierungen und Zöllen. Ohne Frage war hier die EG zuständig; doch erstmalig ist hier die Praxis erprobt worden, eine geschlossene Front zu bilden. Andernfalls hätte man der Herausforderung auf finanz-und wirtschaftspolitischem Sektor nicht begegnen können.
In der Tat läßt sich feststellen, daß die EG in ihrer Praxis wie auch in ihren Grundsatzerklärungen seit 1975 einen qualitativen Sprung vollzogen hat, da sie sich von der bisherigen Praxis bilateraler Handels-und Wirtschaftspolitik weitgehend gelöst hat, um der politischen Geschlossenheit den Vorzug zu geben. Die Mitwirkung der Neunergemeinschaft und der übrigen westlichen Nationen am Zustandekommen des Schlußdokuments der KSZE in Helsinki markiert eine wichtige Etappe auf dem Weg zur gemeinsamen Außenpolitik der Neun. Europa hat sich mit all diesen außen-politischen Aktivitäten auf einen Weg begeben, um zumindest in der Außenpolitik ein Stück seiner Identität wiederzuentdecken. Zwar hatten schon auf dem mißglückten Gipfeltreffen in Kopenhagen im Dezember 1973 die neun Mitgliedstaaten eine Erklärung über die europäische Identität formuliert doch diese Erklärung blieb in der Folgezeit noch wirkungslos.
Die Ansätze zu einer qualitativen Veränderung der bisher mehr bilateral geführten Außenpolitik der Mitgliedstaaten innerhalb der EG gewannen schärfere Konturen erst auf dem Hintergrund des israelisch-arabischen Krieges. Hier zeichnet sich die neue Form der Außenpolitik deutlich ab. Nach einer Reihe fruchtloser Alleingänge der europäischen Staaten, zu denen sich diese unter dem Eindruck des Erdölschocks vom Herbst 1973 getrieben fühlten, hatte die Herausforderung durch die OPEC-Länder die Gemeinschaft der Neun schließlich dazu geführt, daß die Außenbeziehungen zu den Entwicklungsund OPEC-Ländern die zweithöchste Priorität in der Außenpolitik der Gemeinschaft einnah-men, unmittelbar hinter den Beziehungen der EG zu den Vereinigten Staaten.
Die Erdölkrise hat innerhalb der Gemeinschaft der Neun das Bewußtsein der Abhängigkeit und Verwundbarkeit der europäischen Wirtschaft verschärft. Dieses Bewußtsein hat zu einer Phase der Selbstbesinnung geführt, die für die EG in jeder Hinsicht heilsam gewesen ist. Schlagartig trat die Abhängigkeit des Welthandels der EG von den Drittländern hervor. Nicht nur der größte Teil des Energie-bedarfs wird durch die Entwicklungsländer gedeckt, sondern auch ein erheblicher Teil des Rohstoffbedarfs. Insofern kommt den Entwicklungsländern hinsichtlich der vitalen wirtschaftlichen Interessen der EG die gleiche Rolle zu, wie sie den USA auf dem Sektor der Sicherheitspolitik zufällt.
Andererseits kann jedoch nicht übersehen werden, daß die Entwicklungsländer ein wachsendes Interesse daran haben, daß Europa für sie ein freier und selbständiger Wirtschaftspartner bleibt, der im Konkurrenzverhältnis der Großmächte einen politischen Balancefaktor darstellt. Bemerkenswert dabei ist die Tatsache, daß der überwiegende Teil der Entwicklungshilfe für die entwicklungsfähigen Länder immer noch aus dem Raum der OECD kommt und nicht von selten der OPEC-Länder oder gar des Ostblocks. Die vielfältige Interdependenz gegenseitiger Interessen zwischen den Drittländern und der EG, die schon seit geraumer Zeit ein maßgebendes politisches Motiv für die Außenbeziehungen der EG darstellt, hat zu einer Reihe besonderer Aktivitäten der Gemeinschaft Anfang der siebziger Jahre geführt. Von großer Bedeutung ist hier das Abkommen von Lome (Februar 1975)
Dieses Abkommen bedeutet eine wichtige Etappe in der Entwicklung der Außenbeziehungen der EG zu den afrikanischen Staaten; es begründet eine neue Ära der gleichberechtigten wirtschaftlichen Zusammenarbeit. Der Grundgedanke des Abkommens ist die Bereitschaft der EG, ihren Wirtschaftsraum den afrikanischen Staaten zu öffnen. Die EG übernimmt durch dieses Abkommen ferner die Verpflichtung, finanzielle und technische Hilfe zu gewähren, ohne wirtschaftliche und politische Gegenleistungen irgendwelcher Art zu verlangen. In der Tat gibt es keine Absprache oder ein Geheimabkommen, das Nigeria, Gabun oder ein anderes Land verpflichten könnte, die EG ausreichend mit Rohstoffen zu versorgen. Mit der Unterzeichnung des Abkommens von Lome drückt die Gemeinschaft allerdings die Hoffnung aus, daß damit zugleich die Rahmenbedingungen für die künftige Entwicklung der wirtschaftlichen Zusammenarbeit geschaffen werden könnten, um das gegenseitige Vertrauen zwischen den AKP-Staaten und den Staaten der EG zu festigen. Keinesfalls wird seitens der hoch entwikkelten europäischen Staaten dabei eine Position der Stärke bezogen. Im Gegenteil: Der Sinn des Abkommens liegt darin, an das wohlverstandene Interesse der afrikanischen Länder zu appellieren und zu ihrem eigenen Nutzen die wirtschaftliche Kooperation mit Europa auszubauen. Auf diese Weise soll eine weitgehende Interessenkongruenz geschaffen werden. Es ist denkbar, daß in bezug auf die arabischen Länder in Zukunft ähnliche Zielvorstellungen entwickelt werden, wie es im Lome-Abkommen mit den afrikanischen Ländern möglich war.
Die großen Folgewirkungen solcher Abkommen erfordern allerdings auf lange Sicht gesehen ein gemeinsames europäisches Entscheidungszentrum. Tindemans schreibt hierzu: „Die Gründe, die für ein gemeinsames Auftreten unserer Staaten in der Welt sprechen, liegen, objektiv gesehen, auf der Hand;
sie ergeben sich aus dem Kräfteverhältnis und aus der Dimension der Probleme. Andererseits werden sie, subjektiv gesehen, von unseren Völkern stark empfunden; unsere Verwundbarkeit und relative Ohnmacht stehen uns allen deutlich vor Augen. Durch das Zusammenwirken dieser beiden Faktoren werden die Außenbeziehungen zu einem der wichtigsten Beweggründe für die europäische Einigung, und deshalb muß die europäische Union eine Außenpolitik betreiben." Es heißt weiter bei Tindemans: „Die Schaffung eines gemeinsamen Entscheidungszentrums sagt nicht, daß die derzeitige Trennlinie zwischen den Tätigkeiten, die in den Bereich der Gemeinschaft gehören, und den Tätigkeiten im Rahmen der politischen Zusammenarbeit verwischt werden soll. Naturgemäß müssen nicht alle Probleme nach ein und demselben Verfahren behandelt werden. Die unerläßliche Kohärenz des Handelns setzt dagegen voraus, daß die verschiedenen Facetten der oft komplexen Probleme, mit denen sich die Europäische Union auseinandersetzen muß, zumindest auf Ministerebene von denselben Personen an ein und demselben Ort gemeinsam verhandelt werden können. In dieser Sicht schlage ich vor, die politische Verpflichtung der Mitgliedstaaten, die der politischen Zusammenarbeit zugrunde liegt, in eine rechtliche Verpflichtung umzuformen." Nach An-sicht Tindemans haben die entscheidenden Verhandlungen mit den Ländern der Dritten Welt „noch nicht wirklich begonnen". Tindemans hebt hervor, „daß auch die engsten bilateralen diplomatischen Beziehungen keine Lösung bringen können, während die EWG über die wertvolle Erfahrung der Abkommen von Jaunde und Lome verfügt"
Die raschen Fortschritte in der Europäisierung der Außenpolitik, wie sie im Abkommen von Lome deutlich geworden sind, wurden dadurch erleichtert, daß sich diese Außenpolitik vorwiegend auf eine Politik der negativen Integration beschränken konnte. Darunter versteht man einen Ausbau der zwischenstaatlichen Beziehungen, der sich z. B. durch Abbau der Zölle, durch Beseitigung der Warenkontingente und dergleichen kennzeichnen läßt. Das maßgebende politische Motiv ist dabei ein ausgewogener, beiderseitiger Nutzen. Die Frage der Entwicklung einer sogenannten positiven Integration ist bisher noch nicht aktuell gewesen, jedenfalls nicht in den Abkommen von Lome und Jaunde. Unter einer positiven Integration versteht man eine gemeinsame Politik von Ländern, die von der Absicht getragen ist, in der Entwicklung gemeinsamer Zielvorstellungen ein Gesamtsystem der betreffenden Staaten auf bestimmten Teilgebieten zu etablieren, dem die Staaten als Subsysteme integriert werden. Eine derart positive Integration ist z. B. im Rahmen der Montanunion unter sechs europäischen Staaten konstituiert worden. Auf gewissen Teilgebieten ist eine positive Integration auch zwischen verschiedenen Ländergruppen möglich, wie etwa zwischen der EG und Ländern der Dritten Welt.
Erstmalig wurden die neun Staaten der EG auf der Welthandelskonferenz in Nairobi (Mai 1976) mit der Problematik einer positiven Integration konfrontiert: Die Langer der Dritten Welt strebten eine Globalsieuerung und überregionale Kontrolle des Marktsystems für Rohstoffe an, was sich nur im Rahmen eines Gesamtsystems verwirklichen läßt. Die Forderung der Drittländer an die Industrienationen, sich in dieses Gesamtsystem zu integrieren, bedeutet für die Industrienationen die Anerkennung von gemeinsamen Zielvorstellungen aller betroffenen Länder, deren Nutzen sich nicht im nationalen Zielsystem kalkulieren läßt, sondern eben nur im Gesamtsystem. Die Bereitschaft zur Integration in das Gesamtsystem schließt notwendigerweise den Verzicht auf gewisse Nationalinteressen ein. In der Tat stellen die Forderun-gen der Drittländer eine qualitativ andere Herausforderung dar, als dies im Zusammenhang mit dem Abkommen von Lome der Fall gewesen ist.
Die Europäische Gemeinschaft der Neun kann einer solchen Herausforderung nur begegnen, indem sie einen Konsens über gemeinsame Zielvorstellungen entwickelt, um auf diese Weise geschlossen aufzutreten. Nur auf diesem Wege ist sie in der Lage, der politischen Herausforderung der Drittländer so zu begegnen, daß die Interessen der EG gewahrt werden können. Die Konferenz von Nairobi hat gezeigt, daß noch ein weiter Weg zurückgelegt werden muß, um einen wirklichen Konsens innerhalb der EG über gemeinsame Zielvorstellungen zu erreichen, die es Europa ermöglichen, als ernst zu nehmender politischer Partner aufzutreten. Es ist aber keine Frage mehr, daß die Aufgabe positiver Integration mit den Entwicklungsländern in naher Zukunft gelöst werden muß.
Dies ist gleichbedeutend mit einer weiteren Europäisierung der Außenpolitik, die wiederum mehr und mehr von einem gemeinsamen Entscheidungszentrum getragen sein muß, wenn sie erfolgreich sein soll. Dieses Entscheidungszentrum kann jedoch nur gebildet werden, wenn in der europäischen Binnenpolitik der Integrationsprozeß weitergeht. Dies ist das Dilemma Europas, denn seit dem Verfall der Autorität der europäischen Institutionen ist in der europäischen Binnenpolitik der Übergang zur positiven Integration weitgehend verzögert und schließlich blockiert worden. So kam es nicht zur Bildung einer ausreichenden gesellschaftspolitischen Infrastruktur, die erst die Basis dafür bildet, daß eine Europäisierung der Außenpolitik auf Dauer durchgesetzt werden kann.
III. Der Verfall der europäischen Integration
Während in den Außenbeziehungen der EG sich die ersten Ansätze einer Europäisierung zeigen, gibt es kaum greifbare Fortschritte in der Frage der politischen Union Europas, weder wirtschaftlich, noch politisch, noch auf einem anderen Sektor. Zwar haben sich die Engländer nach dem Referendum am 5. Juni 1975 mit großer Mehrheit dafür ausgesprochen, daß Großbritannien in der EG bleiben soll, und es kann sicherlich als ein bemerkenswerter Fortschritt betrachtet werden, daß auf der Konferenz in Helsinki (KSZE) die neun Länder der EG solidarisch zusammengearbeitet haben. Dies kommt in den Berlin-Erklärungen westlicher Staatsmänner auf der abschließenden Gipfelkonferenz in Helsinki deutlich zum Ausdruck. Diese positiven Ereignisse können aber nicht darüber hinwegtäuschen, daß in der Entwicklung zur politischen Einigung Europas zur Zeit immer noch absoluter Stillstand herrscht. In der europäischen Binnenpolitik liegen bisher nur Bruchstücke herum, aus denen das Bauwerk der politischen Union Europas nicht zusammengesetzt werden kann. Die stark diskutierte Frage der Ausstattung des Europäischen Parlaments mit neuen Vollmachten verdeutlicht dies. Noch immer herrscht Ungewißheit darüber, wie die einzelnen Staaten im künftigen Europäischen Parlament vertreten werden sollen und nach welchem Wahlmodus die Direktwahl stattfinden soll.
Der einzige Lichtblick ist wohl gegenwärtig die Tatsache, daß die Europäer inzwischen reicher geworden sind an politischen Erfahrungen So herrscht Einmütigkeit in der Erkenntnis, daß die bloße Kooperation zwischen den Staaten nicht genügt, um die Integrationsbemühungen zu verstärken. Man beginnt einzusehen, daß eine noch so starke Intensivierung der Kooperation zwischen den Staaten nicht unbedingt zur politischen Integration Europas führt. Es hat sich bei den bisherigen Krisen in der Europäischen Gemeinschaft immer wieder mit aller Deutlichkeit gezeigt, „daß man mit unverbindlichen Koordinierungen oder Kooperationen auf der Ebene gelegentlicher Ministerbesprechungen nicht weiterkommt. Was not tut, ist ein Entscheidungszentrum, das Befugnisse bei der Festlegung von wirtschafts-, finanz-, währungs-und haushaltspolitischen Zielsetzungen erhält."
In der Tat ist das Kardinalproblem in der Gemeinschaft ihre mangelnde Entscheidungsfähigkeit. Nachdem der im Vertrag vorgesehene Gemeinsame Markt schrittweise verwirklicht wurde, sahen sich die Mitgliedstaaten sehr viel schwierigeren und tieferreichenden innenpolitischen Konsequenzen gegenüber, die eine Reihe von Entscheidungen notwendig machten, für die der Vertrag selber aber keinerlei Anhaltspunkte bietet. Diese Entscheidungen wurden immer wieder vertagt; andererseits vermochte die Europäische Kommission, die nach dem Vertrag als Hüterin und Motor des Vertrages auserkoren war, immer weniger die Rolle des Initiators zu spielen, weil sie des Instrumentes der Mehrheitsabstimmung beraubt worden war. Mittels der Einstimmigkeitsregeln ließen sich die notwendigen Entscheidungen nicht herbeiführen.
So hat die gesamte Entwicklung dazu geführt, daß die Integration allmählich aus dem Ruder lief. Während nach dem Vertrag der Fortschritt in der Herbeiführung qualitativer Veränderungen gesehen wurde — insbesondere in der Errichtung eines eigenen Entscheidungszentrums außerhalb und neben den nationalen Entscheidungszentren —, wurde in einer rückwärts orientierten Entwicklung der Schwerpunkt der Entscheidungen wieder in die nationalen Hauptstädte zurückverlegt. Dies hatte zur Folge, daß die Kommission zu einem Empfehlungsorgan degenerierte, womit . sie auf die gleiche Ebene zurückfiel wie das Generalsekretariat des Europarates oder der OECD. Der Ministerrat schließlich wurde zu einer diplomatischen Ministerkonferenz degradiert, die in Abhängigkeit von Weisungen der Kabinette oder Parlamente sich stets um einen Kompromiß bemühte, meist auf dem niedrigsten Nenner.
Die Tatsache schließlich, daß die Ratssitzungen immer häufiger unter Heranziehung der Fachminister einberufen wurden, führte zwar in der Öffentlichkeit zu dem Eindruck, daß die EG ihre Aktivität verstärkte. In Wirklichkeit jedoch zerfielen die Aktivitäten der EG in zahlreiche fachbezogene, manchmal sogar widersprüchliche Einzelaktionen. Die Zielrichtung insgesamt wurde nicht mehr deutlich. In diesem Zusammenhang ist dem Bericht Tindemans zuzustimmen, der hervorhebt, daß ein neuer Anlauf für die Schaffung einer politischen Union Europas nur darin liegen könne, neue Ziele für die Gemeinschaft zu setzen
Der allmähliche Verfall der europäischen Integration läßt sich als ein Rückfall von der positiven zur negativen Integration kennzeichnen. Hatte die Entwicklung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft mit der Bildung der Montanunion begonnen, so waren die großen Erfolge dieser Gemeinschaft der Tatsache zu verdanken, daß die Mitgliedstaaten sich Schritt für Schritt bereit er-* klärten, gemeinsame Zielvorstellungen eines europäischen Gesamtsystems zu entwickeln, dessen Gemeinwohl die absolute Priorität vor den nationalen Interessen zukam. Der Ausbau der Montanunion als Grundstein der späteren Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft läßt sich deuten als die schrittweise Fortentwicklung der positiven Integration, deren Kernstück die Etablierung eines europäischen Gesamtsystems darstellt, dem immer weitere Teilbereiche des politischen und wirtschaftlichen Lebens der Mitgliedstaaten integriert wurden. Dies setzte Schritt für Schritt eine Koordinierung der nationalen Politiken voraus. Indem in einem retardierenden Prozeß die Entscheidungen wieder in den Kompetenzbereich der nationalen Regierungen zurückverlagert wurden, kam es zunächst zu einem Autoritätsverfall der europäischen Institutionen.
Noch bedenklicher ist jedoch die Tatsache, daß das Kernstück der positiven Integration, nämlich die Etablierung eines Gesamtsystems mit gemeinschaftsbezogenen Zielvorstellungen und Interessen, allmählich seine politische Wirksamkeit einbüßte. An deren Stelle trat der aus der Gründungszeit der Montanunion her bekannte Mechanismus der negativen Integration: das Aushandeln von multilateralen Absprachen über die Beseitigung von Hemmnissen auf dem Agrarsektor, in der Industrieproduktion und im Außenhandel. Da in diesem Arbeitsfeld der negativen Integration nur pragmatische Entscheidungen ohne überregionale, gemeinschaftsbezogene Perspektiven zu fällen sind, ist es kein Zufall, daß die europäischen Institutionen allmählich überwuchert wurden von technokratischen Mechanismen, um für den reibungslosen Austausch von Waren, Dienstleistungen und Kapitalien soweit wie möglich Hindernisse zu beseitigen, damit die Kosten für die Beteiligten minimalisiert werden konnten. Damit ist Europa weithin zu einem Europa der Technokraten geworden, die sich über Abschöpfungen, Auf-und Abwertungsprobleme der nationalen Währungen oder Agrarimporte abzustimmen hatten, um die Risiken für die nationalen Volkswirtschaften möglichst gering zu halten.
Parallel zu dieser Entwicklung zeigte sich ein deutlicher Machtverfall Europas als Ganzes.
Die Mitgliedstaaten der EG wurden in wachsendem Maße verwundbar und anfälliger für internationale Krisen, weil sie den außenpolitischen Herausforderungen nicht mehr mit dem Potential des ganzen Europa entgegentreten konnten. Die erste Phase der Erdölkrise hat deutlich gezeigt, daß das Machtpotential der einzelnen Nationen zu klein sind, um in Konkurrenz mit den Supermächten oder den Ländern der OPEC ins Gewicht zu fallen. Jedes Land versuchte, in Krisensituationen im engen Spielraum seiner nationalen Interessen-politik zu manövrieren. Erst in den letzten Jahren konnte die Optionsfreiheit der EG zumindest im Bereich der Außenpolitik allmählich wiedergewonnen werden.
Auf dem Sektor der europäischen Binnenpolitik ging sie indes verloren. Hier zeigt sich in der Tat ein gegenläufiger Prozeß: Während in den Außenbeziehungen der EG der notwendige Übergang von der negativen zur positiven Integration in greifbare Nähe gerückt zu sein scheint, ist die europäische Binnenpolitik in einem Zustand der Stagnation befangen, der sich durch den Rückfall in die negative Integration kennzeichnen läßt. Wenn man mit Tindemans davon ausgeht, daß der gesamte Prozeß der Integration der neun Mitgliedstaaten zur politischen Union Europas nur möglich ist durch eine Parallelität der Fortschritte in der Europäisierung auf dem Sektor der Außenpolitik wie der innereuropäischen Beziehungen, so muß die Tatsache der gegenläufigen Entwicklung in den Außenbeziehungen und in der Binnenpolitik paralysierend wirken, über kurz oder lang wird die Stagnation in der europäischen Binnenpolitik auf die Außenbeziehungen zurückschlagen und die hoffnungsvollen Ansätze einer Europäisierung wieder zerstören.
Ein Hoffnungsschimmer künftiger europäischer Entwicklung könnte nun der Beschluß der Regierungschefs sein, die Verantwortung für die europäische Integration wieder zu übernehmen. Dies kann die erste Stufe politischer Bemühungen sein, den Verlust an Entscheidungsfähigkeit allmählich wieder zu überwinden. Auf Drängen des damaligen Bundeskanzlers Brandt hatten die Regierungschefs in Kopenhagen beschlossen, regelmäßige Präsidentschaftstreffen durchzuführen. Auf dem späteren Pariser Treffen schließlich stellte der französische Staatspräsident Giscard d’Estaing fest, daß die Zusammenkünfte sogenannte „Ratssitzungen" seien, wenn sie sich mit einer Materie beschäftigen, die unmittelbar von den Römischen Verträgen abgedeckt ist. Giscard forderte, daß diese Ratssitzungen zugleich der „europäischen politischen Zusammenarbeit" dienen sollten, wann immer sie sich mit Materien beschäftigen, die außerhalb dieser Verträge liegen. Damit wurde erstmalig die künstliche Trennung zwischen Materien der Gemeinschaft und der europäischen politischen Zusammenarbeit aufgehoben. Künftighin wird alles davon abhängen, ob es gelingt, daß bei den regelmäßigen und gemeinschaftskonformen Sitzungen der Regierungschefs die Versuchung der Mitgliedstaaten zurückgedrängt wird, in ausweglos erscheinenden Situationen nationale Alleingänge anzustreben, die dem Geist der Verträge zuwiderlaufen. Dies wird nur dadurch möglich sein, wenn sich auf der Ebene der Ratssitzungen allmählich wieder das Prinzip der Mehrheitsentscheidungen durchsetzt.
Insgesamt bleibt aber die auf der Ebene der Regierungschefs vorhandene Entscheidungsbasis zu schmal. Eine zweite Phase in der Verbesserung der Entscheidungsfähigkeit der Gemeinschaft muß folgen. Wenn die Gemeinschaft sich neue Ziele setzen will, so bedarf es eines transnationalen Entscheidungsgremiums, an dem es bisher gefehlt hat.
IV. Von der negativen zur positiven Integration
Der qualitative Sprung bei der Umwandlung eines gemeinsamen Marktes in eine vollständige Wirtschaftsunion bzw. politische Union kann als Übergang von der negativen zur positiven Integration bezeichnet werden. Die positive Integration geht über die Beseitigung der Hemmnisse im wirtschaftlichen Bereich hinaus und beinhaltet die Entwicklung von Zielvorstellungen und die Herausbildung von Regeln, die für den „koordinierten Einsatz des interventionspolitischen Instrumentariums" notwendig sind Dieser Übergang ist allerdings nicht eine kontinuierliche Folge von Einzelschritten, wobei der eine Schritt sich automatisch aus dem vorhergehenden ergibt. Es handelt sich hierbei also nicht „um den Übergang innerhalb eines kontinuierlichen Phasen-und Stufenschemas. Dieser Sprung hat das bisher Gewollte und Erreichte zwar zur Grundlage, doch es verlängert dies nicht einfach in die Zukunft, wie es bestimmte politische und wissenschaftliche Interpretationen der westeuropäischen Integration nahelegen." Nun sind Merkmale wie „Entwicklung von Zielvorstellungen unter Ausarbeitung gemeinsamer Politiken“, um die nationale Politik auf die Gemeinschaftsebene übertragen zu können, noch nicht geeignet, um den qualitativen Sprung genau zu kennzeichnen, um den es hierbei geht. Es soll daher versucht werden, die Kriterien darzustellen, die zu einer möglichst exakten Kennzeichnung dieses Über-gangs erforderlich sind. 1. Kriterium:
Eine Übertragung nationaler Politik auf die Ebene der Gemeinschaft ist dann gegeben, wenn a) die Summe der Förderungspräferenzen für „transnationale Ziele" größer ist als für nationale Ziele b) der Nutzen, der durch die Verwirklichung transnationaler Ziele für einen Staat entsteht, sich nicht im Rahmen des nationalen Zielsystems kalkulieren läßt, sondern im Rahmen des Gesamtsystems. In diesem Zusammenhang hat Gaston Thorn, Ministerpräsident von Luxemburg, folgendes erklärt: „Die Deutschen sind sparsamer geworden, wie wir alle übrigens. Ihre Zahlungsmoral ist vorbildlich. Nur, man sollte in Deutschland erkennen, daß man zwar für Europa Geld ausgeben muß, daß man aber auch in und an diesem Europa sehr viel Geld verdient hat und noch verdient. Die Zahlungen, etwa in den Agrarfonds, lassen sich auf die Mark nachweisen. Was die deutsche Industrie auf Grund des europäischen Freihandels an Devi-
sen-Volumen herausholt, ist nicht ohne weiteres meßbar. Natürlich zahlt Bonn mehr als Luxemburg ..."
Die Zahlungen in den Agrafonds sind Investitionen, die die Bundesrepublik zu tätigen hatte, um das transnationale Ziel einer Angleichung der sozio-ökonomischen Struktur auf dem Agrarsektor zu erreichen, und zwar in allen Mitgliedsländern. Der Nutzen dieser Investitionen konnte jedoch, wie Thom erklärt, im Rahmen des nationalen Zielsystems, d. h. im Rahmen der nationalen Volkswirtschaft z. B. zunächst nicht ohne weiteres kalkuliert werden, da er aus den geleisteten Investitionen nicht abgeleitet werden kann. Dennoch ist aber auch für die Bundesrepublik ein Nutzen dabei herausgekommen, nur nicht ausschließlich auf dem Agrarsektor, auch nicht ausschließlich auf dem Sektor der Großindustrie, sondern auf sehr vielen Sektoren, die als Subsysteme in das Gesamtsystem des Gemeinsamen Marktes integriert sind. Die Entscheidung für die Zahlungen in den Agrarfonds setzt das Risiko voraus, daß der erzielbare Nutzen nicht in Heller und Pfennig kulkulierbar ist, während andererseits der Nutzen für das Gesamtsystem des gemeinsamen Marktes von vornherein erwartet werden kann: Durch die Leistungen in den Agrarfonds ist eine Angleichung der politisch-sozialen Struktur der Partnerländer in die Wege geleitet worden — und darauf kommt es letztlich an.
H. Schmidt, Parlamentarischer Staatssekretär im Verteidigungsministerium, hat zur Frage nationaler Leistungen für Gesamteuropa folgendes erklärt: „Tatsächlich hat der in den fünfziger Jahren einsetzende Wirtschaftsaufschwung oft eher als ein Hemmnis für die europäische Einigungsbewegung gewirkt, denn als ein Impuls. Oft verstellte dieser Wirtschaftsaufschwung den Blick auf das Europäische und ließ die Möglichkeiten des nationalen Fortschritts zum bestimmenden Faktor werden. Die Chance, in Boom-Zeiten national voranzukommen, schien größer, als es europäisch zu versuchen. Das Ergebnis dieser Entwicklung war, daß mit dem wirtschaftlichen Aufschwung in allen EG-Staaten zugleich das Wohlstandsgefälle zwischen den einzelnen Regionen Europas sich eher verschärfte als milderte. In Zahlen ausgedrückt, heißt dies z. B.: von 1956 bis 1972 ist das Bruttosozialprodukt je Einwohner in den Ländern der Europäischen Gemeinschaft im Durchschnitt um 350 °/o gestiegen. In den Niederlanden und in der Bundesrepublik Deutschland lag dieses Wachstum aber etwa bei 400%, in Großbritannien hingegen mit 230 % bei kaum mehr als der Hälfte. Für mich kann kein Zweifel darin bestehen, daß eine europäische Europa-Politik letztlich nur dann Erfolg haben wird, wenn es gelingt, mit den hier nur kurz und beispielhaft skizzierten Problemen europäisch fertigzuwerden. Aber eine solche Politik erfordert Opfer. Und diese Opfer können gebracht werden, wenn zweierlei gelingt: zum einen muß den Steuerzahlern der Geberländer erklärt werden können, daß Maßnahmen, die kurz-und mittelfristig wie Opfer aussehen, lang-B fristig eine Investition für Europa sind, deren Rendite auch ihnen politisch zugute kommt. Es muß erklärt werden können, daß wir eigenen Interessen dienen, wenn wir europäisch handeln. Zum andern müssen die Nehmenden uns Gewißheit geben, daß nationale Beiträge auch wirklich der europäischen Einigung zugute kommen, so daß sie Fortschritte zum Einigungsprozeß bewirken."
Bei einer starken Diskrepanz zwischen den Ländern verschiedenen Entwicklungsstandes geht es letztlich um das Prinzip der Verwirklichung einer höheren sozialen Gerechtigkeit, womit ein Grundwert der Lebensordnung selbst betroffen ist. Im Hintergrund mag dabei durchaus das politische Motiv eine Rolle spielen, einem anderen ideologischen System, z. B.dem Weltkommunismus, keine Chance zu bieten, in den betroffenen Ländern Fuß zu fassen. 2. Kriterium:
Zur Durchsetzung transnationaler Zielvorstellungen ist im politischen Entscheidungsprozeß die transnationale Legitimation maßgebend und nicht der Rückgriff auf ausschließlich nationale Legitimation. Dies hat folgendes zu bedeuten: Die Regierungen und die maßgebenden Eliten sind bereit, bei der Entwicklung und Durchsetzung von transnationalen Zielen nicht auf die nationale Legitimationsgrundlage zurückzugreifen („der Nutzen für unsere Volkswirtschaft wird nicht lange auf sich warten lassen"), sondern diese Ziele durch eine bewußt transnationale Legitimationsgrundlage abzustützen. Dies bedeutet, daß der entscheidende Nutzen und Wert dieser Ziele oder Maßnahmen im Hinblick auf die Gemeinschaft gesehen wird.
Tindemans hat hierzu erklärt: „Die Europäische Union wird auf dem rechten Wege sein, wenn den Politikern unserer Staaten ständig die europäische Dimension bewußt bleibt, wenn niemand mehr die europäische Politik als die beiläufige, nebensächliche Verlängerung der nationalen Politik sieht, die sich an nationalen Interessen orientiert, und wenn europäische Beschlüsse und Daten als normales Mittel für die Lenkung unserer Gesellschaft und die Sicherung ihrer Zukunft gesehen werden. Was jetzt fallen muß, sind die geistigen Schranken." In der Tat ist der Übergang von der nationalen Legitimation außenpolitischer Zielvorstellungen zur trans-nationalenLegitimation dieser Ziele ein qualitativer Sprung, der ein geistiges Umdenken der Politiker voraussetzt. 3. Kriterium:
Die überstaatliche Bindung tritt zunehmend an die Stelle der nationalen Bindung, wobei die überstaatliche Bindung dadurch gekennzeichnet ist, daß die Staaten auf ein Vetorecht verzichten und bereit sind, sich dem Mehrheitsvotum zu unterwerfen, ohne sich das Recht vorzubehalten, aus der Gemeinschaft auszusteigen, wenn sie überstimmt werden. Tindemans erklärt hierzu: „Der entscheidende Unterschied zwischen der Koordinierung der Politiken, wie sie gegenwärtig gehandhabt wird, und der gemeinsamen Außenpolitik, die die Union kennzeichnet, ist nicht so sehr eine Frage des Verfahrens oder des zuständigen Organs. Er liegt vielmehr in der Verpflichtung, sich auf einen gemeinsamen Standpunkt zu einigen. Die Staaten verpflichten sich, die großen Linien ihrer Politik im Europäischen Rat festzulegen. Der Rat hat die Verpflichtung, auf dieser Grundlage gemeinsame Beschlüsse zu den einzelnen Punkten zu erarbeiten. Das setzt natürlich voraus, daß sich die Minderheit nach Abschluß der Beratungen der Mehrheit anschließt."
Damit politische Entscheidungen nationaler Regierungen im Sinne der dargestellten Kriterien möglich sind, sind zwei Voraussetzungen notwendig:
1. Im politisch-gesellschaftlichen Bereich ist eine transnationale Infrastruktur in dem Sinne erforderlich, daß sich möglichst viele Gruppen und Parteien an der Diskussion politisch kontroverser Probleme beteiligen, die mit der Gestaltung einer westeuropäischen Gesellschaftsordnung Zusammenhängen. Nur so werden jene Zielkonflikte artikuliert, die im Bereich der Gesellschaft ausgetragen werden müssen, damit sich allgemein anerkannte Förderungspräferenzen für die transnationalen Ziele auch im Bewußtsein der Öffentlichkeit herausbilden können. Nur auf diese Weise entsteht auch die gesellschaftliche Basis, die die nationalen Regierungen benötigen, um Entscheidungen im Sinne von transnationalen Zielen treffen zu können
Tindemans vertritt in seinem Bericht daher die Auffassung, daß das ab 1978 direkt zu wählende Europäische Parlament die Aufmerksamkeit der europäischen Öffentlichkeit „durch große politische Debatten'gewinnen könnte. Er schlägt deswegen vor, diesen Debatten dadurch mehr Gewicht zu verleihen, „daß die führenden Politiker unserer Länder daran teilnehmen können, selbst wenn die Funktionen, die sie in ihrem Lande ausüben, ihnen praktisch nicht die Möglichkeit geben, sich bei europäischen Wahlen als Kandidaten aufstellen zu lassen." In der Tat läßt sich eine transnationale Infrastruktur in Europa nur entwickeln, wenn die Diskussion über europäische Themen sich nicht ausschließlich auf technokratische Einzelprobleme konzentriert, sondern wenn es gelingt, die großen europäischen Themen immer wieder zum Gegenstand der öffentlichen Diskussion zu machen. 2. Von entscheidender Bedeutung ist — wie bereits dargelegt — die Schaffung eines transnationalen Entscheidungszentrums, das in der Lage ist, mit dem nötigen interventionspolitischen Instrumentarium eine effektive Krisenstrategie zu entwickeln und durchzusetzen, die sich zum Vorteil aller Staaten im Gesamtsystem auswirkt. Ein solches Entscheidungszentrum ist flexibler als ein Gremium von Spitzenpolitikern, die sich in ihren Entscheidungen immer wieder durch ein Veto gegenseitig blockieren können. Gerade in Krisensituationen ist es vielfach erforderlich, daß anfänglich getroffene Entscheidungen revidiert werden angesichts der sich verändernden Umstände. Eine solche Revision ist bei einem Entscheidungsgremium, das mit Mehrheitsbeschlüssen arbeitet, leichter möglich
Die Etablierung eines Entscheidungszentrums, wie es von den Römischen Verträgen vorgesehen ist, aber sich noch nicht durchsetzen konnte, verlangt Entscheidungen der nationalen Regierungen, die im Grunde mit einem Machtverzicht verbunden sind. Denn die Etablierung eines solchen Entscheidungszentrums schließt die Übertragung nationaler Hoheitsrechte und Machtbefugnisse auf die Ebene der Gemeinschaft ein. Der bei der Durchsetzung von transnationalen Entscheidungsmechanismen unvermeidliche Macht-verlust der nationalen Regierungen läßt sich nur dadurch vor der Öffentlichkeit vertreten, wenn deutlich gemacht werden kann, daß nur auf dem Wege einer transnationalen Interventionspolitik —'eine Angleichung der sozio-politischen Struktur innerhalb der Gemeinschaft erreicht werden kann und — nur auf dem Wege dieser Angleichung eine langfristige Krisenstrategie möglich ist, die die Krisensymptome der Gemeinschaft als Ganzes effektiv zu überwinden vermag.
Tindemans betont in seinem Bericht über die Europäische Union in diesem Zusammenhang nachdrücklich die Notwendigkeit der Mehrheitsbeschlüsse im Rat, da nur auf diesem Wege die Mitgliedstaaten die Verpflichtung eingehen können, „eine gemeinsame Politik zu verfolgen, . .. und durch rasches Handeln Krisen bewältigen können. Dies setzt voraus, daß analog zu dem institutioneilen Mechanismus der Verträge die Minderheit in bestimmten Bereichen sich nach Schluß der Debatten dem Standpunkt der Mehrheit fügt."
Wenn Giscard d’Estaing kürzlich erklärt hat, daß Frankreich zunächst einmal mit Anspannung aller nationalen Kräfte den Anschluß zu finden habe an das wirtschaftliche Niveau der Bundesrepublik, um sich erst dann voll in den Gemeinsamen Markt zu integrieren, so ist diese Äußerung Giscards nur zu erklären auf dem Hintergrund der Tatsache, daß es zur Zeit für ihn keine Möglichkeit gibt, auf eine transnationale Legitimation wegen des Fehlens transnationaler Entscheidungsmechanismen und Konsultationsorgane zurückzugreifen, die legitimiert wären, eine transnationale Interventionspolitik zum Nutzen des Ganzen durchzusetzen. Außerdem hat es Giscard wegen der schwierigen innenpolitischen Lage bisher nicht wagen können, die großen, politisch kontroversen Probleme zur Debatte zu stellen. Nicht nur in Frankreich fehlt es zur Zeit an den nötigen transnationalen Strukturen. Eine Änderung dieser Situation in Frankreich und in den übrigen westeuropäischen Ländern ist nur möglich, wenn es gelingt, die großen europäischen Themen Schritt für Schritt wieder in das Blickfeld der Öffentlichkeit zu rücken, um einen Meinungs-bildungs-und Entscheidungsprozeß einzuleiten, der die Grundlage einer Europäisierung der nationalen Politiken in Europa darstellt Hier kommt der Wahlkampagne in der Vorbereitung der Direktwahl des Europäischen Parlaments eine große Bedeutung zu.
V. Was bleibt zu tun?
Die Frage nach den Möglichkeiten politischen Handelns zur Entwicklung der politischen Union Europas stellt sich unter drei Aspekten: Zunächst ist es erforderlich, daß ein Willensbildungsprozeß in Gang gesetzt wird, der eine neue Qualität des Handelns schafft, indem er der gemeinsamen Politik Gesamteuropas die höchste Priorität einräumt.
Zweitens geht es um die Schaffung und Erweiterung europäischer Institutionen, ohne die sich ein Entscheidungsprozeß auf der Ebene der Europäischen Gemeinschaft weder vollziehen noch durchsetzen kann.
Drittens ist es eine unabdingbare Voraussetzung erfolgreicher europäischer Politik, wenn sich eine enge Verzahnung von Fortschritten zur Europäisierung der Außenpolitik und Fortschritten auf dem Wege der europäischen Integration innerhalb der Mitgliedsländer vollzieht
Die neue Qualität politischen Handelns, die durch einen einheitlichen Willensbildungsprozeß der europäischen Staaten gewonnen werden kann, läßt sich gegenwärtig am besten auf dem Sektor der Außenbeziehungen der EG verdeutlichen. Tindemans meint hierzu, daß „ein System der Koordinierung" nationaler Politiken, „das sich in den letzten Jahren immer weiter entwickelt und bemerkenswerte Erfolge gezeitigt hat", letztlich nicht ausreiche, „weil es ausdrücklich die Möglichkeit des Scheiterns in sich birgt: Kommt es nicht zu einer Koordinierung, so können unterschiedliche politische Kurse gesteuert werden. Die europäische Identität wird in der Welt nicht anerkannt werden, wenn die europäischen Staaten zwar manchmal gemeinsam auftreten, dann aber wieder uneins sind" In der Tat erscheint es notwendig, daß die Koordinierung nationaler Politiken, so wichtig sie auch für eine Übergangsphase sein mag, „schrittweise von einer gemeinsamen Politik abgelöst wird, d. h. die Mitgliedstaaten in der Lage sein müssen, gemeinsam eine Politik zu erarbeiten und im Rahmen der Europäischen Union gemeinsam zu handeln"
Die Entwicklung eines Willensbildungsprozesses unter den neun Staaten der EG, der über die notwendigen Koordinierungsund Konsultationsmechanismen verfügt, um auch in Krisensituationen schnell und wirkungsvoll durchgesetzt werden zu können, ist die Vorstufe für künftige institutionelle Veränderungen innerhalb der Europäischen Gemeinschaft. Im Bereich der Außenbeziehungen zeigen sich die ersten fruchtbaren Ansätze eines solchen Prozesses, da sich die Gemeinschaft der Neun mit politischen Herausforderungen konfrontiert sieht, denen sie mit dem bisher praktizierten System bloßer Koordinierungen nationaler Politiken nicht mehr begegnen kann. Bei den Verträgen von Lome wie auch im europäisch-arabischen Dialog und in der Mittelmeerpolitik hat die Gemeinschaft der Neun die Initiative ergriffen, um in den Verhandlungen mit Dritt-ländern einen gemeinsamen Standpunkt zu verfechten. Auch im Rahmen der KSZE ist die Praxis geübt worden, einen einheitlichen Standpunkt nach außen zu vertreten. Noch fehlt aber der Verpflichtungscharakter, der die gemeinsame Politik der Neun von einer bloßen Koordinierung nationalen Politiken unterscheidet. Im Zuge weiterer Entwicklungen könnte jedoch dieser Verpflichtungscharakter einer künftigen gemeinsamen Politik institutionalisiert werden.
Es ist bemerkenswert, daß in dem Bericht Tindemans der enge Zusammenhang zwischen dem Entscheidungsprozeß auf der Ebene der Gemeinschaft und der Entwicklung europäischer Institutionen hervorgehoben wird. In der Tat läßt sich die qualitative Veränderung innerhalb Europas nicht durchsetzen, wenn es nicht gelingt, die europäischen Institutionen so zu entwickeln, daß die Möglichkeit zu einer positiven Integration besteht.
Hier steht Europa vor einem weiten Feld politischer Initiativen. Vorrangig ist die direkte Wahl des Europäischen Parlaments, womit allerdings noch keine Kompetenzerweiterung des Parlaments selbst verbunden ist. Um diese Kompetenzerweiterung haben die gewählten europäischen Parlamentarier zu kämpfen. Eine Aufwertung der parlamentarischen Institutionen muß dabei auf dem Hintergrund der Tatsache gesehen werden, daß die Gemeinschaft weder sachlich noch institutionell zwischen Legislative und Exekutive trennt, wie es in den Nationalstaaten Europas der Fall ist. Die Aufteilung der Kompetenzen zwischen dem Rat und der Kommission stellt institutionell keine Abgrenzung zwischen Legislative und Exekutive dar. Hinsichtlich des Charakters des Parlaments als eines beratenden Organs, das seit einiger Zeit mit beschränkten Haushaltsrechten ausgestattet ist, gibt es eine Reihe von Möglichkeiten, den politischen Stellenwert dieser Institution zu verbessern. Die erste liegt darin, dem Parlament eine Mitbestimmungsbefugnis einzuräumen, d. h. ihm das Vetorecht in einer Reihe von „konstitutionellen" Fragen der Gemeinschaft zu geben (Zulassung neuer Mitglieder, Änderung der Verträge etc.). Ferner könnte man dem Parlament erweiterte Konsultationsbefugnisse verleihen, wie es etwa das britische Oberhaus in Form eines aufschiebenden Vetorechts besitzt.
In einer weiteren Phase der Entwicklung könnte das Mitentscheidungsrecht des Parlamentes auf alle Bereiche ausgedehnt werden. So könnte das Parlament den Präsidenten der Kommission einsetzen, nachdem dieser von den Regierungen vorgeschlagen worden ist. Auch Tindemans ist dafür, daß der ernannte Präsident letztlich vor dem Europäischen Parlament eine Erklärung abzugeben hat, um seine Ernennung durch Abstimmung bestätigen zu lassen Damit blieben die Machtpositionen von Rat und Kommission: erhalten, die nicht in Legislative und Exekutive aufgeteilt werden können. Doch das Parlament könnte mit seinem Veto gegen die Beschlüsse von Rat und Kommission operieren, ohne beiden Institutionen seine eigenen Beschlüsse aufzuzwingen. Das Blockierungsrecht des Parlamentes hätte durchaus die Möglichkeit, den Rat durch die Ablehnung von nicht ausreichenden gemeinschaftlichen Lösungen zu zwingen, gemeinschaftsfreundlichere Entscheidungen zu veranlassen.
Diese Kompetenzerweiterung des Parlamentes würde zugleich eine Stärkung der politischen Macht Europas bedeuten: Durch die Mitwirkung des Parlaments am Entscheidungsprozeß des Rates, und sei es nur durch das Blockierungsrecht, entsteht die Möglichkeit zur Schaffung neuer politischer Optionen, die für die Entwicklung effektiver Krisenstrategien entscheidend sein können. Sofern die Konsensbildung im Rat hinsichtlich transnationaler Zielvorstellungen auf Schwierigkeiten stößt, könnte das Parlament den Konsens fördern, indem es Zwänge schafft, die nicht umgangen werden können. So eröffnen sich der EG in internationalen Konfliktsituationen wie auch in innereuropäischen Krisen neue politische Optionsmöglichkeiten, hinter denen die politische Macht der Gemeinschaft als Ganzes steht. Schließlich kann dem Parlament durch das Haushaltsrecht, das mit der Verfügung über beträchtliche Finanzmittel eine wichtige Rolle spielt, eine weitere Einflußmöglichkeit zugebilligt werden.
Von entscheidender Bedeutung wird es sein, daß dem Parlament — das angesichts der besonderen Konstruktion der EG auch in Zukunft nicht Unbedingt über das volle Recht zur Legislative verfügen wird — ein Initiativrecht zuerkannt wird, das den Rat verpflichtet, über die Entschließungen des Parlamentes zu beraten. Damit hätte das Europäische Parlament die Möglichkeit, bei der Entwicklung einer gemeinsamen europäischen Politik effektiv mitzuwirken
Der Europäische Rat als Gremium der Regierungschefs hat seine Rolle bisher darin gesehen, in wichtigen europäischen Fragen die gegenseitige Konsultation einzuleiten, ohne daß die nationalen Regierungschefs ihr Recht preisgegeben hätten, notfalls das Heil im Alleingang zu suchen, sofern der Rat sich als zu schwerfällig erwies, eine gemeinsame Politik zu entwickeln. Es wäre jedoch ohne weiteres denkbar, daß der Europäische Rat im Falle von Entscheidungen, die die gesamteuropäischen Interessen betreffen, nach den Verfahren, Normen und Spielregeln der EG handelt. So ist es denkbar, daß im Falle solcher Entscheidungen die Vertreter der Europäischen Kommission durch ihre Anwesenheit dafür bürgen, daß die Verträge der EG zur Grundlage des Entscheidungsprozesses gemacht werden. Sofern das Recht des Europäischen Parlaments hinzukommt, durch ein Vetorecht gemeinschaftsfeindliche Entscheidungen zu blockieren, könnte ein Zwang auf den Europäischen Rat ausgeübt werden, den gesamteuropäischen Interessen die oberste Priorität einzuräumen.
Der Rat der Außenminister ist in der Vergangenheit stets dann zusammengetreten, wenn in einer Krisensituation die europäischen Belange aut dem Spiel standen. Es hat sich aber immer wieder gezeigt, daß der Zeitfaktor bei solchen Entscheidungen eine wichtige Rolle spielt. Die Schnelligkeit im Entscheidungsprozeß macht die Einführung von Mehrheitsbeschlüssen erlorderlich. Andernfalls blockiert das Vetorecht eines oder mehrerer Länder den gesamten Entscheidungsvorgang. Die Wiedereinführung der Mehrheitsbeschlüsse im Rat ist die Mindestforderung, die sich an ein Entscheidungszentrum stellt, das zur Ent-Wicklung effektiver Krisenstrategien notwendig ist
Hinsichtlich der Umstrukturierung der Europäischen Kommission hat Tindemans vorgeschlagen, daß sich die Tätigkeit der Institution „nicht auf das Vorlegen von Vorschlägen" beschränkt. „Sie muß im Rahmen gemeinsam definierter Politiken mehr Handlungsspielraum erhalten, der ihr die Möglichkeit gibt, der Verwirklichung der Europäischen Union ihre eigene Dynamik zu verleihen. Dieser Handlungsspielraum hat seinen besten Ausdruck in den Befugnissen gefunden, die der Hohen Behörde der Gemeinschaft für Kohle und Stahl zuerkannt sind."
Aufs Ganze gesehen, wird eine Kompetenzerweiterung der Kommission nur möglich sein im Zusammenhang mit einer Erweiterung der Aufgabenbereiche des Europäischen Parlamentes. Denn wenn dem Parlament neue Rechte zugestanden werden, wird dies notwendigerweise auch dazu führen, daß der Kommission ein neuer Kompetenzbereich zu-wächst, da eine Abwertung der Kommission nach den Verträgen der Gemeinschaft nicht zu vertreten ist. Eine intensivere Kommunikation zwischen Kommission und Europäischem Parlament wird das legislative und beratende Element in der Gemeinschaft erheblich verstärken können, wenn die Legislative in ihrer reinen Form auch nicht in der Europäischen Gemeinschaft vertreten ist.
Man muß Tindemans zustimmen, wenn er die Ansicht vertritt, daß die Entwicklung zur politischen Union Europas nur auf dem Wege erreicht werden kann, der eine Revision des bisher Erreichten unmöglich macht. „Auch wenn in jeder Etappe ein Gleichgewicht angestrebt wird, ist es unvermeidlich, daß einzelne Staaten das Gefühl haben werden, ein größeres Risiko auf sich zu nehmen als andere, weil sie kurzfristig weniger zu gewinnen oder mehr zu verlieren haben, überzeugen lassen sich die Zweifler nur, wenn jeder Schritt ein irreversibler Vorgang ist. Der allgemeine politische Vorteil eines endgültigen Fortschritts auf dem Wege zu einer starken, einigen europäischen Union wird dann für einen Staat die unmittelbaren echten oder eingebildeten Nachteile aufwiegen, die er in Kauf nehmen muß. Mit anderen Worten, die Politik der kleinen Schritte ist nicht immer praktikabel, gelegentlich ist auch ein . großer Schritt nach vorn erforderlich." Ohne die Fortentwicklung europäischer Institutionen wird es nicht zu vermeiden sein, daß sich die neun Mitgliedstaaten der EG Positionen aufbauen, auf die sie sich jederzeit zurückziehen können, wenn es zu einer krisenhaften Entwicklung kommen oder wenn eine gemeinsame Politik der Neun scheitern sollte.
Die bisherige Entwicklung der EG zeigt, daß ein Ausweg aus dem gegenwärtigen Dilemma nur gefunden werden kann, wenn die europäische Politik so bürgernah wie möglich konzipiert wird. Dazu gehört eine enge Verzahnung zwischen einer europäischen Außenpolitik und einer Fortsetzung der Integration auf dem Sektor der europäischen Binnenpolitik. Damit ist der große Sektor der Wirtschaftsund Gesellschaftspolitik in Europa betroffen, also jener Bereich, der den europäischen Bürger unmittelbar angeht. Die Entwicklung eines transnationalen Entscheidungszentrums für Außenpolitik, Währungs-und Sicherheitspolitik setzt voraus, daß die breite Öffentlichkeit in Europa ein waches Bewußtsein von den großen europäischen Problemen gewinnt, deren Lösung nicht weiter aufgeschoben werden kann, wenn Europa sowohl mit seiner inneren Krise als auch mit der Überwindung der gegenwärtigen geschichtlichen Herausforderungen fertig werden will.