Alltagsszene Stolz, aber etwas unsicher und ängstlich, sitzt der fünfjährige Knirps auf seinem Fahrrad. Ein Erwachsener hält es hinten am Sattel fest, ermuntert den Sprößling und gibt ihm Ratschläge, schiebt an und läuft los, er lockert den Griff, das Fahrrad schwankt, stürzt aber nicht um, weil die griffbereite, schützende Hand sofort wieder zupackt; so geht es einige Male, bis das Kind aufhören will. Nach einigen Tagen wiederholt sich das Spiel, mit besserem, aber noch nicht endgültigem Erfolg, und schließlich — nach weiteren Versuchen — gelingt es: der Erwachsene verlängert den Abstand zwischen sich und dem Kind, das Kind fährt weiter, fährt alleine, hat Fahren gelernt. Ein alltäglicher und bedeutungsloser Vorgang: Was hat er mit dem Thema „Angst in der Schule" zu tun?
Hauptkennzeichen der Schule ist das planmäßige, organisierte Lernen. Gelernt wird auch hier in der skizzierten Situation. Es ist sogar ein Lernen unter Angst, dem schulischen Lernen — der ständig und allenorts geäußerten Kritik an der Schule zu folgen — also verwandt. Die Unterschiede zwischen beiden Formen des Lernens, dem in der Schule und dem auf der Straße, sind dennoch ungleich größer als diese pauschale Gemeinsamkeit. Aber sie helfen uns — und das ist der Sinn dieses Bildes — erste Erkenntnisse über das Angst produzierende Lernen in der Schule zu gewinnen.
Das innere Gefüge der Schule Im Unterschied zu dem kleinen Jungen kann kein Schüler über Abbruch oder Fortsetzung seines Lernens entscheiden. Mit einer Unerbittlichkeit ohnegleichen hält der Stundenplan und die amtlich vorgezeichnete Spur des jeweiligen Faches ihn gefangen und zwingt ihn, voranzueilen, ob er will oder nicht.
Zwar gibt es Abwechslungen und Höhepunkte, Interessantes und Aufregendes, doch im ganzen ist Schule die Verkörperung von Gleichförmigkeit und Wiederholung, von vorprogrammiertem Ablauf und Zeitplanungen. Täglich dasselbe Klingeln zur selben Minute, täglich derselbe Lehrer mit denselben Absichten, täglich dieselben Verhaltensabläufe: Aufpassen, Melden, Schreiben, Aufpassen, Melden. Die Uniformität ist so gefräßig, daß sie erhebliche Änderungen (ein Wechsel des Faches, ein Wechsel des Lehrers) mühelos schluckt und verdaut. Am Gesamteindruck ändern innere „Differenzierungen" gar nichts. Gegen diese Gleichförmigkeit und die seinem Einwirken völlig entzogene Organisation regt sich im Schüler (im Lehrer sicherlich auch) früher oder später heftige Opposition. Er begehrt auf, will sich wehren — kann jedoch nichts ändern. Ob dieser Vorgang sich bewußt und „öffentlich", etwa als schulischer Konflikt oder familiäres Problem, oder unbewußt und im subjektiven Erleben abspielt, ist für das Schicksal des einzelnen von größter Bedeutung, für die Gesamtperspektive, wie sie hier eröffnet werden soll, jedoch zweitrangig. Als sicher kann gelten (auf die methodologischen Prämissen einer solchen Feststellung kommt der Aufsatz später zurück), daß das Wechselspiel zwischen äußerem, vom System ausgehendem Druck und personalem Widerstand Angst erzeugt: Angst vor den Machtansprüchen der Organisation, in der man unentrinnbar steckt, Angst vor den eigenen Aggressionsgelüsten gegen diese Organisation, Angst vor dem Scheitern in der Öpposition und Angst vor dem Untergang in der Resignation.
Daß Schüler die Schule nicht als ihre Angelegenheit ansehen, sondern als Fremdkörper, dem sie sich einzufügen haben, kann auch am didaktischen Problem der „Lernziele" gezeigt werden, auf das der letzte Abschnitt über den Begriff der Angst und methodologische Frage?, noch einmal kurz zurückkommt. Kein Schulfach bietet so klar erkennbare, attraktive und vernünftige Lernziele an wie die eingangs geschilderte Alltagssituation. Schreiben und Lesen lernen — das wollen in der Regel auch dis Kinder, und sie merken selbst, ob es ihnd allmählich besser gelingt oder nicht. Aber je weiter man sich von derartigen elementaren Fähigkeiten entfernt, um so lockerer wird dje Verbindung des Lernzieles mit den kindlich-jugendlichen Bedürfnissen, bis sie ganz abreißt und durch die Kette des „Du mußt ..." ersetzt wird. Damit ist die Frage des Lernantriebes und der „Motivation" angesprochen. Es bedarf in der skizzierten Situation keiner Belohnung und keiner Strafe zur „Verstärkung", daß der Lernvorgang begonnen und erfolgreich beendet wird. Angetrieben wird das Kind zum Lernen durch die Sache selbst, durch die Aussicht auf das Vergnügen, Fahrrad fahren zu können, und das Zutrauen in die Steigerungsmöglichkeiten seiner Kräfte. Freilich spielt auch die Anerkennung durch Eltern und Spielkameraden eine Rolle. Wie unsinnig aber wäre eine Zensur nach schulischer Art, ein Messen der Leistung, ein Antreiben und Vergleichen! Sollte die Schule mit ihrem Fächerkanon und Stundenplan aber aufgelöst werden zugunsten spielerischer Lernvorgänge angegebener Art? So ist das Beispiel gewiß nicht zu verstehen. Es sollte nur ins Bewußtsein heben, daß schulisches Lernen, wie man es heute für selbstverständlich und unvermeidlich hält, latentes, Angst erzeugendes Unbehagen fördert und nicht die vor kurzem noch so oft beschworene Emanzipation. Alle Lernprozesse und Organisationsformen des Lernens, die nicht das amtlich verordnete Lernziel, die Zensur und den in verschiedene Bereiche und kleine Häppchen zertrennten Stoff an die erste Stelle setzen, sondern größere Sinnzusammenhänge, und die sich selbst regulierende Tätigkeit der Schüler sind daher — das ist die erste These — im kleinen und großen Maßstab zu fördern. Arbeitsschule, Projekt-und Epochalunterricht, Gruppenunterricht und Rundgespräche mit ihrer langen schulgeschichtlichen Tradition sind hier zu nennen, aber auch die zu Unrecht belächelten Waldorfschulen.
Die Geschichte der Pädagogik müßte diese emanzipatorischen Bestrebungen stärker ins Bewußtsein heben und damit die Gegenwart zu produktiven Neuerungen anregen. Alternativen zum gegenwärtigen Schulsystem sollten mutig gefördert und nicht an den Rand der Normalität gedrängt werden.
„Angst" hängt etymologisch mit „Enge" zusammen, und dieser Bedeutungszusammenhang eröffnet weitere Einsichten in das innere Gefüge der Schule. Niemand wird es leugnen, doch nur für wenige ist es ein Problem: Der Spielraum dessen, was in die Schule paßt und was nicht, ist ungemein eng: Schüler haben alte Matratzen und Sessel in ihren Klassenraum geschleppt, um es sich gemütlich zu machen. Sie lernen so viel besser, meinen sie.
Die kreative Selbständigkeit ist von kurzer Dauer. Wenn die Schulleitung nicht „Ordnung schafft“, werden es andere erzwingen. Ordnungshüter haben wir genug. Im Deutschunterricht auf dem Bauch zu liegen — die deutsche Pädagogik ist empört! Ein Lehrer findet sich nicht mit der Absurdität ab, die Schüler in einer sechsten Stunde mit unaufhaltsam wachsendem Stimmaufwand für Dinge zu interessieren, die sie schon wegen physischer Ermüdung nicht interessant finden können. Er schickt die Schüler nach Hause, geht das nächste Mal mit ihnen spazieren, spricht nur mit einigen, probiert Neues, Unkonventionelles. Das macht er vielleicht zweimal.
Spätestens beim dritten Mal wird er dienstlich zur Rede gestellt, auf seine Pflichten verwiesen. Dabei wird gar nicht erörtert (jedenfalls nicht offiziell und dienstlich), ob es sinnvoll war, was er tat. Die Vorschrift ist dagegen, das genügt.
Ein Kind erweist sich früh als musikalisch „begabt", falls es so etwas gibt. Es folgt mit Freude und Verständnis den Musikstunden, während es in anderen Schulstunden Mühe hat. Der Schulpsychologe diagnostiziert sogenannte Teilleistungsschwächen. Doch das Schulsystem hat für derartige Sonderfälle keinen Raum. Alle müssen zur selben Zeit dasselbe lernen. Das Kind wird mit Mengenlehre traktiert wie jedes andere, seine Musikalität und die damit verbundene Lernfreude müssen sich mit der Freizeit begnügen, sie werden dadurch eher zur Belastung als zum Antrieb der Persönlichkeitsentfaltung.
Die Beispiele dafür, daß sowohl das äußere, organisatorische als auch das innere Gefüge der Schule beengend wirken, ließen sich beliebig vermehren. Wir verkünden damit keine neue Entdeckungen. Das Schlagwort von der „verwalteten Schule" ist alt. Neu ist allenfalls die Verschärfung der bürokratischen Einengung druch finanzpolitische Schwierigkeiten. Eine Klasse kostet weniger als zwei Klassen, gewiß, aber sie ist auch doppelt so eng, nicht nur räumlich gesehen. Enge in der Schule, im übertragenen und im konkreten Sinn des Wortes, produziert Unmut und damit auch Angst.
Wer Angst in der Schule bekämpfen will — das ist die zweite These —, darf die physischen und psychischen Beengungen und die gewaltsame Reduktion menschlichen Handelns auf bestimmte zweckdienliche Funktionen nicht mehr als unvermeidbares Übel, er muß sie als veränderbaren Notstand ansehen.
Angst und Leistung Angst in der Schule wird in der Literatur, in der wissenschaftlichen kaum anders als in der journalistischen, vor allem mit steigendem Leistungsdruck erklärt, und die hier forB mulierten ersten Bemerkungen unterstützen die These. Trotzdem oder eben deswegen muß noch einmal betont werden, daß es nicht die Leistung als solche ist, die Angst hervorruft. Jeder, der Umgang hat mit Kindern und Jugendlichen, kennt die Verbissenheit und den Leistungsstolz, den sie bei Dingen, die ihnen wichtig sind, entwickeln können. Gelungene physisch-psychische Leistungen, das Gefühl und die Einsicht also, etwas gut und richtig gemacht zu haben, den eigenen Vorstellungen und der Sachanforderung entsprechend, sind sogar unabdingbare Voraussetzung einer fruchtbaren Entwicklung der Person, die Erziehung zur Leistung demnach selbstverständlicher Bestandteil jeglicher Erziehung. Zu erinnern ist in diesem Zusammenhang auch an die Fülle spielerischer, ja clownerischer Leistungswettkämpfe, wie sie das Fernsehen mit großer Publikumswirksamkeit produziert. Aufgeregt sind die Teilnehmer wohl immer, aber ängstlich in dem hier entwickelten Verständnis sicherlich nicht. Angst in der Schule entsteht durch die Bindung der Leistung an Moral, Norm und soziale Erwartung. Niemand nimmt es dem Teilnehmer an der Fernseh-Show übel, wenn er zweiter, dritter oder gar letzter wird, wenn er keinen Platz ergattert hat bei einem der bekannten Späße. Im Gegenteil: Man bewundert eher den Mut, sich so vor den vielen Zuschauern zu produzieren. Letzter in der Schule zu werden, das nehmen hingegen alle übel: Eltern und Verwandte, Lehrer und Freunde, auch der Betroffene selbst geht ins Gericht mit sich. Schadenfreude im wahren Sinn des Wortes mischt sich bei manchen in die Geringschätzung: Ist ein anderer der letzte, kann ich es nicht sein ... Leistungsversagen in der Schule ist fast gleichbedeutend mit existentiellem Niedergang, persönlichem Fall; daran ändern auch individuelle Unterschiede (der eine übersteht’s eben besser als der andere) und mannigfaltige Maßnahmen zur Entlastung und Entschärfung des Ganzen nichts. Zur Zeit der Zeugnisse inszenieren verantwortungsbewußte Behörden einen telefonischen Beratungsdienst. Die Ähnlichkeit zur Telefonseelsorge für Vereinsamte und Lebensmüde scheint mir nicht zufällig zu sein:
Jährlich werden nach einer dpa-Meldung in der Bundesrepublik Deutschland 500 Schüler-selbstmorde registriert, 15 000 Selbstmordversuche werden gerade noch rechtzeitig verhindert. Mit einfachen Schlußfolgerungen muß man jedoch vorsichtig sein, denn ein Verhältnis der unmittelbaren Verursachung zwischen Schule und Schülerselbstmord wird man nur in den seltensten Fällen feststellen können.
Selbst die letzten Worte der Schüler, wenn sie Angst vor Leistungsversagen und Blamage als Grund für ihren Selbstmord angeben, können nicht eindeutig erweisen, wer oder was hier wirklich Schuld hatte. Die Schwierigkeit einer exakten Ursachenermittlung in derartigen Fällen enthebt die Schule jedoch nicht ihrer Mitverantwortung und ihrer Mitschuld. Es genügt ja — und so dürfte es meistens sein —, daß die Schule die unter vor-und außerschulischen Bedingungen entwickelten Ängste nicht verarbeiten und vermindern hilft, sondern sie im Gegenteil verstärkt. Das ängstliche Kind wird in der Schule, allen Erfahrungen und wissenschaftlichen Erhebungen nach zu urteilen, nicht sicherer, sondern noch ängstlicher. Es erlebt seine persönlichen Schwierigkeiten als etwas Ungehöriges, das nicht in die Schule paßt. Es muß enorme Kräfte mobilisieren, um dem Druck nicht zu erliegen, wird vollends verstört oder aggressiv, im schlimmsten Fall selbstzerstörerisch gegen sich selbst. Ist aber die Schule, kann man hier einwenden, der rechte Ort für die Therapie verhaltensgestörter und verängstigter Kinder? Sollen die gesunden und lernfähigen sich ständig aufhalten lassen von den problematischen Kindern?
Wer so denkt, sollte sich eingestehen, daß er die Brutalität in der Schule mit ihrer Unterdrückung der Schwächeren damit zu fördern beginnt. Darüber hinaus unterliegt er mehreren Irrtümern: Schule ist zwar nicht Gruppendynamik, gewiß, aber Schule kann, ohne ihre eigentliche Aufgabe zu verfehlen, auch die sozialen und affektiven Konflikte der hauptsächlich Betroffenen einbeziehen und Schülern die Möglichkeit eröffnen, ihre Ängste aktiv, durch Gespräche, zielgerichtetes Handeln und Solidarität zu bewältigen. Auch das wäre Lernen, oder nicht? Umsichtige und engagierte Lehrer leisten hier Hervorragendes, aber sie leisten es im Widerstand gegen Stoffpläne und Gruppeninteressen, nicht zuletzt auch gegen das eigene schlechte Gewissen.
Da Angst eine Grundbefindlichkeit menschlicher Existenz ist, ginge es auch nicht darum, ein angstfreies Klima herzustellen, vergleichbar etwa der künstlichen Keimfreiheit im Labor. Angstfreiheit bedeutet hier, daß Ängste geäußert werden können, ja, daß solches gelernt wird. Angstfreiheit bedeutet ferner, daß die psychischen und sozialen Probleme der Schüler nicht geringer geachtet werden als Dreisatz, Vokabeln oder Cicero. In Schulversuchen und „Gegenschulen" sind derartige Einsichten schon lange maßgebend. Wir soll-ten von ihnen lernen und — das ist die zweite These — im großen und kleinen Maßstab alle Bemühungen unterstützen, die in der Schule konsequent bei diesen Bedürfnissen und Problemen der Schüler ansetzen und nicht bei den scheinbar unerläßlichen Lehrinhalten, die mit den jungen Menschen nur sekundär zu tun haben. Muß ich anfügen, daß es sich dabei um eine bewußt pointierte Alternative handelt, die erklären, nicht aber exakt beschreiben will? Objektive Lehrinhalte, wie zum Beispiel die Geschichte der Weimarer Republik oder die Biologie des Menschen, stehen gewiß nicht in unüberbrückbarem Gegensatz zu den subjektiven Interessen und Bedürfnissen der Schüler. Aber die Gemeinsamkeit kann nicht vorausgesetzt, sie müßte vermittelt werden. Hier liegen die Hauptaufgaben der Didaktik.
Angst und Aggression Das Tückische an der Angst ist, daß sie nicht ohne weiteres erkennbar ist, weil sie in allerlei Verkleidungen auftritt. Ich würde, wenn nach augenfälligen Beweisen verlangt wird, als erstes auf die überall wahrnehmbaren Zeichen von Aggression weisen, von offenkundiger Zerstörungswut und weniger deutlicher, aber dennoch unübersehbarer Schädigungslust. Angst und Aggression sind miteinander gekoppelt. Die Koppelungsmechanismen sind vielfältig und kompliziert; sie können hier im einzelnen nicht erläutert werden. Sicher ist — und das genügt für eine allgemeine Orientierung, wie sie hier versucht wird —, daß ein hohes Aggressionspotential auf ein hohes Maß an Angst schließen läßt. (Daß nicht jeder Aggressionsakt eine Äußerung verwandelter Angst ist und Angst nicht stets in Aggression einmündet, versteht sich dabei von selbst.) Aggression in der Schule — man denke zunächst an die Beschädigungen des Mobiliars oder die Aufsässigkeit gegen Lehrer — kann die Antwort sein auf die latente oder manifeste Verängstigung, die von der Schule ausgeht. Aggression in der Schule kann aber auch ein Mittel zur Bewältigung eigener Ängste sein, die sich, wie schon angedeutet, vor und außerhalb der Schule entwickelt haben, etwa durch lieblose oder unverständige Eltern, allgemein: durch ungünstige Sozialisationsbedingungen. Während man die durch die Schulbedingungen selbst ausgelöste primäre Aggression wenigstens zum Teil eindämmen kann, wenn man die Ursachen ermittelt hat, sind die anderen Ängste — die von der Schule weitgehend unabhängig sind, durch diese aber, aktiviert werden — Teil eines verhängnisvollen Kreislaufes, der ohne einen radikalen Eingriff gar nicht zu unterbrechen ist. Das im Grunde unsichere und ängstliche Kind überspielt seine Schwierigkeiten, indem es aggressiv wird und andere zu unterdrücken beginnt. Oft wählt es sich schwache und friedliche Kinder als Aggressionsobjekte aus, weil die Friedlichkeit bei anderen aufreizend ist und auch keine Gefahr bedeutet. Das angegriffene Kind kann zurückweichen oder sich wehren, durch mutigen Gegenangriff oder Komplizität mit dem Angreifer. So zieht das ängstlich-aggressive Kind rasch weitere Aggressionskräfte an sich, es bilden sich Cliquen, es kommt zur Hackordnung, in welcher jeder den Druck weitergibt bis zum Schwächsten, der sich nicht wehren kann und keinen „Prügelknaben" mehr findet. Welche Elternversammlung in den Grund-und Hauptschulen hätte keinen Anlaß, das Problem der Prügeleien und Hänseleien zu behandeln! Viele Eltern gestehen die Angst ihrer Kinder nur verschämt ein, im persönlichen Gespräch außerhalb der offiziellen Tagesordnung, weil sie mit derartigen Lappalien nicht die anderen behelligen wollen. In den Gymnasien geht es wohl sublimer zu, aber das Problem verlagert sich nur, es verschwindet nicht.
Verhängnisvoll und unaufhebbar ist der Kreislauf insofern, als das gesellschaftliche Umfeld der Schule, vor allem Film und Fernsehen, Aggressionen unablässig fördern. Im Kino schreien die Kinder vor Vergnügen, wenn die drei kleinen Schweinchen den bösen Wolf mit Knüppeln platt schlagen wie ein Blatt Papier. Die älteren Schüler identifizieren sich mit dem härtesten Western-Held und prügeln in Gedanken mit. Die Katharsis-These, der zufolge brutale Filmszenen die Brutalitätsbereitschaft im Zuschauer abbauen, ist eine üble Selbstrechtfertigung geschäftstüchtiger Filmproduzenten. Die Wissenschaft beweist das Gegenteil: Durch Film miterlebte Brutalität setzt Hemmungsbarrieren herab, sie verstärkt die Aggressivität und vermindert sie nicht. Und selbst wenn die im Film erlebte Aggression vorübergehend Erleichterung verschaffte, die Identifikation mit Filmhelden bietet am Ende keine Hilfe bei der Lösung persönlicher Schwierigkeiten, keine Hilfe somit bei der Bewältigung von Angst. Im Gegenteil: Sie führt zu Enttäuschung und zu Angst vor neuer Enttäuschung, die ihrerseits jedoch wegen der Suggestivität des Gesehenen und des gleichzeitigen Mangels an besseren und stärkeren Identifikationsmöglichkeiten keine Umkehr zur Realität einleiten, sondern die Sucht nach der Scheinsicherheit nur verstärken. Unterricht und Lehrerbildung Das Unterrichten fällt unter derartigen Umständen, wie sich leicht denken läßt, besonders schwer. Damit sind wir beim Lehrer, der bei Reflexionen über Angst in der Schule weder ausgeklammert noch einfach zum Schuldigen gemacht werden darf. Leider urteilen in dieser Hinsicht viele Schriften naiv und kurzsichtig, ungerecht und selbstgefällig. Der Lehrer ist selbst Objekt mannigfaltiger Aggressionen und Subjekt tiefer Ängste; man muß sich darüber hinaus vor dem vordergründigen Eindruck hüten, daß zum Beispiel lautstarke Empörung Indiz für Unterdrückung sei, so wie umgekehrt ein ständiges „Bitte" nichts über die Unterrichtsatmosphäre mit ihren versteckten Ängsten und Aggressionen aussagt.
Bei Studenten, Referendaren und jungen Lehrern spielt sich häufig folgender Vorgang ab:
Sie beginnen freundlich, wollen kooperativ und nicht autoritär sein, lassen vieles durchgehen und appellieren an Vernunft und Einsicht. Die Schüler denken aber meistens gar nicht daran, so etwas zu honorieren. Sie legen das Lehrerverhalten als Schwäche aus und nutzen die Freizügigkeit als Ventil für ihre aufgestauten, nach Ausbruch suchenden Regungen. Sie haben es nicht gelernt, von den Möglichkeiten der Mitbestimmung, des selbsttätigen Lernens Gebrauch zu machen. So enden viele Versuche der „Demokratisierung", wie man vor kurzer Zeit noch sagte, im Chaos. Der Lehrer muß jedoch die Situation in den Griff bekommen. Sein Beruf und Auftrag ist das Unterrichten, nicht das Zuschauen und Kommentieren gruppendynamischer Prozesse. Die Aktualität drohender Arbeitslosigkeit verstärkt den Zwang zum Erfolg. Er muß also die Zügel anziehen, auf die von älteren Kollegen empfohlenen „bewährten Mittel" zurückgreifen. Er läßt die Schüler schriftlich arbeiten, weicht vor Unterrichtsgesprächen immer weiter zurück. Sie sind unmöglich, sagt er. „Wenn es nicht anders geht, muß ich eben mit euch ..." Er hat seinerseits Angst, den Schwierigkeiten nicht gewachsen zu sein, und entwickelt gegen die Schüler heftige Aggressionen, denn sie sind es ja, die seine besten Absichten unterlaufen. Ungünstigenfalls resigniert er, fällt in sanktioniertes Rollenverhalten zurück, betreibt den Lehrerberuf als Job ohne Überzeugung und Elan. (Daß dieser Verdruß, auch wenn er gut überspielt wird, den Schülern nicht entgeht, sollte festgestellt werden und bewußt bleiben, denn er eskaliert die Schwierigkeiten.) Bei besonders ungünstigen Bedingungen entwickelt der Lehrer allmählich eine Art Feindbild vom Schüler und reagiert an ihm seine eigenen Probleme ab. Zu wünschen aber ist — und hier liegt eine zentrale Aufgabe der Lehrer-bildung —, daß der Lehrer seinen emanzipatorisch-kritischen Anspruch (früher auch „Ideal“ genannt) bewahrt, ja, daß er ihn von Jahr zu Jahr mehr festigt und gedanklich vertieft, jedoch nicht auf Kosten des Realitätssinnes, sondern vielmehr im Einklang mit diesem.
Daran knüpfe ich die dritte These und Forderung: Auch wenn das „System" die Belastung im Innern der Schulen verursacht und daher nur eine „Systemveränderung" wirksam helfen könnte (hoffentlich blockieren diese Reiz-worte nicht die Verständigung), so bleibt doch der Lehrer in der Verantwortung dem Schüler gegenüber, und er sollte im großen und kleinen Maßstab alles tun (bei der Unterrichtsplanung und im Umgang mit Schülern, in Schule, Gewerkschaft und Partei), was geeignet ist, die Absurdität der durch Ängste und Aggressionen bedingten wechselseitigen Behinderung des Lernens abzubauen.
Im Unterricht und im Schulalltag hängt viel von seiner Einstellung den Schülern gegenüber ab. Eine positive, aufmunternde, die Qualitäten der Schüler bestätigende Haltung, die sich ihrer selbst sicher ist, wirkt nachweislich angstmindernd. Eine Haltung, die sich verändert mit der Leistung und der Opportunität des Schülerverhaltens, fördert Unsicherheiten, Mißtrauen und Angst. Solche Einsichten verkündet die Pädagogik seit langem. Die moderne experimentelle Psychologie, die unser Problem vor allem am Phänomen der Prüfungsangst untersucht hat, bestätigt sie.
Außerhalb des Unterrichts, auf dem Feld politischen Handelns und der Selbstbildung des Lehrers, hängt viel davon ab, inwiefern er seine eigene Sozialisation mit ihren angstbildenden Momenten zu bewältigen versteht und — solidarisch mit anderen — Perspektiven für eine vernünftigere Zukunft entwickeln kann. Selbsterfahrungsgruppen und gruppen-dynamische Seminare, in denen man aussprechen kann, wie tief in uns die Angst sitzt (was ist denn zum Beispiel „peinlich" genaue Pflichterfüllung anderes als Angstbewältigung), entschlossenes, gemeinsames Handeln, wenn es möglich erscheint, den Kreislauf der Unterdrückungen zu unterbrechen: das ist es, was der engagierte Lehrer unter anderem für sich in Anspruch nehmen sollte. Es versteht sich von selbst, daß Entsprechendes für den Hochschulunterricht gilt, für das Handeln von Professoren und Studenten und ihren Umgang miteinander. Auch hier beherrscht ein Unmaß von Angst die Szenerie. Elterninitiativen Schule muß — ich nenne und begründe die fünfte These zum Thema Angst in der Schule —, wenn nicht „radikal" (was einfach heißt: von Grund auf), so doch zumindest viel stärker als bisher zur Angelegenheit der Bürger werden, zur verantwortlichen Aufgabe der zunächst Betroffenen, der Lehrer, der Schüler und nicht zuletzt der Eltern. Bei kleineren Privatschulen ist das selbstverständlich und oft vorbildlich. In den öffentlichen Schulen ist trotz Mitbestimmungsgesetzen und so-genannter Schülermitverwaltung der entscheidende Schritt zur Emanzipation vom preußischen Obrigkeitsstaat noch nicht getan. Die Eltern haben keinen nennenswerten Einfluß auf Schulalltag und Schulorganisation, auf Zensurengebung und Unterrichtsthemen, auf Rechtsgrundlagen und Kommunikationsformen. Ohne Eltern ist eine Minderung der Angst in der Schule jedoch nicht denkbar. Offenkundig und unumstritten ist die Notwendigkeit der Eltern-Mitarbeit bei den alltäglichen Konfliktfällen. Wenn sich Kinder prügeln, wenn die Starken den Kleinen oder Behinderten ohne Unterlaß hänseln, so daß er sich weigert, weiterhin in die Schule zu gehen, dann kann nur ein mit den Lehrern verabredetes Handeln der Eltern wirksam helfen. Dabei ginge es nicht darum, wie oben schon betont wurde, daß einzelne Schuldige benannt und mit Drohungen zur Sanftmut gezwungen werden. Diese Schuldigen sind ja selbst Opfer, und das Gleichgewicht der Kräfte kann sich in den Gruppen rasch verschieben. Es ginge vielmehr darum, daß Eltern die Schwierigkeiten ihrer Kinder solidarisch als gemeinsames Problem anpacken, daß sie die Kinder nicht allein lassen mit ihren Nöten, daß sie handelnd eingreifen und allen das Gefühl vermitteln — sich selbst und den Kindern —: Wir sind der Situation nicht wehrlos ausgeliefert, wir können sie zum Positiven beeinflussen, wenn wir nur wollen.
Gegen derartige Initiativen hat die Schulverwaltung selbstverständlich nichts einzuwenden: Im Gegenteil: Sie werden begrüßt und gefördert, tragen sie doch nicht unwesentlich zum reibungslosen Funktionieren der Schulmaschinerie bei. Sobald jedoch der Mechanismus im ganzen in Frage gestellt und die Kompetenz der an den Schaltstellen sitzenden Beamten angetastet wird, entsteht Widerstand, ja Empörung über „unrechtmäßige Eingriffe"
und Anmaßungen. Das ist, vorsichtig ausgedrückt, inkonsequent, mit einem schärferen Wort: unfair und scheinheilig, denn wenn unser Staat auf den „mündigen Bürger" angewiesen ist (wie immer wieder beteuert wird) und wenn die Schule ihre Probleme ohne die Eltern nur schlecht, aber nicht recht lösen kann (von dieser These gehe ich freilich aus), dann müssen den Eltern auch entsprechende Handlungsspielräume und Einflußmöglichkeiten eingeräumt werden. Das ist sicherlich leichter gesagt als getan. Die zumindest teilweise Verlagerung der Entscheidungsbefugnisse von der hohen Ebene der parlamentarischen Legislative und der Schulbürokratie auf die untere Ebene der Schule würde eine Fülle von verfassungsrechtlichen, bildungspolitischen und praktischen Problemen provozieren — das ist bereits auf den ersten Blick ersichtlich. Das Unkonventionelle muß dennoch gedacht und erwogen werden.
Angst ist — wir wiederholen und greifen gleichzeitig der im letzten Abschnitt vorgeschlagenen Definition voraus — eine durch psychische und soziale Einengungen bewirkte Reduktion der Handlungsmöglichkeiten. Wer Angst beseitigen oder eindämmen will (bei Lehrern, Schülern, Eltern), muß die Einengungen durchbrechen und die Handlungsfähigkeit auf attraktive Anwendungsfelder und Zielte lenken. Elterninitiativgruppen sollten großzügig unterstützt werden. Einsatz für die Schule ist bei uns bislang privates Unternehmen, ein undankbares obendrein, zum Teil sogar ein Luxus, den sich nur wenige leisten können. Das muß und das darf nicht so bleiben. Diagnose und Therapie Man verwandle einmal in Gedanken die psychische Situation der Kinder ins Physisch-Konkrete und stelle sich vor, daß sie nich. mehr durch Leistungsanforderungen und unfreundliche Lehrer, durch grobe Mitschüler und Cliquenwirtschaft, durch die konfliktgeladene Anonymität überfüllter Klassen und das systematische Eindämmen ihrer eigentlichen Bedürfnisse verschreckt und verängstigt sind, sondern durch Bedrohungen ihrer körperlichen Sicherheit, wie sie etwa in einem baufälligen, hastig und unüberlegt errichteten Schulgebäude existieren könnten. Da geht zum Beispiel ein riesiger Eisenträger quer durch die Haupthalle, und die Schüler stoßen sich immer wieder den Kopf daran. Da sind Löcher und Schwellen im Fußboden, und es vergeht kein Tag, ohne daß einige Schüler stürzen und sich verletzen. Der Schornstein ist defekt, und die Schüler atmen Rauch und Gift. Hier wird es unter allen Betroffenen keine Meinungsverschiedenheit geben: Die Schule muß entweder abgerissen und neu gebaut oder so gründlich renoviert werden, daß alle Gefährdungen verschwinden. Was aber geschieht in unserer Wirklichkeit, wo die Gefährdung nicht vom Gebäude, sondern von den inneren Verhältnissen ausgeht? Es geschieht praktisch nichts; grotesk ist ein milder Ausdruck zur Kennzeichnung der Situation. Die Reformflut der vergangenen Jahre hat nur einige matte Wellen in die Schule gespült, am Alltag hat sich nichts geändert. Die Fachleute streiten sich darüber, wie man Angst und ähnliche Zeichen eines gestörten emotionalen Gleichgewichts richtig erfassen könne, und sie entwickeln mit Eifer neue Meßinstrumente. Die Diagnosen sind dann bis auf die dritte Stelle hinter dem Komma genau. Wann aber kommt die Therapie? Mir scheint, es ist weniger wichtig, genau zu wissen, wie stark der bedrohliche Eisenträger ist, als ihn unverzüglich zu entfernen. Doch hier liegt, um noch einen Augenblick bei dem skizzierten Bild zu bleiben, das entscheidende Problem: Wollte man die wichtigsten der schulimmanenten angsterregenden Bestandteile entfernen — und dazu gehört unter anderem die Schulzensur mit ihrem unvermeidlichen Beiwerk von Stoffplänen und Zeitdruck, von Klassenarbeiten und Versetzungen —, dann würde die Schule Zusammenstürzen. Der Zusammenbruch der Schule mit ihrem regelmäßigen Ausstoß von so oder so qualifizierten Arbeitskräften hätte seinerseits unmittelbare Auswirkungen auf das Wirtschaftsleben. Wie auch immer, ob durch qualitative und quantitative Minderung der Produktion wegen unzureichender Vorbereitung der Schüler, ob durch höhere Belastung des Staatshaushaltes wegen steigender Schulkosten oder anderes, unsere Reichtümer würden schwinden, wir müßten bescheidener leben und mehr arbeiten. Wer aber will das?
Das geringste Interesse an Veränderungen haben wohl jene, die von unserem Wirtschaftssystem am meisten profitieren. An dieser Einsicht führt kein Weg vorbei, da mag man Marxist sein oder nicht. Ein sozialistischer Tendenzen unverdächtiger Wissenschaftler hat in empirischen Untersuchungen festgestellt, daß Schulangst abhängig sei vom Sozialstatus. „Unterschichtkinder erreichen bedeutend höhere Angstwerte als Mittelschichtkinder. Die Kausalitätsannahme ist hier zulässig, denn der Sozialstatus kann ja keine abhängige Variable der Angst oder anderer Persönlichkeitsmerkmale der Kinder sein" (Schwarzer, S. 99).
Das Ergebnis entspricht den oben skizzierten Angaben über den Zusammenhang von Angst und Aggression. Je „primitiver" Schüler sind, um so eher werden sie das eigene Ungenügen durch Aggression zu kompensieren suchen (von anderen Fehlformen des Verhaltens einmal abgesehen). Je reicher hingegen die Sprache ausgebildet ist und je mehr soziale Hilfsmittel zur Verfügung stehen, um so leichter fällt es dem Kind, seine Angst zu bewältigen. Der mit sich und seinem Beruf zufriedene Vater, der zwar Ärger im Beruf hat wie jeder andere, im Grunde aber keine Existenzsorgen, stützt sein Kind ohne zusätzliche Anstrengung durch soziale Sicherheit und psychosoziale Identität. Der andere Vater hingegen, der als Person wenig Anerkennung findet, weil er nur als Handlanger gebraucht wird, kann seinem Kind wenig bieten; er verstärkt wahrscheinlich Angst und Aggression, anstatt ihnen entgegenzuwirken.
Ist Angst in der Schule die Folge von Klassenherrschaft? Man wird das wohl noch fragen dürfen. Und man wird die These aufstellen können — es ist die vierte in dem hier entwickelten Gedankengang —, daß Angst in der Schule nur eine besondere Ausprägung der in der Gesellschaft insgesamt vorherrschenden Angst ist. Steigt die Sorge um sozialen Aufstieg und Verdienst, wächst der Konkurrenzneid und das Bedürfnis nach äußeren Prestigeobjekten auf Kosten von Solidarität und Humanität, so wächst unausweichlich auch entsprechendes Potential in der Schule, nicht zuletzt also die Angst.
Schulinterne Erleichterungen sind das einzige, was wir zur Zeit planen können, doch sie sind — darüber sollte man sich keinen Illusionen hingeben — eben wegen dieser unauflöslichen Verbindung der Schule mit der Gesellschaft von geringer Wirksamkeit. Die Waldorf-Schulen verursachen, empirischen Vergleichsuntersuchungen nach zu urteilen, weniger Angst als staatliche Regelschulen, weil sie keine Zensur und keine Versetzung kennen. Das Angst-Problem ist damit jedoch nicht gelöst; denn je älter diese Schüler werden, um so dringlicher stellt sich ihnen die Frage, ob sie ein anerkanntes Abschlußzeugnis und nach der Schule studieren wollen oder nicht. Studieren kann man bei uns nur mit dem Abitur. Also zwingt sie unser System der „Bildung" spätestens nach dem 12. Schuljahr, wie alle anderen den Punkten nachzujagen und um die Zensur zu bangen. Auch von der generellen Abschaffung des Abiturs wäre kein entscheidender Wandel zu erwarten, denn df Probleme würden sich abermals nur verlagern — auf die universitäre Aufnahmeprüfung oder entsprechende Vorbereitungskurse. Unsere Schule kann nicht besser sein als die Gesellschaft, von der und für die sie eingerichtet ist. Alle Maßnahmen gegen Angst in der Schule versickern, wenn nicht ein neues gesamtgesellschaftliches Fundament gelegt wird. Wir kommen, wie auch Hartmut von Hentig jüngst erklärt, mit unseren Maßnahmen gar nicht mehr nach — so groß ist die Zahl der gestörten Kinder. Die Forderung nach Ausbau der schulpsychologischen Dienste ist richtig, aber sie genügt nicht. Niemand ist, das sei noch einmal betont, von der Pflicht entbunden, das jeweils Mögliche zur Eindämmung von Angst zu tun, aber dieses Tun muß in einem weiteren Zusammenhang gesehen und von daher gelenkt werden.
Zur Definition und zur Methode Was ist eigentlich Angst? Wenn die bisherigen Ausführungen sich mit einem allgemeinen Vorverständnis von „Angst" begnügten und auf eine präzise Definition verzichteten, so war das eine bewußte Entscheidung. Angst ist so vielgestaltig, daß sie ohne Willkür begrifflich gar nicht präzis zu bestimmen ist und eine Definition Einsichten in die Vielschichtigkeit des Phänomens eher versperrt als eröffnet. Sinnvoller als Definitionen der üblichen Art sind daher zergliedernde Beschreibungen des Phänomens und der häufig mit Erfolg unternommene Versuch, verschiedene Erscheinungsformen der Angst festzustellen, also beispielsweise zu unterscheiden zwischen realer und irrealer Angst, zwischen andauernder Angst als einem Persönlichkeitsmerkmal und vorübergehender, situationsabhängiger Angst. Auch die Klassifikation nach dem „Wovor" (Angst vor Menschen oder vor Tieren, vor dem Dunkeln oder vor dem Schulhof usw.) fördert unser Verständnis.
Da ein Essay keine erschöpfende Phänomenologie oder Psychologie der Angst liefern kann, sei ein bestimmter Interpretationsansatz hervorgehoben und zur Fundierung des bisher Gesagten zitiert. Gisela Oestreich und ihre Mitarbeiter sahen „Angst als Funktion sowohl der Erregbarkeit eines Individuums als auch des Grades von Handlungsunfähigkeit, die es in einer speziellen Situation erfährt. Angst entsteht so in dem Maß, als . Systeme'— Objekte, Personen, Situationen, Leitbilder oder Normierungen — Handlungsunfähigkeit produzieren, d. h. nicht erlauben, entstehende Aktivität in zielgerichteten, . befriedigenden'Handlungen abzuleiten. Die eigene Aktivierung wird erst als Angst interpretiert, wenn die Strukturen der Umwelt dem Individuum Handlungsunfähigkeit bewußt machen." (S. 15) Diese Perspektive bietet zahlreiche diagnostische und therapeutische Hilfen. Das Erlernen des Fahrradfahrens, unser Trivialbeispiel vom Beginn, ist eine zielgerichtete und befriedigende Handlung; ähnliche Handlungen, von Kindern ersonnen und selbständig ausgeführt, könnten in großer Zahl angefügt werden. Aggressivität dient der Angstbewältigung, sie ist aber nicht zielgerichtet im Sinne der Definition und vor allem nicht befriedigend. Das Lernen in der Schule zerfällt in viele von den Normen des Lehrplans angetriebene Einzelaktionen, aber es bietet wenig Raum für zielgerichtete, befriedigende Handlungen. Deswegen sind Schulaufführungen, das Arrangement eines Festes mit ihrem großen Anteil an Affektivität und Selbstbestimmung so wohltuend im Schulalltag, der meistens fremdbestimmt ist.
Die gegenwärtig verbindliche Didaktik mit ihren etwa fünf Lernzielen für jede Stunde (das sind am Tage 25 bis 30, in der Woche 150, im Jahre mehrere Tausend!), in den Studien-seminaren praktiziert wie das Ritual zur Beschwörung eines Feindes, ist im Grunde eine Barbarei, eine Angstquelle ohnegleichen, und zwar für die Lehrer oft noch mehr als für die Schüler. Wer sich vom „System" nicht gänzlich einschränken läßt, diskutiert hin und wieder mit den Schülern die Schwierigkeiten und Konflikte, gleichsam „von Mensch zu Mensch". Das ist zweifellos richtig, unter dem Aspekt einer Angstbewältigung durch Kanalisierung der Aktivität in zielgerichtete, befriedigende Aktivität jedoch unzureichend, zumindest dann, wenn danach alles seinen gewohnten Gang geht. Sich engagieren können für eine Sache, Aufgaben übernehmen und solidarisch lösen, gemeinsam arbeiten für ein allen erkenntliches und akzeptables Ziel — das hilft weiter als die sich selbst genügende Anklage gegen sattsam bekannte Mißstände. Daß es rasch zu Konflikten mit Verwaltung und Normierungen aller Art kommt, wenn man hier konsequent und „radikal" sein wollte, bedarf keiner Erläuterung.
Nach dem abschließenden Rundblick über die Problematik anhand einer von anderer Seite übernommenen Definition kann es nicht falsch sein, auch die angewandte Methode der Analyse ausdrücklich zu benennen. Wir haben uns psychoanalytischer Denkformen und Forschungsergebnisse bedient und meinen, daß ohne . diese Wissenschaftsrichtung weder Pädagogik im allgemeinen noch Angst-bewältigung im besonderen betrieben werden kann. Gestörte Eltern-Kind-Beziehungen sind zweifellos die Ursache für viele Ängste, und diese können ungeachtet aller sozialen Komponenten ohne Psychoanalyse nicht erklärt werden. Wir haben andererseits mit Nachdruck auf die gesellschaftspolitischen Verflechtungen des schulischen Lernens verwie-sen und entscheidende Abhilfe so lange nicht in Aussicht gestellt, wie das gesellschaftliche Fundament im ganzen sich nicht ändert; der Wirtschaftsordnung kam dabei eine hervorragende Bedeutung zu. Man könnte eine derartige Sicht „marxistisch" nennen, doch sind solche Titulierungen nicht stimmig, auch blok-kieren sie eher eine Verständigung, anstatt sie zu erleichtern. Das Kombinieren des psychoanalytischen mit einem sozioökonomischen Ansatz wurde von mir in dieser Zeitschrift bereits erörtert und begründet, als es um die pädagogische Grundfrage der Erziehung zum Glück ging (B 13/75 vom 29. März 1975). Ein Leben ohne Angst ist gewiß noch kein glückliches Leben; es könnte auch stumpfsinnig oder langweilig sein. Das Gegenteil von Angst ist (Selbst-) Sicherheit; diese aber ist die unabdingbare Voraussetzung für ein sinnerfülltes, glückliches Leben.
Bibliographischer Hinweis
Für die weitere Beschäftigung mit dem Thema „Angst in der Schule" wird auf folgende Publikationen verwiesen: Achterberg/Duhn/Sauer/Flemming/Stingl: Angst: Erfahrung, Lampertheim 1974. Andreas/Bartl/Bartl-Dönhoff/Hopf: Angst in der Schule, München 1976.
Bartel, H.: Schule ohne Angst, Wuppertal 1970.
betrifft: erziehung 1976, Heft 5 mit dem Rahmenthema „Praxisschock", Heft 7 mit dem Thema „Gewalt in der Schule".
Boss, M.: Lebensangst, Schuldgefühl und psychotherapeutische Befreiung, Bern-Stuttgart 1965.
Brody, S. und Axelrad S.: Angst und Ich-Bildung in der Kindheit, Stuttgart 1974. Condrau, G.: Angst und Schuld als Grundproblem der Psychotherapie, Frankfurt 1976.
Duhn, D.: Angst im Kapitalismus, Lampertheim 1974.
Freud, S.: Hysterie und Angst (Bd. VI der Studienausgabe „Conditio humana), Frankfurt 1971.
Fürntratt, E.: Angst und instrumentelle Aggression, Weinheim 1974. Gärtnher-Harnach, V.: Angst und Leistung, Weinheim 1973.
Hentig, H. v.: Was ist eine humane Schule?, München 1976.
Levitt, E.: Die Psychologie der Angst, Stuttgart 1972.
Lindenberg, C.: Waldorfschulen — angstfrei lernen, selbstbewußt handeln, Reinbek 1975.
Lißmann, U.: Schulleitung und Schulangst, Weinheim 1976.
Loosli-Usteri, M.: Die Angst des Kindes, Bern 1948.
Oestreich, G.: Kinder zwischen Angst und Leistung, Freiburg 1975.
Riemann, F.: Grundformen der Angst, München 1971.
Sarason, S. B.: Angst bei Schulkindern, Stuttgart 1971.
Schwarzer, R.: Schulangst und Lernerfolg, Düsseldorf 1975.
Zulliger, H.: Die Angst unserer Schulkinder.,, Stuttgart 1966.