Meine Merkliste Geteilte Merkliste PDF oder EPUB erstellen

Rebellion. Individuelle und gesellschaftliche Voraussetzungen | APuZ 51/1976 | bpb.de

Archiv Ausgaben ab 1953

APuZ 51/1976 Artikel 1 Der konservative Selbstverrat. Gedanken zu einer ausgebliebenen „Tendenzwende" Rebellion. Individuelle und gesellschaftliche Voraussetzungen Angst in der Schule. Ein Essay

Rebellion. Individuelle und gesellschaftliche Voraussetzungen

Lothar von Balluseck

/ 25 Minuten zu lesen

Zusammenfassung

Nach den Untersuchungen von Grossarth-Maticek dürfen wir als erwiesen annehmen, daß das Entstehen anarchistischer Gewaltbereitschaft das Fehlen einer dem Heranwachsenden adäquaten Vater-Imago sowie eine ungewöhnlich starke Mutter-Dominanz zur Voraussetzung hat. Als weitere Voraussetzung wird festgestellt, daß Anarchisten signifikant häufig aus gut bürgerlichem Hause (Bildungsbürgertum) stammen, für dessen Angehörige ein hoher sittlicher Anspruch selbstverständlich ist. Aber als geradezu entscheidend darf die Erfahrung angesehen werden, daß aufgrund allgemeiner gesellschaftlicher und politischer Gegebenheiten diesem hohen Anspruch seitens der Vätergeneration nicht genügt wurde. Hierzu werden Parallelen aus der Geschichte des Anarchismus in Rußland und Spanien gezogen. Für die Auslösung der anarchistischen Bewegung in der Bundesrepublik und in West-Berlin ist das Versagen der Vätergeneration im Dritten Reich bestimmend. Dies alles macht den anarchistischen Impetus verständlich. Es bleibt aber außer Zweifel, daß eine Beurteilung des anarchistischen Phänomens ohne moralische Kriterien unvollständig ist. Es wird klar herausgestellt, daß die Bejahung anarchistischer Gewalttaten auf Fehlurteilen und Fehlentscheidungen beruht.

Nach dem Attentat auf die Stockholmer Botschaft der Bundesrepublik schrieb der Pariser „Figaro": „Wohlmeinende Geister werden nun zweifellos erklären, wir müßten die Beweggründe der Terroristen verstehen. Wir sollten jetzt klar sagen, daß wir es ablehnen, irgend etwas verstehen zu wollen, daß man auf Revolver nicht mit Höflichkeit erwidert, und daß es auf Morddrohungen nur eine Antwort gibt: den Tod." So wie das französische Blatt dachte und empfand wohl alle Welt.

Aber: müssen wir nicht angesichts der anarchistischen Gefahr alle Verstandeskräfte anspannen? Daß unsere Gesellschaft sich gern gegenüber ihren Kritikern taub stellt, daß sie die Augen vor Sachverhalten nur zu gern verschließt, die ihr unbequem sind, daß sie sich das Denken durch Nichtdenken oft leicht-macht — das alles stimmt. So ist es nicht schwer zu verstehen, daß viele Leute die Motive politischer Gewaltverbrecher nicht verstehen. Dennoch: verstehen muß man eigentlich alles, aber alles verstehen heißt nicht, alles zu billigen. Oder gar: zu weich und verständnisinnig zu sein. Im Gegenteil, es braucht schon Kraft und Entschiedenheit, um das Phänomen zu begreifen, in den Griff zu bekommen. Dabei besitzen die Staatsorgane gegenüber dem Autor den Vorteil, daß ihnen alle Quellen über das häusliche Milieu potentieller Gewalttäter zugänglich sind. Gewiß, exakte Resultate wie bei der Feststellung der Blutgruppe oder des Blutalkohols wären dabei nicht zu erwarten, aber Indizien, wie sie dem Arzt über Verdauungsbeschwerden leptosomer und pyknischer Patienten zur Verfügung stehen:

bei den einen ist's bekanntlich meist der Magen, bei den anderen der Darm. Man könnte sich so mithin durchaus vernünftige „Vor" -

Urteile bilden.

Gewalttaten dieser Art gehören eindeutig in den Bereich der Kriminalität. Mit dieser kategorischen Feststellung sei allen Bemühungen widersprochen, hierfür politische Motivationen als mildernde Umstände einzubringen.

Dieser Grundsatz wird durch die folgenden Ausführungen nicht berührt, also auch nicht in Frage gestellt. Aber es erscheint nur scheinbar müßig, nach Erklärungen und Ursachen für eine Erscheinung zu suchen, die zunächst vor allem unmittelbar, ähnlich wie die Pyromanie, zu bekämpfen ist. Raub, Kindes-mord und dergleichen sind nicht an Ideologien gekoppelt wie anarchistische Gewalttaten. Allein die Tatsache, daß Anarchismus Sympathie und Konsensus vor allem bei Teilen unserer studentischen Jugend fand und findet, macht tiefere Ursachenbestimmungen eben auch xideologischer Natur, unerläßlich. Schließlich suchen wir auch in Fällen von Raub, Kindesmord und dergleichen nach den psychologischen Ursachen ihres Zustandekommens, ohne daraus „verständliche" Untaten machen zu wollen.

Wenn über die psychischen Ausgangspunkte des in Rede stehenden Kriminalismus auch innerhalb des Sympathisantenkreises Klarheit geschaffen werden könnte, wäre dem geistigen Nährboden auch der Attentäter ein wesentliches Element entzogen. Aber dazu bedürfte es eben der Verbreitung von Kenntnissen und Erfahrungen, über die im folgenden skizzenhaft zu sprechen sein wird. Im voraus eine Einschränkung: gegen „gestandene" Attentäter vermögen noch so fundierte Darlegungen nichts.

Die Pragmatiker in der Justiz, in den Vollzugs-organen, mögen zu diesen Andeutungen meinen, daß sie für die Praxis nichts „bringen". Natürlich wäre es illusorisch, anarchistische Attentäter pädagogisch, individualpsychologisch beeinflussen zu wollen; sie neigen ohnehin eher zum Agieren als zur Reflexion. Aber für Anarchismus gibt es, eben zum Unterschied von der Pyromanie, auch Motivationen vieler Art, denen prophylaktisch, etwa in den Kreisen ihrer Sympathisanten, zu begegnen wäre. Schaden würde eine Gesellschaft nehmen, die den sie gefährdenden Praktiken begegnete, ohne deren Motivation zu begreifen. Glück in der Gruppe Warum eigentlich kämpfen die Antiautoritären so autoritär gegen jede Autorität? Warum halten sie sich an so autoritäre Vorbilder wie Mao, die SED, den Kreml? Und warum nehmen sie die Autorität vermeintlicher Wissenschaftserkenntnisse blind und gläubig für bare Münze? Warum stellen sie aller Welt kritische Fragen, ausgenommen ihren Abgöttern? Bei vielen Radikalen, vor allem bei denen, die aus „gutem Hause" stammen, legt Familiäres, die Kinderstube, den Grund für ihre Verhaltensweisen. Nach dem Freud-Schüler Alexander Mitscherlich haben die Antiautoritären in Wirklichkeit Sehnsucht nach Autorität Dafür spricht, daß bei den radikalen Heidelberger Studenten nachweislich der Vater — ganz im Gegensatz zur Mutter — keine bestimmende Rolle gespielt hat Jürgen Habermas meint, diese jungen Menschen litten darunter, daß ihre Eltern keine klaren Wertvorstellungen hätten, also zu „liberal" seien Die DKP in Verbindung mit dem „Marxistischen Studentenbund Spartakus" bietet sich in dieser Situation als neue Autorität an: die Wahrheit offenbart ausschließlich, streng wissenschaftlich (scheinbar streng wissenschaftlich, sollte man sagen), aber mit dem Anspruch absoluter Objektivität, der Marxismus-Leninismus. Was diese Lehre zu einem so anziehenden Faszinosum macht, ist nicht ihr Erkenntniswert, sondern das Glück, das sicherer Glaube dem Menschen geben kann. In der Gruppe erfährt der nun nicht mehr Vereinzelte Halt und Sicherheit durch Anwendung des immer gleichen und mühelos nachvollziehbaren dialektischen Tricks: das große Nein zu der jeweils herrschenden Gesellschaftsordnung — Axiom aller „linken" Denkschemata — erscheint als Endstück und Krönung originärer Bewußtseinsbildung, obwohl es sie voraussetzt. Kein Schatten des Zweifels trübt das neugewonnene Bild von der Welt, das mit dem Garantiezeichen „wissenschaftlich" versehen ist. Die verlorene Autorität ist — unter neuem Vorzeichen — wiederhergestellt. Grundsätzlich sollte eingeräumt werden, daß die von Extremisten propagierten Systeme dem Bestehenden überlegen sein dürften, ihre Realisierung jedoch nicht zu einer konfliktfreien Gesellschaft führen kann. Das Rohmaterial Mensch ist eben nicht konfliktfrei angelegt. Anders gesagt: an den Teufel sollte glauben, auch wer nicht an Gott glaubt.

Wir wissen, daß Extremisten Opfer ihrer psychischen Dynamik sind und nicht — wie sie meinen — Vollzieher einer rationalen politischen Theorie. Weil sie ihre zahlreichen persönlichen Schwierigkeiten nicht bewältigen können, übertragen sie sie auf die politische Ebene. Sie behaupten also, ihre persönlichen Konflikte seien ausschließlich sozial bedingt und daher müsse man gegen eine krankmachende Gesellschaft ankämpfen („Macht kaputt, was Euch kaputt macht").

Rebellion und soziale Schichtung Die Jugend hat zu allen Zeiten zur Rebellion geneigt, gegen die lieben Eltern, gegen die Lehrer und Erzieher und oft genug gegen die Welt, in die sie hineingeboren wurde. Dabei gibt es in unserem Land und in unserer Zeit wesentliche Unterschiede:'junge Menschen mit Abitur und Hochschulbildung verstehen sich im allgemeinen schlechter mit ihren Eltern als Volksschüler. Dieser Satz wird bestätigt durch eine Erhebung der Meinungsforschungsinstitute EMNID und INFRATEST aus dem Jahre 1972: auf die Feststellung „Wenn junge Menschen in ihrem Protestieren zu weit gehen, dann ist das ganz verständlich" reagierten mit Zustimmung 15% der Volksschüler und 62 % der Abiturienten und Hochschüler, mit Ablehnung 85 % der Volksschüler und 38 % der Abiturienten und Hochschüler. Der These „Die Jugend sollte bestehende Werte radikal in Frage stellen" stimmten 0 % der Volksschüler und 38 % der Abiturienten und Hochschüler zu, 100% der Volksschüler und 62 % der Abiturienten Lehnten sie ab.

Offenbar steigt die Protestneigung bei jungen Leuten in dem Maße, in dem eine Gesellschaft durch Industrialisierung zu Wohlstand und Überfluß gekommen ist. Dazu ein interessanter Vergleich: nach einer Untersuchung, die im Auftrag des japanischen Premierministers von Instituten der GALLUP-Kette in 11 Ländern durchgeführt wurde, sind Jugendliche zwischen 18 und 25 Jahren in der Bundesrepublik zu 60, 9 %, aber in Indien, das sich in schwerer wirtschaftlicher Not befindet, zu 83, 7 0/0 mit ihrer Gesellschaft zufrieden; dagegen waren mit ihrer Gesellschaft unzufrieden 34 % in der Bundesrepublik und 16, 2 % in Indien. Indien ist aber kein Industriestaat, man denkt und fühlt dort noch autoritär, statisch, vielleicht mit Ausnahme jener Studenten, die europäisch oder amerikanisch beeinflußt sind. „Die Jugend des Bürgertums empfindet eine nach den Prinzipien der Nützlichkeit durchkonstruierte Gesellschaft als einen Alptraum." Diese Aussage von Scheuch verall-gemeinert die Dinge vielleicht etwas; nicht die ganze Jugend des Bürgertums empfindet so, aber eben doch ein Teil von ihr.

Kraftstrotzende Revolte verdeckt immer Schwächen; den mutigen Empörer treiben Unsicherheit und Angst. So muß auch Rolf Dieter Brinkmann, Ginsberg-Adept und Mitherausgeber von „Acid — Neue amerikanische Szene“ beschaffen gewesen sein. Marcel Reich-Ranicki hat das klar erkannt und beschrieben „Brinkmann saß zwar auf dem Podium, doch wollte er nicht diskutieren, sondern den Anwesenden um jeden Preis einen Schrecken einjagen. Da seine Gesprächspartner gelassen blieben, brüllte er sie schließlich an: Er sollte überhaupt nicht mit ihnen reden, sondern ein Maschinengewehr haben und sie über den Haufen schießen ... Nicht Kraft oder Selbstbewußtsein oder Übermut ließ er erkennen, sondern Unsicherheit und Schwäche, Hilflosigkeit und Ohnmacht. Die brutale Aggressivität zeugte ebenso von panischer Angst wie von Geltungssucht. Brinkmann war ein verwirrter Rebell, der sich in die Rolle eines provozierenden Berserkers geflüchtet hatte. Da er nicht anders mit seiner Umwelt fertig werden konnte, versuchte er es als wild um sich schlagender Anarchist." Einen ähnlichen Sachverhalt beschreibt Hans von Heutig „Rebellenführer müssen eher klein und schwächlich sein, denn nur der Aufruhr Nicht-Robuster spricht für die Stärke der Empörung, ruft überzeugend zur Gefolgschaft anderer Schwacher — und das ist die Mehrheit — auf. Der mächtige Gewaltmensch mag von der Tribüne donnern und akustisch wirken;

Geräusche wirken nicht so tief auf die Gefühlswelt wie die Reize des Gesichts-sinns ..."

Wahrscheinlich soll anarchistische Entschlossenheit seelische Schwäche, Störungen, Defekte überdecken. Wahrscheinlich? Bestimmt. Grossarth-Maticek hat seinen linksradikalen Studenten folgende Frage gestellt: „Sehen Sie für sich eine Gefahr darin, daß Sie Ihr politisches Engagement fallen lassen würden, wenn Sie Ihre psychischen und sexuellen Probleme , privat', das heißt ohne grundlegende gesellschaftliche Veränderung lösen könnten?“ Er traf ins Schwarze: Neun von zehn der Befragten antworteten mit „Ja".

Wahn und Wahrheit Die moderne Psychiatrie hat überzeugend dargelegt, daß, wie und warum Menschen in die nahezu autarke Sphäre des Wahns ausweichen. Ausbruch und Verlauf der Krankheit lassen sich stets auch aus der Beziehung der ursprünglichen Persönlichkeit der Erkrankten zur Umwelt erklären. Das wird überdeutlich beim Verfolgen der Schicksale genialer Schizophrener wie Hölderlin: Ilva Oehler hat auf die Affinitäten zwischen dem Schicksal Hölderlins und dem seiner Freunde hingewiesen: „Siegfried Schmid machte eine Phase einer schweren Gemütskrankheit durch, von der er sich zwar wieder erholte, aber der Lebenserfolg als Dichter blieb ihm versagt. Friedrich Joseph Emerich endete, ebenfalls nach einem seelisch-geistigen Zusammenbruch, in einer Anstalt durch Selbstmord. Auch Casimir Ulrich Böhlendorff gab sich nach einem unsteten Wanderleben selbst den Tod. Nicht zu vergessen auch Gotthold Friedrich Stäudlin der Herausgeber des Musenalmanachs (in dem Hölderlins erste Gedichte gedruckt wurden), der 1796 im Rhein den Tod suchte." Daß in diesen zerrissenen Existenzen der „heilige Wahnsinn" die bei Normalen durchweg verschüttete Dimension der Telepathie erreicht, ist uns nur von Hölderlin überliefert: am 26. Juni 1803 wird Caroline Schlegel in dem Dörfchen Murrhardt mit dem jungen Schelling getraut. „Querfeldein, wie durch einen Instinkt geführt, taucht Hölderlin auf; nach eineinhalb Tgen schmerzlicher Abschied auf der Landstraße vor Sulzbach. Er schritt in die Umnachtung hinein, in eine undurchdringliche Abschirmung des Innen vom Außen.“

So ähnlich schrieb auch Schelling, der als Zweiundsiebzigjähriger (1847) von dieser Begegnung und seiner Wahrnehmung berichtet, „daß dieses zart besaitete Instrument auf immer zerstört sei."

(Wie nah verwandt Schelling selbst Hölderlin war, verrät sein Wort: „Auch das Tiefste der Natur ist Schwermut, auch sie trauert um ein verlorenes Gut, und auch allem Leben hängt eine unzerstörliche Melancholie an . .." Dazu Emil Staiger: „Unten, Tiefe, Schwere, Grund: diesen Worten begegnen wir in Schellings Spätwerk immer wieder." Diese Verwandschaft mag die „Zufälligkeit" der Murrhardt'schen Begegnung erklären helfen.) Wilhelm Waiblinger selbst ein „Frühvollendeter" (an dem Brockhaus 1868 „eine oft ungezügelte Leidenschaftlichkeit und daraus hervorgehende Zerfallenheit mit sich und dem Leben" rügt), schreibt in seiner Hölderlin-Biographie, daß jetzt „eine genaue Communicazion mit ihm unmöglich" sei. „Sein Leben ist ein ganz inneres."

Damit war er aus dem Spannungsfeld zwischen Persönlichkeit und Umwelt, das hier umrissen werden soll, in einer für Psychoti-ker charakteristischen Weise ver-ruckt, nicht mehr von dieser Welt. Man wird nicht müde, die Anhäufung von „kaputten Typen", wie man sie heute nennen würde, ebenso wie die durch das Erscheinen des Suizid-Romans „Werthers Leiden" verbreitete Werther-Krankheit mit soziologischen Erklärungen abzuwerten, etwa als symbolische Kapitulation des deutschen Kleinbürgertums vor Adel und Geistlichkeit. Gewiß, dem Bürgertum des klein-staatlichen Deutschlands fehlte es, anders als dem im französischen Einheitsstaat, an Macht und Selbstbewußtsein.

Die Verdrängung des romantischen Radikalismus Die deutsche Romantik trug unverkennbar eskapistische Züge. Aber was sie literarisch im einzelnen und die resignative bürgerliche Innerlichkeit allgemein hervorbrachten, schlug schließlich in den Aktivismus der imperialistischen bürgerlichen Welt um, die Dichter und Denker in unerreichbar olympische Höhen entrückte und damit das ahnungsvolle Entsetzen vor dem kommenden industriellen und nationalistischen Zeitalter verbannte. So blieben von der Fülle dieser Epoche nur unverbindliche Floskeln wie die vom Edlen, Hilfreichen und Guten. Aus dieser Mentalität ist das Wort des „guten Emmanuel Geibel" (Theodor Heuss) zu verstehen, nach dem die Welt am deutschen Wesen, am Volk der Dichter und Denker also, genesen sollte — immerhin hat er mit Chamisso, Eichendorff, Alexis Bettina von Arnim und Justinus Kerner Umgang ge-pflegt. Bei Geibel wird der chauvinistische Trend des nach 1848/49 politisch pervertierten deutschen Bürgertums unverkennbar. Als er 1871 seine „Heroldsrufe" veröffentlichte, hatte sich dieses „deutsche Wesen" längst selber aufgegeben, und die Nobilitierung der romantischen Schwermut im Frankreich der «poetes maudits» eine neue Heimat gefunden. Im Vergleich zu ihnen wirkt der Realismus der Balzac und Zola wie idyllisches Tandaradei. Auch bei den „Verfluchten" mögen repressive Faktoren als „Anlasser" gewirkt haben. Der kränkelnde Tristan Corbiere stammt aus der Bretagne, die nach den verlorenen Bürgerkriegen der „Chouans" und ihrer völligen Gleichschaltung in den französischen Zentralstaat kollektiver Trübsal verfallen war: «Un chant: comme un echo tout vif /Enterre, lä, sous le massiv». Seine Sprache drückt wie die halluzinatorische Lautreamonts und Rimbauds — die aus französischen Grenzzonen des Landes stammen — in grellen Kaskaden Sarkasmus und Besessenheit aus. «Crapaud», «crever» — Worte, die im belletristischen Vokabular seit Villon nicht vorkommen, finden sich häufig; tatsächlich war ihr Sterben ein elendes Krepieren. Sie fühlten vor allem Haß und Ekel gegen alles Bestehende, das schon den Fortbestand der Welt in Frage stellte: die Ahnung der deutschen Romantik war längst dabei, sich zu erfüllen.

Beim Wahnsinn, — im Brockhaus noch 1868 treffend als „ecstasis" umschrieben —, entfällt das Moment der permanenten Bedrük-kung, die der Depressive voll zu tragen hat, und damit der zwingende Grund, ihn in den vorgegebenen Rahmen zu stellen.

Nur so viel: wenn schon vor den Zwanziger Jahren der (affirmativ gemeinte) adverbiale Gebrauch von „wahnsinnig" aufkam — redensartlich etwa in „wahnsinnig verliebt", deutete das bereits auf eine positive Bewertung mentalen Ausscherens aus deprimierender Bedrückung hin. Wer damals auf eine Partnerin „verrückt" war, war nicht mehr er selbst. Oder tat wenigstens so. Später verstärkten sich solche Adverbien der Ausgefallenheit noch zu die ganze Person erfassenden Eigenschaftswörtern — zum Beispiel bei dem „irren Typ", für den Normalität die Ausnahme von einer sich schon wieder normierenden Irregularität darstellt. Noch paradoxer kontrastiert das Adverb „unheimlich" mit der heimlichen Absicht, Ängste zu verdecken. Es kursierte, bevor es in aller Munde war, in der Sprache von Gruppen, die sich von der Allgemeinheit absondern wollten. In ihnen fühlte man sich gegenüber jeglicher Unheimlichkeit geborgen. Auch im Sprachgebrauch endet damit kollektive Flucht vor den heimlichen Geborgenheiten der Normalität in der Vertrautheit des Schlagworts. Die Angst wird neue Worte finden.

Der „Normale"

Der „Normale" erscheint hier, anders als bei Horst Eberhard Richter, („Flüchten oder Standhalten") nicht als der Mensch, wie er sein soll, (worauf die Verhaltensmuster der Sozietät zunehmend hinauslaufen): als Opfer beengender Normierungen produziert er zwangsläufig angustiae, Ängste also, die er erleiden oder verdrängen muß. Die Attestierung dieses Krankheitsbildes soll ihn also nicht abwerten; die Verkehrung so verkehrter Begriffe wird nur als Hilfeleistung angeboten. Als Vorbedingung und Merkmal dieser Normalität müßte sich allgemein die im Kindesalter vorgenommene Verschüttung der ursprünglichen Kreativität verstehen lassen. Die Emotionen werden abge-schwächt und ihr Ablauf kanalisiert; dem Erwachsenen ist von den Sturzbächen früheren Erlebens nur ein Rinnsal, eine künstlerische Ader vielleicht, verblieben. Etwas davon ließe sich wieder ent-und aufdecken durch die Einbeziehung der Depressiven und Süchtigen in unser Menschenbild: hier hat sich oft kreatives Potential leidlich erhalten; der geniale Extremfall, Gipfelpunkt schöpferischer Gesundheit, tritt bei ihnen signifikant häufiger als irgendwo anders ein. Was jedem Feuilletonisten, der auf sich hält, solcherart geläufig ist, gehört nicht „unter den Strich"; man muß es verrükken — in oder neben die vorn plazierten Leitartikel. Nicht das, was die angepaßte Lit-Prominenz sagt und verschleiert, sondern die Welt radikaler Weltverbesserer. Weniger ihr Tun, ihre Reaktion auf die Erkenntnis, daß das künstlerische Wort — anders als das des Politikers — direkt nichts verändert, also handeln sie. Kunst war ja stets so wenig Waffe wie eine Trompete, auch die von irgendwelchen „Bewegungen" mißbrauchte hat die Reihen der Kämpfenden geschlossen und angefeuert, diente also der Waffenführung; die Parole ersetzt die Poesie und führt äußerstenfalls zur anarchistischen action. Damit entfällt der Zwang zur Überleitung der revolutionären Energie in die literarische Verdichtung.

Die Rebellen der Literatur träumten seit je her von der gewaltsamen Veränderung der Welt. Aber es war nicht der große Traum ihres Lebens, ihr Leitthema, sondern eine Reaktion auf die Versagungen, die der Prediger in der Wüste auf sich nimmt -(Man verweise hiergegen nicht auf einen gern überschätzten Autor, der, ein letzter Ritter, sein Tun mit seinem Tod bezahlte: „Byron veräußerlicht und trivialisiert das Lebensproblem der Romantik;

er macht aus der seelischen Zerrissenheit seiner Zeit eine Mode, eine mondäne Seelen-tracht" Das Beispiel dieses Literatur-Snobs verfängt da nur wenig — er hat durch sein Leben bewiesen, daß er die Kompression, die Verdichtung, aus der Literatur entsteht, nicht ertragen hat.)

Der Dichter gießt seinen Traum in das Wort um. Bleiben wir bei dem auch hierfür beispielhaften, angeblich so sanften Hölderlin, dessen Vision vom „Rhein" (1801) in einem befreienden Finale, ganz verwandt dem des «Bateau ivre» (1871) ausklingt: „Zerreißt er die Schlangen und stürzt /Mit der Beut und wenn in der Eil'/Ein Größerer ihn nicht zähmt, /Ihn wachsen läßt, wie der Blitz, muß er /Die Erde spalten, und wie Bezauberte fliehn /Die Wälder ihm nach und zusammensinkend die Berge." Nichts von der Abwehr gegen das Elementare wie bei Goethe („Denn mitfühlend ist die Natur"), nichts von seiner Nutzbarmachung für höhere Zwecke wie in Schillers „Glocke" (bei deren Lektüre Caroline Schlegel „vor Lachen fast von den Stühlen zu fallen" drohte); nichts als uferlose Freiheit am Ende, Befreiung!

Hölderlin hat schlecht und vergeblich um diese Freiheit gekämpft. Zwar versichert er: „Ich duld es nimmer! ewig und ewig so /Die Knabenschritte, wie ein Gekerkerter /Die kurzen vorgemessenen Schritte /Täglich zu wandeln, ich duld es nimmer!" Aber er hat das und Schlimmeres zu erdulden: . so sitz ich zwischen meinen dunklen Wänden, und berechne, wie bettelarm ich bin an Herzensfreude, und bewundere meine Resignation". Das war der sehr deutsche Unterschied zwischen Wunsch und Wirklichkeit. Die deutsche Revolution fand, Tucholsky sagt es beißend, in der Musik statt. Und bei den hilflosen Rebellen der Feder.

Gewiß, auch die deutsche Klassik kennt einige Dynamik — aber die richtet sich mit ihrer eigentlichen Wucht gegen die Naturgewalten, die Hölderlin trugen: Goethes „Prometheus" trotzt den Göttern („Bedecke Deinen Himmel, Zeus, mit Wolkendunst. . ." „Mußt mir meine Erde doch lassen stehn, und meine Hütte, die Du nicht gebaut, Und meinen Herd . . ."). Die Revolte ist auf Kosmisches gerichtet, nicht gegen irdische Gewalt, die dem Minister sehr wohl Hütte und Herd hätte nehmen können. Aber dieser Gewalt bietet die Klassik nicht die Stirn; da beschei-det sie sich; erbittet etwa Gedankenfreiheit von der personifizierten Unfreiheit. Es sei daran erinnert, daß der hellsichtige Novalis, selbst ein Junker, „Wilhelm Meisters Lehrjahren" den bösen Untertitel „oder die Wallfahrt nach dem Adelsdiplom" gab, an dessen Verfasser Ortega y Gasset einen „gewissen philiströsen Zug" wahrnahm. Unsere Klassiker — das ließe sich als Definition aussagen — sind keine tragischen Gestalten wie Hölderlin, wie nach ihm der Romantiker Friedrich Schlegel, der mit Inbrunst davon geschwärmt hat, „in Politik zu schwelgen": er wollte „nicht nur wie Luther predigen und eifern, sondern auch wie Mohammed mit dem feurigen Schwert des Wortes das Reich der Geister erobernd überziehen". Die Gewalttätigkeit ist hier noch spiritualisiert, aber sie schlägt doch in der Sublimierung durch.

Gewiß gibt es mehr Erklärungen als Ursachen dafür, daß und warum sich die einen ihren faulen Frieden mit der Welt machten und andere, wie Hölderlin, in ihr schließlich keinen Platz fanden. Ein Moment, das auch als Entstehungsfaktor für die Bereitschaft zur anarchistischen Gewaltanwendung anzusehen ist, scheint dabei noch keine oder nur geringe Beachtung gefunden zu haben. Als gar so sanft, wie man Hölderlin früher sah, zeichnen ihn seine modernen Biographen nicht, er muß manchem als gefährliches Individuum erschienen sein („ward'ich als gefährlich melancholisch ausgesagt"); er erlebt sich als „immer verschlossener Mensch mit finstrem Auge", und tatsächlich ist er als junger Stipendiat scheinbar grundlos gewalttätig geworden. 1804 ist von aggressiven Auslassungen gegen die Mutter die Rede. Bezeugt sind auch blutunterlaufene Fingernägel des zur Behandlung Eingelieferten.

Es fällt auf, daß gewisse Konstellationen in Hölderlins Jugend denen anderer tragischer Figuren wie Nietzsche oder Rimbaud ähneln — und diese wiederum durchaus mit denen vergleichbar sind, die die Kindheit der bekanntesten deutschen Terroristen kennzeichnen. Signifikant häufig sind sie nämlich unter der bestimmenden Obhut von Frauen aufgewachsen: Hölderlins Vater starb, als das Kind zwei Jahre alt war; als sein Stiefvater stirbt, ist er neunjährig. Mutter und Großmutter zogen ihn auf, „unsere lieben Mütter".

Nietzsche verlor seinen Vater mit fünf Jahren; sein Elternhaus wurde damit wortwörtlich zum Frauenhaus, mit zwei unverheirateten Tanten, die das häusliche Regiment führten, dazu eine autoritäre Großmutter, die Mutter und eine jüngere Schwester. Rimbaud: sein Vater verließ die Familie, als Arthur sechs Jahre zählte; sie haben sich nie wieder gesehen. Die Mutter, eine ungewöhnlich harte Frau, unterwarf ihn einer diktatorischen Herrschaft, pflichtversessen, durch starre Frömmigkeit gegen jede Versuchung durch Lebendiges sicher abgeschirmt.

Drei Matriarchate, drei geniale Empörer, radikale Umwälzer, Extremisten im Geiste! Am Ende sind Rimbaud und Nietzsche dorthin zurückgekehrt; auch Hölderlin lebt, gebrochen aus Frankreich zurückgereist, 1803 im mütterlichen Hause, bevor Freunde ihm, letzter Rettungsversuch, in Homburg noch einmal eine Stellung verschaffen; sie alle wollten zu den Müttern heimfinden. Allen scheiterte die Heimkehr, sie starben außer Haus.

Wo es nicht im Kindesalter zur Auseinandersetzung mit einer Vater-Imago kommt, wird der Mutterschoß nie endgültig verlassen. Wenn diese Loslösung mißlingt, entfällt offenbar ein für die allmähliche Einbindung des Kindes in die vorgegebene Außenwelt unentbehrlicher Faktor; das Kind wird zum Außenseiter, die Beziehung zum anderen Geschlecht (in unterschiedlicher Weise) gestört.

Konstellationen in der Kindheit heutiger Anarchisten Es kann kein Zufall sein, daß sich bei den extremistischen Systemveränderern in unseren Tagen ganz ähnliche Ausgangspunkte feststellen lassen. Auch auf die deutschen Anarchisten der ersten Generation — nur über sie sind Daten zugänglich — hat eine dominierende Mutter-Imago gewirkt; ihre Väter starben früh oder hatten wenig zu bestimmen. Der Vater von Andreas Baader ging jung in den Krieg; er ist verschollen. Baader wurde im Kreise von Großmutter, Mutter und Tante großgezogen; Ulrike Meinhof verlor ihren Vater mit fünf Jahren; der Vater von Jan-Carl Raspe verstarb vor dessen Geburt. (Nur Gudrun Ensslin besaß ein wirkliches „Vater" -haus. Aber die reale Existenz von Vater und Mutter verbürgt nicht die Bildung gleichwertiger Imagines. Welche Konstellation bei Grundrun Ensslin zum Entstehen des anarchistischen Mechanismus geführt hat, ist mir unbekannt; ich hatte keine Gelegenheit, sie zu befragen.)

Hier also liegen die individualpsychologischen Ursachen für das spätere Ausscheren aus der menschlichen Gesellschaft. Die als Folge von Versagungen gelegte Schiene kann ebenso zu einer totalen — von Anarchisten nicht erreichten — Bindungslosigkeit führen, wie sie bei den sogenannten Asozialen ebenso wie bei den genialen Ausnahmeerscheinungen wie Rimbaud oder Nietzsche zu Tage tritt.

Als Psychologen die Entdeckung machten, daß anarchistische Handlungen vorzüglich von Menschen verübt werden, deren Jugend* durch eine dominante Mutter bestimmt wurde, war es, als hätte man den Richtern, Staatsanwälten und Krimonologen einen Schlüssel in die Hand gegeben, dessen Benutzung aus dem Irrgarten ihrer juristischen, staatspolitischen, polizistischen Methodik herausführt. Aber entweder haben sie ihn fallenlassen oder das Loch nicht gefunden. Sie befürchten offenbar, daß das Verstehen von Gesetzesbrechern ihre Bejahung oder doch ihre Verzeihung zur Folge hat; sie belassen es meist bei polizistischen Maßnahmen zum Schutz des Gemeinwesens und zur Verfolgung derer, die es bedrohen. Aber nicht nur behördliches Denken erschwert die Bewältigung des Phänomens.

Mit der Allerweltsweisheit, daß die Angehörigen von Randgruppen aus „gestörten Familienverhältnissen" kommen, sollte nicht mehr gearbeitet werden. Der Obrigkeit dürfte nicht verborgen bleiben, daß Familienverhältnisse, lotet man sie nur aus, immer gestört sind. Sie kann es sich einfach nicht erlauben, so ahnungslos zu bleiben wie der Psychiater, der dem Erscheinungsbild der endogenen Depression „eine merkliche Abneigung gegen die eigene Familie" zuordnet. Selbst Romeo und Julia hätten nach kurzem Zusammenleben in ihren larvierten Träumen den Partner umgebracht, aber wachen Sinnes geschworen, ein solcher Gedanke käme ihnen nicht einmal im Traume. Nicht einmal? Hundertmal! Warum der eine tötet und der andere träumt, warum der eine Richtung auf religiösen Fanatismus, politische Intoleranz oder totale Isolierung nimmt, läßt sich nach unserem heutigen Wissensstand allerdings noch nicht beurteilen.

Gesellschaftliche Voraussetzungen Für gewisse Zusammenhänge zwischen individualpsychologischen und gesellschaftsbedingten Motivierungen für das Ausscheren aus Gemeinschaften in den Anarchismus gibt es allerdings Indizien. So läßt sich der in russischen Adelskreisen im vorigen Jahrhundert aufkommende Anarchismus wie die bis in den Bürgerkrieg reichende anarchistische Massen-bewegung in Spanien historisch insoweit determinieren, als Russen wie Spanier jahrhundertelang unter dem Druck ihnen substantiell zunächst ganz fremder Gewaltherrschaften standen. Daß sie sich in jedem Sinne ergeben mußten, hat ihre Rücken gebeugt und ihre resignativen Nationaleigenschaften — nitschewo, manana — bis in unser Jahrhundert hinein geprägt bis zur weitgehenden Angleichung der Ohnmächtigen an die Mächtigen. Es ist klar, daß zur Unterwürfigkeit gezwungene Völker lamentable Vater-Imagines hervorbringen; die tragikomische Figur des „Ritters von der traurigen Gestalt" Don Quichote legt davon literarisches Zeugnis ab — in unserem Sinne wohl vergleichbar mit dem „Oblomow" Gontscharows, hinter dessen unschlüssiger Trägheit, der von Dostojewski diagnostizierten „Oblomowerei“, nichts als die nicht bewältigte Lebensangst extremer Unmännlichkeit steht. Auch der puerile status des liebenswertesten Mörders der Weltliteratur, Rodion Raskolnikoff, darf in diesem Kontext Erwähnung finden. Und vielleicht auch, daß Dostojewskis Vater sein Gesinde im Alkoholrausch so quälte, daß es außer sich geriet und ihn erschlug.

Im Spannungsfeld zwischen radikaler Despotie und sklavischer Schwermut, das den russischen Adel charakterisiert, wuchsen keine Väter heran, die einer leidlich fruchtbaren Auseinandersetzung mit in die Herzen der Jungen strömenden westlichen Seinsformen gewachsen waren. Hier vermute ich eine der bis heute unerforschten Wurzeln des Anarchismus im zaristischen Rußland. Entsprechendes ließe sich gewiß auch über Spanien ermitteln, wo die Bakunin'schen Ideen zuerst in den südwestlichen Landesteilen, ganz besonders in Andalusien, Aufnahme fanden —• den am längsten von den Mauren beherrschten Gebieten also, die bis heute ihr arabisches Gepräge bewahren.

Daß es bei uns mit Spanien und Rußland vergleichbare Ableitungen für das heutige Anarchismusproblem aus historischer Sicht gibt, wurde erstaunlicherweise noch nicht untersucht. Dabei kann es doch nicht unerheblich sein, daß der deutsche Mann aus längst bestimmten Gründen im allgemeinen ein recht schwaches Rückgrat hat also als Vater-Imago kein ideales Bild abgibt. Sollte es zwischen dem Aufbruch der anarchistischen Bewegung gegen Ende der 60er Jahre und der Tatsache, daß die Generation der Väter gegenüber dem Dritten Reich beinahe vollzählig versagte — besonders eklatant das mittelständische Bildungsbürgertum mit seinem hohen moralischen Anspruch, aus dem dann auch die Schlüsselfiguren der anarchistischen Szene hervorgingen —, wirklich keine ursächli-ehe Beziehung geben?

Auf den marxistischen Hokuspokus, wonach der Anarchismus aus der kapitalistischen Ausbeutung resultiert, braucht hier nicht ein-gegangen zu werden: die Epoche des Manchestertums kannte keine anarchistische Bedrohung. Auch schlimme Diktaturen motivieren Anarchisten nicht unbedingt: im Dritten Reich war alles für oder gegen den Nationalsozialismus engagiert, aber Mahler, Baader-Meinhof usw. sind das Produkt einer permissiven Gesellschaft, in der sich Heranwachsende an nichts Festes, Bewährtes halten können. Aus dieser Unsicherheit erklärt es sich, daß die Verringerung unseres ideologischen Potentials nicht, wie es unser aufklärerisches Wunschdenken erhoffte, die Menschen zur praktischen Vernunft und zu größerer Toleranzbereitschaft führte. Statt dessen wurden aggressive Energien von solcher Intensität freigelegt, daß sich nunmehr die Gesellschaft als Ganzes bedroht fühlt. Jetzt, nach der EntBindung von ideologischen Zwängen und Vorstellungen wird die anarchistische Gewaltneigung manifest.

Hier drängt sich der Vergleich mit anderen Gruppen auf, die ohne ideologischen Vorwand Gewalt verbreiten; sie kommen dabei ohne die Legitimation des höheren Zwecks aus. Renate Riemeck, die Ziehmutter der Meinhof, schrieb: „Ulrike legt ihren Proust und ihren Kafka beiseite und betritt die politische Arena", als aus dem sensiblen Mädchen eine Genossin geworden war. Im feindlichen Milieu der Nichtprivilegierten kommt es gar nicht erst zur Errichtung solchen Über-baus; so regredieren sie auf vorzeitliche (Asterix) oder ritterliche (Prinz Eisenherz) Leitbilder, deren Sinngehalt in sein Gegenteil verkehrt wird. Es gibt eine internationale Fachliteratur über das Entstehen und Funktionieren solcher Anti-Gesellschaften. Weniger vertraut ist die auf direkte Abhilfe bedachte Forschung mit einer weitgehenden Entsprechung in der Kindheit „politischer" und offen krimineller Gewalttäter: am Anfang waren sie sensitiver, phantasievoller, verschlossener als andere Gleichaltrige. Der spätere Rabauke Baader ist ein mit Übermaß verhätschelter Junge gewesen, Ulrike ein subtiles, schwärmerisches Mädchen, Jan-Carl Raspe ein in sich gekehrtes Kind; „Kommune I" spricht noch von „Autoritätsangst", „Sprachhemmungen", „sehr spät(en) sexuelle(n) Erfahrungen", „ Schweißausbrüchen".

Wenn es Biographen von Rockern gäbe, würde sie gewiß mit der Beschreibung extrem zärtlichkeitsbedürftiger oder verzärtelter Kinder beginnen

Was auf dem Gebiet möglich und nötig wäre, wissen wir seit den Berichten von A. Aichhorn und unzähligen anderen Autoren. Die Politiker, die die Existenz um sich greifender asozialer Gruppierungen so herzlich bedauern, können in der Sache leider wenig tun, weil ihre Prioritätenliste das nicht zuläßt: sie ist offensichtlich nicht unwichtig genug, um obenan zu stehen. Wo es um weniger ginge und geht, darum, ob Eupen und Malmedy wieder unter deutsche oder Flensburg unter dänische Verwaltung kommen sollen, um detaillierte Lohn-, Ex-oder Importfragen, steht ihr Engagement außer Frage. Daß es so ist und nicht anders sein kann, wurde schon gesagt. Die Herausbildung von einer Tausendschaft ausgewählter arbeitsloser Lehrer zu Psychoanalytikern, die Schaffung geschlossener Re-Orientation-Camps für Jugendliche, in denen (fast alles) erlaubt ist, was gefällt, bleibt vorerst Wunschträumerei ebenso die Erwartung, die Hölderlin, Rimbaud und Nietzsche könnten beliebte Irrgespinste aufreißen. Oder das Phänomen des Anarchismus werde die Leute nicht nur in Angst und Schrecken versetzen, sondern sie bei aller Abwehrbereitschaft neuen konstruktiven Gedanken darüber zugänglich machen. Die Jungen unter uns sollten diesen Traum, das Unmögliche zu ermöglichen, trotz allem träumen Um einen Bruchteil des Notwendigen zu realisieren. Um so viel zu lieben, wie ihnen nottut.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Alexander Mitscherlich, Protest und Revolution, in: PSYCHE 7, 1970.

  2. Ronald Grossarth-Maticek, Anfänge anarchistischer Gewaltbereitschaft in der Bundesrepublik Deutschland, Bonn-Bad Godesberg 1975.

  3. Jürgen Habermas, Protestbewegung und Hochschulreform, Frankfurt/Main 1969.

  4. Erwin K. Scheuch, Die Jugend gibt es nicht; aus einer Vortragsreihe, die im Sommer 1975 von der „Carl Friedrich von Siemens-Stiftung" in München veranstaltet wurde.

  5. FAZ vom 28. 4. 1975.

  6. Hans von Heutig, Terror. Zur Psychologie der Machtergreifung, Frankfurt/Main, Berlin 1970.

  7. Ronald Grossarth-Maticek, a. a. O.

  8. NEUE ZURCHER ZEITUNG vom 24. 6. 1975.

  9. Siegfried Schmid (Schmidt), geb. am 16. 12. 1774 in Friedberg in der Wetterau, gest. am 10. 4. 1859 in Wien, Sohn eines Schöffen, Student der Theologie und Philosophie (u. a. bei Reinhold und Fichte), Mitarbeiter an Schillers „Musenalmanach für 1798". Robert Minder charakterisiert ihn als einen „reimenden Freund Hölderlins, der fast zur selben Zeit wie Hölderlin ins Irrenhaus gesperrt wurde, geheilt herauskam und als Husarenoffizier hinten in Ungarn sein Leben verspielte, verschlief und vergaß." („Dichter in der Gesellschaft", Frankfurt/Main 1972).

  10. Joseph Friedrich Emmerich (auch Emerich), geb. am 23. 2. 1773 in Wetzlar, gest. am 17. 11. 1802 in Würzburg, Sohn eines Reichskammergerichtsadvokaten, studierte 1790— 1793 in Mainz Jura, wurde Anwalt, dann (1796) Sekretär und Dolmetscher bei der französischen Militär-und Munizipalverwaltung in Mainz. 1799 machte er die Bekanntschaft mit Hölderlin. Wegen seiner Kritik an der Besatzung („Briefe aus Mainz" in der Zeitschrift „Minerva") wurde er ausgewiesen, verfiel dem Wahnsinn und lebte zuletzt nach Wanderungen durch Deutschland in einem Hospital in Würzburg.

  11. Casimir Ulrich Boehlendorff, geb. am 16. 5. (?) 1775 in Mitau/Kurland, gest. am 22. 4. 1825 auf dem Gut Marggrafen, studierte 1794 in Jena (Schüler Fichtes), war neben Hölderlin mit Herbart befreundet, verkehrte mit Savigny, Klinger und Clemens von Brentano. Als Hauslehrer, Dozent und Publizist führte er ein unstetes Wanderleben, erlitt Geistes-störungen, irrte 21 Jahre lang durch Kurland und endete durch eigene Hand.

  12. Gotthold Friedrich Stäudlin, geb. am 15. 10. 1758 in Stuttgart, Sohn eines Regierungsrats, studierte in Tübingen, wurde Advokat in Stuttgart, führte als liberaler Publizist Schubarts „Vaterländische Chronik" fort bis zu deren amtlichem Verbot 1793. In dem Städtchen Rhein bei Straßburg ertränkte er sich am 17. 9. 1796.

  13. Robert Minder in der Einleitung zu dein „Literarischen Führer durch die Bundesrepublik Deutschland", Stuttgart 1974.

  14. Wilhelm Waiblinger, geb. 21. 11. 1804 in Heilbronn, gest. am 17. 1. 1830 in Rom, Sohn eines Beamten, studierte in Tübingen (Stiftler), neben Hölderlin Freund von Matthison, Haug, Schwab, Mörike. Nach einer unglücklichen Liebesaffäre 1826 Verweisung vom Stift und Übersiedlung nach Rom, lebte dort als Schriftsteller in großer Armut und in freier Ehe mit einer Römerin. Angewidert von den gesellschaftlichen Verhältnissen Deutschlands und abgestoßen von der spießig-genügsamen Biedermeieratmosphäre formte er sich ein Idealbild der griechisch-römischen Antike; er nahm das revolutionäre Pathos Hölderlins auf und verschmolz es in der Nachfolge Byrons mit Zügen des Weltschmerzes und romantischer Ironie. Erwähnenswert an dieser Stelle Waiblingers einfühlsame Darstellung von „Hölderlins Leben, Dichtung und Wahnsinn" (1831 erschienen, neu herausgegeben 1947 von A. Beck).

  15. Willibald Alexis (Pseudonym-für Wilhelm Häring), geb. am 29. 6. 1798 in Breslau, gest. am 16. 12.

  16. Justinus (eigentlich Christian) Kerner, geb. 18. 9.

  17. Edouard-Joachim, (genannt Tristan) Corbiere geb. am 18. Juli 1845 in Morlaix (Bretagne), gest. am 1. 3. 1875 ebenda, zählt zu den «poetes maudits» Verlaine’s. Mit seinem Vater, dem Romancier Jean-Antoine-Rene-Edouard Corbiere, teilt er die Liebe zum Meer wie das Gespür für Literatur. Auf See ist es dann auch, wo er, ein begabter Navigator übrigens, seine Verse schreibt. Daß sie «parfois bizarre» sind, sieht die Kritik ihm nach. Förmlich aufatmend konstatiert sie, daß er, davon abgesehen, «toujours grand pote» war; zit. nach Dictionnaire des Lettres Francaises, Academie Paris 1971.

  18. Bezeichnung für die Bauernfreischärler im Süden der Landschaft Maine, im Norden von Anjou und in der Bretagne. Der Name entstand durch den nächtlichen Erkennungsruf der Rebellen («Chathuant»).

  19. Isidore-Lucien Ducasse, genannt Comte de Lautreamont, geb. 1846 in Montevideo, gest. 1870 in Paris, erschütterte mit seinen «Chants de Maldoror» (1869) die wohlausgewogenen, unumstößlich scheinenden Maße der französischen Sprache derart, daß er noch heute als «un des personnages les plus etranges de notre litterature», zit. nach: Dictionnaire, a. a. O., gilt. Bis 1890 war er praktisch unbekannt. Surrealisten, die ihn Erst für sich entdeckten, machten auf ihn aufmerksam.

  20. Jean Nicolas Arthur Rimbaud, geb. am 20. 10.

  21. Dazu Friedrich Nietzsche: „Und was lag nunmehr alles hinter mir! Dieses Stück Wüste, Erschöpfung, Unglaube, Vereisung mitten in der Jugend, dieses eingeschaltete Greisentum an unrechter Stelle, diese Tyrannei des Schmerzes Überboten noch durch die Tyrannei des Stolzes, der die Folgerungen des Schmerzes ablehnte — und Folgerungen sind Tröstungen —, diese radikale Vereinsamung als Notwehr gegen eine krankhaft hellseherisch gewordene Menschenverachtung, diese grundsätzliche Einschränkung auf das Bittere, Herbe, Wehetuende der Erkenntnis, wie sie der Ekel verordnete, der aus einer unvorsichtigen geistigen Diät und Verwöhnung — man heißt sie Romantik — allmählich gewachsen war . . ."; aus: Die fröhliche Wissenschaft, Stuttgart 1965.

  22. Arnold Hauser, Sozialgeschichte der Kunst und Kultur, München 1953.

  23. Ronald Grossarth-Maticek, a. a. O.; Lothar von Balluseck, Er-Läuterungen für Deutsche, Bonn-Bad Godesberg 1975.

  24. SELECTA, 10. 12. 1973.

  25. Lothar von Balluseck, „Deutsche über Deutschland", Berlin 1946.

  26. Für die von mir Anfang der 30er Jahre in Göttingen beobachteten und behandelten Jungen traf das jedenfalls zu. Im dortigen Provinzialerzie~

  27. „Verwahrloste Jugend", Neuauflage Berlin/Stuttgart 1957.

  28. Diese Camps müßten die Funktion einer Drehscheibe haben - einerseits die Insassen aus ihren Liebe-Haß-Beziehungen lösen und ein klein wenig zur Annahme eines Minimalkonsensus bewegen; andererseits die Impulse, die von dem Erlebnis des sozialen Randdaseins ausgehen, in die so sehr not-leidende Normalwelt hinaustragen.

  29. Pädagogisch begriffen und den Jungen verdeutlicht werden sollte auch, daß Rebellion und Welt-flucht ungleich größere Lustgewinne abwerfen als die Befriedigung durch nüchterne Einschätzung der Lage unter Zurückstellung - nicht Verdrängung - von Emotionen. Daß die Anti-Einstellung nicht so sehr durch souveräne Erkenntnis als durch Lustgewinn-Streben bestimmt ist, sehen sie allerdings schwerlich ein: es könnte ihnen dadurch etwas Lust vergehen.

Weitere Inhalte

Lothar von Balluseck, geb. 1906, Vertragsberater politischer Institutionen und wirtschaftlicher Unternehmungen, Leiter einer Werbegesellschaft und Mitinhaber eines Verlags, Gründungsmitglied der „Aktion Gemeinsinn", Gründer der „Godesberger Gespräche". Veröffentlichungen u. a.: Deutsche über Deutschland. Zeugnisse deutscher Selbstkritik, 1946; Dichter im Dienst. Der sozialistische Realismus in der deutschen Literatur, 19632; Literatur und Ideologie. Zu den literaturpolitischen Auseinandersetzungen seit dem VI. Parteitag der SED, 1963; Frei sein wie die Väter ...? Eine Geschichte der Freiheit in Deutschland, 197410; „Selbstmord" — Tatsachen, Probleme, Tabus, Praktiken, 1965; Gold und Blech — nicht nur aus dem Apolitischen Stich-und Schlagwortschatz, 1969; Bilder — Idole — Ideale. Vermutungen und Skizzen über die Welt der Bilder und die politische Welt, 1971; Die guten und die bösen Deutschen, 1972; Auto heute, 1974; Er-Läuterungen für Deutsche, 1975.