Die amerikanischen Präsidentenwahlen 1976. Ein Beitrag zum Regierungs-und Gesellschaftssystem der USA
Peter Lösche
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Zusammenfassung
Die amerikanischen Präsidentenwahlen 1976 sind durch politische Apathie und ein gewisses Maß an Irrationalismus gekennzeichnet. Als indirekte Folge von Vietnamkrieg und Watergate-Affäre sowie angesichts einer ernsten ökonomischen Krise zeigte sich dies in der außergewöhnlichen Personalisierung und Moralisierung des Wahlkampfes, im unartikulierten Antiinstitutionalismus und in der diffusen Abneigung gegen die Bundesregierung in Washington, des weiteren im Fehlen alternativer politischer Konzepte, im Wiederaufleben populistischer Strömungen und im Aufschwung einer evangelistischen Erweckungsbewegung. Innerhalb der Demokratischen Partei ist unter Carter die New-Deal-Koalition, die sich Ende der zwanziger Jahre herausgebildet hatte, mit dem . neuen Süden', wie er in den beiden letzten Jahrzehnten als Folge des ökonomischen Strukturwandels entstanden ist, verbunden worden. Für amerikanische Verhältnisse erscheint diese New-Deal-Koalition institutionell und organisatorisch relativ gefestigt: Ohne die Anstrengungen (Wähler-registrierung) der Gewerkschaften, der Organisation der Schwarzen und anderer Minoritäten sowie einiger demokratischer Stadtorganisationen hätte Carter die Wahl nicht gewinnen können. Viele Anzeichen deuten darauf hin, daß im Zentrum des amerikanischen politischen Systems ein Vakuum infolge politischer Apathie und Irrationalismus entstehen könnte. Einer sich daraus möglicherweise ergebenden Transformation zu einem bonapartistischen Präsidialsystem steht jedoch — neben anderen Gründen — entgegen, daß der neue Präsident sowohl institutionell wie politisch in die Zweckrationalität der New-Deal-Koalition eingebunden ist.
Am Montagmorgen des 1. November 1976, vierundzwanzig Stunden bevor die Wahllokale ihre Tore öffneten, brachten die Zeitungen das Ergebnis der neuesten Meinungsbefragung des Gallup-Instituts: Ford 47 Prozent — Carter 46 Prozent — McCarthy Prozent — andere Kandidaten 1 Prozent — Unentschieden 4 Prozent. Doch George Gallup warnte: Die mögliche Fehlerquote der Umfrage liege bei bis 4 Prozentpunkten 2).
Mit Hilfe von Berichten ihrer Korrespondenten in den fünfzig Staaten der USA versuchte die „New York Times", das mögliche Wahlergebnis noch weiter zu präzisieren: Trotz des knappen Vorsprungs von Präsident Ford an Popularstimmen habe Gouverneur Carter im Wahlmännergremium, dem electoral College, eine hauchdünne Mehrheit. Die Zeitungskolumnisten, die Radio-und Fernsehkommentatoren waren sich an diesem Tag einig, daß der Wahlausgang völlig offen sei und daß der Blitzwerbefeldzug beider Kandidaten, der für den Abend in allen Radio-und Fernsehprogrammen angekündigt war und für den die letzten Millionen Dollar zusammengekratzt worden waren, entscheidend sein könnte. Währenddessen sammelten die vom monatelangen Wahlkampf erschöpften Kandidaten noch einmal ihre Kräfte, spornten ihre Wahl-helfer zu letzten Anstrengungen an und hämmerten ihre Wahlparolen in das Bewußtsein der Wähler in jenen Staaten, die als wahlentscheidend angesehen wurden. Carter flog in der Nacht vom Sonntag auf Montag von Texas nach Kalifornien, sprach vor begeisterten Anhängern in Los Angeles, landete abends — mehrere tausend Kilometer östlich — zur Abschlußkundgebung seines Wahlkampfes in Flint, Michigan, dem Heimatstaat Fords. Ford wiederum konzentrierte sich an diesem Tag auf den industriellen Nordosten, jettete mit der „Air Force One" über New York und Ohio nach Michigan zur Abschlußkundgebung in seiner Heimatstadt Grand Rapids.
Das Wahlergebnis war so knapp, wie vorhergesagt; nur daß Carter und nicht Ford gewonnen hatte. Doch erst am Mittwochmorgen um vier Uhr, als die Fernsehstationen eine Hochrechnung für Ohio, Mississippi und Hawaii vorlegten, stand fest, daß der ehemalige Gouverneur des Staates Georgia am 21. Januar 1977 als 39. Präsident der Vereinigten Staaten vereidigt werden würde.
So verwirrend Wahlergebnis und Wahlkampf für den deutschen Beobachter, aber auch für die amerikanischen Wähler und viele politischen Kommentatoren sein mögen, -so signali sierte das Jahr des 200. Geburtstages der USA vor allem eines: die Rückkehr der Vereinigten Staaten zum politischen Alltag, „Back to Normaley“. Der Krieg in Vietnam, die innenpolitische Krise um Watergate und der Sturz Nixons 3), die Enthüllungen um die Machen-schäften der Geheimdienste, die Aufdeckung von Korruption auf allen Ebenen des Regierungssystems und in den Verwaltungspalästen einiger Großkorporationen und Gewerkschaften — all dies war von vielen Amerikanern in den letzten vier Jahren eher wie ein Alptraum denn als politische und gesellschaftliche Realität erfahren worden. Nach den sozialen Unruhen der sechziger Jahre, nach Vietnamkrieg, Detente und amerikanischer Öffnung gegenüber Rotchina, nach Watergate und Präsidentensturz, nach kaum durchstandener Weltwirtschaftskrise beherrschten politische Apathie und die Furcht vor politischen und sozialen Veränderungen das Wahljahr 1976. Gerald Ford und Jimmy Carter können vielleicht gerade deswegen als die geeigneten Präsidentschaftskandidaten für eine Periode amerikanischer Geschichte angesehen werden, die nach den turbulenten sechziger und den frühen siebziger Jahren vielleicht einmal die ruhigen siebziger Jahre genannt werden wird.
Im folgenden wird versucht, die amerikanischen Präsidentenwahlen von 1976 zu beschreiben und zu analysieren sowie sie skizzenhaft in die gesellschaftliche und politische Entwicklung des letzten Jahrzehnts einzuordnen. Dabei steht der Aufstieg Jimmy Carters bis zu seiner Nominierung als Kandidat der Demokratischen Partei und seine schließliche Wahl zum Präsidenten im Vordergrund.
I. Die Vereinigten Staaten nach Vietnamkrieg und Watergate-Affäre
Vietnamkrieg, Watergate und die Weltwirtschaftskrise der vergangenen Jahre stecken den politischen und sozialen Rahmen ab, innerhalb dessen die amerikanischen Präsidentschaftswahlen 1976 stattfanden. Obwohl weder der amerikanische Rückzug aus Vietnam, noch die Verfassungskrise um das Präsidentenamt, noch die sozialen Auswirkungen der für die USA tiefgreifendsten Depressionen seit den dreißiger Jahren thematisch im Mittelpunkt der politischen Auseinandersetzungen standen, sind doch Stil und Inhalt des Wahlkampfes und das Wahlergebnis selbst als Reaktion auf die Ereignisse des letzten halben Jahrzehnts zu begreifen. Wie schon früher in der amerikanischen Geschichte sind auch im Wahljahr 1976 akute Probleme und Widersprüche, die sich aus der Struktur der Gesellschaft oder des politisch-institutionellen Systems ergaben, durch Personalisierung und Moralisierung verdeckt und verdrängt worden. Dadurch wurde ein oberflächlicher Konsens nach langen Jahren der inneren Zerrissenheit und der Selbstvertrauenskrise hergestellt. Doch könnten politische Apathie und pseudopolitische, religiös-moralische Wiedererweckungsbewegungen sich zu einem latenten Irrationalismus und Eskapismus vor der gesellschaftlichen Wirklichkeit verdichten und in Zeiten sozialer Konflikte die demokratische Tradition und das auch in der Water-gate-Affäre noch intakte System der politischen „checks and balances", der Gewalten-verschränkung und Gewaltenkontrolle, gefährden.
Die Watergate-Affäre ist nur ein Symptom für die tiefgreifende strukturelle Veränderung des amerikanischen Regierungssystems in der Phase des zunehmend organisierten Kapitalismus gewesen, die unter der Präsidentschaft Nixons ihren bisherigen Höhepunkt erreichte, nicht aber ihren Ursprung hatte In ihrem Mittelpunkt steht die veränderte Funktion des Präsidentenamtes: Es hat sich von einer subsidiär wirkenden Clearingstelle ökonomischer und sozialer Interessen im neunzehnten Jahrhundert zu einer in Wirtschaft und Gesellschaft intervenierenden und diese stabilisierenden Institution im zwanzigsten Jahrhundert entwickelt. Im Präsidentenamt war institutionell jener Ort vorgegeben, von dem aus die bundesstaatliche Konjunktur-, Struktur-, Sozial-, Außen-und Verteidigungspolitik sowohl in Krisensituationen direkt und ohne Verzögerung als auch über einen längeren Zeitraum in relativer Kontinuität betrieben werden konnte.
Der hier angesprochene Funktionswandel ging mit einer Reorganisation im politisch-in-stitutionellen Bereich einher, nämlich 1.der Teilung der Exekutive in zwei Bereiche: in die ministerielle Exekutive (permanent government) und das Präsidentenamt (presidential government), und 2.der Zentralisation außenpolitischer, wirtschaftspolitischer und schließlich — unter Nixon — innenpolitischer Entscheidungen im Präsidentenamt, in Executive Oifice und zunehmend im White House Office, dem „persönlichen Stab" des Präsidenten. Während die Ministerien durchaus noch der Kontrolle durch andere Institutionen des amerikanischen Regierungssystems — wie etwa durch die Untersuchungsausschüsse beider Häuser des Kongresses — unterlagen, verselbständigte sich das Präsidentenamt zunehmend, so daß die Watergate-Affäre schließlich zum Symbol für die kaum noch kontrollierte, aber fest institutionalisierte Machtkonzentration unter Nixon wurde. Das Versagen politisch-institutioneller Kontrollen gegenüber dem Präsidentenamt wurde in der Außenpolitik — und hier wiederum in der Eskalation des amerikanischen Eingreifens in Südostasien — am offenkundigsten.
Die Aufdeckung der Watergate-Affäre hat gezeigt, daß Kontrollen, Hemmnisse und Gegen-tendenzen gegen die eben beschriebene Zentralisation außen-, wirtschafts-und innenpolitischer Machtbefugnisse im Weißen Haus noch wirksam waren und gleichsam wie Not-bremsen die Schußfahrt in ein bonapartistisches Präsidialsystem unterbrachen. Zu ihnen gehörten 1. ein Kongreß, der im Anklageverfahren gegen Nixon zu seiner ursprünglichen Kontrollaufgabe zurückfand;
2. die Unabhängigkeit der Presse und der Judikative; 3. Konkurrenz und Widersprüche zwischen den verschiedenen Teilen der Exekutive;
4. Regionalismus, politischer Föderalismus und — im Vergleich zur Bundesrepublik — relativ große Autonomie der Kommunen (als Gegengewicht zu politischer Zentralisation und ökonomischer Konzentration);
eine politisch-ideologische Tradition, der — im Rückgriff auf die „Gründungsväter" — jede Machtanhäufung in der Regierung, aber auch in den Parteien, Großkorporationen oder Interessengruppen suspekt ist.
Im Kongreß sind die Watergate-Affäre und die amerikanische Intervention in und Rückzug aus Südostasien als Ausdruck eines politisch-strukturellen Problems des amerikanischen Regierungssystems begriffen und entsprechende Konsequenzen gezogen worden. Mit der Verabschiedung des Congressionai Budget Act (1974) hat die Legislative ihre an die Exekutive verlorengegangene Macht, nämlich das Haushaltsrecht, wieder stärker an sich gezogen. Zum ersten Mal in der amerikanischen Geschichte gibt es heute in beiden Häusern des Kongresses einen Haushaltsausschuß und als Gegengewicht zum vor Watergate allmächtig gewordenen Office of Management and Budget (Kernstück der Executive Oifice des Präsidenten) ein Congressionai Budget Office. Damit ist der Kongreß zumindest institutionell in die Lage versetzt worden, über den Bundeshaushalt eigene politische Prioritäten zu setzen, den Budgetentwurf des Präsidenten besser zu überprüfen und zu verfolgen, inwieweit die Exekutive die vom Parlament beschlossenen Gesetzgebungsprogramme auch ausführt 5).
Der gegen das Veto von Präsident Nixon verabschiedete War Powers Act hat das durch die Verfassung dem Kongreß zugewiesene Recht, Krieg zu erklären, mit rechtlichen Sicherungen versehen und darüber hinaus festgelegt, daß der Präsident nicht ohne Zustimmung des Parlaments für längere Zeit Truppen ins Ausland entsenden oder dort stationieren darf. Schließlich hat in diesem Jahr, wenige Tage vor dem Ende der Legislaturperiode, der Kongreß den National Emergency Act beschlossen, der innerhalb der nächsten zwei Jahre viele der historisch dem Präsidenten zugewachsenen Notstandsrechte einschränken oder ganz aufheben wird Als eine der wichtigsten verfassungspolitischen Konsequenzen aus Watergate-Affäre und Vietnamkrieg ist die Stellung des Kongresses gegenüber dem Präsidentenamt also gestärkt worden Die Ursache für das veränderte Kräfteverhältnis zwischen Parlament und der Spitze der Exekutive liegt außerdem darin begründet, daß Gerald Ford im August 1974 nicht nur ein diskreditiertes Amt von Nixon übernommen hat, sondern er selbst nicht in der Lage war, die Richtlinien seiner Politik gegenüber dem Kongreß deutlich zu machen. Im Weißen Haus ist in den letzten zwei Jahren nicht ein Vorschlag für ein größeres Gesetzgebungswerk entwickelt worden, hingegen hat der Präsident — zumeist auf Druck von Interessengruppen — gegen mehr als sechzig Gesetzentwürfe des Kongresses sein Veto eingelegt
Trotz neugewonnener Macht ist das amerikanische Bundesparlament nach wie vor kaum als nationale politische Institution anzusprechen. Senatoren und Repräsentanten sind so sehr an die höchst divergierenden Interessen in ihren Einzelstaaten bzw. ihren Wahlkreisen gebunden und z. T. über die lokalen und regionalen , Parteimaschinen'organisatorisch dort so verankert, daß der Kongreß fragmentiert und ohne jeden Ansatz von Fraktionskohärenz bleibt und so auf Dauer kaum ein Gegengewicht zum Präsidentenamt bilden kann. Die zentrifugalen Kräfte im Kongreß wurden 1974 dadurch sogar noch verstärkt, daß als unmittelbare Reaktion auf den Rücktritt Nixons die sogenannten Watergate-Freshmen, eine Gruppe militanter junger Demokraten, ins Repräsentantenhaus gewählt wurden, die besonderen Wert auf ihre Unabhängigkeit von den Demokratischen Fraktionsführern legten und auf eine enge Verbindung zu ihren Wahlkreisen bestanden
Während Watergate-Affäre und Vietnamkrieg von Mitgliedern des Kongresses durchaus als Probleme erkannt wurden, die aus den veränderten Strukturen des amerikanischen Regierungssystems entstanden sind ist im Präsidentschaftswahlkampf 1975/76 diese für die Zukunft der amerikanischen Demokratie zentrale Frage entweder gänzlich verdrängt oder in den Surrogaten einer diffusen Stimmung gegen „Big Government“ oder des Allerweltsschlagwortes vom „Vertrauen in die politischen Führer" (trust in leadership) aufgenommen worden. Von keinem der Kandidaten für das Präsidentenamt ist öffentlich vor den Wählern oder durch die Medien gefragt worden, wie bei einer wirtschaftlich und gesellschaftlich bedingten Entwicklung hin zu einem auch politisch zunehmend zentralisierten Sozialstaat die traditionell in den USA hochgehaltenen bürgerlichen und individuellen Freiheiten mit sozialer Gerechtigkeit und Sicherung zu vermitteln seien. Vielmehr wurden Vietnam und Watergate — wenn überhaupt angesprochen — als moralisches Problem, als Schuld einzelner Personen hingestellt. Wie wenig jedoch die verheißene moralische Reinigung und der bereits vollzogene Personenaustausch (Ford statt Nixon) die jüngste amerikanische Vergangenheit zu bewältigen vermochten, zeigte die dem Präsidentenwahlkampf zugrunde liegende Tendenz, nämlich politische Apathie und Frustration, verbunden mit einem gewissen Maß an politischem Irrationalismus.
Als direkte Folge der Watergate-Affäre kann angesehen werden, daß das in den USA latent vorhandene und auf politische Auffassungen der „Gründerväter" und den freien Geist der „Frontier" -Tradition zurückgeführte Mißtrauen gegen jede Art der Regierung, insbesondere aber gegen die Bundesregierung in Washington, in den letzten Jahren in einen undifferenzierten und emotionalen Anti-Institutionalismus umgeschlagen ist. So rangierten in einer von einem Nachrichtenmagazin durchgeführten Meinungsbefragung über das Vertrauen der Amerikaner in die Institutionen und Personengruppen ihres Landes die Politiker, die Bundesbürokratie, Gewerkschaftsführer, die Republikanische und die Demokratische Partei, das Repräsentanten-haus, das Weiße Haus, der Senat und die Großkorporationen ganz unten, während den Banken, den Kleinunternehmen und den Kirchen das größte Vertrauen entgegengebracht wurde. Mit der Ausnahme der Großkorporationen und der Gewerkschaftsführer wurden die gerade genannten Personengruppen und Institutionen gleichzeitig als am wenigsten effizient angesehen Die von den meisten Präsidentschaftsaspiranten bemühte Parole „Gegen Washington — gegen eine zu starke Regierung (Against Big Government)''hatte in diesem latenten und durch Watergate aktualisierten Antiinstitutionalismus ihren Ausgang. Weniger eindeutig ist die Reaktion der amerikanischen Öffentlichkeit auf den Vietnamkrieg gewesen. Anders als nach dem Ersten Weltkrieg gab es keinen Rückfall in den Isolationismus. Gleichwohl ist der (auch durch die monatelangen Feiern zum 200. Geburtstag der USA noch gesteigerte) ausgeprägte Nationalismus, der während des Wahlkampfes gelegentlich in einen gefühlsbetonten Chauvinismus überzuschwappen drohte, eine Folge des Rückzuges der Vereinigten Staaten aus Südostasien. Aus Meinungsbefragungen geht hervor, daß in den letzten Jahren die Zahl derjenigen, die befürchteten, daß die Vereinigten Staaten international an Einfluß und Ansehen verlieren und daß die Regierung gegenüber der Sowjetunion zu nachgiebig gewesen sei, gestiegen ist. Insbesondere ist aber der Anteil derjenigen im Wahljahr gestiegen, die meinen, daß die USA „ihre beherrschende Position als stärkste Macht der Welt auf jeden Fall und selbst bis an den Rand eines Krieges" erhalten sollten
Deuten die genannten Daten bereits ein Syndrom von wachsender Enttäuschung und Irrationalismus in den beiden letzten Jahren an, so liegt die Vermutung nahe, daß politische Apathie während des Wahlkampfes und eine geringe Wahlbeteiligung eine weitere Folge dieser Entwicklung sind. Seit der Jahrhundertwende ist die Wahlbeteiligung in den Vereinigten Staaten kontinuierlich, seit den sechziger Jahren sogar beschleunigt gesunken So sind 1960 nach der heißen Wahlschlacht zwischen John F. Kennedy und Richard Nixon nur 63 Prozent der potentiellen Wähler zur Wahlurne gegangen. 1972 war diese Zahl auf 55 Prozent gesunken, so daß Nixon — nach einem angeblichen politischen Erdrutschsieg — nur von 34 Prozent der möglichen Wahlberechtigten gewählt worden ist
Eine der Ursachen für die geringe Wahlbeteiligung in den USA liegt darin, daß nicht jeder theoretisch Wahlberechtigte automatisch in die Wählerlisten (wie in der Bundesrepublik) aufgenommen wird, sondern daß man sich spätestens einige Wochen vor der Wahl oder Vorwahl (Primary) beim Wahlamt registrieren lassen muß Nach Schätzungen von Anfang Oktober 1976 waren in diesem Jahr nur etwa 70 Prozent der theoretisch Wahlberechtigten registriert und damit tatsächlich wahlberechtigt. Die Zahl der registrierten Wähler ist zwischen 1972 und 1976 konstant geblieben, obwohl die Zahl derjenigen, die sich hätten registrieren lassen können, um neun Millionen gestiegen ist — ein weiterer Ausdruck für die politische Apathie, die für das Jahr 1976 typisch gewesen ist. Der soziale und politische Selektionsmechanismus, der mit der Wählerregistrierung verbunden ist, liegt auf der Hand und kann empirisch belegt werden: Potentielle Wähler aus höheren Einkommensgruppen mit einer abgeschlossenen Coliegeausbildung, die in den Vorstädten oder auf dem Lande wohnen und älter als 35 Jahre sind (tendenziell Anhänger republikanischer Präsidentschaftskandidaten), nehmen die mit der Registrierung und dem Wahlakt verbundenen Umstände eher auf sich als potentielle Wähler aus den unteren Einkommensgruppen und ohne abgeschlossene Schulausbildung, die in städtisch-industriellen Gebieten wohnen und unter 35 Jahre alt sind (überwiegend Wähler demokratischer Präsidentschaftskandidaten). So war 1972 nur die Hälfte der schwarzen Amerikaner registriert; nur 38 Prozent der Amerikaner spanisch-mexikanischer Herkunft gingen in die Wahllokale. Hingegen wählten 85 Prozent derjenigen, die einen Collegeabschluß hatten, verglichen mit nur 50 Prozent derjenigen, die einen Hauptschulabschluß hatten
Zwei Monate vor der Wahl erregte eine Studie über die voraussichtlichen Nichtwähler des Jahres 1976 großes Aufsehen Der Leiter des Forschungsprojektes, Peter D. Hart, äußerte darin die Vermutung, daß weniger als die Hälfte der möglichen Wähler am 2. November 1976 zur Wahlurne gehen würde. Die Untersuchung bestätigte die seit langem bekannten Tatsachen über soziale Stellung, Herkunft, Ausbildung und Wohnsituation der Nichtwähler. Doch zum ersten Mal in der amerikanischen Wahl-und Meinungsforschung hatte Hart eine große Gruppe von Nichtwählern entdeckt, die bis 1968 aktiv am politischen Prozeß teilgenommen hatte, inzwischen aber politisch entfremdet und enttäuscht worden war. Diese Gruppe der „dropouts", der durch Vietnam und Watergate Frustrierten, hatte eine weitaus bessere Ausbildung, verfügte über ein höheres Einkommen und war älter als der Durchschnitt der Nicht-wähler. Abstinenz schien hier zu einem bewußten Protest gegen das politische und soziale System der Vereinigten Staaten zu werden. Der hohe Grad politischer Entfremdung zeigte sich — wie bei anderen Meinungsbefragungen auch — im Mißtrauen der Nichtwähler gegen die politischen Institutionen, die Interessengruppen und die Medien. 63 Prozent der Nichtwähler glaubten, daß die Regierung in Washington nur selten oder nie vernünftig und richtig handeln würde, daß die Bundesregierung vielmehr von wenigen einflußreichen Interessengruppen dominiert werde. 61 Prozent meinten, daß sehr viele Mitglieder der Regierung und Verwaltung (people running government) ziemlich unehrlich seien. Und mehr als die Hälfte hatte das Gefühl, daß Fernsehen und Zeitungen einseitig und subjektiv statt fair und objektiv berichteten. Auf die Frage, warum sie nicht wählen würden, antworteten die Interviewten:
1. Kandidaten versprechen das eine, tun dann aber das Gegenteil (68 Prozent).
2. Es macht keinen Unterschied, wer gewählt wird, weil die Dinge sowieso nicht funktionieren (55 Prozent).
3. Watergate hat gezeigt, daß Politiker sowieso nur ihre eigenen Schäfchen ins Trockene bringen (52 Prozent).
4. Die Kandidaten unterscheiden sich kaum voneinander (50 Prozent).
Spiegelt sich in diesen Daten die bereits erwähnte antiinstitutionelle Stimmung und die Enttäuschung über das politische System, so wurde die irrationale Seite dieser Apathie daran erkennbar, daß Nichtwähler zur gleichen Zeit offensichtlich nach politischer Führerschaft, nach einem oder wenigen politischen Führern dürsteten. 87 Prozent stimmten darin überein, daß „dieses Land mehr als Gesetze und politische Programme braucht, wenige mutige, unermüdliche, der Sache ergebene politische Führer sind, denen das Volk vertrauen kann" Als Beispiele für derartige politische Führer wurden Kennedy (50 Prozent), Roosevelt (20 Prozent), Eisenhower und Truman (je 10 Prozent) genannt.
Seit den zwanziger Jahren haben demokratische Präsidentschaftskandidaten ihre Wähler überproportional aus den unteren sozialen Schichten, aus den rassischen und ethnischen Minoritäten, der Arbeiterschaft und der Stadtbevölkerung rekrutiert. Im Wahljahr 1976, in dem so viele Zeichen auf eine vertiefte politische Apathie der eigenen Anhänger hindeuteten, hing Sieg oder Niederlage für den demokratischen Präsidentschaftskandidaten Jimmy Carter von der Realisierung des eigenen Wählerpotentials ab, davon, ob es gelingen würde, Schwarze, Mexiko-Amerikaner und andere ethnische Minderheiten und (gewerkschaftlich organisierte) Arbeiter in den Städten zu registrieren und am Wahltag zur Stimmabgabe zu bewegen. Unklar blieb bis zum Wahltag, welcher Zusammenhang zwischen der vermuteten größeren politischen Apathie und der wirtschaftlichen Entwicklung in den beiden letzten Jahren bestehen würde. Sozialwissenschaftler, Wahlprognostiker und die Wahlkampfstrategen der Kandidaten wußten nicht — trotz der Meinungsbefragungen, die fast jede Woche während der letzten Monate des Wahlkampfes durchgeführt wurden —, welche Auswirkungen Arbeitslosigkeit und Inflation auf die Wahlbeteiligung haben würden. Dabei ging es um die folgenden ökonomischen Daten Die Arbeitslosenquote war in den Jahren der Nixon-Ford-Administration kontinuierlich und unter dem Eindruck der Weltwirtschaftskrise 1975/76 auf die Höchstmarke seit der Großen Depression geschnellt. Während im letzten Jahr der Johnson-Regierung die Arbeitslosenquote bei 3, 6 Prozent lag kletterte sie 1975 auf 8, 5 Prozent und sank in den Monaten August und September 1976 nur auf 7, 9 bzw. 7, 8 Prozent. Dabei war der Anteil der arbeitslosen Arbeiter (August 1976: 9, 8 Prozent), der Schwarzen (13, 6 Prozent), der Jugendlichen unter zwanzig Jahren (19, 8 Prozent) und insbesondere der schwarzen Jugendlichen (ca. 40 Prozent) überdurchschnittlich hoch. Welcher soziale Sprengstoff sich hinter diesen trockenen Zahlen verbirgt, zeigte sich im September dieses Jahres in Detroit, einer überwiegend von Schwarzen bewohnten und wirtschaftlich von der Autoindustrie abhängigen Stadt. Nur durch einen massiven Polizeieinsatz konnten revoltierende schwarze Jugendliche in die Slums abgedrängt werden; die brennende Lunte am Pulverfaß wurde brutal ausgetreten, ohne daß die Ursachen für diese bedrohliche Lage beseitigt worden wären. Die Hälfte bis zu drei Viertel der schwarzen Jugendlichen sind nach verschiedenen Schätzungen in Detroit arbeitslos. Genaue Zahlen gibt es angesichts der desolaten Situation nicht
Im Zusammenhang mit der Arbeitslosigkeit und der allgemein verschlechterten wirtschaftlichen Situation ist in den letzten beiden Jahren auch die Zahl derjenigen, die unter der offiziellen Armutsgrenze leben, gestiegen — trotz erhöhter bundesstaatlicher Subventionen für Sozialprogramme aller Art, von der Armenspeisung über die Kranken-bis zur Altersversicherung
Viele Sozialwissenschaftler und politische Kommentatoren vermuteten, daß die Arbeitslosen und Armen sowie die von Arbeitslosigkeit und sozialem Elend Bedrohten im Wahljahr 1976 völlig aus dem politischen System herausfallen und überhaupt nicht wählen würden. Hier jedoch lag das eigentliche Wählerpotential demokratischer Präsidentschaftskandidaten. Daher war die Strategie der Demokraten in den beiden letzten Monaten des Wahlkampfes darauf abgestellt, das Arbeitslosenproblem in den Mittelpunkt der Auseinandersetzung zu stellen, um sowohl die volle Unterstützung der Gewerkschaften und ihrer Mitglieder (zumal die Reallöhne in den letzten beiden Jahren ebenfalls gesunken waren) als auch die Stimmen der von Arbeitslosigkeit und Armut besonders bedrohten Bevölkerungsgruppen zu erhalten. Umgekehrt zielte die Wahlstrategie der Republikaner dahin, die Erfolge der Ford-Administration in der Inflationsbekämpfung — die Inflationsrate war von 11 Prozent (1974) über 9, 1 Prozent (1975) auf 6, 1 Prozent (Juli 1976) gesunken — herauszustreichen. Dadurch sollten jene potentiell republikanischen Wählergruppen angesprochen werden, die Arbeitslosigkeit und Armut kaum zu befürchten haben, deren Einkommen aber durch latente Geldentwertung beschnitten wird. Angesprochen wurden also Selbständige, mittlere und höhere Angestellte und Manager, Farmer, kurz: Mitglieder mittlerer und höherer Einkommensgruppen.
So richtig es ist, immer wieder zu betonen, wie (im Vergleich zu Europa) dezentralisiert, fragmentiert und organisatorisch desolat amerikanische Parteien sind, daß Präsidentschaftskandidaten zudem auf politische Pro-gramme kaum festgelegt sind, so werden mit den beiden zentralen Wahlkampfthemen — dem Thema Arbeitslosigkeit beim Demokraten Carter, dem Thema Inflation beim Republikaner Ford — gleichwohl soziale Konturen der beiden großen amerikanischen Parteien erkennbar.
II. Die Vorwahlen in der Demokratischen und Republikanischen Partei
Abbildung 34
PRÄSIDENTSCHAFTSWAHLEN IN DEN VEREINIGTEN STAATEN KAUFORNIEN 45 4 OREGON ÜAH ARIZONA WYOMING New MEXICO S 0D-DAKOTA Zahl der Wahlmänner in den Bundesstaaten (insgesamt 538) OKL 4MOMA 1 ILLINOIS 26 1 MISSIS-
SIFPI 10 L LOUISIANA > (HIGAN 21 INDIANA 13 ACAbAMA qCARTER _ Demokraten OH 0 GEORGIA 12 27 YORK 4! NEW JERSEY 17 DELAWARE 3 FORD Republikaner Copyright F. A^ -Karte Sturm 3 1976
PRÄSIDENTSCHAFTSWAHLEN IN DEN VEREINIGTEN STAATEN KAUFORNIEN 45 4 OREGON ÜAH ARIZONA WYOMING New MEXICO S 0D-DAKOTA Zahl der Wahlmänner in den Bundesstaaten (insgesamt 538) OKL 4MOMA 1 ILLINOIS 26 1 MISSIS-
SIFPI 10 L LOUISIANA > (HIGAN 21 INDIANA 13 ACAbAMA qCARTER _ Demokraten OH 0 GEORGIA 12 27 YORK 4! NEW JERSEY 17 DELAWARE 3 FORD Republikaner Copyright F. A^ -Karte Sturm 3 1976
Seit der politischen Reformbewegung der Jahrhundertwende werden die Präsidentschaftskandidaten der beiden großen Parteien durch ein höchst kompliziertes, in jedem Staat verschiedenes Verfahren von innerparteilichen Vorwahlen vorgeschlagen und schließlich von einem bundesweiten Parteikonvent nominiert. In diesem Jahr haben in 29 Staaten und im District of Columbia soge-nannte Primaries stattgefunden, Vorwahlen, in denen die Wähler, die sich als Mitglieder einer der beiden Parteien zu erkennen geben, auf je verschiedene Weise in ihrer Partei für einen Aspiranten auf das Präsidentenamt stimmen können. In 21 Staaten fanden soge-nannte Caucuses statt, Nominierungsversammlungen, in denen indirekt auf Orts-, Bezirks-und schließlich Staatsebene gewählte Parteidelegierte sich für einen Präsidentschaftsaspiranten aussprechen. Noch nie zuvor hat es eine so große Zahl von Primaries gegeben und noch nie zuvor war dadurch der Einfluß des einfachen Parteimitglieds auf den Nominierungsprozeß so groß Diese große Offenheit des Auswahlverfahrens hat sowohl Carter wie Reagan begünstigt.
Die Vorwahlen in der Demokratischen Partei
Die große Überraschung in den Vorwahlen der Demokratischen Partei war nicht nur der Aufstieg und Sieg des vor einem Jahr den meisten Amerikanern noch unbekannten ehemaligen Gouverneurs des Staates Georgia, Jimmy Carter, sondern vielleicht noch mehr die Tatsache, daß bereits vor dem Parteikonvent ein Präsidentschaftskandidat feststand, der die sozial, politisch und organisatorisch äußerst heterogene Partei geeint hatte. Dies stand im großen Gegensatz zu 1972, als aus den Vorwahlen zwar George McGovern als klarer Sieger hervorgegangen war, die Partei aber gerade durch die Nominierung des Senators aus South Dakota in ihre Flügel und Fraktionen zerrisssen wurde.
Die Situation in der Demokratischen Partei war vor der ersten Nominierungsversammlung und Vorwahl völlig unübersichtlich. Es gab keinen geheimen Favoriten. Zwar wurde Hubert Humphrey in Meinungsbefragungen als der populärste mögliche Kandidat genannt, doch wurde er weder von den lokalen und überregionalen Parteiorganisationen gefördert, noch glaubte die Presse an seine Chance, noch war er selbst bereit, aktiv in die Primaries einzugreifen. Zu Beginn des Jahres 1976 gab es etwa ein Dutzend aktiver und offiziell die Nominierung suchender Kandidaten, ein weiteres Dutzend — wie Senator Edward Kennedy aus Massachusetts oder wie Hubert Humphrey — bewarb sich ohne formelle um Erklärung die Nominierung.
Der Ablauf der Vorwahlen kann nach zwei Phasen unterschieden werden:
1. Von den dreizehn Primaries, die zwischen dem 24. Februar (New Hampshire) und 4. Mai (Georgia, Indiana, District of Columbia) statt-fanden, gewann Carter elf und verlor nur die in Massachusetts und New York. Zu diesem Zeitpunkt verfügte er bereits über mehr als 35 Prozent der Stimmen der bis dahin gewählten Parteitagsdelegierten, über doppelt soviel wie der nächst stärkste Konkurrent, Senator Scoop Jackson aus dem Staat Washington. Jackson hatte jedoch nach der Vorwahl in Pennsylvania aufgegeben, die er trotz der Unterstützung durch lokale demokratische Partei-organisationen und Gewerkschaften an Carter verloren hatte. Außer Jackson waren so hoffnungsvolle Kandidaten wie Terry Sandford, Birch Bayh, Lloyd Bentsen, Fred Harris, Milton Shapp und Sargent Shriver aus dem Rennen geschieden. Schärfster Konkurrent Carters war zu diesem Zeitpunkt der liberale Kongreßabgeordnete Morris Udall (Arizona), während George Wallace, rassistisch-populistischer Gouverneur des Staates Alabama, bereits aussichtslos abgeschlagen war.
2. In der zweiten Phase siegte Carter in den bis zum 6. Juni verbleibenden achtzehn Primariesnur noch in sieben Seine ursprüngliche Anziehungskraft schien verloren-gegangen zu sein, wie später auch im letzten Monat seines Wahlkampfes gegen Ford sein Schwung verlorengegangen war. Aufgrund des in den Vorwahlen im letzten Jahrzehnt in der Demokratischen Partei eingeführten modifizierten Proportionalwahlsystems (das das „winner take all" -System ablöste, das bis heute in der Republikanischen Partei gilt) konnte Carter gleichwohl genügend Delegiertenstimmen für den Parteitag sammeln. Ihm kam außerdem zugute, daß seine beiden schärfsten Konkurrenten in der zweiten Phase der Vorwahlen, die erst nach dem 4. Mai in das Rennen gegangen waren, Senator Frank Church aus Idaho und Gouverneur Edmund Brown aus Kalifornien mehr ihre Kandidatur für 1980 oder 1984 anmelden wollten, als daß sie sich ernsthaft um die Nominierung in diesem Jahr bemühten.
Nach Abschluß der Vorwahlen waren 1091 Parteitagsdelegierte auf Carter festgelegt; 1505 waren nötig, um die Nominierung zu gewinnen. Weit abgeschlagen verfügten Udall über 313, Brown über 223 Delegiertenstimmen. Entscheidend war dann, daß wenige Tage nach der letzten Vorwahl sowohl Bürgermeister Richard Daley aus Chicago, der über eine der funktionsfähigsten Partei-und Patronagemaschinen in den Vereinigten Staaten herrscht, wie George Wallace sich für Carter aussprachen. Der Gouverneur aus Georgia konnte mit der Gewißheit zum Parteitag nach New York fahren, daß er nominiert werden würde und eine geschlossene Partei hinter sich hätte, die zudem darauf brannte, nach acht Jahren Nixon und Ford und langen innerparteilichen Grabenkämpfen wieder einen der ihren ins Weiße Haus zu entsenden.
Während des Vorwahlkampfes hatten sich auch jene Themen herausgeschält, die die Anfang September beginnende Auseinandersetzung mit dem Kandidaten der Republikanischen Partei beherrschten: die latente Wirtschaftskrise, insbesondere das Arbeitslosenproblem; die Notwendigkeit einer Reorganisation und Straffung der Bundesregierung und ihrer Bürokratie; die Aufrichtigkeit und Redlichkeit der politischen Führung, insbesondere des Präsidenten — eine direkte Folge der Watergate-Affäre. Die Außenpolitik hatte im Vorwahlkampf der Demokraten — anders als bei den Republikanern — keine Rolle gespielt. Der Demokratische Parteitag verlief — im Gegensatz zu den Schlachten, die in Miami Beach 1972 und in Chikago 1968 geschlagen worden waren — in größter Harmonie Ernsthafte Auseinandersetzungen über das Wahlprogramm oder das Parteistatut fanden nicht statt; der Präsidentschaftskandidat stand schon einige Wochen vor Tagungseröffnung fest. Der Ausschuß, der seit Monaten an der Wahlkampfplattform gearbeitet hatte und dem alle Gruppen und Fraktionen der Partei angehörten, legte einen Entwurf vor, der politisch gleichsam das Parallelogramm der sonst auseinanderstrebenden Kräfte in der Demokratischen Partei darstellte, der niemanden vor den Kopf stieß und in dem jeder seine Wünsche und Vorstellungen wiederfinden konnte. Wahlprogramme amerikanischer Parteien legen traditionell niemanden fest, weder den Präsidentschaftskandidaten noch die Kan-didaten für Senat oder Repräsentantenhaus. Sie ähneln eher einer politischen Gemischtwarenhandlung als einem geschlossenen Konzept — so auch die demokratische Plattform 1976. Im Vergleich zur Republikanischen Partei enthält diese Plattform eine eher staatsinterventionistische Position. Für die USA relativ umfassende Sozialprogramme werden gefordert, Priorität hat vor allem die Überwindung der Wirtschaftskrise und Arbeitslosigkeit.
Für den an deutsche Parteidisziplin und Organisationseinigkeit gewohnten Beobachter war auffallend, mit welcher Selbstverständlichkeit die verschiedenen Gruppen — neben den üblichen Tagungen der Delegationen der Einzelstaaten — ihre Fraktionssitzungen abhielten und mit Carters Wahlmanagern verhandelten: die Schwarzen, die Frauen, die Jugendlichen, die Italo-Amerikaner, die Latino-Amerikaner, die anderen ethnischen Minoritäten, die Gewerkschaftler. Alle diese Gruppen waren äußerst kompromißbereit und gaben Carter und seinen Leuten — einen sicheren Wahlsieg am 2. November vor Augen, wenn die Partei bis dahin nur ihre Einheit erhalten konnte — in allen Fragen nach, an denen sich 1972 oder 1968 noch heftige Konflikte entzündet hatten
Auf dem New Yorker Parteitag zeigte sich, daß seit 1968 bzw. 1972 die Fraktionen der Frauen und der Schwarzen, der Women's Caucus und der Black Caucus, sich zu einer festgefügten und wohlorganisierten Einheit entwickelt hatten. Bereits 1972 haben die damaligen Präsidentschaftskandidaten sich diesen Gruppen in kurzen Ansprachen vorgestellt. In diesem Jahr verhandelten der Black Caucus und der Women's Caucus sogar mit Carter und seiner Organisation förmlich über die Parteiplattform, insbesondere aber über die künftige Politik eines möglichen Präsidenten Carter über den die Fraktionen am meisten betreffenden Politikbereich, nämlich die Frauenemanzipation und eine Verbesserung der sozialen Situation der Schwarzen. Ne-ben den lokalen und einzelstaatlichen Parteimaschinen waren diese beiden Fraktionen in diesem Jahr als organisatorisch stabilisierendes Element in der Demokratischen Partei anzusehen 1976 traten zum ersten Mal auf einem Demokratischen Parteitag auch Gewerkschaftler als eigene Fraktion, als Caucus, auf. Hierin könnte sich eine Wende im Verhalten der amerikanischen Gewerkschaften andeuten. Diese hatten seit dem New Deal die Taktik verfolgt, nicht in die Vorwahlen einzugreifen und erst nach den Konventen der beiden Großen Parteien einen Kandidaten zu unterstützen, in der Regel den der Demokratischen Partei
Als im Februar 1975 der Bundesvorstand der AFL-CIO an diese Tradition anknüpfte und einen entsprechenden Entschluß faßte, konstituierte sich dagegen die sogenannte Labor-Coalition, ein Zusammenschluß von acht (zeitweise neun) als liberal geltenden Gewerkschaften Erklärtes Ziel war es: 1. eine erfolgreiche Kandidatur von Gouverneur George Wallace zu verhindern; 2. arbeitsteilig alle anderen Kandidaten zu fördern, um unter allen Umständen Zugang zu, möglichst aber auch Einfluß auf den Präsidentschaftskandidaten der Demokraten zu haben; 3. für den Fall, daß aus den Vorwahlen kein Präsidentschaftskandidat hervorgehen sollte (was allgemein erwartet wurde), so viele Parteitagsdelegierte zu haben, daß der Gewerkschaftsblock den Ausschlag bei der Nominierung durch den Parteitag hatte; 4. an der Abfassung der Wahlplattform beteiligt zu werden. Die Arbeit der Labor Coalition war so erfolgreich, daß von den 550 bis 600 gewerkschaftlich organisierten Delegierten (bei insgesamt 3008 Delegierten) 418 aus den acht Gewerkschaften der Koalition kamen und damit die größte Fraktion des Parteitages dar-stellten Die weitere Entwicklung der Labor Coalition, die sich nach dem Parteitag formal auflöste und deren Gewerkschaften gemeinsam mit dem Bundesverband AFL-CIO Carter unterstützten, bleibt abzuwarten. Hier könnten Wurzeln für eine in die Zukunft reichende organisatorische Veränderung der Demokratischen Partei liegen, ohne daß diese allerdings zu einer Arbeitspartei europäischen Musters würde.
Bei der wichtigsten Entscheidung, die während des Parteitages fiel, ist die Stimme der Labor Coalition — wie übrigens auch die anderer Gewerkschaften und insbesondere die des AFL-CIO-Vorsitzenden George Meany — von Gewicht gewesen, nämlich bei der Nominierung des Kandidaten für das Vizepräsidentenamt, Walter F. Mondale. Mondale, Senator des Staates Minnesota, gilt in den USA als liberaler Politiker, der sich im Kongreß insbesondere in der Sozialgesetzgebung hervorge. an hat. Carter hat Mondale unter mehreren möglichen Kandidaten deswegen ausgewählt, weil dieser am ehesten in der Lage zu sein schien, die eigenen Schwächen als ein aus dem ländlichen Süden kommender, in Washington unerfahrener und (zumindest in der Demokratischen Partei) als relativ konservativ geltender Präsidentschaftskandidat auszugleichen. Mondales Aufgabe im Wahlkampf bestand darin, im industriellen Nordosten und Mittelwesten die lokalen und einzelstaatlichen Parteiorganisationen, die Gewerkschaften und die Liberalen an die Kandidatur Carters zu binden. Mondale hat diese Aufgabe nicht nur glänzend gelöst, sondern seine Nominierung selbst ist wahlentscheidend gewesen.
Gründe für den Wahlerfolg Jimmy Carters
Warum konnte Jimmy Carter — ein Mann ohne nationale Prominenz, mit begrenzter politischer Erfahrung, ohne Unterstützung durch die Demokratischen Parteiorganisationen in den Kommunen, Landkreisen und Einzelstaa-ten (und fast immer gegen sie), ein Politiker aus dem tiefen Süden zudem, dessen Akzent für den Durchschnittsamerikaner fremd klingt und dessen fundamentalistischer Protestantismus manchem suspekt ist — die Präsidentschaftskandidatur der Demokratischen Partei gewinnen? Die Antwort ist vielschichtig, bedürfte weiterer Nachforschungen und Reflexionen sowie langer Ausführungen, die weit in die amerikanische Geschichte zurückgreifen. Letztlich repräsentiert Carter eine Unterströmung amerikanischer Geschichte und Gesellschaft, die lange verdeckt war, aber so genuin amerikanisch ist, daß sie vom europäischen Beobachter kaum begriffen wird und selbst amerikanischen Kommentatoren oft ein Rätsel bleibt. Im folgenden werden — mehr hypothetisch als empirisch fundiert — einige der Ursachen genannt, die zu Carters Erfolg beitrugen: 1. Carter traf jene Grundstimmung der amerikanischen Wähler, die unartikuliert und diffus, mehr als Vorurteil denn als rationale Kritik nach den Enttäuschungen des amerikanischen Rückzugs aus Südostasien und der Watergate-Affäre sich gegen Washington, die Bundesbürokratie, kurz gegen die politischen Institutionen und Politiker schlechthin ausgebreitet hatte. In den Primaries schien Carter unverbraucht und frisch, ein Mann, der mit Washington und dem Establishment des Nordosten unmöglich in Verbindung gebracht werden konnte Carter trat als Ingenieur und Planer, als erfolgreicher Gouverneur auf, der versprach, die Bürokratie in Washington zu straffen und effizienter zu machen, ohne daß er seine Reformabsichten konkretisiert hätte. Er trat mehr als charmanter Technokrat aus dem Süden denn als Politiker auf So paradox die Formulierung Walter Dean Burnhams klingen mag, sie trifft doch den Kern: Ähnlich wie Ronald Reagan in der Republika-nischen Partei kandidierte Carter gegen, nicht für das Präsidentenamt
2. In der Wendung gegen Washington und seine Super-Bürokratie nahm Carter zudem eine Grundströmung aus der amerikanischen Geschichte auf, den Populismus. „Populismus" und „populistisch" waren während des Wahlkampfes viel gebrauchte und bald abgenutzte Schlagworte, so schwammig und diffus wie die Bewegung selbst, die durch den ursprünglichen Begriff gekennzeichnet worden ist. Die Populistische Partei (Populist Party, 1891 bis 1904) ist aus einer Bewegung der (klein) bäuerlichen Bevölkerung entstanden, die nach der großen Dürre der achtziger Jahre in ihrer Existenz bedroht war. Diese Bewegung berief sich nicht nur auf Thomas Jefferson, Thomas Paine und Andrew Jackson, sondern war direkt aus einem ländlichen Romantizismus und naiv-evangelistischen Protestantismus gespeist. Die Populist Party mobilisierte gegen die Banken und Konzerne an der Ostküste, gegen die ferne Bundesregierung in Washington.
Diese ursprünglich kleinbäuerliche, zunehmend kleinbürgerliche Oppositionsbewegung gegen Geldherrschaft und Zentralregierung umfaßte immer verschiedene Strömungen und Flügel. Wesentliches Merkmal des Populismus war und ist jedoch seine soziale und politische Ambivalenz zwischen Bourgeoisie und Arbeiterschaft. Antikapitalistische und faschistoide Tendenzen sind aus ihm hervorgegangen; ein Sozialreformer wie Fred Harris und ein Rassist wie George Wallace waren gleichermaßen sein Produkt. Populismus richtete sich nicht nur gegen den Leviathan in Washington, gegen Bankenmonopole, Truste und „big labor", sondern war zuweilen rassistisch, antisemitisch antiintellektualistisch. Im Wahlkampf ist Populismus von Carter in der ursprünglichen Bedeutung des Wortes aufgenommen und interpretiert worden, daß er nämlich direkt durch das Volk und nicht durch Parteien, Interessengruppen oder die wirtschaftlich Mächtigen nominiert worden sei. Eine von ihm bis zum Wahltag ständig wiederholte Formulierung in seinen Reden lautete: „Ich schulde niemandem etwas, dem Volk alles." So wenig dieser Satz den wirklichen Sachverhalt wiedergibt so ist hier zumindest doch vom Anspruch ein Moment plebiszitär-direkter Demokratie angelegt, auf das in der Carter-Präsidentschaft zu achten sein wird
3. Ein deutscher Beobachter hat Carters Wahlkampf treffend als triumphalen Pilger-marsch ins Weiße Haus bezeichnet Auch in religiöser Hinsicht repräsentiert Carter nämlich eine Grundstimmung in Amerika; seine persönliche Entwicklung ist Ausdruck einer allgemeinen, naiv-frommen Umkehr. Durch Amerika geht seit einigen Jahren eine von Laien getragene evangelistische Erwekkungsbewegung, die als „charismatische Bewegung" auch die katholische Kirche erfaßt hat. 60 bis 80 Millionen Amerikaner sind von ihr ergriffen Sie ist unter den Southern Baptists besonders stark, zu denen Carter gehört und die aus der Kultur des tiefen Südens heraus erfolgreich im Norden, Mittelwesten und Westen missionieren. Evangelistische Erweckungsbewegungen sind eine in zyklischen Abständen sich wiederholende Erscheinung in der amerikanischen Geschichte; sie stehen offensichtlich in einem kausalen Zusammenhang mit Wirtschaftskrisen, sozialen Umbrüchen und politischen Veränderungen. Sie waren und sind u. a. als Flucht vor der sozialen und politischen Wirklichkeit zu interpretieren. Nicht zufällig sind sie in Amerika mit einem Konservatismus verbunden, der vor so-zialen Reformen jeder Art zurückschreckt.
Nicht zufällig haben die Sklaven der Vergangenheit und die Schwarzen der Gegenwart im Baptismus ihr Jerusalem gesucht und oft gefunden. Nach Vietnam und Watergate, mitten in den Ängsten einer Wirtschaftskrise verheißt die evangelistische Erweckungsbewegung der amerikanischen Nation moralische Läuterung.
Freudig und unbefangen hat Carter bekannt, daß er „von neuem geboren" (born again) sei, daß er — nach einer bitteren Wahlniederlage 1966 gegen Lester Maddox um das Gouverneursamt von Georgia — die spirituelle Wiedergeburt erlebt habe. Dieses Erlebnis teilt Carter mit 34 Prozent aller erwachsenen Amerikaner. Und wiederholt hat er auf Fragen von Journalisten bestätigt, daß er manchen Tag fünfundzwanzigmal bete. Seine Wahlreden enthielten nicht nur den Rhythmus der Litanei, sie benutzten oft direkt die Sprache der Bibel
4. Carter gelang es in den Vorwahlen — und später am 2. November, dem Wahltag — im Süden sowohl die Stimmen der Weißen wie die der Schwarzen zu gewinnen. Dieser Erfolg ist angesichts einer Geschichte der Rassentrennung und des Rassenkampfes in dieser Region kaum überzubewerten. Bereits als Gouverneur von Georgia (1970 bis 1974) hatte Carter zur Überraschung vieler Weißer sich als ein Politiker entpuppt, der die Bürgerrechtsgesetzgebung Johnsons aus den sechziger Jahren ernst genommen und mehr zur politischen und sozialen Gleichstellung der Schwarzen in seinem Staat beigetragen hatte als die lautstarken Liberalen in den Staaten des Nordosten. Hierin zeigte sich am klarsten, daß Carter nicht mehr den alten rassistischen und in vieler Hinsicht rückständigen Süden vertrat, sondern einen neuen Süden, eine Region, die nach dem Zweiten Weltkrieg industrialisiert worden war, die ökonomisch expandierte, in die die Schwarzen aus ihren Fluchtstädten im Nordosten des Landes zurückkehrten und in der in einigen Städten — wie in Atlanta, Georgia — ein schwarzes Bürgertum selbstbewußt in die lokale und einzelstaatliche Politik eingetreten war
Der Versuch einiger Liberaler und einiger Journalisten, die ungeschickte Äußerung Carters über „ethnic purity" aufzugreifen und ihn zum Rassisten zu stempeln, schlug deswegen fehl, weil Carter anhand seiner Politik als Gouverneur von Georgia belegen konnte, daß er mit diesem Ausdruck tatsächlich nur eine anzustrebende relative Homogenität verschiedener Kulturen in städtischen Nachbarschaften und nicht Rassentrennung gemeint hatte, und weil demonstrativ national angesehene Politiker der schwarzen Gemeinden — darunter Martin-Luther-King Sr., Coretta King und der Kongreßabgeordnete Andrew Young aus Atlanta — an die Seite Carters traten.
Als Vertreter des neuen, industriellen Südens war Carter jedoch auch in der Lage, Vorwahlen in den städtischen Industriezentren des Nordosten und Mittelwesten zu gewinnen, also die traditionellen Anhänger und Wähler der Demokratischen Partei für sich zu überzeugen. Bereits in den Vorwahlen zeigte es sich also, daß Carter einige der Bevölkerungsgruppen hinter sich zu bringen vermochte, die die alte New-Deal-Koalition ausmachten (rassische und ethnische Minderheiten, Arbeiter und Gewerkschaftler, Stadtbevölkerung) und die von einem Eingriff des Staates in Wirtschaft und Gesellschaft eine Verbesserung ihrer eigenen Lage erwarten konnten.
5. Als Repräsentant eines neuen, liberalen und aufgeklärteren Südens wurde Carter von Traditionalisten in der Demokratischen Partei wie in den Gewerkschaften als der geeignete Kandidat angesehen, der in den Vorwahlen George Wallace und seinem rechtspopulistischen Anhang das Wasser abgraben könne.
Die Vorwahlen in Florida sind hierfür das schlagendste Beispiel. In Florida leben mehrere hunderttausend pensionierte Automobilarbeiter, die auch im Ruhestand weiter Mitglied ihrer Gewerkschaft, der United Automobile Workers (UAW) sind; 1968 und 1972 hatte es sich gezeigt, daß u. a. wegen Rassenspannungen und Konflikten am Arbeitsplatz die weißen Mitglieder der UAW überdurchschnittlich für den Rassisten Wallace gestimmt hatten,. während die Gewerkschaftsführung zu den liberalsten in den Vereinigten Staaten gehört. Jimmy Carter erschien daher 1975/76 als der geeignete Kompromißkandidat zwischen dem Gewerkschaftsvorstand (der am liebsten Humphrey favorisiert hätte) und weißen Gewerkschaftsmitgliedern, die nach wie vor Wallace zuneigten. Leonard Woodcock, Präsident der UAW, sprach sich daher in der Florida-Primary förmlich für Carter aus und mobilisierte zugleich den dortigen Gewerkschaftsapparat und die über viel Freizeit verfügenden Rentner seiner Gewerkschaft. Der Sieg Carters (34, 5 Prozent) über Wallace (30, 5 Prozent) in Florida (wie später auch der knappe Sieg Carters über Udall in der Vorwahl von Michigan, der Bastion des Automobilarbeiterverbandes) war vor allem der UAW und Woodcock zu danken. Auch andere Gewerkschaften der Labor Coalition haben Carter finanziell und organisatorisch in der Vorwahl geholfen, um vor allem George Wallace zu stoppen. Sie fanden sich plötzlich und auch zur eigenen Überraschung im Siegeszug Carters wieder, der auf die Nominierung als demokratischer Präsidentschaftskandidat zu-raste. 6. Ferner trugen einige institutionelle Änderungen zu Carters Erfolg bei. Die neuen Statuten der Demokratischen Partei, neue Wahlgesetze in den Einzelstaaten, die erhöhte Zahl der Vorwahlen und das Prinzip proportionaler Repräsentation in den Demokratischen Prima-ries schwächten den Einfluß der Demokratischen Parteiorganisationen und erhöhten die Chancen eines Außenseiters. Exemplarisch hierfür war die Vorwahl in Pennsylvania, in der Scoop Jackson trotz der Hilfe der Demokratischen Parteimaschine und mehrerer Gewerkschaften eine vernichtende Niederlage gegen Carter erlitt und aus dem Rennen schied.
7. Carter hatte seinen Kampf um die Nominierung langfristig und minutiös geplant. Als er im August 1972 beschloß, sich 1976 für das Präsidentenamt zu bewerben, sammelte er einen Kreis junger, intelligenter Rechtsanwälte als Berater um sich, mit denen er damals als Gouverneur von Georgia schon zusammengearbeitet hatte. Zu ihnen gehören Hamilton Jordan (Wahlkampfleiter, im Wahljahr 1976 erst 31 Jahre alt), Jody Powell (Pressesprecher, 32), Charles Kirbo (als persönlicher Berater der älteste in diesem Kreis, 59), Robert Lipshutz (Schatzmeister, 45), Jerry Rafshoon (Werbemanager, 42), Betty Rainwater (stell-B vertretender Pressesprecher, 29), Peter Bourne (Carters Verbindungsmann in Washington, 36), Greg Schneider (Büroleiter, 29). Geschickt verstand es Carter, als Sprecher der Konferenz der Gouverneure der Südstaaten und — vom Parteivorsitzenden Robert Strauss ernannt — als Wahlkampfleiter des Democratic National Committee für die Kongreßwahlen 1974 seine politischen Verbindungen über Georgia hinaus auszudehnen. Anfang 1975 erklärte Jimmy Carter offiziell seine Kandidatur für das Präsidentenamt. Seitdem hat er ununterbrochen zweiundzwanzig Monate lang Wahlkampf geführt
8. Der unaufhaltsame Aufstieg Jimmy Carters, sein überraschender Erfolg in der Demokratischen Nominierungsversammlung in Iowa im Januar 1976 und sein Sieg in der ersten Primary in New Hampshire im Februar 1976 erschienen als Verwirklichung des amerikanischen Traums vom Land der unbegrenzten Möglichkeiten: vom Tellerwäscher zum Millionär, vom armen Erdnußfarmer des Südens ins Weiße Haus Nicht zuletzt die scheinbare Verwirklichung des amerikanischen Mythos in der Person Carters gewann ihm Anhänger, machte die Presse, die Radio-und Fernsehstationen neugierig und verhalf ihm zu nationaler Publizität.
Carters Erfolg kann vor allem damit erklärt werden, daß es ihm gelungen war, die Grund-stimmung der amerikanischen Wähler nach Vietnamkrieg und Watergate-Affäre, wenig artikulierte Unzufriedenheit und Ängste, Sehnsucht nach Vertrauen und politischer Führung richtig zu treffen und zugleich mit einem bis ins Detail geplanten Wahlkampf zu verbinden. Carter war der Kandidat in der Demokratischen Partei, der am ehesten irrationale Bedürfnisse und rationale Notwendigkeiten in einer bestimmten Phase amerikanischer Geschichte zu verbinden vermochte. Viele der Gründe, die zu seiner Nominierung führten, wirkten auch im Wahlkampf fort und erklären seine Wahl zum Präsidenten.
Die Vorwahlen in der Republikanischen Partei
Die Vorwahlen in der Republikanischen Partei gipfelten in einem Kopf-an-Kopf-Rennen zwischen Ronald Reagan und Gerald Ford. Niemals seit 1884, als Präsident Chester A. Arthur die Nominierung versagt wurde, ist ein Präsident so dicht an eine Niederlage in der eigenen Partei herangekommen wie in diesem Jahr. Dabei darf die Schwäche Fords eigentlich nicht überraschen: Dieser hatte niemals zuvor für ein nationales Amt kandidiert und hatte auch als Präsident zunächst keine Hausmacht in der eigenen Partei. Seine politischen Erfahrungen hatte er in mehr als zwei Jahrzehnten Tätigkeit im Kongreß, zuletzt als Fraktionsführer der Republikaner im Repräsentantenhaus, gesammelt, war dort aber durch eigenständige politische Konzepte nicht aufgefallen und hat nicht einen einzigen von ihm formulierten Gesetzentwurf vorgelegt. Die größte Belastung seiner Kandidatur rührte aber von der Tatsache her, daß er vom Watergate-Präsidenten Nixon als Vizepräsident ausgewählt worden und ohne Legitimation durch eine Präsidentenwahl ins Weiße Haus eingezogen war.
Die Stärke Reagans dagegen lag darin, daß er in der Republikanischen Partei auf eine ihm völlig ergebene, politisch aktive konservative Basis zurückgreifen konnte, die schon 1968 versucht hatte, ihn gegen Nixon zum Präsidentschaftskandidaten zu küren. Im Gegensatz zu Ford ist Reagan ein brillanter Wahl-kämpfer. In den Vorwahlen konnte Reagan sich auf die neokonservative Mehrheit unter den republikanischen Parteimitgliedern stützen. Dieser amerikanische Neokonservativismus wird in Europa oft belächelt und in seiner Bedeutung erheblich unterschätzt. Er tritt nicht paternalistisch auf, sondern formuliert sein Selbstverständnis in der Auseinandersetzung mit dem Sozialstaat und in seiner prinzipiellen Ablehnung. Er trifft hier mit der oben beschriebenen antiinstitutionellen, ja fast antistaatlichen Grundströmung nach Vietnam und Watergate zusammen. Die Stoß-richtung des Wahlkampfes Reagans war daher — ähnlich wie bei Carter — gegen die Zentralregierung in Washington gerichtet und wurde mit der Forderung nach einer Stärkung der Einzelstaaten und Kommunen verbunden Außenpolitisch agitierte Reagan ge-gen die Detentepolitik der Nixon-Ford-Administration, gegen das angebliche amerikanische Nachgeben gegenüber der Sowjetunion; er verlangte neue Rüstungsanstrenguhgen, damit Amerika militärisch wieder den ersten Platz unter den Mächten der Erde einnähme
Durch derartige Wahlparolen wurden Patriotismus, unreflektierter Antikommunismus, Furcht vor Veränderung und Fremdem, in den Attacken gegen Kissinger auch Antiintellektualismus mobilisiert. Zudem wurde Ford wegen der aggressiven Herausforderung durch Reagan immer mehr nach rechts gedrückt, bis dieser sogar den Punkt erreicht hatte, zu versprechen, das Wort „Detente" nicht mehr zu benutzen. Die soziale Basis dieses von Reagan repräsentierten Neokonservativismus ist — grob gesprochen — bei den Sozialaufsteigern des sogenannten Sunbelts, in den Staaten des Südens, der Rocky Mountains und des Westens zu finden, die nach dem Zweiten Weltkrieg durch neue Rüstungsindustrien und Verlagerung von Massengüterindustrien aus dem Nordosten und Mittelwesten einen rapiden ökonomischen Aufschwung genommen haben. Dazu gehören Facharbeiter ebenso wie Angestellte und Neureiche — im Unterschied zu den Anhängern des traditionellen gemäßigten Republikanismus, die Ford repräsentierte und die eher zum alten Mittelstand und zur Geldaristokratie zählen.
In den frühen Primaries von New Hampshire bis Florida schien Ford sich zunächst von Reagan abzusetzen, erlitt dann aber bittere Niederlagen in North Carolina und Texas.
Ford siegte schließlich in siebzehn, Reagan nur in zehn Vorwahlen, doch hatte Reagan in der Summe mehr Primary-Stimmen gewonnen.
Entscheidend aber war die Zahl der Parteitagsdelegierten, die ein Kandidat auf sich vereinigen konnte: Hier lag der Präsident nach den Vorwahlen knapp vorn: 48 Prozent der Delegierten waren auf ihn, 46 Prozent für Reagan und 6 Prozent hatten sich auf keinen der beiden festgelegt.
Die Entscheidung mußte also auf dem Parteitag in Kansas City fallen. Daß sie knapp zugunsten von Ford ausfiel, hatte folgende Gründe: 1. Ford setzte sein Prestige und seinen Einfluß als amtierender Präsident in jeder Weise ein, um nicht festgelegte Delegierte auf seine Seite zu ziehen. Von der Dinner-Einladung ins Weiße Haus bis zum Blitzbesuch mit der Air Force One irgendwo im Land wurde die volle Klaviatur des Präsidentenamtes gespielt. 2. Dem Präsidenten gelang es, in verschiedenen Staaten die dortigen Parteimaschinen hinter sich zu bringen und dadurch schwankende Delegierte — wie in der Delegation des Staates New York — am überlaufen ins Reagan-Lager zu hindern. 3. Als Reagan seine Chancen noch vor dem Parteitag schwinden sah, setzte er alles auf eine Karte und stellte einer völlig überraschten Öffentlichkeit den liberalen Senator Richard Schweiker (Pennsylvania) als seinen Kandidaten für das Vizepräsidentenamt vor. Durch diesen Schachzug sollten liberale Parteitagsdelegierte aus dem industriellen Nordosten gewonnen werden — eine Fehlkalkulation, wie sich auf dem Parteitag herausstellte, da die Nominierung Schweikers die nicht festgelegte konservative Delegation von Mississippi in das Lager Fords trieb, auf der anderen Seite aber nicht genügend lieberale Delegiertenstimmen gewonnen wurden. 4. Auch der letzte taktische Schachzug Reagans auf dem Parteitag scheiterte. Die Reagan-Anhänger stellten den statutarischen Antrag, jeder Bewerber um das Präsidentenamt solle vor der Abstimmung über die Nominierung seinen Vizepräsidentschaftskandidaten nennen. Gleich wen Ford genannt hätte (wäre dieser Antrag angenommen worden), irgendeine Delegiertengruppe wäre enttäuscht gewesen und hätte ihm ihre Unterstützung entzogen. Selbst wenn diese Delegierten nicht für Reagan gestimmt hätten — so die Strategie —, hätte Ford in der ersten Abstimmung nicht die notwendige absolute Mehrheit erhalten Nach der ersten Abstimmung wären aber auch die neokonservativen Delegierten, die nach den Wahlgesetzen ihrer Einzelstaaten auf Ford verpflichtet waren, frei gewesen, für Reagan zu stimmen. Der statutarische Antrag wurde abgelehnt; damit hatte Ford die Nominierung gewonnen. Am Schluß des Parteitages schien die republikanische Parteieinheit zerrissen. Die Wahlkampfplattform war von den Reagan-Anhängern, die im Programmausschuß eine feste ad-hoc-Fraktion gebildet hatten, geschrieben worden. Obwohl sie eine durchgehende konservative Kritik an der bisherigen Regierung enthielt und hart mit Kissinger ins Gericht ging, hatten Ford und seine Freunde kampflos das Feld geräumt. Durch die Nominierung Fords waren andererseits die Reagan-Delegierten maßlos verbittert. Die Bestellung des erzkonservativen Senators Robert Dole (Kansas)
als Fords Vizepräsidentschaftskandidat war eine Verbeugung gegenüber Reagan und zugleich der Versuch, die Parteieinheit wieder zu kitten Dies gelang in den anschließenden Wochen: Die Reagan-Organisationen in der Republikanischen Partei unterstützten das Präsident Ford Committee. Reagan selbst allerdings verhielt sich bis zum letzten Tag des Wahlkampfes distanziert.
Auch Meldungen nach dem Parteitag, daß die Konservativen u. U. einen eigenen Kandidaten ins Rennen um die Präsidentschaft schikken und damit die Republikanische Partei spalten würden, haben sich nicht bestätigt. Nach der Wahlniederlage Fords gegen Carter ist es auch wahrscheinlicher, daß die Neokonservativen um den Senator Jesse Helms (North Carolina) und den Gouverneur Thompson (New Hamphire) eher versuchen, die Republikanische Partei von innen zu übernehmen als eine dritte (konservative) Partei zu gründen
III. Der Wahlkampf
Abbildung 35
Tabelle 2: Zusammensetzung der Wählerschaft nach PräsidentschaftskandidatenQuelle: Zusammengestellt aas der New York Times vom 4. 11. 1976 (basierend auf 14 836 Umfragen des CBS News Poll am Wahltag)
Tabelle 2: Zusammensetzung der Wählerschaft nach PräsidentschaftskandidatenQuelle: Zusammengestellt aas der New York Times vom 4. 11. 1976 (basierend auf 14 836 Umfragen des CBS News Poll am Wahltag)
Unmittelbar nach dem Demokratischen Parteikonvent lag Carter in Meinungsumfragen weit vorn. Sobald die Republikaner jedoch ihren Kandidaten bestimmt hatten und die Spaltung der Partei notdürftig überwunden worden war, holte Ford so schnell auf, daß Anfang Oktober beide in einem Kopf-an-Kopf-Rennen lagen. Im Unterschied zu allen anderen bisherigen Präsidentschaftswahlen, in denen in regelmäßigen Abständen Umfragen durchgeführt worden waren (seit 1936), lag in diesem Jahr der Anteil derjenigen, die sich nicht für den einen oder anderen Kandidaten entscheiden konnten, außergewöhnlich hoch. Zudem war die Festlegung auf einen Kandidaten oft nur vorübergehend, weil Wähler ihre Meinung ständig änderten. Beides, so will uns scheinen, war ein Ausdruck für die mehrfach erwähnte politische Apathie und Unsicherheit. Hinzu kommt, daß beide Kandidaten sich in ihren politischen Positionen nur geringfügig unterschieden und daß die Medien — allen voran das Fernsehen — so oberflächlich vom Wahlkampf berichteten, daß die tatsächlich vorhandenen politischen Differenzen dem Wähler kaum zu Bewußtsein kommen konnten. Lediglich die drei Fernsehdebatten zwischen Carter und Ford und die Debatte zwischen beiden Vizepräsidentschaftskandidaten hatten eine aufklärende Wirkung in der Weise, daß Demokraten und Republikaner sich ihrer potentiellen Wähler versichern konnten, ohne daß aber nach den Debatten ein größerer Wähleraustausch stattgefunden hätte Durch das neue Wahlkampffinanzierungsgesetz (Federal Election Campaign Act) standen den Kandidaten so wenig Mittel zur Verfügung, daß sie sich nur unzulänglich und anders als bei früheren Präsidentenwahlen über die Medien oder mit eigener publizistischen Werbung direkt an die Wähler wenden konnten. Zwar hat jeder der beiden Kandidaten der großen Parteien 21, 8 Millionen Dollar vom Staat für die Wahlkampffinanzierung erhalten, darüber hinaus durften jedoch keine privaten Mittel aufgewendet werden Dies ist weniger als ein Drittel der Summe, die Nixon in seinem Wahlkampf 1972 auszugeben hatte.
Angesichts dieser Geldknappheit waren beide Kandidaten in diesem Jahr gezwungen, von vornherein auf einen Wahlkampf in den Staa-ten zu verzichten, in denen ihre Aussichten gering waren, und die vorhandenen Mittel in die Staaten fließen zu lassen, die auf der Kippe standen. So hat die Carter-Organisation die Rocky-Mountains-Staaten, die fest in den Neokonservativismus des Sunbelt eingefügt sind und in Präsidentenwahlen republikanisch wählen, kampflos Ford überlassen. Selbst in den Wahlkampf in Kalifornien, einem „target state", wurden nur 350 000 Dollar investiert. Umgekehrt signalisierte bereits die Nominierung von Dole zum Vizepräsidentschaftskandidaten, daß das President Ford Committee
die Heimatregion Carters weitgehend abgeschrieben hatte: Tatsächlich gab es von Seiten Fords während des Wahlkampfes nur den Versuch, durch Blitzbesuche in den Süden Carter zu irritieren und dessen Kräfte und vor allem finanzielle Mittel zu zersplittern. Die Materialschlachten um den Wähler wurden in den Industriestaaten des Nordosten und Mittelwesten geschlagen. Beide Wahlkampforganisationen setzten ihre Mittel überproportional in New York, New Jersey, Pennsylvania, Ohio, Illinois und Wisconsin ein. Hier fiel schließlich auch die Entscheidung.
Der eigentliche Wahlkampf Fords ist — nachdem er die Nominierung seiner Partei nur äußerst knapp gewonnen hatte und seine Organisation sich zunächst in einem desolaten Zustand befand — hervorragend geplant und durchgeführt worden. Wenige Tage nach dem Parteikonvent von Kansas City entließ Ford seinen Wahlkampfmanager Roger C. B. Morton und stellte dafür James A. Baker ein, der sich während des Parteitages als glänzender Organisator und Taktiker hervorgetan hatte und dem Ford die Stimmen mehrerer Delegierter zu verdanken hatte In der ersten Phase des Fordschen Wahlkampfes (von Ende August bis zum 11. Oktober) baute Baker in enger Koordination mit dem Weißen Haus eine effiziente Wahlkampfmaschine auf und sorgte dafür, daß in den Einzelstaaten und im President Ford Committee die Reagan-Organisation integriert wurde. Der Präsident nutzte in dieser Phase voll die Vorteile seines Amtes für die Wahlwerbung aus. Abgesehen von zwei kurzen Wahlkampfreisen -blieb er im Weißen Haus, gab sich staatsmännisch, traf mit ausländischen Besuchern zusammen, unterzeichnete im Rosengarten Gesetze, empfing verschiedene Delegationen. Während Carter durch das Land hetzte, beobachteten die Fernsehkameras in Washington einen verantwortungsbewußten, von seinen Amtspflichten absorbierten und zugleich selbstbewußten und gelassenen Präsidenten, dem zudem allein schon deswegen Sympathien des Mitleids entgegenflogen, weil er in den Meinungsumfragen scheinbar hoffnungslos zurücklag. Kurz bevor diese Taktik sich gegen Ford zu wenden begann, weil er nach dem Vorbild Nixons von 1972 seinen Gegner leerlaufen ließ und sich der Auseinandersetzung entzog, verließ Ford das Weiße Haus. In der zweiten Phase seines Wahlkampfes (12. — 22. Oktober) reiste Ford durch New York, New Jersey, Iowa und Illinois. Aus dem staatsmännischen Präsidenten wurde jetzt ein hemdsärmeliger Präsidentschaftskandidat, der auf seinen Gegner einschlug, auch mal unter die Gürtellinie traf, der aber vor allem den Adressaten seines Wahlkampfes gefunden hatte, von dem er die entscheidenden Stimmen am 2. November erhoffte: Mr. Middle America, dessen Einkommen von der Inflation — und nicht von der Arbeitslosigkeit — bedroht war und der sich nach Steuererleichterungen sehnte. Nach den Planungen seiner Wahlkampftaktiker sollte Ford in dieser Phase mit Carter gleichziehen, um dann in den verbleibenden zehn Tagen einen leichten Vorsprung zu gewinnen. Diese dritte Phase des Wahlkampfes (23. Oktober bis 1. November) war taktisch eine Kombination der ersten und zweiten Phase: Mit allen Insignien seines Amtes ausgerüstet — vom Präsidentenwappen über die Air Force One bis hin zu kreisenden Polizeihubschraubern und Heerscharen von Sicherheitsbeamten auf den für die Autoeskorte freigehaltenen Straßen — kämpfte Ford, ohne sich einen Tag Ruhe zu gönnen, in fast hundert Städten und in den heiß umkämpften Staaten, verzichtete dabei weitgehend auf persönliche Angriffe gegen Carter, zeigte sich von seiner besten Seite und gab sich staatsmännisch wie Kaiser Wilhelm II. bei einem Besuch in der Provinz.
Im Unterschied zu Fords Kampagne war Carters Wahlkampf schlecht geplant, desorgani-siert und hektisch, vieles blieb dem Zufall überlassen. Schien der Auftakt mit einer Rede am Labor Day (6. September) in Warm Springs (Georgia), der Sommerfrische Franklin D. Roosevelts, noch vielversprechend und bewußt an die Wählergruppen gerichtet, die die alte New-Deal-Koalition ausgemacht hatten, so suchte Carter anschließend seinen Gegner zu provozieren und aus dem Weißen Haus herauszulocken. Später konnte Carter auf die Angriffe Fords in dessen zweiter Wahlkampf-phase nur noch passiv reagieren, um schließlich in letzter Not auf Stil und Rethorik seines Vorwahlkampfes zurückzufallen und dadurch die Wahlen doch noch knapp zu gewinnen. In diesem Wahlkampf zeigte sich, wie unerfahren Carter und seine Berater noch in der nationalen Politik waren. Hatten sie sich in den Vorwahlen auf jeweils nur einen Staat konzentrieren müssen, so hätte jetzt ein das ganze Land umfassender Wahlkampf geplant werden müssen. Allein aus der Tatsache, daß Carters Hauptquartier in Atlanta (Georgia) blieb — Symbol der Stimmung gegen den Leviathan am Potomac —, ergaben sich Koordinationsprobleme mit dem Democratic National Committee, den Gewerkschaften, den demokratischen Kongreßmitgliedern, den Verbänden der Schwarzen und anderen Minoritäten (alle in Washington angesiedelt) und selbst mit den demokratischen Organisationen in den Einzelstaaten. Die dringend notwendige Unterstützung durch die AFL-CIO, ihr Committee On Political Education (COPE) und durch die vielen Einzelgewerkschaften hatte Carter Anfang Juli dadurch gefährdet, weil er beinahe den Sprecher der Labor Coalition, Bill Holayerter von den Maschinisten — der von der Mehrheit der Gewerkschaften wegen seiner und der Koalition politischer Tätigkeit in den Vorwahlen mißtrauisch beargwöhnt worden war — zu seinem Verbindungsmann zu den Gewerkschaften ernannt hätte Carters Verbindungsmann zu den demokratischen Kongreßabgeordneten, von denen man in einigen Wahlkreisen und Staaten Hilfe im Wahlkampf erhoffen konnte, erwies sich als unfähig. Im Vergleich zu der in letzter Minute noch zusammengesetzten, dann
aber gut geölt laufenden und von den Professionellen des Weißen Hauses bedienten Wahlkampforganisationen Fords, schien Carters Wahlkampfmaschine auf halbem Weg zwischen Plains und Washington festgefahren zu sein.
Trotz dieser Unzulänglichkeiten hatte die Carter-Organisation gegenüber Ford einen entscheidenden Vorteil: Nicht nur, daß sich mehr Wähler den Demokraten als den Republi-kauern zurechnen sondern die alte New-Deal-Koalition in der Demokratischen Partei enthält auch heute noch bestimmte Organisationsmomente, die in der Republikanischen Partei fehlen. Dies sind die Gewerkschaften, Organisationen der schwarzen Minorität und demokratische Patronagemaschinen in einigen Großstädten. Nach dem neuen Wahlkampffinanzierungsgesetz konnten diese Organisationen einen Präsidentschaftskandidaten zwar nicht mehr direkt durch Spenden und Abstellen hauptamtlicher Wahlhelfer unterstützen, wohl aber indirekt durch entsprechende politische Beeinflussung der eigenen Mitglieder oder Anhänger und dadurch, daß neue Wähler dazu gebracht wurden, sich registrieren zu lassen und an die Wahlurne zu gehen.
Aus Forschungen über die Rolle der Gewerkschaften in der amerikanischen Politik ist bekannt, daß die Arbeiterorganisationen ihre Mitglieder nicht einfach auf einen bestimmten politischen Kandidaten festlegen können. Gleichwohl haben Gewerkschaftsmitglieder immer dann, wenn ein geeigneter Kandidat, ein „Freund der Arbeiterbewegung" da war, überproportional für diesen gestimmt. In diesem Jahr waren die AFL-CIO und die vielen Einzelgewerkschaften keineswegs über die Nominierung Carters begeistert, dem sie als Südstaatler Mißtrauen entgegenbrachten und der in einigen für die Gewerkschaften zentralen Fragen — wie der der Abschaffung der „Right-to-work" -Gesetze — geschwankt hatte. Im Vergleich zu Ford galt Carter aber eindeutig als das kleinere Übel. Fords Wirtschaftspolitik hatte zu einer so hohen Arbeitslosigkeit geführt, daß die Macht der Gewerkschaften am Tarifverhandlungstisch und bei Streiks bedroht wurde. Und Ford hatte auf Druck der amerikanischen Handelskammer und des Unternehmerverbandes National Association of Manufacturers (NAM) sowie trotz vorheriger Versprechungen und Bekundungen gegen ein Gesetz sein Veto eingelegt, das die zersplitterten Baugewerkschaften im Streikfall gestärkt hätte Damit standen alle Gewerkschaften und zum ersten Mal auch die sonst den Republikanern zuneigenden Bauarbeiter hinter dem demokratischen Kandidaten. Lediglich die Transportarbeiter blieben neutral. Die Labor Coalition hatte sich nach dem Demokratischen Parteitag aufgelöst und war institutionell in den gewerkschaftlichen Hauptstrom zurückgekehrt. Dieses Jahr sah daher eine der größten Registrierungskampagnen der Gewerkschaften, die mit modernen elektronischen Hilfsmitteln arbeitend über 80 Millionen Briefe und Broschüren versandten Im hart umkämpften Ohio versuchte die dortige AFL-CIO-Landesorganisation, 500 000 neue Wähler zu registrieren. 3 000 freiwillige Gewerkschaftsmitglieder richteten am Wahltag einen Wahlschleppdienst ein.
Unterstützt von den Gewerkschaften und vom Democratic National Committee war eine Koalition schwarzer Organisationen, allen voran das Randolph Institut der AFL-CIO, bemüht, die Schwarzen in den Städten und im Süden zu registrieren Auch der Black Caucus im Kongreß, die Gruppe schwarzer Bundesparlamentarier, und Coretta King beteiligten sich an der Kampagne. Allein in den Südstaaten sind unter den Schlagworten „Operation Big Vote” und „Wake Up, Black America" vermutlich über 500 000 Schwarze neu registriert worden.
Bereits während des Demokratischen Parteitages hatten sich mehrere demokratische Bürgermeister aus Großstädten informell abgesprochen, Carter durch Registrierungskam-pagnen in ihren Kommunen zu helfen. Von einer Präsidentschaft Carters erhofften sich viele Bürgermeister Bundesmittel zur Rettung ihrer im Slum untergehenden Städte, zumal Ford das vom Bankrott bedrohte New. York fast hätte zugrunde gehen lassen. Am auffälligsten während des Wahlkampfes — und für Carter vielleicht am peinlichsten — war die Hilfe von der korrupten Parteimaschine des Bürgermeisters Daley von Chikago.
Allein in den Staaten Kalifornien, Ohio, Illinois, New York, Pennsylvania und Texas haben die Gewerkschaften, die Koalition schwarzer Organisationen und das Democratic vier Millionen DollarNational Committee für die Wählerregistrierung ausgegeben Sie sind — wie auch das Wahlergebnis zeigte — zu Recht davon ausgegangen, daß politische Apathie und Wahlabstinenz noch ernster zu nehmen seien als der republikanische Präsidentschaftskandidat. Es war die Aufgabe des demokratischen Vizepräsidentschaftskandidaten, diese Gruppen für Carter zu gewinnen: Mondale sprach im Wahlkampf vor Gewerkschaftlern, Arbeitslosen, Angehörigen der Minoritäten und lokalen städtischen Parteiverbänden. Er bildete gleichsam das Scharnier zwischen neuem Süden und alter New-Deal-Koalition
Das President Ford Committee vermochte sich auf einige intakte lokale und regionale Republikanische Parteiorganisationen zu stützen, doch konnte der organisatorischen Stärke der Gewerkschaften, der Minoritäten und selbst der Städte nichts Vergleichbares entge-gengesetzt werden. Vor Registrierungskampagnen mußte die Ford-Organisation (wie in privaten Gesprächen von Mitarbeitern des Weißen Hauses auch zugestanden wurde) zurückschrecken, da jede Erhöhung der Wahlbeteiligung aufgrund der Sozialstruktur demokratischer und republikanischer Wähler fast automatisch die Chancen Carters erhöhten. Farmer-Organisationen und andere Verbände gaben in diesem Jahr nur an Kongreßkandidaten Spenden. Nach den Watergate-Aufdeckungen und durch die scharfen Regelungen des Federal Election Campaign Act
kam auch von den Unternehmern und ihren politischen Aktionskomitees kaum Hilfe Trotz eines glänzend geplanten und durchgeführten Wahlkampfes war also der republikanische Kandidat organisatorisch in diesem Jahr eindeutig im Nachteil.
Läßt man die Rhetorik und die Emotionen des Wahlkampfes beiseite, dann zeigt sich, daß beide Kandidaten sich in ihren politischen Auffassungen nicht wesentlich voneinander unterschieden haben. Während einige Themen überhaupt nicht oder nur beiläufig erwähnt worden sind — Bildung und Erziehung, Bürgerrechte, Büsing (Transport von schwarzen Kindern von einem Schulbezirk in den anderen, um auf diese Weise zur Chancen-gleichheit im Bildungssystem beizutragen) —, waren Differenzen in der Außen-und Verteidigungspolitik minimal Konturen eines unterschiedlichen Staats-und Gesellschaftsverständnisses wurden — und dies in der Tradition der beiden großen amerikanischen Parteien — am ehesten in der Wirtschaftsund Finanzpolitik, an den Problemen von Inflation, Arbeitslosigkeit und Steuerreform erkennbar. Während Carter der Beseitigung der Arbeitslosigkeit die Priorität zuerkannte und Inflationseindämmung hinter diesem Ziel zurücktrat, stand für Ford das Inflationsproblem im Vordergrund. Während Ford Steuererleichterungen für die mittleren Einkommens-gruppen befürwortete, setzte Carter sich für die Rücknahme ungerechtfertigter Steuervorteile für Großverdiener und Großkorporationen ein und deutete verschiedentlich an, mit Hilfe der Steuergesetzgebung eine Umverteilung des Reichtums anstreben zu wollen. Carter machte klar, staatliche Steuerungsinstrumente zur Durchsetzung wirtschafts-und sozialpolitischer Ziele aktiv und reformerisch einsetzen zu wollen. Ford hingegen lehnte jprinzipiell den staatlichen Eingriff in die Ökonomie und Gesellschaft ab, da das freie Spiel der Kräfte auf dem Markt angeblich noch so funktioniere, daß das Allgemeinwohl realisiert werde. Nicht zufällig hat Carter in seinen Wahlreden immer wieder an die Sozialprogramme F. D. Roosevelts, Harry Trumans und Lyndon B. Johnsons erinnert während für Ford das Vorbild Dwight D. Eisenhower hieß. Dabei haben beide Kandidaten, der amtierende Präsident ebenso wie der Demokrat, gegen eine zu starke Bundesregierung agitiert
Die tatsächlich vorhandenen politischen Unterschiede zwischen den Kandidaten sind den Wählern — aus schon genannten Gründen — kaum bewußt gemacht worden Der Wahlkampf blieb letztlich personalistisch auf die beiden Kandidaten als Individuen verkürzt, gefördert durch die Meinungsforscher, Werbeagenten und Imagemaker beider Lager. Sich einander ergänzend, berichteten nach der Wahl die Meinungsforscher beider Seiten, Teeter und Cadell, wo die Schwächen Fords und Carters in der Wählerperzeption gelegen hätten. Das Hauptproblem für Carter sei gewesen, daß viele in seiner schillernden Persönlichkeit ein Risiko gesehen hätten, Ford hingegen habe Vertrauen ausgestrahlt. Umgekehrt habe das Problem für Ford darin gelegen, daß er als intellektuell beschränkt und inkompetent für das Präsidentenamt, Carter hingegen als intelligent und kompetent perzipiert wurde. Allerdings habe weder der eine noch der andere starke Sympathien oder Antipathien erweckt, so daß die Identifikation mit ihnen schwer gefallen sei.
In einem derart personalisierten Wahlkampf mußten Fehler, die den Kandidaten unterliefen, besonders schwer wiegen. Vorübergehend konnte man den Eindruck gewinnen, der Wahlkampf der Kandidaten beschränke sich darauf, eigene Fehler zu vermeiden und die des Opponenten auszuschlachten — gewählt wird, wer die wenigsten Fehler macht Zu den Fehlern, die die Wogen hochgehen ließen, gehörten bei Carter:
1. Die Tatsache, daß er (als frommer Baptist!) im sonst so prüden Amerika einem „pornographischen Magazin" ein Interview gegeben, dabei über „Lust" und „Ehebruch in Gedanken" gesprochen und außerdem zwei milde Kraftausdrücke benutzt hatte. Im gleichen Interview hatte Carter zudem Johnson mit Nixon auf eine Stufe gestellt, weil dieser wie jener gelogen, betrogen und die Wahrheit verdreht habe. Die übrigen Teile des Interviews, in denen Carter ausführlich seine politischen Auffassungen dargelegt hatte, wurden von der Presse totgeschwiegen.
2. In einem bald modifizierten Interview mit AP hatte Carter — offensichtlich die Welt fundamentalistisch-naiv in Gut und Böse teilend — gefordert, alle diejenigen müssen höher besteuert werden, die mehr als ein durchschnittliches Einkommen verdienten, und damit den alten und neuen Mittelstand vor den Kopf gestoßen. 3. Noch unerfahren in diplomatischen Formulierungen hatte Carter in der dritten Fernsehdebatte erklärt, als Präsident werde er keine amerikanischen Truppen in Jugoslawien einsetzen, falls nach dem Tod Titos die Sowjetunion interveniere.
Die beiden Hauptfehler Fords waren:
1. Landwirtschaftsminister Earl Butz hatte der Zeitschrift „Rolling Stones" nach dem Parteikonvent von Kansas City cm Interview gegeben und dabei abfällige rassistische Bemerkungen gegen die Schwarzen gemerkt. Als dies bekannt wurde, zögerte Ford, seinen Minister zu entlassen, ließ zunächst Meinungsumfragen einholen, bis es zu spät war und die Angelegenheit sich zum Skandal ausgeweitet hatte. Der Präsident hinterließ den Eindruck, als sei er unfähig, schnell die richtige Entscheidung (nämlich die sofortige Entlassung Butz’) zu treffen.
2. In der zweiten Fernsehdebatte beharrte Ford auch auf Nachfragen darauf, daß Osteuropa nicht von der Sowjetunion beherrscht werde. Die meisten Kommentatoren glaubten, daß der Präsident sich versprochen hatte, wenn der Versprecher auch möglicherweise in der Doppelbödigkeit amerikanischer Detentepolitik angelegt gewesen sei Hatte Ford damit schon die osteuropäischen Einwanderer, um deren Stimmen er gerade besonders warb, und den Reagan-Flügel seiner eigenen Partei verprellt, so wurden auch die intellektuellen Fähigkeiten des Präsidenten zunehmend in Frage gestellt.
Diese Fehler, die Ford und Carter persönlich angelastet wurden, haben den Wahlausgang beeinflußt; sie erklären u. a. auch das Auf und Ab in den Meinungsbefragungen. Die große Bedeutung, die ihnen allgemein zugewiesen wurde, ist Ausdruck für die Personalisierung, damit aber auch für die Entpolitisierung des Wahlkampfes und letztlich auch für die schon mehrfach angesprochene politische Apathie, die das Jahr 1976 charakterisiert hat.
IV. Wahlergebnis und Ausblick: Jimmy Carter neuer Präsident
Wie erwartet, war das Wahlergebnis knapp (vgl. Tabelle 1). Carter gewann 51 Prozent der abgegebenen Stimmen, Ford 48 Prozent, 1 Prozent entfiel auf andere Kandidaten, meist dritter Parteien darunter allerdings der Hauptanteil auf den parteilosen Eugene McCarthy. Carter hatte einen Vorsprung von fast 3 Millionen Stimmen vor Ford. Doch die amerikanische Verfassung sieht nicht die direkte und unmittelbare Wahl des Präsidenten durch das Volk, sondern durch ein Wahlmännergremium (electoral College) vor. Jeder Staat entsendet in dieses Gremium so viele Wahlmänner, wie er Mitglieder im Kongreß — also Repräsentanten und Senatoren zusammen — hat. Die Wahlmänner eines Staates werden jedoch nicht proportional zu den abgegebenen Popularstimmen auf die Präsidentschaftskandidaten festgelegt, sondern dem Präsidentschaftskandidaten, der die meisten Popularstimmen erreicht (und sei es auch nur eine Stimme mehr als der Konkurrent) werden alle Wahlmännerstimmen dieses Staates zugesprochen (winner-take-all) Aufgrund dieses (einem Mehrheitswahlsystem auf der Basis von Einzelstaaten ähnelnden) Verfahrens hat Carter im Electoral College eine Mehrheit von 297 zu 241 (notwendige absolute Mehrheit: 270) Stimmen erreicht. Dies ist trotz des relativ großen Vorsprungs an Popularstimmen, der erheblich größer ist als der Kennedys über Nixon 1960 und der Nixons über Humphrey 1968, die knappste Mehrheit im Wahlmännerkollegium, die es seit der Wahl Wilsons 1916 gegeben hat. Theoretisch ist es durchaus denkbar, daß ein Kandidat im Electoral College gewinnt, ohne eine Mehrheit an Popularstimmen erhalten zu haben. Hätten z. B. in Ohio und Hawaii jeweils nur 4 000 Wähler für Ford statt für Carter bestimmt, wären die Wahlmännerstimmen dieser Staaten an Ford gefallen und dieser wäre mit 270 zu 268 Stimmen im Electoral College Präsident geworden. Dieses Zahlenspiel verdeutlicht, wie reformbedürftig das Wahlverfahren für die Präsidentenwahl ist: Gerald Ford, der erste amerikanische Vizepräsident, der ohne Nominierung durch seine Partei und ohne gewählt worden zu sein 1974 ins Präsidentenamt aufgerückt war, bliebe in dem von uns konstruierten Fall auch nach der Präsidentenwahl ohne Legitimation durch eine Mehrheit der Wähler. Andererseits hätte Carter im Wahlmännergremium voraussichtlich eine Mehrheit von 323 zu 215 Stimmen erhalten, wenn Eugene McCarthy, der Wähler vom demokratischen Präsidentschaftskandidaten abzog, in Iowa, Maine, Oklahoma und Oregon — die knapp an Ford fielen — nicht kandidiert hätte.
Die Entscheidung ist in den im Wahlkampf heiß umstrittenen Industriestaaten des Nordosten gefallen, in New York, Pennsylvania und Ohio. Analysiert man die soziale Zusammensetzung der Wähler, die für Carter gestimmt haben (vgl. Tabelle 2), so zeigt sich, daß es den Demokraten gelungen ist, die alte New-Deal-Koalition (wenn auch mit einigen Modifikationen) nach der Niederlage von 1972 wieder zusammenzufügen, überproportional für Carter haben gestimmt: Schwarze und andere Minoritäten, Arbeiter, Mitglieder unterer Einkommensgruppen, Großstadtbewohner, Katholiken und Juden. Eine leichte Modifikation der traditionellen demokratischen Wählermehrheit ergab sich dadurch, daß für den Baptisten Carter im Vergleich zu früheren Präsidentenwahlen mehr Protestanten, aber weniger'Katholiken stimmten. Regional hat es zum ersten Mal bei amerikanischen Präsidentenwahlen eine Trennung zwischen Ost und West gegeben: Der Süden, die „Grenzstaaten" (Border States) zwischen Süden und Norden und der Nordosten fielen an Carter, der Mittelwesten und Westen an Ford. Die Wahlbeteiligung war gering und erreichte mit 53, 3 Prozent der möglichen Wähler einen neuen Tiefpunkt.
Was ist von der Präsidentschaft Jimmy Carters zu erwarten? Ein Blick auf die Biographie und Persönlichkeit des Mannes, dessen Namen vor einem Jahr die meisten Amerikaner noch nicht kannten — „Jimmy Who?" lautete die überraschte Frage vieler in den ersten Vorwahlen — und der in Europa wohl noch heute Rätsel aufgibt, mag einige Hinweise geben Es wäre ein großes Mißverständnis und zeugte nur von unserer eigenen Unwissenheit und Naivität, wollte man glauben, allein ein breit-blitzendes Lächeln, baptistischeifernder Missionarismus und die Bauernschläue eines Erdnußfarmers aus dem Süden hätten diesen Mann ins Weiße Haus gebracht. Carter, 1924 in Plains, im ländlichen Süden Georgias geboren und aufgewachsen, besuchte mit 19 Jahren die Marine-Akademie in Anna-polis, studierte Ingenieurwissenschaften'und Atomphysik und war an der Entwicklung des ersten amerikanischen Atom-U-Bootes beteiligt. Als Marineoffizier kam er in der Welt herum. Nach dem Tod seines Vaters kehrte er 1953 nach Plains zurück und entwickelte die elterliche Farm zu einem profitablen Agrarunternehmen. Schon bald in der Kommunalpolitik tätig, wurde er 1962 in den Senat von Georgia gewählt. Nach einem erfolglosen Anlauf 1966 wurde er schließlich 1970 Gouverneur seines Heimatstaates. Seinen damaligen Wahlkampf hatte Carter ganz in der populistischen Tradition „gegen Atlanta" gerichtet, Sitz der Landesregierung, der Banken, der Industrie, der Großunternehmen, städtisches Sündenbabel zudem — die Parallele zu 1976 liegt auf der Hand.
Aus der Amtszeit Carters sind zwei Dinge hervorzuheben: Der Gouverneur hat mehr zur politischen und sozialen Gleichstellung der Schwarzen beigetragen als jeder seiner Vorgänger. Und er hat die Landesregierung reorganisiert, bürokratischen Leerlauf verringert. Von unabhängigen, hochqualifizierten Fachleuten beraten, hat Carter sich sowohl gegen das Landesparlament, mit dem er fast während seiner ganzen Amtszeit im Kampf lag, als auch gegen jene durchgesetzt, die — wie Lester Maddox — den alten rassistischen Süden symbolisierten. In seiner Regierungszeit wie im Wahlkampf zeigten sich jene Attribute der Carterschen Persönlichkeit, die häufig übersehen werden: intelligent, selbstbewußt, ausdauernd, diszipliniert, zuweilen hartnäckig bis zur Kompromißlosigkeit. Einige Konturen der Carter-Präsidentschaft lassen sich an jenem Personenkreis ablesen, der bisher einen Teil der engsten Berater stellte oder der im Zusammenhang mit der Regierungsbildung genannt wird. Neben der „Georgia-Maffia", also jenen Helfern, die vom ersten Tag des Wahlkampfes im Januar 1975 an dabei waren und von denen einige im persönlichen Stab des Präsidenten wiederzufinden sein werden, werden als einflußreichste informelle Berater vier Namen genannt: George Meany (Vorsitzender der AFL-CIO), Leonard Woodcock (Vorsitzender der UAW) Andrew Young (schwarzer Kongreßabgeordneter aus Atlanta) und Thomas Bradley (schwarzer Bürgermeister von Los Angeles). Diese vier Männer repräsentieren gleichsam die New-Deal-Koalition; sie könnten auch Hinweis darauf sein, daß Carter bewußt an die Sozialprogramme Franklin D. Roosevelts und Lyndon B. Johnsons anschließen wird. Diese Vermutung wird auch dadurch bestätigt, daß Carters engster Berater in Wirtschaftsfragen, Lawrence R. Klein (University of Pennsylvania), Keynesianer ist. Es ist auch zu erwarten, daß Carter Schwarze und Frauen stärker als bisher in die Regierungsgeschäfte einbeziehen wird: Der Name von Barbara Jordan, brilliante Kongreßabgeordnete aus Texas und auf dem Demokratischen Parteikonvent in New York durch eine mitreißende programmatische Rede hervorgetreten, könnte Mitglied des Kabinetts werden. Zu Anwärtern auf Positionen im außen-und verteidigungspolitischen Bereich werden Cyrus Vance (ehemaliger Unterstaatssekretär im Verteidigungsministerium), James Schlesinger (Republikaner und von Ford entlassener Verteidigungsminister)
und Zbigniew Brzezinski (Columbia University) gezählt.
Die wenigen hier genannten Namen zeigen bereits, wie sehr Carter in die herkömmliche amerikanische Politik integriert und wie wenig von der einstigen Anti-Washinglon-Attitüde geblieben ist. Zugleich wird aber auch das Selbstbewußtsein Carters erkennbar, sich mit selbständigen und profilierten Politikern zu umgeben. Wir nehmen deswegen auch an, daß unter Carter das Kabinett eine größere Rolle spielen wird als unter Nixon und Ford, daß die einzelnen Minister politisch selbständiger sein werden.
In der Carter-Präsidentschaft wird voraussichtlich die Innenpolitik im Vordergrund stehen. Priorität hat die Bekämpfung der Arbeitslosigkeit, die Senkung der Arbeitslosenquote von 7, 9 Prozent (Oktober 1976) auf 5 Prozent. Offen ist noch, ob dieses Ziel durch staatliche Arbeitsbeschaffungsprogramme und direkte öffentliche Investitionen oder indirekt über Steuerkürzungen oder durch eine Kombination beider Möglichkeiten erreicht werden soll. Carter hat zudem im Wahlkampf angekündigt und den Gewerkschaften, den Organisationen der Schwarzen und den Bürgermeistern der Großstädte sein Wort gegeben, daß er in das chaotische Durcheinander des Wohlfahrtssystems Ordnung bringen und ein nationales Krankenversicherungssystem anstreben werde. Oben in der Prioritätenliste steht ebenfalls die Reorganisation der Bundesregierung. Es bleibt abzuwarten, inwieweit der neue Präsident in der Innen-, Wirtschaftsund Sozialpolitik mit dem Kongreß zu kooperieren vermag Außen-und verteidigungspolitisch wird es nur geringe Veränderungen geben, „Kontinuität" heißt hier — so Carter auf seiner ersten Pressekonferenz nach seinem Wahlsieg — die Parole. Es mag sein, daß das Verhältnis zur Sowjetunion nicht mehr im Mittelpunkt stehen und dafür eine Verbesserung der Verbindungen zu den Alliierten und zu einigen Ländern der Dritten Welt angestrebt wird.
Peter Lösche, Dr. phil., geb. 1939 in Berlin; Studium der Politikwissenschaft, Geschichte und Geographie in Berlin, Göttingen und den Vereinigten Staaten; Lehrtätigkeit an der Freien Universität Berlin, den Universitäten Braunschweig und Hamburg und in den Vereinigten Staaten; 1969/70 Kennedy Memorial Fellow an der Harvard University, Cambridge, Mass.; seit 1973 Professor für Politikwissenschaft an der Universität Göttingen. Veröffentlichungen u. a.: Der Bolschewismus im Urteil der deutschen Sozialdemokratie 1903— 1920, Berlin 1967; Rätesystem im historischen Vergleich, in: PVS 11 (1970), Sonderheft 2; Stages in the Evolution of the German Labor Movement, in: A. Sturmthai und J. G. Scoville (Hrsg.), The International Labor Movement, Urbana, Chikago und London 1973; Arbeiterbewegung und New Deal, in: H. A. Winkler (Hrsg.), Die große Krise in Amerika. Vergleichende Studien zur politischen Sozialgeschichte 1929— 1939, Göttingen 1973; Anarchismus — Versuch einer Definition und historischen Typologie, in: PVS 15 (1974); Industriegewerkschaften im organisierten Kapitalismus. Der CIO in der Roosevelt-Ära, Opladen 1974; Watergate — Einige Überlegungen zur Krise des amerikanischen Regierungssystems, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, B 21/75.
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