I. Problemaufriß
Demokratisierung, die „universalste gesellschaftliche Forderung unserer Zeit
Von der methodischen Argumentationsebene hebt sich diejenige ab, die Demokratie als Mittel und Ziel zugleich begreift, nämlich Aufhebung der Herrschaft und Selbstbestimmung in allen gesellschaftlichen Bereichen zu verwirklichen. Es wird primär nicht nach dem adäquaten oder stabilen Funktionieren der Demokratie gefragt, sondern danach, wie die Gesellschaft durch Demokratisierung in allen ihren Lebensbereichen von politischen, wirtschaftlichen und sozialen Zwängen zu befreien ist. Die Formalisierung der Demokratie als eines „Sets von Spielregeln" wird zugunsten der „Idee der Herrschaft des Volkes“ abgelehnt. Denn „Demokratie arbeitet an der Selbstbestimmung der Menschheit, und erst wenn diese wirklich ist, ist jene wahr“
Demokratie „als geschichtlichen Prozeß" zu begreifen, die „nicht unter beliebigen gesellschaftlichen Voraussetzungen möglich"
Die Ansätze, Demokratisierung als Methode oder aber als Mittel/Ziel zu erfassen, gehen von der Prämisse aus, daß alle Menschen gleich sind. Dieser Egalitätsgedanke dient als Fixpunkt für die verschiedenen Konzeptionen, soziale Gleichheit zu postulieren, in Annäherung zu bringen bzw. erreichen zu wollen. Um ein Mehr an Gleichheit zu verwirklichen, wurden unterschiedliche Strategien zur Demokratisierung der Gesellschaft entwickelt. Dabei gewinnt die Frage, ob eine Annäherung an das Ziel der Gleichheit eine Leistungssteigerung oder wenigstens eine Leistungserhaltung der Gesamtgesellschaft bringt, an kardinaler Bedeutung. Deshalb analysiere ich im folgenden einige Gleichheitskonzeptionen und konfrontiere sie dann mit dem Problem der Leistung, um herauszuarbeiten, welches Leistungspotential durch ein Mehr an Gleichheit erreicht werden kann.
Der dem Frühliberalismus entstammende, ökonomisch begründete Leistungsgedanke pervertiert die im Humanismus entwickelte Gleichheitsforderung; Gleichheit als sittlicher Wert der Gesellschaft verstanden, beinhaltet das Recht und auch die Pflicht, an allen gesellschaftlichen Entscheidungen mitzuwirken. Ohne die bestehenden Eigentumsverhältnisse grundlegend verändern zu müssen, läßt sich Gleichheit im gesellschaftlichen Bereich durch vermehrte Partizipation in den Entscheidungszentren in Annäherung erreichen. Verläßt man den weithin praktizierten Grundsatz, daß Entscheidungsträger ihre Befugnisse auf Dauer übertragen bekommen zugunsten eines Rotationsprinzips, so erhöht sich durch ein solches Verfahren das Entscheidungspotential. Dieser gangbare Weg, den ich als Fortentwicklung bestehender gesellschaftlicher Strukturen in der Bundesrepublik konzipiere, zielt auf Herrschaftsveränderung, nicht aber auf die illusionäre Aufhebung jeglicher Herrschaft.
In einer so gegliederten inhaltlichen Erörterung bedarf es zuvor der Klärung der Begriffe . Demokratisierung'und . Partizipation'.
II. Begriffliche Klärung
Hinter der sprachlichen Ungenauigkeit des Begriffs Demokratisierung verbirgt sich ein reales Erleben des Menschen: „Nachdem der notwendige Lebensbedarf gesichert, ist das nächst stärkste persönliche Bedürfnis unter den menschlichen Dingen die Freiheit."
Ausgehend von der Wortbedeutung beinhaltet Demokratisierung, die Herrschaft des Volkes in Gang zu setzen. Diese im Wort enthaltene Prozeßhaftigkeit intendiert ein dynamisches und damit veränderndes Element. Daher werden bestehende Demokratien als formal oder nur im politischen Bereich wirksam angesehen. Helmut Schelsky macht in der Demokratisierung deshalb eine „Strategie der Systemüberwindung"
Um die Antinomie von „bürgerlicher" und „sozialistischer" Demokratie zu überwinden, modelliert Anton Pelinka eine „dynamische Demokratie"; „ihrem Wesen nach unfertig", richtet sie „sich gegen jede Form gesellschaftlicher Stabilisierung"
Der oszillierende Begriff der Demokratisierung birgt in sich Programm und Ideologie zugleich — selbst dann, wenn eine „Demokratisierung ohne Dogma"
Ulrich von Alemann hat darauf hingewiesen, daß im Begriffsfeld der Demokratisierung auch Partizipation, Mitbestimmung, Mitwirkung, Selbstbestimmung, Selbstverantwortung, Autonomie etc. auftauchen und häufig synonym verwandt werden. Er unterscheidet die Begriffe zunächst nach Ziel und Mittel. „Reale, inhaltliche, direkte Demokratie: dies sind am deutlichsten Zielwerte, wenn auch für sich vage genug."
Um den inhaltsvagen Begriff der Demokratisierung zu klären, zerlegt Ulrich Lohmar Demokratisierung in Funktionen; er unterscheidet dabei u. a.: a) Chancengleichheit. Demokratie begreift sich so lange als dynamisch, bis „der rechtlichen Garantierung auch die faktische Ermöglichung von gleichen Entwicklungschancen in allen gesellschaftlichen Bereichen" entspricht. b) Partizipation. „In dem Begriff der Chancen-gleichheit ist zugleich die wachsende Teilnahme an allen gesellschaftlichen und politischen Prozessen, insbesondere Entscheidungsvorgängen, involviert." c) Mobilität. Permanente Reform als Wesenszug jeder Demokratie bedeutet im Institutioneilen ständig fluktuierende Funktionseliten, was entsprechende Dispositionen im personellen Bereich voraussetzt. d) Transparenz. „Voraussetzung für die Realisierbarkeit aller bisherigen und der meisten weiteren Kriterien ist eine maximale Transparenz politischer Prozesse, vor allem der Entscheidungen vorbereitenden." e) Kontrolle. Im wesentlichen geschieht Demokratisierung durch Kontrolle der institutionalisierten Organe. Kontrolle wird notwendigerweise durch den Wähler ergänzt, der „ein waches Bewußtsein für Machtmißbrauch und für seine Verantwortlichkeit in der Ausübung von Kontrollfunktionen" besitzt
Lohmars Subordination der Partizipation erscheint problematisch, da sie mit Demokratisierung eher in Konkurrenz zu sehen ist. Denn Partizipation bedeutet im ursprünglichen Wortsinn Teilnahme oder Teilhabe an irgend etwas, ohne zu implizieren, daß eine solche Teilnahme auch die Ebene des Mitbestimmens einschließen muß. Partizipation beinhaltet damit stärker eine passive Komponente, wohingegen Mitbestimmung eine aktive betont. Partizipation und Mitbestimmung beinhalten nicht — wie die Demokratisierung — eine Globalforderung nach Herrschaft des Volkes, sondern begnügen sich mit der Teilhabe am bestehenden Herrschaftssystem; sie wirken damit integrativ und systemstabilisierend. In dem Maße aber, in dem Teilnahme in formal-demokratisch strukturierten Systemen stattfindet, läßt sich eine Differenzierung von Partizipation und Mitbestimmung kaum noch aufrechterhalten, weil der originäre Anspruch der Demokratie — alle Menschen sind gleich — eine Teilnahme ohne Mitbestimmung schwerlich zuläßt.
In der klassischen Demokratietheorie wird Partizipation deshalb stets unter dem Anspruch der Selbstbestimmung formuliert
Ausgespart in Eckerts Begriffsbestimmung bleibt der ökonomische Sektor. Ohne ihn aber ist eine umfassende Definition der Partizipation nicht möglich. Partizipation im ökonomi-sehen Bereich wird heute in der Bundesrepublik vorwiegend mit dem Begriff „Mitbestimmung"
Anders der Anspruch der Demokratisierung; sie soll der gesamten sozialen Struktur, einschließlich ihrer Subsysteme, eine bestimmte Legitimität geben: eine solche, die sich ausschließlich aus dem Willen des gesamten Volkes herleitet. Damit wirkt Demokratisierung auch von ihrem Legitimitätsanspruch her revolutionär. Partizipatipn unterscheidet sich somit von Demokratisierung in ihrem Anspruch an die Gesellschaft. Sie will in der bestehenden Demokratie die Möglichkeit zur Teilnahme an Entscheidungsprozessen erweitern, akzeptiert aber die unterschiedlichen Struktur-muster der gesellschaftlichen Subsysteme. Sie parallelisiert nicht die Entwicklung in den Subsystemen, sondern überläßt diese der sozialverantwortlichen Entfaltung ihrer Mitglieder.
III. Das Prinzip der Egalität
Man hat wiederholt betont, daß die Losungsworte der Französischen Revolution — Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit — nach und nach realisiert werden. Nach dem Kampf um Freiheit steht heute die Gleichheit im Feuer heftiger Kontroversen. Carl Joachim Friedrich hat darauf hingewiesen, daß es für „gleich" keine Steigerung gibt: „Zwar läßt Gleichheit keine Vergleiche zu . . . Und doch ist zuzugeben, daß es ein Mehr oder Weniger an Gleichheit geben kann. So sagt man etwa, daß die Neger heute in den Vereinigten Staaten ein größeres Maß an Gleichheit besitzen als vor fünfzig Jahren. Im Grunde ist das eine ungenaue Vereinfachung der Feststellung, daß die Stellung des Negers der angestrebten Gleichheit näherkommt. Durch diese präzisere Formulierung wird . . . ein weiterer Aspekt der Gleichheit verdeutlicht, die Tatsache nämlich, daß Gleichheit ein Ziel ist, das zwar annähernd erreicht, aber nicht „verwirklicht’ werden kann."
Das teleologische Element der Gleichheit hat im Menschen das Bestreben freigesetzt, ihr grundsätzlich einen hohen Wert zuzumessen. Von der Werthaftigkeit der Gleichheit gehen die Befürworter der Demokratisierung aus und konstatieren: „Das Maß an Gleichheit, das in einer Gesellschaft herrscht, bestimmt deren demokratischen Charakter."
Nun wird von Widersachern der Demokratisierung der Gleichheitsanspruch nicht rundweg abgelehnt, sondern auf die politische Ebene begrenzt; sie auf andere Bereiche der Gesellschaft auszudehnen, hieße negieren, „daß zwischen einem Arzt und einem Patienten, zwischen einem Lehrenden und einem Lernenden einige in der Sache begründete Kompetenzdifferenzen bestehen ..
Demokratisierungsbefürworter leugnen diesen Sachverhalt keineswegs, fordern aber, daß Kompetenzen und Einflußnahme rational zu begründen sind und demokratischen Legitimitätsansprüchen gerecht werden müssen. In dieser Diskussion wird der Begriff der Gleichheit also von keiner Seite auf die biologische Ebene ausgedehnt, sondern der Streit bezieht sich „ausschließlich auf die Gesellschaft und ihre Strukturen; die das Maß an Gleichheit beeinflussen"
Die Hindernisse, die der vollen menschlichen Entfaltung entgegenstehen, bündeln sich im Machtkomplex. Amitai Etzioni postuliert deshalb: „so far as the members are concerned, the more egalitarian the distribution of power among them, the more responsive the overlayer will tend to be to their needs"
Dieser Aufgabe, Macht zu messen, widmet sich C. B. Macpherson; für ihn ist Macht, die Möglichkeit des Menschen „to use and develop his human capacities"
Sein Konzept, sich der Machtgleichheit zu nähern, zielt auf eine breite Streuung der Dispositionsfähigkeit über jene Güter, die aufgrund von Knappheit mit einem Wert versehen sind, und zielt auf möglichst gleichmäßigen Zugang zur Produktion eben dieser Güter. „In short, to equalize access, which is to equalize developmental powers, is to maximize developmental powers."
Soll Machtgleichheit in Annäherung gebracht werden, fällt dem Entscheidungskomplex die Kardinalfunktion in der gesamten Konzeption zu, denn er erweist sich als Kristallisationspunkt für eine herrschaftliche oder aber demokratische Struktur der gesellschaftlichen Organisation.
Um Machtgleichheit von der sozio-ökonomischen Seite zu erreichen, visiert Christopher Jencks das Ziel der Gleichheit über schulische Sozialisation an
Ein weiterer Versuch, das Problem der sozialen Gleichheit zu lösen, führt Partizipationstheoretiker dazu, zwischen Gleichheit und Chancen-gleichheit zu unterscheiden
Die unterschiedlichsten Ansätze, das Postulat der Gleichheit zu verwirklichen, enthalten gleichzeitig auch Strategien zur Demokratisierung der Gesellschaft. Gleichheit, um sie zu erreichen bzw. sich ihr zu nähern, kommt letztlich nicht ohne zentralistische Distributionsinstanzen aus. Auch müssen die Gleichheitsstrategen noch klären, ob die Annäherung an das Ziel der Gleichheit eine Leistungssteigerung oder wenigstens eine Leistungserhaltung der Gesamtgesellschaft bringt.
IV. Das Prinzip der Leistung
Ein wesentliches Konstituens der bürgerlichen Gesellschaft bildet das Prinzip der Leistung; unter dieser Fahne unternahm sie den erfolgreichen Versuch, die Legitimitätsbasis der Adelsherrschaft zu erschüttern und schließlich abzuschaffen. Ihr Leistungsprinzip gereichte der Gesellschaft zum Bewertungsmaßstab für Handlungen im ökonomischen Kontext. Vornehmlich auf diesem Sektor führte eine immer stärker werdende Arbeitsspezialisierung zur Leistungssteigerung. John Locke, einer der Apologeten des Bürgertums, legitimierte soziale Ungleichheit aufgrund von Leistung
Verhindert das Prinzip der Leistung eine Gleichstellung im ökonomischen Bereich? Ich will keineswegs negieren, daß weiterhin unterschiedliche Leistungen erbracht werden müssen, meine aber, daß das Recht zur Mitentscheidung und damit zur Gestaltung des ökonomischen Bereichs von den Leistungen zu trennen ist.
Leistung hat im wesentlichen zwei Bedingungen, denen sie unterliegt: zum einen die genetische, zum anderen die soziale. Die genetische ist nicht variabel bzw. sollte es auch dann aus ethischen Gründen nicht sein, wenn es eines Tages möglich sein sollte; die sozial bedingte dagegen unterliegt Wandlungen. Zu überlegen ist, ob eine Gesellschaft, die sich die Würde des Menschen zum obersten Prinzip ihrer Verfassung gemacht hat, nicht andere Kriterien als die bestehenden anlegen will. „Es wäre töricht, wollte man Leistung als solche verteufeln, aber man kann sich doch fragen, ob jener aggressive und kompetitive Begriff von Leistung nicht ebenso obsolet geworden ist wie der Wachstumsfetischismus und ob es nicht besser wäre, auch hier die Entwicklung eines qualitativ neuen Leistungsbegriffs anzustreben. Als Leistung müßten dann auch Haltungen und Verhaltensweisen anerkannt werden, die in unserer Gesellschaft immer seltener geworden sind: Hilfsbereitschaft, tätige Menschenliebe, Solidarität mit den Schwachen ..
Wenn Karl Otto Hondrich in „Demokratisierung und Leistungsgesellschaft" die These vertritt: „In allen sozialen Systemen führt die Demokratisierung zu Leistungssteigerung ..
Bevor ich diesen Komplex behandele, will ich noch auf den Leistungsbegriff bei Frieder Naschold und Anton Pelinka eingehen. Mit einem normativen Akzent versehen formuliert Naschold: „Wie können bei gegebener System-Umwelt-Konstellation Organisationen so umstrukturiert werden, daß innerhalb der einzelnen Entscheidungstypen das Partizipationspotential der Organisationsmitglieder bei gleichzeitiger Leistungserhaltung bzw. Leistungssteigerung der Organisation erweitert wird?"
Diesen „kryptischen Hinweis" zur Klärung von Nascholds Demokratietheorie kritisiert Dieter Oberndorfer: „Die Suche Nascholds nach einem Leistungsbegriff für komplexe Organisationen . innerhalb einer Spannweite', die durch die gegensätzlichen Konzepte technokratischer Sachzwang einerseits und Arbeit und Spiel andererseits umschrieben werden, wirkt als Programm unbefriedigend, weil weder der Spielraum der Spannweite noch der Punkt, an dem die Lösung innerhalb dieser Spannweite gefunden werden muß, deutlich wird. Dieses Dilemma ergibt sich, weil der Begriff der Leistung ohne Einordnung in eine umfassende Wertdiskussion und Güterabwägung gebraucht wird."
Modellhaft versucht Pelinka eine negative bzw. positive Korrelation von Effizienz und Gleichheit herzustellen
V. Die Entscheidungsebene
Das zentrale Feld, auf dem das Demokratisierungspotential in komplexen Organisationen untersucht werden kann, ist die Entscheidungsebene. Naschold widmet ihr deshalb sein Hauptaugenmerk; für das Ziel seiner Studie unterscheidet er sechs voneinander abgrenzbare Entscheidungstypen: Routine-, Zweck-, Krisen-, Innovations-, Machtzuwachs-entscheidungen sowie Entscheidungen zur Entscheidungsentlastung. „ Routineentscheidungen sind systeminterne Informationsverarbeitungsprozesse bei gleichbleibender System-Umwelt-beziehung."
Oberndorfer kritisiert an dieser Klassifizierung von Entscheidungen, daß Naschold „die so geordneten Phänomene . ohne nähere Bestimmung'als Informationsverarbeitungsprozesse hinstellt" und damit Entscheidungen übergeht, „die durch einen sozialen Prozeß, etwa . Bargaining", zustande kommen"
Fritz Vilmar kritisiert, daß Nascholds sechs Entscheidungstypen in der sozialen Wirklichkeit „nicht nur Informationsverarbeitung —, sondern auch Interessenvertretungsprozesse sind. Die Ausklammerung des Machtproblems zeigt sich ... auch ... darin, daß er nichts zu der zentralen Frage der Durchsetzbarkeit der von unten entwickelten Entscheidungen ausführt. Es scheint fast, als seien komplexe Organisationen herrschaftsfreie Räume."
Analog zu Naschold ist für Vilmar die Strukturierung verschiedenartiger Entscheidungsprozesse in gesellschaftlichen Subsystemen der „Ausgangspunkt herrschaftlicher oder aber demokratischer Gestaltung einer sozialen Organisation"
Die Auffächerung der Entscheidung in die genannten Bereiche ist unter wissenschaftstheoretischen Aspekten durchaus zu begrüßen;
Skepsis erhebt sich allerdings, wenn sie für Demokratisierungsstrategien herhalten soll.
(Aufgrund der Parallelität der Entscheidungstypen trifft die folgende Kritik Vilmar wie Naschold.) Die Verzahnung aller Bereiche miteinander, vor allem die beiden „oberen Bereiche'der Produktionsund Systementscheidung, läßt eine Umsetzung dieser Ausdifferenzierung in die Praxis als problematisch erscheinen. Bei Personalentscheidungen werden zumindest auch langfristige Produktions-und Systementscheidungen getroffen.
Die Deklarierung und Zuweisung der Entscheidungen in die von Vilmar vorgegebenen Typen bedürfen der Interpretation und bilden ein Politikum. Die Frage der Zuordnung in die einzelnen Ressorts vor der eigentlichen Entscheidungsfindung gerät zum Kristallisationsproblem der Dezisionsdemokratisierung. Da weder Vilmar noch Naschold auf hierarchische und oligarchische Elemente in der Struktur ihrer Subsysteme verzichten, gerät die Entscheidungsdifferenzierung zur intellektuellen Spielwiese: Entscheidungszuweisungen fallen nach hierarchischem, die Entscheidungsfindung nach demokratisiertem Muster, d. h., den Organisationen und ihren Mitgliedern werden Tätigkeiten delegiert, die sie bisher auch erbringen konnten. Anzudeuten ist hier nur das Problem, Informationen auf der Ebene der Dezisionszuweisung zurückzuhalten oder zu manipulieren.
VI. Ein gangbarer Weg
Gleichheit als Prämisse demokratischer Theorien formuliert, bildet zugleich auch deren Ziel. Gleichheit als einen Wert zu begreifen, der nicht vollständig zu verwirklichen ist, sondern dem sich nur anzunähern möglich ist, beinhaltet den Anspruch an die Gesellschaft, ein Mehr an Gleichheit in den sozialen Kontext umzusetzen. Im politischen Bereich ist die Forderung des „one man, one vote" durchgängig akzeptiert und mit Hilfe des repräsentativen Systems verwirklicht worden. Für den übrigen sozialen Sektor wird nunmehr das Postulat „Mehr Demokratie wagen” erhoben; das „Wie" seines Umsetzens in institutioneile Formen scheidet die Demokratisierungsautoren. Einige befürworten, das repräsentative System auch auf die übrigen sozialen Bereiche auszudehnen, andere plädieren für direkt-demokratische Organisationsformen, die sich in einer Art Rätesystem verdichten, andere suchen nach Wegen, Räte-und repräsentative Elemente zu mischen. Mit meinem Votum für die erste Form, bestehende repräsentative Organisationsstrukturen in der Bundesrepublik zu belassen und sie auf alle sozialen Ebenen auszudehnen, verwerfe ich eine Fundamental-demokratisierung. Denn diese birgt in einem funktionierenden, auf politischem Sektor bereits demokratisch strukturierten Gemeinwesen die Gefahr in sich, übergroße soziale Verwirrung und Spannungen hervorzurufen. Darüber hinaus ist es unrealistisch anzunehmen, daß die herrschenden Eliten kampflos ihre Positionen räumen. Revolutionäre Vorgänge im Sozialwesen, die nur einen Elitenaustausch hervorbringen, helfen wenig oder gar nicht, ein Mehr an Gleichheit für alle Bürger zu erreichen. Kleine Schritte in Form von sektoraler Ausdehnung bestehender demokratisch strukturierter Organisationsformen erscheinen mir effektiver, um das eigentliche Ziel eines demokratischen Gemeinwesens zu erreichen: die soziale Gleichheit aller Bürger.
Einem Irrtum unterlag Karl Marx, als er an-nahm, daß nur die kapitalistischen Eigentumsverhältnisse und die kapitalistische Produktionsweise zu einer Entfremdung des Menschen führen würden. Die Entwicklung in den osteuropäischen Staaten hat mittlerweile verdeutlicht, daß die Ursachen für die Entfremdung vor allem in bestimmten Merkmalen der Industriegesellschaft liegen. Die Verstaatlichung des Eigentums an Produktionsmittel hat hieran nichts Wesentliches geändert. Wandeln kann sich die Situation des Arbeitenden erst, wenn seine Einflußund Bedeutungslosigkeit aufgehoben wird. Eine Partizipationsausweitung an den Entscheidungsprozessen im gesamten sozialen Bereich bietet erste Ansatzpunkte, Herrschaftsverhältnisse zu mildern und zu verändern. Aus dieser Erkenntnis heraus erscheint es mir unumgänglich, die Wahl als demokratische Legitimationsbasis in allen sozialen Bereichen zu verankern, die Partizipationsebenen für Dezisionen und die Zahl der Entscheidungsträger zu erweitern, soll die Affinität des Bürgers zum demokratischen Gemeinwesen gesteigert, seine Frustration abgebaut und seine Entfremdung beseitigt werden.
Entscheidungen treffen und mitverantworten stärkt das Selbstbewußtsein der Beteiligten. Schon John Stuart Mill hat dieses Faktum erkannt. Er plädierte dafür, vor allem untere Bevölkerungsschichten an kommunalen Verwaltungsinstitutionen partizipieren zu lassen
Wenn Aristoteles in der „Politik" schreibt, „daß Regieren und Regiertwerden miteinander abwechseln"
Will ein Gemeinwesen, das sich demokratisch nennt, nicht unglaubwürdig erscheinen, dann darf es sich nicht nur im gouvernementalen Bereich demokratischen Grundsätzen unterwerfen, sondern muß das Prinzip der demokratischen Wahl auch auf alle anderen sozialen Subsysteme ausdehnen. Nur die Wahl legitimiert das künftige Handeln aller Dezisionsträger, soll die Identität von Entscheidungsträgern und Entscheidungsunterworfenen erreicht werden. Ohne eine solche Identität fehlt aber dem Konzept der Partizipationsausweitung in komplexen Organisationen die Basis. Die Wahl als Basiskonstituante für Handlungsfunktionen wirft die Frage auf, wer als Entscheidungsträger zu bezeichnen ist. Den Dezisionskomplex wie Naschold bzw. Vilmar aufzufächern, habe ich weiter oben als unergiebig für das Demokratisierungspotential verworfen. Dennoch stellt sich mir auch beim Konzept der Partizipationsausweitung das Problem, wo die Schnittstelle ansetzen soll, Entscheidungsträger demokratisch zu legitimieren. Es ist wohl einsichtig, daß nicht jeder Positionsinhaber von Entscheidungsbefugnissen der Wahl unterliegen darf, es sei denn, man wolle den Wahlgedanken zu Tode reiten.
Das Postulat, die Wahl an der Basis anzusetzen — wie sie sich beispielsweise in Jugoslawien institutionalisiert hat
Wenn ich den Vorgang der Partizipationsausweitung als einen Prozeß der Bewußtseinsänderung der Entscheidungsträger, d. h. global gesprochen als einen des Herrschaftsabbaus deute, heißt das, Partizipation „als einen Prozeß im Wandel der Autorität zu begreifen, als einen Übergang von einem Typus von Autorität zu einem anderen Typus von Autorität"
Verstehe ich Auftragsautorität funktional und temporär, sind Entscheidungsträger durch Wahl zu bestimmen. Ein einheitlicher Wahl-modus für die verschiedenen Subsysteme in der Bundesrepublik würde aufgrund der historischen Gewachsenheit ihre Eigenart zerstören und den Prozeß einer Partizipationsausweitung eher hemmen. Mit dem vor einiger Zeit verabschiedeten Mitbestimmungsgesetz für den wirtschaftlichen Bereich ist ein erster, entscheidender Schritt im Hinblick auf eine Partizipationsausweitung getan worden; weitere müßten vor allem im Hinblick auf einen Abbau der Oligarchisierungserscheinung, die sich nicht nur bei den Arbeitgebern, sondern auch bei den Arbeitnehmern deutlich zeigt, folgen. Das Rotationsprinzip müßte auch hier zusätzlich zur Geltung kommen. Im primären und sekundären Bildungsbereich wäre ein Ratssystem zu errichten, das die Interessen der Lehrenden, Lernenden und der Erziehungsberechtigten gleichermaßen berücksichtigt. Im Hochschulbereich hat sich das Rats-system bewährt, allerdings ist der bestehende Bestellungsmodus, der die Hochschullehrer einseitig bevorrechtigt, abzubauen. In Fürsorge-Institutionen müßte ein Wahlverfahren — in Form einer Ratsstruktur — gefunden werden, das sowohl den Trägern als auch den Arbeitnehmern gerecht wird.
Die nach den verschiedenen Verfahren in den einzelnen Subsystemen Gewählten üben ihr Mandat frei aus. Ein imperatives Mandat erscheint mir problematisch, da z. B. strikte Weisungsgebundenheit seitens der Wähler die Aktionsfähigkeit des Entscheidungsträgers sehr beschneiden würde; plötzlich neu auftauchende Tatbestände könnten Flexibilität in der Entscheidung notwendig machen.
Faßte dagegen die Wahlversammlung ein imperatives Mandat so, daß es nur Grundzüge in der Geschäftspolitik festlegt
Abzulehnen ist eine Recall-Möglichkeit seitens der Wähler, es sei denn, strafrechtliche Tatbestände würden erhoben. Das Prinzip des Recalls beinhaltet nicht nur das stärkste Kontrollrecht seitens der Wähler und wäre als solches zu bejahen, sondern es enthält auch die negative Wirkung seitens der Gewählten, nach den Wählern zu schielen, in der ständigen Angst, abberufen zu werden. In einem solchen Klima ist mutige und selbstbewußte Entscheidungsfindung nicht möglich. Das Prinzip des freien Mandats dagegen beruht auf dem Konzept des Vertrauens der Wähler zum Gewählten; ihre Unzufriedenheit bekunden sie, wenn die den Mandatsträger nicht wiederwählen. Ein freies Mandat mit einer Richtliniendirektive seitens der Wähler scheint mir geeignet zu sein, die positiven Elemente des freien und imperativen Mandats zu verbinden. In einem komplexen Gemeinwesen kann sich die Forderung nach Ausdehnung der Partizipation an Entscheidungen erfüllen, wenn die Dezisionsfunktionen zeitlich so limitiert werden, daß diejenigen, die von Entscheidungen ausgeschlossen sind, wissen, daß sie in geraumer Zeit ihrerseits eine Chance erhalten am Entscheidungsprozeß teilzuhaben. Das in der empirischen Partizipationsforschung immer wieder konstatierte Phänomen der Apathie, sich in sozialen Organisationen nicht zu beteiligen
Robert Michels hat in der „Soziologie des Parteiwesens" konstatiert, daß jede durch Arbeitsteilung entstandene Organisation zur Oligarchisierung neige
Außerdem fördert der Wechsel der Funktionen innerhalb der politischen, wirtschaftlichen oder sozialen Bereiche das Bewußtsein bei den Partizipanten für die ineinander verzahnte Komplexität eben dieser Bereiche; damit wird die bestehende Trennung in Staat und Gesellschaft wenn nicht aufgehoben, so doch gemildert.
Zu klären bleibt noch, in welchem Zeitraum Rotation erfolgen soll. Analog zum präsidialen Verfahren in den USA plädiere ich für eine vierjährige Amtsdauer der Volksvertreter und der Regierungsmitglieder bei einmaliger Wiederwahl. Der Zeitraum von acht Jahren sollte auch in allen anderen gesellschaftlichen Subsystemen als Maximum für Positionen gelten, in denen Entscheidungen, im weiter oben definierten Sinne fallen. Der maximale Zeitraum von acht Jahren erscheint mir für die Stelleninhaber genügend, damit sie verantwortungsvoll in ihrer Position handeln können, und kurz genug, damit die in der bisherigen Praxis immer wieder beobachteten Verschleißerscheinungen gering gehalten werden.
Ein spezielles Problem bilden die öffentlichen Verwaltungen, die im Rotationssystem zum beherrschenden Faktor der Organisation geraten könnten. Karl Moersch unterbreitete kürzlich den Vorschlag, Angehörige des höheren Dienstes der B-Kategorie, also etwa ab leitender Ministerialrat bis Staatssekretär, auf Zeit zu bestellen. Der eigentliche Aufstieg eines Beamten würde bei der Besoldungsstufe A 16 enden. „Alle darüberliegenden Positionen würden auf mindestens fünf Jahre besetzt werden."
Partizipationsausweitung findet also dann im bestehenden System auf zweierlei Weise statt: Zum einen wird die gegebene Entscheidungsstruktur in allen sozialen Subsystemen zugunsten einer solchen umgebaut, die auf Wahl basiert; die Mitglieder in diesen Entscheidungsgremien, wie Fachbereichsräte in Hochschulen, Vorstände in wirtschaftlichen Unternehmungen etc., werden durch spezielle Wahlverfahren ermittelt und üben ein freies Mandat aus. Zum anderen unterliegen alle so gewählten Entscheidungsträger sowie die Volksvertreter, Mitglieder der Regierungen und „Beamte auf Zeit" der Rotation nach maximal acht Jahren. Auf diese Art und Weise wird die Durchlaufquantität von Entscheidungsträgern erhöht, die Formaldemokratie inhaltlich erfüllt und damit elastischer und lebensfähiger. Erst vermehrter Partizipationsdurchlauf schafft über einen größeren Zeitraum das Potential für echte soziale Strukturveränderungen.