Im Jahre 1941 veranstaltete die Harvard-Universität ein Preisausschreiben, um von Emigranten Berichte über ihr „Leben in Deutschland vor und unter Hitler" zu erhalten. Die Ergebnisse sollten für eine Untersuchung der Frage verwendet werden, wie es möglich war, daß in einem Kulturvolk ein Mann wie Hitler an die Macht kommen konnte. Der Autor beteiligte sich an dem Preisausschreiben mit einem Bericht, der die Zeit von der Jahrhundertwende bis zu seiner Auswanderung im Frühjahr 1939 umfaßt. Seine Arbeit wurde mit einem besonderen Lob bedacht.
Aus dem Gesamtmanuskript wurde hier das Kapitel ausgewählt, das sich auf die Jahre 1933 bis 1939 bezieht. Aus^Platzgründen konnten aus dem Abschnitt über die ersten 19 Lebensjahre (bis zum Kriegsausbruch 1914) nur wenige kurze Auszüge gebracht werden; die Aufzeichnungen über seine Teilnahme am Ersten Weltkrieg und seine Erfahrungen als Student und Rechtsanwalt in der Weimarer Zeit mußten leider ganz fortfallen. — In deutscher Sprache wurde das Manuskript bisher nicht veröffentlicht.
Jugend in einer trügerisch heilen Welt
Wenige Jahre vor der Jahrhundertwende wurde ich in einer mittleren Provinzstadt in geboren. Diese Stadt, die da-Imais etwa 30 000 Einwohner zählte, beherI bergte als Festung zugleich eine große Garnison. Diese Garnison mit ihren damals vielfarbigen Uniformen beherrschte das Straßenbild.
Es gab ferner in dieser Stadt ein Landgericht, I ein Amtsgericht, ein Zuchthaus und neben drei höheren Schulen eine Reihe weiterer Be-! hörden, so daß neben dem Militär auch das Beamtentum einen erheblichen Teil des Kundenkreises für die Kaufleute dieser Stadt stellte...
Nach Absolvierung der ersten beiden Schuljahre in einer Privatschule kam ich im Alter von 8 Jahren auf das Königliche Gymnasium, ein humanistisches. Mit Stolz trug man nunmehr die blaue Gymnasiasten-Mütze und wechselte bei jeder Versetzung das Mützen-band. Es ist mir nicht erinnerlich, mit meinen christlichen Mitschülern irgendwelche Schwierigkeiten gehabt zu haben. Auch in den Spielen außerhalb der Schule machte man in dieser Hinsicht keinen Unterschied. Meine Brüder hatten neben ihren jüdischen Freunden auch christliche, und man besuchte sich gegenseitig in den Familien. Es gab Kinder aus frommen Familien, die am Sabbat in der Schule nicht schrieben. Der jüdische Religionsunterricht war Teil des Schulunterrichtes und wurde im Gymnasium abgehalten, auch im Schulzeugnis zensiert. Der Unterricht in der hebräischen Sprache dagegen war Angelegenheit der jüdischen Kulturgemeinde und hatte mit der Schule nichts zu tun ...
Dem Antisemitismus begegnete ich auf der Schule kaum. Es sind mir aus der ganzen Schulzeit nur wenige Vorfälle erinnerlich, die überhaupt unter diesem Gesichtspunkt zu betrachten sind. Bei der Prämienverteilung war es üblich, daß der Primus-der Oberprima, der „Primus omnium", die mit dem Namenszug des Kaisers signierte Kaiserprämie erhielt. Seit Jahren war das damals ein Buch von Vislicenus „Deutschlands Seemacht". Als ich nun Primus omnium war und die jährliche Prämienverteilung stattfand, erklärte der Di3 rektor: Da meine Interessen mehr auf geistigem Gebiet lägen, hätte man mir „Büchmanns Geflügelte Worte" gegeben. Die Kaiser-Prämie erhielt ein anderer. Das war aber auch das einzige Mal, daß ich aus antijüdischer Einstellung heraus während meiner Schulzeit eine Zurücksetzung erfuhr. Von Seiten der Mitschüler begegnete mir der Antisemitismus zum ersten Male kurz vor dem Abiturexamen. Das Examen wurde mit einem Kommers gefeiert, an dem das gesamte Lehrerkollegium, Vertreter des Offizierskorps und sonstige Ehrengäste neben den Angehörigen der Abiturienten teilzunehmen pflegten. Dem Primus omnium oblag es, den offiziellen Teil zu leiten und das Präsidium zu führen. Dazu gehörte auch die offizielle Rede mit dem Kaiser-hoch. Einer meiner Mitschüler, ein Professors-sohn, protestierte dagegen, daß ein Jude das Kaiserhoch ausbringen könnte. Aber meine Mitschüler traten einmütig für mich ein und es blieb bei der Regel...
Im Jahre 1913 fand die Jahrhundertfeier zum Andenken an die Befreiungskriege statt. Als Kem der Feier wurde ein Festspiel aufgeführt, dessen Darsteller den Offizierskreisen angehörten, dessen Verfasser aber unser Rabbiner war. Wenn er auch sein Schriftsteller-pseudonym „Fritz Werner" gebrauchte, so wußte in einer solchen Stadt doch jeder Bescheid. Das alles war damals in der Stadt meiner Kindheit und ersten Jugend möglich. Und wenn ich sie jetzt in der Erinnerung wieder vor mir sehe, mit den altertümlichen Speichern auf hohem Ufer, an dem majestätisch breit und träge gleitenden Strom, gekrönt von dem Turm aus der Ordensritterzeit, übergossen von dem rötlichen Lichte der späten Nachmittagssonne, so ist nichts, was die Erinnerung an diese Stadt trübt...
Ostern 1913 bezog ich die Universität Berlin, um Jura zu studieren. Mein sechs Jahre älterer Bruder arbeitete bereits auf das medizinische Staatsexamen hin und hatte mir in demselben Hause, in dem er wohnte, im romantischen Viertel, ein Zimmerchen besorgt. Meine Mutter, die mit fünf unversorgten Kindern — mein Vater war 1904 gestorben — zurückblieb, kostete es ohnehin Anstrengung genug, zwei Söhne studieren zu lassen. Das romantische Viertel, südlich des Stettiner Bahnhofes, wurde so genannt, weil die Straßen nach deutschen Romantikern benannt waren; z. B. Tieck, Novalis, Eichendorff. Wir wohnten in der Eichendorffstraße. Ich fühlte mich zunächst — ich war noch nicht ganz 18 — furchtbar einsam in der großen Stadt. Mein älterer Bruder hatte mit sich zu tun. Freunde hatte ich noch nicht. Es kam hinzu, daß diese Gegend, in der damals noch die meisten Studenten wohnten, denkbar unangenehm war. Die virgo publica niedersten Grades umkreiste angriffslustig Tag und Nacht die Häuserblocks. Wenn nicht glücklicherweise gerade Hundesperre war, so war es unvermeidlich, irgendwo hineinzutreten. In dieser Gegend waren viele Kellerrestaurants (Bouillonkeller), die sich offenbar alle recht große Hunde hielten. Nach diesen Restaurants roch die ganze Gegend. Frische Luft gab es in diesen Straßen nicht. Die Häuser waren eins wie das andere alt und gleichförmig und freudlos. So kam der neugebackene Student zunächst nicht in die Stimmung, Beobachtungen zu sammeln. Denn er hatte zu tun, erst einmal sein seelisches Gleichgewicht, wiederzufinden ...
Im Sommersemester 1914 ließen wir alle Sonnabendkollegs schießen und wanderten in die an Seen und Wäldern reiche Umgebung Berlins. An Sonntagen waren alle Stadtbahn-züge in die Umgebung so stark besetzt, daß ein Ausflug in diesen Menschenmassen keine Erholung bot. Noch vor Schluß des Semesters begleitete ich meine herzkranke Mutter nach Bad Nauheim. Ich hatte mir damals vom Stundengeben und von Stipendien Geld zu einer Reise gespart. .. Ich war froh, als es meiner Mutter wieder besser ging und ich der Langeweile entfliehen, das heißt Bad Nauheim verlassen konnte. In Biebrich bei Wiesbaden kam ich an den Rhein und fuhr stromab zunächst bis Rüdesheim, wanderte dann durch die Weinberge zum Niederwalddenkmal hinaus und zur nächsten Anlegestelle des Dampfers wieder herunter. Diese Stimmung, wie sie in den vielen Rheinliedern zum Ausdruck kommt, ist tatsächlich vorhanden. Die Gassen dieser uralten Städtchen durchweht ein Hauch von Behaglichkeit und Gemütlichkeit, als ob die Zeit stehen geblieben wäre. Auch die Menschen sind so, ein heiterer und freundlicher Schlag . ..
Tagelang hatte ich keine Zeitung gelesen. Jetzt kaufte ich mir eine und las: österreichisches Ultimatum an Serbien. Ich nahm den nächsten Zug und besuchte noch meinen Bruder in Hamburg, der dort einen Arzt vertrat. Die vaterländische Begeisterung schlug bereits hohe Wogen. Abends in den Cafes wurden nationale Lieder gespielt und von den Gästen mitgesungen. Bei dem Deutschlandlied erhob sich alles und sang stehend mit. Es war höchste Zeit heimzukehren.
Schon an einem der nächsten Tage zog unter Trommelwirbel ein kleines Militärkommando von Platz zu Platz und ein Offizier verlas die Ankündigung des „Zustandes drohender Kriegsgefahr". Mein Bruder, der gerade sein Jahr abdiente, wurde sofort als Feldunterarzt eingezogen. Ich war damals 19 Jahre alt und daher noch nicht wehrpflichtig. Alles rechnete damals, mit einem kurzen Krieg, der Weihnachten zu Ende sein würde. Die allgemeine Stimmung in der Bevölkerung war so, daß man sich genierte, als junger gesunder Mensch noch in Zivil sich auf der Straße sehen zu lassen. Die Truppenteile waren von Menschen überlaufen, die sich freiwillig meldeten. Mit einem Studienfreund meldete ich mich freiwillig zur Feldartillerie und wurde am 6. August eingekleidet. Die Ausbildung erfolgte noch unter aktiven Unteroffizieren, wenn auch im beschleunigten Tempo . . .
Nach kurzem Kasernendrill kommt der Verfasser an die Ostfront und bald in die ersten Gefechte. Zum Unteroffizier befördert, erhält er eine Spezialausbildung in einer der ersten Flakeinheiten der deutschen Armee. Danach wird er zunächst wieder im Osten eingesetzt, später, 1917, an der Westfront. Wegen besonderen Tapferkeitsbeweises wird ihm das Eiserne Kreuz verliehen.
Als Jude wird Neumann wiederholt bei Beförderungen übergangen. Schließlich doch auf einen Offiziersaspirantenkursus geschickt, merkt er bald, daß ihm „der Leiter des Kursus die Qualifikation nicht geben würde", wobei alle Beteiligten wissen, daß es nicht an seinen Leistungen gelegen hatte. Nach einem Zwischenspiel bei einer Ersatzeinheit in Frei-burg/Br. kommt der Autor im Sommer 1918 zu einer Flakbatterie ins Große Hauptquartier. Als man seinen Papieren entnimmt, daß er Jude ist, wird er unter einem Vorwand nach Freiburg zurückversetzt. Von da geht er abermals — bis zum Ende des Krieges — an die Westfront.
Von Anfang 1919 an besuchte der Verfasser zur Fortsetzung seines juristischen Studiums die Universität Greifswald. Hier begegnet ihm — auch in den Kreisen der studierenden ehemaligen Soldaten und Offiziere — zum ersten Mal massiver Antisemitismus, vor allem bei solchen, „die den Übergang vom Schützengraben zu einem zivilen Beruf nicht mehr finden konnten oder wollten". „Unbeschreiblich widerwärtig waren die antisemitischen Parolen und Zeichnungen, die innerhalb der Wände der WC zu finden waren. Daß Eisner in Bayern die erste Republik ausgerufen hatte und Rosa Luxemburg im Vordergrund vom Spartakus stand, hatte den Antisemitismus bereits auf eine Höhe gebracht, wie sie vor dem Kriege niemals , vorhanden war. Als in einem Praktikum, in dem Rechtsfälle aus dem täglichen Leben besprochen wurden, ein jüdischer Kommilitone und ich am häufigsten antworteten, erhob sich lebhaftes Scharren, das studentische Zeichen des Mißfallens. Prof. K., wie ich später hörte, Demokrat, verstand sofort die Bedeutung dieses Scharrens und griff energisch ein, mit dem Hinweis, daß hier jeder eine Antwort geben könne, der eine. Antwort weiß. Dieser Vorfall paßte in den Rahmen der WC-Inschriften. Jedoch darf man nicht verallgemeinern".
Nach Promotion, Referendarszeit, Assessor-examen und einer vorübergehenden Tätigkeit bei einem Berliner Landgericht als Staatsanwalt wird Neumann 1923, auf dem Höhepunkt der Inflation, in einer kleinen Stadt in der Nähe Berlins als Rechtsanwalt zugelassen. Es folgen bis zur großen Wirtschaftskrise einige gute Jahre mit florierender Anwaltspraxis, Familiengründung und beginnendem Wohlstand, doch verläßt den Verfasser nur selten die Skepsis gegenüber den Konstruktionsfehlern der Weimarer Republik; voller Sorge registriert er die Zeichen der zunehmenden politischen Polarisation. Um in dieser Lage das Seine zu tun, wird er aktives Mitglied in einer Partei der Mitte, der Deutschen Demokratischen Partei. 1931 wird ein Schauspiel des Autors über Ehe-und Scheidungsprobleme im Kleinen Theater unter den Linden aufgeführt, daß von der Kritik beifällig aufgenommen wird. 1932 erscheint das Stück erneut — in einem anderen Berliner Theater — auf dem gleichen Spielplan. Das große Unbehagen über das Vordringen Hitlers und der NSDAP wird noch einmal von der Hoffnung abgelöst, der deutliche Niedergang des Nazitums in der zweiten Hälfte des Jahres 1932 werde sich fortsetzen — doch es kam anders.
Ringen um die berufliche Existenz
Der erste Monat des Jahres 1933 sah Hitler als Reichskanzler. In unserer Stadt änderte sich zunächst nicht viel. Die Bürger steckten genauso ihre schwarz-weiß-roten Fahnen heraus wie vorher. Die blutrote Hakenkreuzfahne sah man nicht allzuviel. Da unsere Brücke zur Altstadt umgebaut wurde, mußte der Straßenverkehr eingleisig reguliert werden. Dieses Amt besorgten jetzt SS-Leute, indem sie mal rot, mal grün winkten, beziehungsweise bei Dunkelheit entsprechende Lichtsignale gaben. Sonst waren sie völlig harmlos. Einer meiner ersten Mandanten am Tage nach Hitlers Regierungsantritt war ein SS-Mann in voller Uniform. Ich sah zum ersten Male diese Uniform. Er erschien in Begleitung des Vorsitzenden des Vermietervereins, den ich kannte und der wußte, daß ich Jude bin. Der SS-Mann brauchte die notarielle Beglaubigung seiner Unterschrift. Als Legitimation legte er einen Ausweis der NSDAP vor, der wie ein Reisepaß ein ganzes Buch mit Lichtbild und vielen Stempeln darstellte.
War vielleicht wirklich die antisemitische Walze noch nicht so intensiv gespielt worden? Das Buch „Mein Kampf" hatte ja kaum einer gelesen. Nach allen meinen persönlichen Eindrücken mußte ich annehmen, daß man wenigstens in unserer Stadt noch nicht so gegen die Juden gehetzt hatte. Ein Mandant, der sich später als eifriges Mitglied der Nazipartei entpuppte, erschien in dieser Zeit erstmalig mit einer ganzen Reihe von Prozessen in meiner Praxis. Die Tochter eines national-sozialistischen Stadtrates war und blieb bei mir in der Lehre. Ein Kollege, der sich in voller SA-Uniform befand, nahm mich eines Tages vom Gericht zur Neustadt in seinem Auto mit. Ich mußte vorn neben ihm sitzen.
Es war für mich ein merkwürdiges Gefühl, als wir einer SA-Kolonne mit Fahne begegneten und deren Führer meinen Kollegen grüßte.
Auch im Getreidegeschäft meines Schwiegervaters änderte sich zunächst nichts. Mein Schwiegervater war 1930 gestorben. Das Geschäft wurde aber von seiner Witwe und deren Sohn mit Hilfe des langjährigen christlichen Prokuristen fortgeführt. Obwohl die NSDAP gerade auf dem Lande viel Anhang hatte, hatte die Firma mit den Bauern keinerlei Schwierigkeiten.
Nachdem die Partei mit Hilfe des Reichstagsbrandes und einer darauf basierenden Angstmacherei vor dem Kommunismus es zu einem fast 50prozentigen Wahlsieg gebracht hatte, wurde sie auch bei uns lebendiger. Am Vormittag nach der Wahl wurden aus der Sparkasse und dem Rathaus die schwarzrotgoldedenen Fahnen herausgeholt und öffentlich verbrannt. Bei der Kommandantur gelang das nicht. Man erzählte in der Stadt, ein Trupp Braunhemden habe die Fahne mit der schwarz-rot-goldenen Gösch herunterholen wollen. Aber der Stadtkommandant habe die Wache mit Gewehr antreten lassen und gedroht zu schießen, worauf der Trupp unverrichteter Dinge wieder abgezogen sei.
Eines Morgens lagen die Schaufensterscheiben der jüdischen Geschäfte in der Hauptgeschäftsstraße in Trümmern. Unsere christlichen Mitbürger standen auf der Straße und machten ihrer Empörung laut und ungeniert Luft. Der Erfolg war, daß die Partei sich in keiner Weise dieser Tat rühmte, vielmehr eine amtliche Notiz in der Presse erschien, das hätten die Kommunisten gemacht und man sei den Tätern bereits auf der Spur. Sie wurden natürlich nie gefaßt. Dann setzte „schlagartig" eine Judenhetze von unerhörtem Ausmaß im Radio ein, ebenso in der Presse und teilweise auch schon in Umzügen. Der Lautsprecher brüllte tagsüber und abends seine Hetzreden. Wer selbst keinen Juden kannte, mußte den Eindruck eines Raubtieres erhalten, wie es in dieser Ungeheuerlichkeit in der ganzen Tierwelt nicht vorkommt. Ich stellte das Radio natürlich ab. Aber meine Frau, wie von einem unwiderstehlichen Zwange getrieben, mußte alles hören. Dabei lag sie weinend auf dem Sofa. Ein jüdischer Kollege aus der Nachbarstadt verübte um diese Zeit mit seiner Frau Selbstmord. Meine Frau wünschte auch den Gashahn aufzudrehen. „Ich schäme mich, weiter zu leben", sagte sie nur immer. Ich erwiderte ihr, wir müßten an unsere Kinder denken. Nicht wir brauchten uns zu schämen. Meine Schwiegermutter, die etwa eine Viertelstunde außerhalb der Stadt in ihrer Villa wohnte, schlug uns vor, vorläufig zu ihr zu ziehen, bis sich alles wieder beruhigt habe. Gern machten wir davon Gebrauch. Leid ist gemeinsam leichter zu ertragen. Meine Praxis nahm ich weiter wahr, indem ich mit meinem Wagen ins Büro fuhr.
So kam der 1. April 1933 heran, der Tag des Boykotts und der Tag, an dem die Nazi-partei das Tischtuch zwischen sich und der zivilisierten Menschheit zerschnitt. In letzter Minute wurde eine Anordnung durchs Radio bekanntgegeben, daß niemand daran gehindert werden dürfe, sein Geschäft selbst zu schließen. Die jüdischen Kaufleute unserer Stadt hatten sich geeinigt, ihre Geschäfte an diesem Tage nicht zu öffnen. Ein Kaufmann in der Altstadt, der es nicht getan hatte, erhielt in seinem Laden von einem Nazi Ohrfeigen. Ich ging natürlich gar nicht erst ins Büro. Leiter des Boykottausschusses in unserer Stadt war derselbe Kollege, dessen Schwester ein Geschäft mit Radiogeräten und elektrischen Artikeln unterhielt. Sie hatte viel jüdische Kundschaft. Er selbst war bei mir als Referendar tätig gewesen. So kam es wohl, daß der Aufruf des Boykottausschusses in unserer Stadt nicht so gehässig ausfiel. Die Angelegenheit wurde mehr als eine Maßnahme zum Schutze der Juden gegen die empörte Volkswut aufgezogen. Mir selbst schrieb er einen Brief, worin er mich ersuchte, im eigenen Interesse vorerst dem Gericht fernzubleiben. Es gab an diesem Tage Christen, die in ihrer Empörung gerade jüdische Geschäfte trotz Boykottposten aufsuchen wollten. In einer kleinen Stadt Pommerns, wo einer den anderen kannte, ließen sich die Boykottposten von dem Schwager meiner Frau, vor dessen Geschäft sie standen, warmen Kaffee geben, weil sie solange bei dem kühlen Wetter draußen herumstehen mußten.
In diesen Tagen ging die Pressehetze gegen die jüdischen Anwälte los, geleitet von Herrn Freisler, Staatssekretär im Reichsjustizministerium. Als die Zeitungen schrieben, daß der Boykott nun allgemein zu Ende sei, fuhr ich wieder ins Büro, weil ich gerade einen Termin auf dem Gericht hatte. Ich wunderte mich, daß mich alle sehr erstaunt ansahen. Aber niemand sagte etwas. Ich wußte nicht, daß inzwischen hintenherum im Verwaltungswege ein allgemeiner Ausschluß der jüdischen Anwälte vom Betreten der Gerichtsgebäude kraft des Haus-rechts der Justizbehörden verfügt war. Unbefangen nahm ich meinen Termin wahr. Als ich einem gegnerischen Zeugen Vorhaltungen machen mußte, erwiderte dieser, er brauche auf meine Fragen nicht zu antworten. Der Richter erklärte aber sehr energisch, ob er zu antworten habe oder nicht, das bestimme er selbst.
Ich hörte dann, daß der Aufsichtsrichter bei dem Leiter des Boykottausschusses angefragt und die Antwort erhalten hatte, die hiesige Nazipartei habe gegen mein Auftreten vor Gericht nichts einzuwenden. So nahm ich noch einige Tage meine Termine wahr.
Dann muß aber wohl einer der Beamten oder Kollegen — ich vermute das letztere — sich beim Landgericht beschwert haben. Denn plötzlich wurde mir auf Weisung des Landgerichts das Betreten des Amtsgerichts untersagt. Trotzdem holte nur der Mandant, der selbst als Nazi erst nach dem Machtantritt Hitlers zu mir gekommen war, seine Akten zurück. Die übrigen blieben mir treu. Der Prozeßrichter war so anständig, soweit notwendig, sich mit mir telefonisch zu besprechen. Eine Zeitlang vertraten mich auch die Kollegen, besonders der Leiter des Boykottausschusses, der ja einmal als Referendar bei mir gearbeitet hatte. Strafsachen, an denen ich als Verteidiger beteiligt wär, wurden vertagt. Zu dieser Zeit ging auf dem Dienstwege eine von Freisler gezeichnete Verfügung des Justizministerium ein, jeder nichtarische Notar solle sofort freiwillig die Erklärung abgeben, daß er sich der Ausübung der Notariatstätigkeit enthalte, widrigenfalls man für nichts einstehen könne, da die Volksempörung die Erteilung amtlicher Urkunden durch jüdische Notare nicht länger dulde.
Da sich Hindenburg nach dem Reichstags-brand ein allgemeines Ermächtigungsgesetz zum „Schutz von Volk und Staat'gegen kommunistische Umtriebe" hatte abschwindeln lassen, hatte seitdem die Nazipartei durch das in ihrer Hand befindliche Innenministerium den notwendigen „Freibrief", „legal" alle verfassungsmäßigen Rechte einschließlich desjenigen auf persönliche Freiheit zu durchbrechen. Wollte ich mich vor Konzentrationslager oder anderen Dingen bewahren, so mußte ich natürlich die gewünschte „freiwillige" Erklärung abgeben. Meine seelische Erregung von damals läßt sich mit Worten nicht wiedergeben. Damals steckte man noch mitten drin im gesetzlichen Leben eines Rechtsstaates, in dem man groß geworden war. Da fällt es ausgerechnet dem Justizministerium ein, auf dem Dienstwege ganz gewöhnliche Erpresserbriefe zu verbreiten, weil man die Ausschaltung der jüdischen Notare noch nicht durch Gesetz erreichen kann.
Als Kriegsfreiwilliger und Bürger, der mit 19 Jahren an die Front gegangen war und die äußerste Pflicht gegen den Staat, die Wehrpflicht im Kriege, erfüllt hatte, war ich von besonderem Schmerz erfüllt. Ich setzte mich hin und schrieb einen eingeschriebenen Brief an Hindenburg. Darin appellierte ich an das Kameradschaftsgefühl des alten Soldaten, unter dessen Fahnen ich im Osten im Felde ge7 standen hatte. Ich war und bin überzeugt, daß er von diesen Erpresserbriefen des Justizministeriums nichts wußte. Den Brief sandte ich sofort zur Post. Als ich zu Tisch nach Hause kam — wir wohnten noch bei meiner Schwiegermutter — und alles berichtete, gerieten meine Frau und ihre Mutter in die höchste Erregung, ob ich denn uns alle unglücklich machen wolle; ich müsse sofort sehen, den Brief noch von der Post zurückzubekommen, bevor er abgehe. Ich wollte erst nicht. Denn ich konnte mir nicht denken, daß man dem Reichspräsidenten die Post unterschlägt. Schließlich gab ich nach und erhielt den Brief noch zurück.
Jetzt kamen die Kämpfe, um zunächst die Wiederzulassung zum Gericht zu erreichen. Zuerst hieß es, daß der Präsident der Anwaltskammer zu entscheiden habe. Ich ließ mir vom Leiter des Boykottausschusses und vom Polizeihauptmann Bescheinigungen geben, daß ich mich niemals kommunistisch betätigt habe. In die polizeiliche Bescheinigung ließ ich noch hineinschreiben, daß ich im Gegenteil der demokratischen Partei angehört und zuweilen auch deren Versammlungen geleitet hatte. Ich glaubte damit, am positivsten den Vorwurf des Kommunismus widerlegen zu können. Dieser auf meinen Wunsch erfolgte Zusatz erwies sich später als Fehler. Nur unser Aufsichtsrichter, an sich deutschnational, keineswegs Nazi, lehnte eine Bescheinigung ab, da er ja nicht wissen könne, was nicht gewesen sei. Da wir viel gesellschaftlich verkehrt hatten, war das die erste menschliche Enttäuschung. Ich fügte Militär-unterlagenbei und schickte alles an die Anwaltskammer nach Potsdam. Ich bekam darauf eine Aufforderung, zunächst das (von mir verfaßte und) in Berlin gespielte Bühnenstück einzusenden. Also mußte jemand gegen mich arbeiten, der die Anwaltskammer darauf hingewiesen hatte. Das Stück erhielt ich alsbald mit einem höflichen Anschreiben zurück. Ich fuhr selbst nach Potsdam. Bei dem Vorsitzenden der Anwaltskammer, einem alten Justizrat, lagen Formulare eidesstattlicher Versicherungen, daß man weder der kommunistischen Partei angehört noch einen Kommunisten verteidigt hatte. Ich unterschrieb das wahrheitsgemäß. Aber es rührte sich nichts. Dann hieß es, man müsse die Teilnahme an mindestens einem Gefecht nachweisen. Das Zentralnachweisamt in Spandau, das die entsprechenden Stammrollenauszüge auf Antrag fertigte, konnte die Arbeit kaum schaffen. Die Zahl der jüdischen Frontkämpfer war doch recht groß, was nur die Nazis verwunderte. Schließlich hatte doch damals die allgemeine Dienstpflicht gegolten. Ich hatte den Eindruck, daß die Nazis, die ja vorher selbst die jüdischen Frontkämpfer von allen Sonderbestimmungen ausnehmen wollten, von der großen Zahl so überrascht waren, daß sie deren Wiederzulassung am liebsten auf den St. -Nimmerleins-Tag hinausgeschoben hätten. Nachdem das Gesetz über die Anwaltschaft nun einmal erlassen und das Verbleiben der Frontkämpfer sowie die Merkmale dieser Eigenschaft darin klipp und klar bestimmt waren, betrieb das Justizministerium offensichtliche Verschleppungstaktik.
Auftrittsverbot vor Gericht — „Die Rassenfrage hatte sich als Kassenfrage entpuppt"
Der Reichsbund jüdischer Frontsoldaten hat damals unsere Interessen fieberhaft wahrgenommen. Ich habe die Einzelheiten nicht mehr im Gedächtnis. Aber ich glaube, sein Vorsitzender, der im Kriege zuerst das Schallmeßverfahren zur Festlegung feindlicher Batterien entwickelt hatte, hatte noch immer Beziehungen zum Kriegsministerium. Vor allem aber setzte sich Hindenburg doch für die jüdischen Frontkämpfer ein. Es bedurfte aber erst stärksten Drucks von dieser Seite, bis das Justizministerium endlich seine Verschleppungstaktik aufgab. Es erschien nun eing, Verfügung, welche die Verfügung vom Soundsovielten aufhob. Daß wir wieder vor Gericht auftreten dürften, wurde nicht ausdrücklich ausgesprochen. Ich gab dem Aufsichtsrichter eine eidesstattliche Versicherung über meine Frontkämpfereigenschaft, wies auf diese Verfügung hin und durfte wieder selbst auf dem Amtsgericht nach einer Sperre von fast drei Monaten verhandeln.
In der ersten Verhandlung erklärte ausgerechnet ein Kollege, der sich früher bei uns über das Nazitum lustig gemacht hatte, er müsse es ablehnen, mit mir zu verhandeln; ich hätte noch kein Recht, hier aufzutreten. Ich erklärte, darüber habe er nicht zu entB scheiden, und wenn er nicht verhandeln wolle, werde ich Versäumnisurteil gegen seine Partei beantragen. Er erwiderte, ich könnte mich telefonisch beim Ministerium erkundigen. Ich lehnte das ab, da eine klare Verordnung vorliege. Möglich war ja, daß das Ministerium hintenherum wieder aufheben wollte, was es notgedrungen öffentlich hatte zugestehen müssen. Der „Kollege" lief wutschnaubend zum Aufsichtsrichter, kam aber bald wieder zurück. Ich hörte hinterher, daß dieser es ablehnte, noch auf irgendwelche Zeitungsnotizen etwas zu geben, für ihn seien die amtlichen Erlasse maßgebend. Der Kollege versuchte nun, den Prözeßrichter, einen jungen Assessor, einzuschüchtern. Dieser ließ mich für diese Sitzung zu und gab mir auf, binnen einer Woche den Nachweis der Wiederzulassung zu führen. Alles das spielte sich in öffentlicher Sitzung vor den Augen des Publikums ab. Niemand ergriff für den Kollegen Partei, auch keiner der anderen Anwälte. Einer der christlichen Kollegen sagte mir nachher, daß Mandanten von ihm, die dabei waren, das Verhalten des Kollegen empörend gefunden hatten. Die Rassenfrage hatte sich als Kassenfrage entpuppt. Einige Tage später hielt mich derselbe Kollege an, als wir vom Gericht kamen. Er fragte, was meine Frau und meine Kinder machten. Ich sagte, ich müsse mich sehr wundern, daß er erst mir das Verhandeln vor Gericht habe streitig machen wollen und jetzt nach dem Ergehen meiner Familie frage. Er erwiderte, man werde schon von allem so verrückt, daß man gar nicht mehr wisse, was man tue, ich solle ihm. das nicht übel nehmen.
Inzwischen ereignete sich im Mai 1933 noch folgendes: Eines Tages erscheint in meinem Büro der mir bekannte Kriminalbeamte unserer Polizeibehörde mit einem Nazi in Zivil, einem Fuhrhalter, der mich mit seiner Taxe schon manchmal gefahren hatte, als ich noch keinen Wagen besaß. Jetzt nimmt er im Büroraum mit feierlicher Amtsmiene Platz. Der Krimimalbeamte kommt in mein Sprechzimmer und erklärt, er habe den Auftrag, Haussuchung zu halten. Ich sage: Bitte. Also er verlangte eine Akte: demokratische Partei. Ich drücke auf eine Klingel und lasse das Lehrfräulein die gewünschte Akte bringen. Ich merke, wie er staunt, daß diese Akten ganz offen und jedem zugänglich im Büro liegen. Dann verlangt er eine Akte: Liga für Menschenrechte. Sie wird in derselben Weise gebracht. „Etwas dünn", meint er lächelnd. Sie enthielt nur ein Blatt mit einigen Postabschnitten über Beiträge. „Dann sollen Sie da eine Akte . Boykott Blaukreuz'haben." Ich geriet jetzt doch in Erstaunen und erklärte, daß ich solch eine Akte nicht kenne. Mir schwebten Gedanken an Blausäuregasgranaten durch den Sinn. Im Krieg nannte man diese Granaten Blaukreuz. Wollte man mir derartiges in die Schuhe schieben? Ich fragte, was denn diese Akte für einen Inhalt haben solle. Der Kriminalbeamte zuckte die Achseln. „Fragen Sie mal Ihren Bürovorsteher, der wird es wissen." Ich lasse den Bürovorsteher kommen, der schon fünf Jahre bei mir war. Er sah abwechselnd blaß und rot aus. „Das ist doch die Akte, wo die Boykottverfügungen drin sind. Da wir keine Bezeichnung dafür haben, hat Fräulein K ein blaues Kreuz auf den Akten-schwanz gemacht. Daher nennen wir die Akte im Büro immer: Boykott Blaukreuz. Das sagte der Bürovorsteher. Ich ließ die Akte bringen. Sie enthielt lediglich die amtlichen Schreiben und meine Gesuche um Wiederzulassung. Der Beamte sagte weiter: „Dann sollen Sie ein Theaterstück geschrieben haben, worin Sozialdemokraten auf Nationalsozialisten schießen." Ich erklärte: „Solch einen Unsinn habe ich nie geschrieben. Aber es ist wohl das aufgeführte Stück gemeint. Das habe ich der Anwaltskammer auch schon vorlegen müssen, aber wieder zurück bekommen." „Na, dann wird es das wohl sein", meinte er, „dann geben Sie das man her." Ich erwiderte, das sei leider in meiner Privatwohnung. Er wollte es sich dort abholen. Ich wandte ein, daß meine Frau sicher einen Todschreck bekommen werde, wenn plötzlich die Kriminalpolizei erscheint. Ich wollte es selbst holen. Er (mit einem Kopfnicken zum andern Zimmer, wo der Nazi saß): „Nein, bleiben Sie lieber hier. Sie wissen ja, was die dann vielleicht gleich wieder denken. Können Sie nicht Ihre Frau anrufen und jemand vom Personal schicken?" Ich verfuhr demgemäß. Als er dann das Stück hatte, entfernte er sich mit dem Nazi. Das Personal war inzwischen zu Tisch gegangen.
Als ich dann auch gehen wollte und das Vor-zimmer passierte, sah ich meinen Bürovorsteher die Akten im Aktenregal kontrollieren. Er hatte um diese Zeit im Büro nichts mehr zu suchen. Er hatte eine Akte in der Hand, die meinen Briefwechsel mit meinen Verlegern enthielt. Alles, was sich auf ein verbranntes Theaterstück über die psychologischen Ursachen der Nazibewegung bezog, hatte ich bereits daraus entfernt.
Am Nachmittag rief mich der Polizeihauptmann an und sagte, es sei alles in Ordnung, er schicke mir die Akten gleich zurück. Es sei nur gut, daß sie alles gleich bei mir bekommen hätten. So hätte er den andern gleich zeigen können, daß alles in Ordnung sei. Es seien da immer gewisse Heißsporne und es sei gut, wenn noch ein ruhig denkender Beamter vorhanden sei. Ich dankte ihm für den Anruf. Zehn Minuten später erschien ein uniformierter Polizeibeamter, grüßte militärisch und händigte mir alle Akten wieder aus. Ich nahm diese in meine Wohnung, um den Bürovorsteher im Glauben zu lassen, daß die Sache laufe, damit er nicht wieder etwas neues aushekke. Ich sagte ihm aber nichts. Ich setzte ihm aber eine meiner langjährigen Stenotypistinnen in sein Zimmer, so daß er nicht mehr allein war. Ich sprach auch außer dem dienstlich unbedingt Notwendigen kein Wort mehr mit ihm. Ich merkte in den nächsten Tagen, wie ihn das unsicher machte. Alle Telefongespräche betreffend meine Zulassung führte ich nun von meiner Privatwohnung aus, da sonst der Bürovorsteher im Durchstellapparat mithören konnte. Trotzdem war es ein unangenehmes Gefühl, solch einen Schurken noch weiter in meinem Büro zu haben. Dieser Mensch war fünf Jahre bei mir und stets gut behandelt worden. Alle Bekannten rieten mir ab, ihn hinauszuwerfen.
Eines Tages kam mein Lehrmädchen, die Tochter des früher erwähnten nationalsozialistischen Stadtrates, weinend zu mir, der Bürovorsteher habe sie ausgeschimpft, sie hätte mich verraten. Ich sagte ihr, hier sei nichts zu verraten. Aber verleumdet sei ich worden.
Ich kanzelte den Bürovorsteher in ihrer Gegenwart ab, er sei der letzte, der gegen jemand Vorwürfe erheben dürfe. Nach einigen Tagen ließ ich ihn dann doch kommen und erklärte die fristlose Entlassung. Ich sagte ihm auch die Gründe, erklärte mich aber bereit, den Rückgang der Praxis und die Suspendierung des Notariats als offizielle Gründe anzugeben, damit er eine neue Stellung finden könne. Ich zahlte ihm das Geld nur bis zu diesem Tage aus und ließ ihn das Büro nach Abgabe der Schlüssel sofort verlassen!
Er klagte vor dem Arbeitsgericht auf das weitere Gehalt, da er an sich auf Grund seiner langen Dienstzeit Anspruch auf sechs Monate Kündigungsfrist hatte, wenn kein Grund zu fristloser Entlassung vorlag. Er gewann in erster Instanz, nachdem er geschworen hatte, die Anzeige gegen mich weder gemacht noch veranlaßt zu haben. Daß nur jemand aus dem Büro wissen konnte, daß die eine Akte ein blaues Kreuz auf dem Aktenschwanz hatte, nahm auch das Gericht an. Es lehnte es aber ab, das übrige Personal zu vernehmen. Ich legte Berufung beim Landesarbeitsgericht ein. Nachdem mein Bürovorsteher die Stadt verlassen hatte, meldeten sich eine Reihe von Zeugen bei mir, zu denen er geäußert hatte, er werde es mir schon besorgen, daß ich meinen Beruf bestimmt verliere. Auch mein Personal kam jetzt mit der Sprache heraus. Er hatte also einen glatten Meineid geleistet. Das Landesarbeitsgericht war von vornherein gegen ihn eingestellt. Er selbst war nicht mehr erschienen, sondern durch die Arbeitsfront vertreten. Mein Anwalt riet mir, auf die Vergleichsbemühungen der Gegenseite trotzdem einzugehen, da sonst so ein Mensch nur immer neue Eingaben aushecke. So zahlte ich dann noch das Gehalt für drei Monate unter Protest gegen eine Verpflichtung dazu, was das Gericht ausdrücklich vermerkte. Später hörte ich, daß mein Bürovorsteher als Kommunist bekannt gewesen sei.
Endlich im Juni/Juli kam eine Verfügung, wonach ich das Notariat wieder ausüben durfte. Aber man konnte das nur von Mund zu Mund bekannt machen. Unsere Zeitung nahm Inserate von Juden nicht mehr auf. Das Beamtengesetz (Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums, wie es sich nannte), das inzwischen erlassen war, nahm die nichtarischen Frontkämpfer von der Entlassung aus. Es enthielt aber eine Bestimmung, wonach jeder Beamte wegen politischer Unzuverlässigkeit entlassen werden konnte. In einer Durchführungsverordnung wurde zwar versucht, diese Kautschuckbestimmung näher zu begrenzen. Aber wie wir noch sehen werden, kümmerte man sich nicht darum. Da diese Bestimmung sich auf alle Beamten, also auch auf die Richter bezog, war damit die Unabsetzbarkeit und damit die Unabhängigkeit der Richter aufgehoben. Sie ist auch nie wieder hergestellt worden. Ohne Unabsetzbarkeit der Richter und ohne Konzentrationslager konnte diese „auf der Liebe des Volkes" beruhende Regierung trotz 99prozentiger Wahl-siege eben nicht bestehen. Dieses ganze Berufsbeamtengesetz war ein einziger Bruch der Versprechungen, die Hitler in seiner Rede zur Erlangung des Ermächtigungsgesetzes gegeben hatte.
Im Wiederbesitz der Anwaltschaft und des Notariates glaubte ich, nunmehr der Zukunft einigermaßen ruhig entgegen sehen zu können. Mein Personal von .sechs Angestellten mußte ich natürlich erheblich reduzieren. Aber auch in einem anderen Punkt blieb ich noch im Nachteil. In jenen Notzeiten spielte die Zuteilung der Armenrechtsmandate eine erhebliche Rolle, da der Staat einen beträchtlichen Teil der gesetzlichen Anwaltsgebühren zahlte, oft auch die ganze Gebührenforderung vom unterliegenden Gegner beigetrieben werden konnte. Es bestand offenbar ein Geheimerlaß, jüdische Anwälte nicht mehr als Armenanwalt zu bestellen... Dadurch gingen mir natürlich viele Mandate verloren. Ein Boykott war zu jener Zeit noch kaum zu spüren, zumal ich gerade damals ganz gute Erfolge hatte. Das lag wohl daran, daß ich mich jetzt jeder Sache noch viel intensiver widmen konnte als früher bei der umfangreicheren Tätigkeit. Der nach meinen Beobachtungen völlig unbegründete Glaube, daß man mit einem jüdischen Anwalt nicht gewinnen könne, kam erst später im Publikum auf.
Für das Notariat war die beste Zeit versäumt, da inzwischen das preußische Erbhofgesetz erschien und nun Grundstückskäufe und Hypothekeneintragungen stockten. Am 30. September lief die Frist ab, bis zu der das Notariat widerrufen werden konnte. Ich hatte mich schon sicher gefühlt. Da erschienen an diesem Tage in meinem Büro der Justizoberinspektor und ein Gerichtsdiener des Amtsgerichts mit einem Schlösser. Ich unterbrach die Besprechung, die ich gerade hatte. Der Oberinspektor hatte eine Miene, als ob er zu einem Begräbnis käme. Ich kannte ja die alten Beamten unseres Gerichts nun seit zehn Jahren. Er übergab mir die Verfügung des Justizministers: „Gemäß Paragraph 4 des Berufsbeamtengesetzes entlasse ich Sie hiermit aus dem Amte als Notar". Der Gerichtsdiener beziehungsweise Justizwachtmeister war mitgekommen, um die Zustellung zu bewirken, der Schlosser, um sofort die Amtssiegel aus der Siegelpresse zu entfernen. Stempel und Notariatsregister mußte ich sofort mitgeben. Sämtliche Notariatsakten gingen an das Amtsgericht zur Verwahrung, wie bei einem gestorbenen Notar. So hatte mich in letzter Minute doch noch mein Schicksal ereilt. Gründe waren nicht angegeben. Ich bewahrte äußerlich meine Ruhe und setzte die unterbrochene Konferenz mit meinem Mandanten fort. Ich wandte mich an den Reichsbund jüdischer Frontsoldaten, dem ich ja angehörte, und erhielt bald die Antwort, daß von den Fällen, deren er sich grade angenommen habe, meiner der einzige sei, wo der Referent eine Nachprüfung zugesagt habe. Das war der Unterschied zu arischen Beamten ...
Verlust des Notariats — Erste Auswanderungspläne
Nach der Entziehung des Notariats glaubte ich doch nicht mehr, meine Familie in Deutschland ernähren zu können. Ich fuhr im Oktober 1933 zum Palästinaamt, da ich dort eine Siedlung erwerben und nach Palästina auswandern wollte. Ich hatte etwas Geld inzwischen flüssig gemacht. Aber es scheiterte an der Devisensperre. Den illegalen Weg mochte ich nicht beschreiten. An örtlich anderer Stelle war damals schon die „Paltret" eingerichtet, die auf dem Wege eines Warenaustausches mit Palästina einen begrenzten Transfer in der Reihenfolge der Anmeldungen durchführte. Damals verlor man dabei 7 °/o. Das erschien einem schon zuviel. Hätte man geahnt, was noch kommen würdeI Im ersten Vierteljahr 1933 hatte man noch ohne Devisensperre auswandern können. Aber die Vermögen lagen ja durch die vielen Moratorien fest. Es brauchte Jahre, sie flüssig zu machen.
Außerdem ging ja die Judenhetze erst nach den Wahlen los.
Über Weihnachten 1933 fuhr ich mit meiner Frau nach Prag. Hier konnte man endlich seine Nerven ausruhen. Es war ein Gefühl, als ob man aus dem Gefängnis käme. Wir sahen hier im Deutschen Theater eine Aufführung von „Don Carlos" mit Bassermann, Moissi und Emst Deutsch. Als Moissi die Worte des Posa sprach: „Vor allem, Sire, geben Sie Gedankenfreiheit", unterbrach das volle Haus mit minutenlangem Beifall.
Im Frühjahr 1934 wollte ich einen Monat Urlaub nehmen, den meine Frau und ich nach allem, was wir durchgemacht hatten, dringend brauchten. Ich beantragte wie üblich, mir einen Vertreter zu bestellen und den Urlaub zu bewilligen. Darüber hatte das Kammergericht zu entscheiden. Aber die Sache klappte nicht, da nach Ansicht des Kammer-gerichts ich nur durch einen zugelassenen jüdischen Anwalt oder durch einen Arier vertreten werden konnte, während andere Oberlandesgerichte auch jüdische Referendare oder Assessoren bestellt hatten. Ich schrieb, daß ich an unserem Orte der einzige jüdische Anwalt sei — mein Sozius hatte sich schon vor dem Umbruch löschen lassen und war nach Berlin gezogen. Obwohl es der Landgerichtspräsident ausdrücklich gestattete, wagte kein arischer Assessor, mich zu vertreten. Sie waren ja alle Mitglied der SS oder SA. Schließlich fuhr ich selbst zum Referenten beim Kammergericht. Er war ein älterer Richter, der sämtliche Kriegsauszeichnungen im Knopfloch trug, also jedenfalls kein Parteimann. Ich trug schon seit der Nazizeit immer mein EK-Band im Knopfloch. Er sagte mir, das Justizministerium habe noch nicht entschieden. Bisher hätten sich jüdische Anwälte immer gegenseitig vertreten können. Der Fall sei der erste seiner Art, daher müsse man die Entscheidung des Ministers abwarten. Daß damals die Nichtnazis ihre Kriegs-auszeichnungen im Knopfloch trugen, war eine allgemeine Erscheinung bei Juden und Christen. Sie dokumentierten damit, daß auch sie eine Existenzberechtigung hätten. Ich wartete zu Hause weiter. Die bereits gelösten Fahrkarten drohten zu verfallen. Da besann ich mich auf einen Paragraphen, wonach man die Gegenseite auf einen bevorstehenden größeren Schaden rechtzeitig hinweisen muß. Gestützt darauf, schrieb ich an das Kammergericht: Mein Urlaubsgesuch laufe jetzt schon so und so lange unerledigt. Durch die Ereignisse des Jahres 1933 seien meine Nerven so zerrüttet, daß ich Gefahr laufe, meine Arbeitsfähigkeit zu verlieren, wenn ich jetzt nicht endlich ausspannen könne. Bei Verlust meiner Arbeitsfähigkeit müßte ich den Staat für den Schaden haftbar machen. Am übernächsten Tage erhielt ich vom Kammergericht eine Liste von jüdischen Frontkämpferassessoren. Ich solle mir einen davon aussuchen;
er werde dann sofort zu meinem Vertreter bestellt werden. Nun klappte es endlich.
Wir ... fuhren nach Sizilien. Es war um die Zeit April/Mai 1934. Bis Neapel fuhren wir ohne Pause durch. Das Gefühl, wenn man jetzt als Jude die deutsche Grenze hinter sich hatte, läßt sich mit Worten nicht wiedergeben. Kaum ein Ort war so geeignet, Nerven und Seele zu entspannen, wie Taormina Es war unser erster Urlaub seit dem so-genannten „Umbruch". Wir genossen das Glück, als freie Menschen in dieser wärmenden Frühjahrssonne und dieser herrlichen Natur spazieren gehen zu können. Auf der Rückfahrt auf dem Trajektschiff von Messina nach Reggio di Calabria ließ sich ein italienischer Matrose ausgerechnet von mir den Text des Horst-Wessel-Liedes diktieren. Er hatte offenbar eine Sammlung von Nationalhymnen. Im Zuge von Rom nach Florenz kamen wir mit einer Christin aus Wien ins Gespräch. Sie wollte gern Näheres über die Verhältnisse in Deutschland wissen. Wir hatten schon genug von Juden gehört, die im Auslande bespitzelt worden waren und mit denen sich dann, nach ihrer Rückkehr, die Gestapo beschäftigte. Wir erklärten, daß es für uns besser sei, über diese Dinge nicht zu sprechen. Dafür erzählte sie über das Nazitreiben in Wien, daß man in keinem Cafe mehr vor Papierböllern sicher sei und die Nazis bei der Wiener Bevölkerung höchst unbeliebt seien.
Das Jahr 1934 schien ein Nachlassen der Hetze zu bringen. Der Verkehr in der Praxis belebte sich etwas. Auch die jüdischen Geschäftsleute in unserer Stadt hatten wieder besser zu tun. Andererseits brachte das Erbhofgesetz erhebliche Einbußen. Jede rechtsgeschäftliche Vereinbarung über einen Erbhof oder dessen Zubehör, also insbesondere die Veräußerung oder Aufnahme einer Hypothek, bedurfte der Genehmigung des Anerbengerichtes, das bei jedem Amtsgericht gebildet wurde. Eine Vertretung vor diesem war nur durch Anwälte „deutschen Blutes" zulässig. Auch Anträge oder Schriftsätze, die von einem jüdischen Anwalt oder Notar entworfen, aber von der arischen Partei selbst unterzeichnet waren, waren nach ausdrücklicher Vorschrift des Gesetzes zurückzuweisen. Also wurde der jüdische Jurist wieder aus einem großen Gebiet ausgeschaltet, auch wenn er an sich zugelassen war.
Seit Jahren vertrat ich die Eltern und Geschwister eines Bauern, die ihr ganzes Vermögen für den Ankauf einer Wirtschaft auf seinen Namen zur Verfügung gestellt hatten, denen er aber alles abstritt. Der Vater kam nach wie vor zu mir, hatte zwar die braunen SA-Hosen an, schimpfte aber in meinem Büro jedes Mal weidlich auf die Partei. Als er etwas später starb, las ich in der Zeitung eine Notiz: „PG ... ist gestorben. Er war das älteste und ein sehr verdientes Mitglied unserer Ortsgruppe der NSDAP.“
Schließlich wurden auch bei uns die ersten Stürmerkästen aufgestellt. Bekanntlich trugen sie die Aufschrift: „Die Juden sind unser Unglück." Einer davon stand an der belebtesten Straßenkreuzung unserer Stadt. Als ich am ersten Morgen nach der Aufstellung auf dem Wege in mein Büro daran vorbei ging, rief mir ein Mandant, der politisch der Wirtschaftspartei nahe gestanden hatte, in Gegenwart des dort stationierten Polizisten laut über die ganze Straße zu: „Eine Schande ist das, Herr Doktor! Man muß sich schämen." Zweimal wurden über Nacht die Glasscheiben von Stürmerkästen in unserer Stadt zertrümmert. Das Verfahren auf Wiedererlangung meines Notariats kam nicht vom Fleck. Immer hieß es, daß irgendwelche Auskünfte noch ausständen. Schließlich wurde mir selbst eine Rücksprache im Ministerium gewährt. Ich wurde von dem Sachbearbeiter, einem Ministerialrat, empfangen. Daß ich Mitglied der Liga für Menschenrechte gewesen war, genügte nach den ausdrücklichen gesetzlichen Bestimmungen allein nicht, um mich nach Paragraph 4 zu entlassen. Ich bat darum, mir doch zu sagen, was gegen mich vorläge. Die Antwort: „Sie haben sich in der demokratischen Partei betätigt." Ich erwiderte: „Das war die rechtsstehendste Partei, die für einen Juden in Frage kam." Der Ministerialrat: „Sie hat aber mit der Sozialdemokratie in der Wahl Listen-verbindung gehabt." Ich wies darauf hin, daß ich als Kriegsfreiwilliger mit 19 Jahren schon an der Front gewesen sei. Die Antwort: „Man hätte Sie sowieso eingezogen." Ich entgegnete: „Damals glaubte man allgemein, der Krieg würde schon Weihnachten 1914 zu Ende sein." Er: „Waren Sie verwundet?" Ich:
„Nein, aber der neben mir hängende Mantel war von Granatsplittern durchlöchert." Dann kam die Rede darauf, daß ich vielleicht ein kulturbolschewistisches Stück geschrieben habe (ein Lieblingsausdruck der Nazis). Ich hatte das Manuskript dabei. Er blätterte darin. Ob ich es ihm da lassen wolle. Ich ließ es ihm da. Ich betonte, daß das Stück eine Scheidungsreform propagiere, wie sie ja auch von der NSDAP vertreten werde. Tatsächlich wurde später eine entsprechende Erleichterung der Scheidung Gesetz. Er wollte die Sache prüfen, da noch ein Bericht ausstehe. Damit wurde ich entlassen.
Im Herbst 1934 setzte eine erneute Boykott-propaganda ein. Man stellte Posten vor die jüdischen Geschäfte und Fotografen daneben, um die Kunden im Bilde festzuhalten. Bei dieser Verschärfung sanken meine Chancen, das Notariat zurück zu bekommen. Im November 1934 erhielt ich den Bescheid, daß meine Eingabe endgültig zurückgewiesen sei. Ich erhob gegen den Staat Klage, indem ich einen geringen Teilbetrag als Schadenersatz geltend machte. Bei derartigen Klagen gegen den Staat war das Reichsgericht ohne Rücksicht auf die Höhe des Streitwertes als letzte Instanz zuständig. Ich begründete die Klage damit, daß ich als Frontkämpfer zugelassen sei und kein Grund zur Anwendung des Paragraphen 4 vorliege. Der Staat als Beklagter lehnte die Angabe von Gründen ab, da die Behörde es nicht nötig habe, Gründe anzugeben. Es gab Fälle, in denen das Gericht das Verfahren aussetzen konnte, um zunächst eine Entscheidung der Verwaltungsbehörde herbeizuführen. Auf . meinen Fall traf diese Vorschrift nicht zu. Trotzdem setzte das Landgericht Berlin auf Antrag des Beklagten das Verfahren aus. Die maßgebende Verwaltungsbehörde war in diesem Falle der Polizeipräsident von Berlin: Admiral i. R. von Lavetzow. Alte Soldaten hatten im allgemeinen für die jüdischen Frontkämpfer etwas übrig. Ich nehme an, daß seine Stellungnahme für mich nicht ungünstig war, denn nach einiger Zeit erklärte der Beklagte entsprechend meinem ursprünglichen Standpunkt, daß die Bestimmung betreffend Aussetzung hier nicht in Frage komme, und beantragte die Aussetzung wieder aufzuheben. Seine Verteidigung beschränkte sich darauf, daß die Behörde keine Gründe für die Entlassung anzugeben brauche. Ich verlor. Der Gegner willigte ein, daß ich unter Übergehung des Kammergerichts unmittelbar Revision an das Reichsgericht einlegen konnte. Es fand sich kein Anwalt vor dem Reichtsgericht, der bereit war, meine Sache zu übernehmen. So mußte ich bei dem Reichsgericht beantragen, einen Anwalt zu bestimmen, der meine Sache zu führen habe. Das Reichsgericht lehnte meinen Antrag ab, da die Revision aussichtslos sei. Damit endete der Prozeß. Das Reichsgericht hatte in ständiger Rechtsprechung immer die Auffassung vertreten, daß es einer Nachprüfung unterliege, ob bei der Entlassung eines Beamten die gesetzlichen Bestimmungen beachtet seien. In der Folgezeit ging es von dieser Praxis mit der Begründung ab, daß das unter der jetzigen Regierung nicht mehr nötig sei, denn bei dieser Regierung könne man sich darauf verlassen, daß die Beamtenrechte schon von ihr selbst ausreichend beachtet würden, so daß eine Nachprüfung durch die Gerichte nicht mehr in Frage käme. Nicht umsonst war die Unabhängigkeit'der Richter beseitigt worden.
Hausbau trotz aller Bedenken
Unsere in der Altstadt stehende Synagoge war schon lange baufällig. Jetzt verbot die Polizei endgültig ihre Benutzung. Die Gemeinde hatte schon vor 1933 Gelände für einen Neubau erworben. Trotz aller Bedenken beschlossen wir — ich war Repräsentantenvorsteher —, eine neue Synagoge unter Benutzung des alten Materials zu bauen. So wurde in der Neustadt, neben der Villa, in der ich wohnte, von der jüdischen Gemeinde ein neues Gotteshaus im Jahre 1934 errichtet und feierlich eingeweiht, wobei auch der christliche Bauunternehmer eine Ansprache hielt und unserem ersten Vorsteher dabei die Schlüssel übergab.
Bei dem Bau war noch ein Gelände mit langer Straßenfront übriggeblieben, das bis dahin Teil eines Gartens gewesen war und auf dem noch einige Kirschbäume standen. Mehr und mehr kam es vor, daß ich in meinem Büro die Stunden ohne Beschäftigung absitzen mußte. In meiner bisherigen Wohnung konnte ich kein Büro einrichten. Ich entschloß mich daher, zu bauen, da ich meine laufenden Unkosten dadurch herabsetzen konnte. Ich sagte mir, daß ich dabei nichts riskiere, da bei der fortschreitenden Geldentwertung ein Haus in dieser Lage immer seinen Wert behalten würde ... Obwohl ich vom Büro schon die Hälfte vermietet hatte, betrugen die laufenden Zinsen und Hauslasten nicht soviel, wie meine Mieten für Büro und Wohnung. Außerdem konnte ich das Personal noch weiter beschränken, wenn ich Büro und Wohnung zusammen hatte. Ich erwarb also von der jüdischen Gemeinde das betreffende Grundstück. Allerdings mußte der Vertrag vom Regierungspräsidenten genehmigt werden, da die Synagogengemeinde nach den bisherigen Gesetzen eine Körperschaft des öffentlichen Rechts war. Ich hatte im Frühjahr 1935 schon die Obstbäume, die dem Fundament Platz machen mußten, umsetzen lassen. Es wurde Zeit, mit den Bauarbeiten zu beginnen, da ich zum Herbst meine Mieträume freimachen mußte. Die Genehmigung des Kaufvertrages kam und kam nicht. Der Bauunternehmer — derselbe, der die Synagoge gebaut hatte — fuhr selbst zum Regierungspräsidium und bemerkte, daß er Leute entlassen müsse, wenn der Bau jetzt nicht beginnen könne. Er erhielt die Antwort: Es lägen Bedenken vor, weil das Grundstück vom Juden komme und zum Juden gehe. Schließlich wurde die Genehmigung dann doch erteilt. Im November 1935 konnte ich einziehen. Kurz vorher hatten wir eine besondere Krise durchzumachen. Es hieß, man würde nun doch die jüdischen Anwälte restlos ausmerzen. Von der Anwaltskammer kamen schon Fragebogen über arische Abstammung und dergleichen. Meine Frau wollte in unser Haus, das über Erwarten schön geworden war, gar nicht erst noch einziehen. Aber schließlich brachten die Reichsbürgergesetze vom Herbst 1935 den Ausschluß der Anwälte noch nicht.
Inzwischen hatte seit Herbst 1934 der Boykott mit erneuter Schärfe eingesetzt und ließ dann auch nicht mehr nach. Damit die Arier sich nicht damit entschuldigen könnten, sie wüßten nicht, daß der Betreffende, den sie aufsuchten, Jude sei, wurde an belebtester Stelle der Stadt eine Tafel aufgestellt, auf der alle in der Stadt wohnenden Juden mit Namen und Beruf verzeichnet waren. Ich hatte eine Reihe von Mandanten, die Kolonialwaren und dergleichen Artikel führten. Da ein großer Teil solcher Waren damals schon kontigentiert war, droht man, ihnen die Warenzuteilung zu kürzen. So verlor ich allmählich meine christlichen Mandanten bis auf wenige Ausnahmen, die wirtschaftlich unabhängig waren. Ein kleiner Ausgleich ergab sich dadurch, daß arische Anwälte keine Juden mehr vertreten durften und nunmehr alle Juden sich an mich wenden mußten. Indessen kamen deren Gewerbebetriebe allmählich auch zum Erliegen ...
Mehr und mehr Wirtschaftsgebiete wurden von der Zwangswirtschaft mit einem ausgedehnten Ordnungsstrafensystem ergriffen, über die nicht die Gerichte, sondern Schiedsgerichte der unter gesetzlichem Zwang gebildeten Berufsvereinigungen zu entscheiden hatten, manchmal auch Verwaltungsbehörden. Wehe dem Juden, dem man etwas anhaben konnte. Einmal erlebte ich allerdings eine erfreuliche Ausnahme. Bei einer ihrer üblichen Buchprüfungen, die übrigens bei allen Betrieben, auch den arischen, periodisch vorgenommen wurden, hatte die zuständige Wirtschaftsstelle in dem Betriebe meiner Schwiergermutter angeblich eine Reihe von Verstößen festgestellt, fast durchweg formaler Art, und eine sehr erhebliche Geldbuße verhängt. Ich legte das Rechtsmittel an das Schiedsgericht ein. Vorsitzender war ein Kammergerichtsrat, der wirklich objektiv nach rein juristischen Gesichtspunkten seines Amtes waltete. Beisitzer waren Getreidegroßhändler, die meinen Schwiegervater noch gekannt hatten, der in weitem Umkreis als Mensch und Kaufmann sich großes Ansehen erworben hatte. Der Richter verlangte vom Behördenvertreter strikte Beweise, die dieser größtenteils nicht einbringen konnte. So wurde der Ordnungsstrafbescheid im wesentlichen aufgehoben...
Schon die Schulmädchen beschimpften laut die Juden
Bei den Gerichten war, jedenfalls so weit ich beobachten konnte, selbst der Nachwuchs wenig nazistisch. Man erzählte sich, daß das nach dem zeitweiligen Justizminister Kerri, einem früheren Subalternbeamten, genannte Lager in Jüterbog, das die Referendare zum Assessorexamen zwangsläufig durchmachen mußten, ihnen den letzten Rest von Begeisterung austreibe. Einmal schüttete mir plötzlich ein Referendar, mit dem ich zufällig im Anwaltszimmer allein war, sein Herz aus. Er war Katholik. Er sagte: „Sie wissen nur, was alles den Juden passiert, aber Sie müßten mal unser katholisches Kirchenblatt lesen, was man da mit uns alles macht. Und dazu ist man noch obendrein SA-Mann." Der Leiter der Fachschaft Justiz in der Beamtengruppe, ein Kanzleibeamter, machte aus seinem Herzen keine Mördergrube und schimpfte oft ganz ungeniert über die Zustände. Nur ein Beamter, der neu an unsere Gerichtskasse versetzt wurde, hing dort zwei große Karikaturen von Juden auf, wie sie ohne Geld nach Deutschland hereinkamen und mit einem großen Geldsack auf dem Rücken wieder herausgingen. Dieser Beamte war aber auf unserem Gericht ein Einzelfall. Rechtspflege und Nazitum waren eben doch offenbar unvereinbare Dinge. Auch bei den Kollegen ging unter dem Einfluß der Zwangsgesetze die Praxis mehr und mehr zurück ... Derselbe Kollege, der mir damals das Auftreten vor Gericht hatte streitig machen wollen, schrieb jetzt viele Aufsätze für Fachzeitschriften und hielt wissenschaftliche Vorlesungen an einer Handelshochschule. Ich fragte ihn, ob er nicht zur Dozentenlaufbahn übergehen wolle. Er erwiderte: „Ich werde mich hüten. Wenn denen mal ein Wort oder Satz nicht gefällt, dann bin ich fertig. Ich versuche, in die Industrie zu kommen."
Die gesellschaftlichen Beziehungen zwischen Juden und Ariern hatten völlig aufgehört. Justizrat K hatte uns im Sommer 1934 noch einmal eingeladen, womit er ganz besonderen Mut bewies. Die Cafes schrieben „Juden unerwünscht". Nur die Lichtspieltheater waren uns noch zugänglich. Ein Versuch, die Lebensmittelgeschäfte zu einem Boykott ihrer jüdischen Kunden zu veranlassen, scheiterte an dem Widerstand der Geschäftsinhaber in unserer Stadt. Dagegen schickte der Friseur, bei dem meine Frau seit Jahren Kundin war, ihr und seinen anderen jüdischen Kundinnen einen Brief, daß er sie nicht mehr bedienen könne. Wenn wir irgendeine Zusammenkunft oder Feier hatten — ich spreche jetzt von der jüdischen Gemeinde —, mußten wir sie in unserem Gotteshaus stattfinden lassen. Zuweilen schickte uns der jüdische Kulturbund Künstler zu musikalischen Vorträgen. Auch diese mußten im Gotteshaus stattfinden. Sie mußten angemeldet werden. Ein Beamter der Polizei war dann anwesend.
Wir selbst hatten nun an unserem neu erbauten Haus unseren Garten, den ich selbst bearbeitete. Wir hatten unsere Gartenterrasse, auf der wir sitzen und uns erholen konnten. Aber ungetrübt dauerte diese Freude auch nicht lange. Die am Straßenzaun gepflanzten Kletterrosen waren noch zu jung, um schon gegen Sicht von der Straße zu decken. Diese führte zur Mädchenvolksschule. Die Schulmädchen ... schimpften laut: Juden und dergleichen. Da sie außer Sonntags zu allen Tageszeiten vorbei kamen, war man diesen Beschimpfungen ständig ausgesetzt. Bei der Einstellung des Rektors dieser Schule war dagegen keine Abhilfe zu erlangen. Eine Zeitlang wurde ich mehrmals am Tage schon in aller Frühe angerufen, wobei sich eine Mädchenstimme meldete und antisemitische Beschimpfungen von sich gab. Kaum hatte ich abgehängt, rief diese Unbekannte schon wieder an ... Auf meine Bitte bekam die Post die Sprecherin heraus, die dann mit ihrer Mutter bei mir erschien, um sich zu entschuldigen. Sie hatte von ihrer Lehrstelle aus angerufen, wenn dort niemand zu Hause war. Die Mutter sagte mir, sie und ihr Mann seien keineswegs so eingestellt, aber die Mädchen wären von dem Rektor so aufgehetzt und die Eltern kämen dagegen nicht an ... Die Arier, mit denen man durch seinen Beruf noch in Berührung kam, vertraten immer die Meinung, daß das Regime schon aus wirtschaftlichen Gründen sich nicht halten könne. Im Winter 1935 hatte ich in meinem Büro Buchprüfung vom Finanzamt. Ich war erstaunt, wie rückhaltlos sich der Beamte zu mir aussprach. „Warten Sie mal ab", sagte er, „was wir in einem Jahr für einen Fettmangel haben." Als die Blombergkrise noch schwebte, glaubte jeder, nun würde die Reichswehr endlich ernst machen. Die Arier selbst hofften ja immer auf die Reichswehr. Damals erschienen wieder Leute in meiner Praxis, die ich seit Jahren nicht mehr gesehen hatte. Es war, als ob die Menschen Morgenluft witterten. Aber immer hatten die Scharfmacher in der Regierung außenpolitisch recht behalten, so daß die gemäßigten Elemente in der Regierung sich gar nicht durchsetzen konnten. So ging es Schacht, Blomberg, Neurath, Fritsch und allen hinter ihnen stehenden Generälen. Hitler schluckte Österreich und nach einigem Hin und Her das Sudentenland nebst allen Grenzbefestigungen der Tschechoslowakei. Als der Vertrag von München durch das Radio gemeldet wurde, war ich drei Tage wie betäubt, als ob ich ahnen würde, was uns Juden nun bevorstand. Jetzt hatte die ganze Welt vor ihm gekuscht. Jetzt hatte der Führer nach niemandem mehr zu fragen.
Merkwürdig, daß das aus einer Zeit vor dem Münchner Abkommen datierte Gesetz über die endgültige Ausmerzung der jüdischen Anwälte erst nach dem Vertrag von München im Reichsgesetzblatt publiziert wurde. Im Jahre 1937 hatte ich mich zur Auswanderung nach Palästina vormerken lassen, wo ich siedeln wollte. Der erste Erfolg war eine Sperre meines Vermögens durch die Devisenstelle. Außerdem erschien ein Beamter der Zollfahndungsstelle per Auto von Berlin, um alles zu kontrollieren. Am 30. November 1938 mußte ich nun aus der Anwaltschaft ausscheiden. Zum 1. April wollte ich auf das Lehrgut Neuendorf bei Berlin gehen, um umzuschulen. Es kam alles ganz anders ...
Die , Reichskristallnacht'— Flucht vor der SS
Am Abend war englischer Unterricht, der stets in der Synagoge stattfand ... Nach dem Unterricht, der etwa um 8. 30 Uhr abends zu Ende war, saßen noch einige Bekannte von uns, die ebenfalls daran teilgenommen hatten, in unserer Wohnung. Infolge eines Trauerfalles stellten wir das Radio nicht an. Sonst wären wir vielleicht nicht ganz so ahnungslos gewesen. Unsere Schlafräume lagen im oberen Stockwerk. Die untere Etage hatte ringsum hölzerne Rolläden. Nachts weckte uns unser Mädchen mit dem Ruf: „Feuer, Feuer! Die Synagoge brennt." Unser Haus stand neben der Synagoge. Die Grundstücke waren durch eine hohe Steinmauer getrennt. Die Straße war als Villenstraße in offener Bauweise bebaut. Wir zogen unsere beiden Kinder und uns selbst rasch an und eilten auf den Hof. Ich glaubte zunächst, daß vielleicht vom Ofen her, der am Abend vorher wegen des Englisch-Unterrichts geheizt worden war, Feuer ausgebrochen sei. Ich hatte die Schlüssel zur Einfriedigung und zur Synagoge und hielt mich für verpflichtet, damit hinzugehen, da man sie vielleicht brauchen könne. Die Straße war noch leer. Nur einige SA-Leute standen vor der Umzäunung des Synagogenplatzes. Das Tor war auf. Der Tempel war ein Meer hell lodernder Flammen, fast ohne jeden Qualm. Der Wind trug die Flammen über unser Dach hinweg, so daß wir uns nicht trauten, ins Haus zu gehen. Inzwischen füllte sich die Straße mit Menschen. Ein Polizeibeamter forderte uns auf, auf unser Grundstück zu gehen. Unser Untergeschoß ist Hochparterre. Daher führt zur Haustür eine außen an der Seitenwand des Hauses befindliche Steintreppe, hinter der sich der Hofeingang zum Keller befindet. Vor diesem Eingang, also durch die erwähnte Steintreppe gegen Sicht von der Straße gedeckt, stand ich mit meiner Frau und meinen beiden Kindern, die damals zwölf und sechs Jahre alt waren. Neben uns standen unsere christlichen Portiersleute und unsere Hausangestellten. Besorgt beobachteten wir den Funkenflug. Mit seinem der Straße entgegengesetzten Ende grenzt der sehr tiefe Synagogenplatz an die Schuppen einer Dach-pappenfabrik. Auf dem Dach dieser Schuppen standen einige SSund Feuerwehrleute, löschten aber nicht.
Plötzlich kam mit langen Schritten ein SS-Mann zu uns auf den Hof, den Revolver in der Hand. Mit den Worten: „Da ist ja der Jude" trat er auf mich zu und drängte mich vor den Augen von Frau und Kindern in die hintere Ecke des Hofes. Ich hatte das Gefühl, daß er mich hier etwas mehr außer Sicht der auf der Straße stehenden Menschenmasse — unsere Grundstückseinzäunung deckte nicht gegen Sicht — abknallen wollte. Im Bruchteil einer Sekunde lief ich hinter unser Haus und sprang über den etwa anderthalb Meter hohen Drahtzaun, der hier den Hofraum von unserm Garten trennt. Die Nacht war durch Mondschein und das Flammenmeer des Tempels sehr hell. Aber an dieser Stelle war durch den Hausschatten, Bäume und Sträucher etwas mehr Dunkelheit. Ich rechnete damit, daß er mir einige Kugeln nachsenden würde, und blieb daher fest an den Erdboden gedrückt einige Sekunden liegen. Er schoß nicht. Ich überlegte einen Augenblick, geradeaus zu kriechen oder zu laufen und Kann über unseren seitlichen Zaun in den sehr großen Nachbarsgarten zu klettern. Dazu hätte ich aber ein sehr hell daliegendes Stück unseres Gartens durchqueren müssen und ein deutlich sichtbares Ziel geboten. Daher entschloß ich mich — all das geschah innerhalb von Sekunden — nach links um unser Haus herum zu laufen, so daß der SS-Mann vom Hof aus gar nicht auf mich schießen konnte. Ich wollte so, um das Haus herum, auf die Straße flüchten und mich in die Menschenmenge hinein retten. Als ich vom Garten unmittelbar neben der Straßenpforte über den Zaun sprang, der dort den Garten von unserem Hof trennt, wurde ich von drei Personen, darunter einem SA-Mann, gepackt und auf die Straße geschleppt. Mit dem Ruf „Schmeißt den Juden ins Feuer" schleifte man mich auf dem Bürgersteig vor die die Straße Kopf an Kopf, füllende Menschenmenge, die in völligem Schweigen verharrte, und an dem einzigen vorhandenen Polizisten vorbei zum Eingang des Synagogenplatzes — eine Strecke von etwa 30 Metern. Dabei wurde mir wiederholt auf den Kopf und ins Gesicht getreten. Vor dem Eingang des lichterloh flammenden Tempels stellte man mich noch einmal auf die Beine.
Jetzt kam der SS-Mann hinzu, der vorher auf unser Grundstück eingedrungen war und der offenbar die Aktion leitete. Er fuhr mich an:
„Du weißt ja wohl, weshalb das alles ist: Wegen Herrschel Grünspan". Ich: „Was können wir dafür, wenn einer im Ausland wahnsinnig wird. Unsere Religion verabscheut jede Gewalttat und überhaupt den Mord." Er: „Auf einmal." Da kam mir ein Gedanke. Ich öffnete meinen Mantel und zeigte auf die Abzeichen des Eisernen Kreuzes und des Ehrenkreuzes für Frontkämpfer, die ich an meinem Jakett trug. Ich sagte: „übrigens bin ich Kriegsfreiwilliger und Frontkämpfer und habe das Eiserne Kreuz." Er: „Na, das ist Ihr Glück. Versuchen Sie, ob Sie sich über die Mauer retten können. Dann werden Sie ja wohl noch einten Funken von Deutschtum in sich haben" (so ähnlich drückte er sich aus). Damit wies er auf die etwa 3 Meter hohe glatte Ziegelmauer, die den Synagogenplatz Von meinem eigenen Grundstück trennte — zur Straße ließ man mich nicht mehr 'durch. Ich warf den Wintermantel ab und versuchte das Unmögliche. Da die Mauer dem Fuß keinerlei Tritt bot, gelang es mir natürlich nicht.
Ich eilte über den von den Flammen taghell erleuchteten Synagogenplatz auf die entgegengesetzte Seite, die nur durch einen Bretterzaun von dem Villengrundstück getrennt war, in dem wir bis November 1935 gewohnt hatten. Alles spielte sich in Sicht der auf der Straße versammelten Menschenmenge ab, da auch der Synagogenplatz einen gegen Sicht offenen Straßenzaun hatte. An dem erwähnten Bretterzaun war aus Brettern die Sukko, eine für die religiösen Gebräuche des Laubhüttenfestes bestimmte Bude, errichtet. Hinter dieser überkletterte ich den Bretterzaun und befand mich nun auf dem Grundstück, auf dem wir sieben Jahre lang gewohnt hatten. Ich überlegte, ob ich weiter über das dann anschließende Schulgrundstück der Mädchen-volksschule in Richtung auf den Güterbahnhof fliehen und mich dann vielleicht über den sich dahin erstreckenden Bahnkörper unter Umgehung der Sperre in irgendeinen Zug flüchten sollte. Dann hätte ich aber den weiten Schulhof, der bei der hellen Nacht keine Deckung gegen Sicht bot, überqueren müssen. Außerdem waren mir die Einfriedigungsverhältnisse auf der anderen Seite des Schulgrundstücks nicht bekannt.
Da ich wußte, daß der auf der Rückseite der von uns früher bewohnten Villa befindliche Kellereingang stets offen zu sein pflegte, lief ich in halb gebückter Stellung darauf zu. Er war offen. Zum Glück war auch die innere Kellertüre, die zugleich den Eingang zur Portierswohnung bildete, unverschlossen. Dahinter befindet sich ein dunkler Gang, von dem die Türen zu den Wohnräumen des Portiers und zu den Kellern führen. Ich öffnete die Türe zur Küche, sie war leer. Da in der Küchentüre kein Schlüssel steckte, konnte ich sie nicht von innen abschließen. Ich stellte ei-17 nige Möbel vor die Türe, um mir etwas Aufschub zu sichern, falls man mich weiter verfolge. Ich öffnete leise das Küchenfenster, das an der Rückwand des Hauses lag, so daß ich es nur aufzustoßen brauchte, um hinauszuspringen, falls man durch die Türe in die Kü-, ehe dringen sollte. Ich selbst hockte auf dem Boden in kauernder Stellung, um nicht etwa durch das Fenster gesehen zu werden, das ja zu ebener Erde lag. Ich bewegte meine Füße in den Schuhen, um gelenkig und sprungbereit zu bleiben, denn sollte man in die Küche eindringen, würden mir nur Sekunden zur Flucht durch das Fenster bleiben. Wie ein verfolgter Verbrecher kam ich mir vor. Und das einzige Verbrechen bestand doch nur darin, Jude zu sein.
Mein Mißtrauen in die Rettungserlaubnis der SS erwies sich nur zu schnell als berechtigt. Plötzlich sah ich durch das Fenster einen SS-Mann den Gang auf dem Hof des Grundstücks abpatroullieren. Man hatte meine Flucht in den Keller wohl doch nicht beobachten können, denn er suchte offenbar auch nach Spuren in Richtung auf das anschließende Schulgrundstück. Da hörte ich Schritte schwerer Stiefel auf dem Kellergang vor der Türe. Nur diese unverschlossene Türe trennte mich von der suchenden SS. Hinter dem Haus stand auch ein SS-Mann. Der Versuch einer Flucht durch das Fenster hätte bei der hellen Nacht unter diesen Umständen wenig Chancen gehabt. Ich betete, daß sie nur die Küchentüre nicht öffnen mögen. Mein Gebet wurde erhört. Ich hörte die Stimme des Haus-wirts auf dem Gange: Sie sehen, hier ist doch niemand. Ich atmete auf, als ich die Schritte verhallen hörte. Jetzt fühlte ich mich gerettet. Bald darauf hörte ich die Portiersfrau kommen, die uns ja aus der langjährigen Mietzeit genau kannte und mit deren kleinen Jungen mein Töchterchen noch täglich zu spielen pflegte. Sie öffnete die Küchentüre. Ich flüsterte ihr gleich zu, um Gottes willen ruhig zu sein. Ich fürchtete, sie könnte vor Schreck einen Schrei ausstoßen. Sie sagte nur: „Um Gottes willen, Herr Doktor, wie sehen Sie bloß aus. Ich werde Ihnen mal erst das Blut abwaschen." Ich hatte in der Erregung bis dahin gar nicht bemerkt, daß mein Kopf und mein Gesicht von den Tritten mit den Stiefeln ganz voll Blut waren. Aber als sie versuchte, es abzuwaschen, begannen die Wunden erst wieder richtig zu bluten. Sie gab mir einen Schluck Wasser und führte mich dann in die Wohnstube, die sie von innen abschloß.
Jetzt hörte ich, daß man den Hauswirt, übrigens ein Arier, aber als Deutschnationaler bei der Partei nicht beliebt, verhaftet habe. Die Frau eines Oberstleutnants, unsere Mietsnachfolger in der Obergeschoßwohnung, mit denen wir noch auf Grußfuß standen, hatte alles mit angesehen und saß da und weinte. Ihr Mann sei halb bekleidet auf die Straße geeilt und hätte nur gesagt: „Was ist denn hier los?" Da habe die SS gleich geantwortet: „Scheren Sie sich in Ihre Wohnung." Als vom Hause her ein ähnlicher Ausruf gefallen wäre, habe die SS gleich zweimal nach dem Fenster geschossen. Der Sohn vom Oberstleutnant sei nur durch rasches Ducken einer Kugel entgangen. Die Feuerwehr habe nicht löschen dürfen. Schließlich sei ein Reichswehroffizier in Uniform erschienen und habe ihr strikt befohlen, zu löschen. Da erst habe die Feuerwehr eingegriffen. Jetzt, nachdem ich mich selbst außer momentaner Gefahr wußte, hatte ich Sorge um meine Frau, als ich von den beiden Schüssen hörte, denn sie mußte ja denken, daß diese mir gegolten hatten und ich tot sei. Da ihr Herz nicht das beste war, hatte ich die schlimmsten Befürchtungen ob und wie sie die Aufregungen dieser Nacht überstanden habe. Vorläufig konnte ich mich aber nicht hervorwagen. Die Portiersfrau lugte zuweilen hinter der Fenstergardine hervor. Noch immer war die SS draußen. Die Nacht wollte und wollte kein Ende nehmen.
Endlich dämmerte es. Das schwarze SS-Auto war abgefahren. Wir schickten zunächst den 7jährigen Jungen der Portiersfrau nach meiner Wohnung, um meiner Frau mitzuteilen, daß ich lebe. Er kam zurück und sagte, daß die Straße jetzt leer sei. Jetzt lief ich rasch nach Hause. Meine Frau saß im Herrenzimmer bei heruntergelassenen Jalousien mit den Kindern. Eine Verwandte von ihr war noch gekommen.
In Schutzhaft’ — „Ihr kommt alle ins Konzertlager"
Jetzt erfuhr ich, daß im Laufe der Nacht alle Männer unserer Gemeinde von der Polizei in . Schutzhaft'genommen worden waren. Der Polizeihauptmann, nicht mehr der früher erwähnte, sondern ein aus der SA hervorgegangener Nazi, sei dagewesen, um auch mich zu holen und sei sehr aufgeregt gewesen, als man mich nicht finden konnte. Meine Frau hatte ihm gesagt, ich sei erschossen, sie habe die Schüsse gehört. Er hatte aber strikt verneint, daß ich erschossen sei. Ich fragte meine Frau, ob sie nicht inzwischen einen Koffer gepackt habe, um gleich nach Berlin fahren zu könnten. Sie erwiderte, der Hauptmann habe ausdrücklich davor gewarnt., Die Aktion sei im ganzen Reich. Wir sollten sofort anrufen, wenn ich da sei, damit er mich auch in Schutzhaft nehmen könne. Nur so könne er mich schützen. Begäben wir uns allein auf die Straße, könne er für nichts einstehen. Meine Frau habe versprochen, sofort bei der Polizei anzurufen, wenn ich da sei. Ich mußte einsehen, daß ich mit meinem ganz blutigen Gesicht nicht weit gekommen wäre. Wir riefen die Polizei an. Der Beamte am Apparat sagte: „Der Hauptmann ist noch nicht da. Wollen Sie verreisen?" Das war ein-Wink.
Nach einiger Zeit erschien der Hauptmann mit einem Polizeibeamten. „Haben Sie irgendwelche Waffen im Hause?" Ich verneinte wahrheitsgemäß. Er fragte nicht weiter. „Sie sehen ja toll aus.“ Ich sagte, das sei nur äußerlich. „Wo haben Sie denn die Nacht über gesteckt?" Ich erwiderte: „Ich bitte, darüber schweigen. zu dürfen.“ Er fragte nicht weiter. Er sägte nur: „In diesem Zustande kann ich Sie nicht durch die Stadt fahren", und gab dem Polizeibeamten Anweisung, mich zunächst zum Verbinden nach dem Krankenhaus fahren zu lassen. Der Krankenwärter im Krankenhaus, der mich verband, kannte mich. Vorher hatte ich auf dem Flur den Polizeibeamten gefragt, ob uns die Polizei wirklich vor der SS schützen würde. Er sagte, in der Hand der Polizei seien wir vor der SS sicher. Der Arzt im Verbandsraum fragte mich, ob ich innerlich irgendwelche Beschwerden, habe. Ich hätte das nur zu bejahen brauchen, so wäre ich im Krankenhaus geblieben. Aber ich bildete mir ein, die SS würde mich eventuell noch aus dem Krankenhaus herausholen. So verneinte ich die Frage des Arztes und kam in Polizeihaft.
Da wir alle damals noch nicht wußten, was uns bevorstand und wirklich an die „Schutzhaft" glaubten, fiel mir, so merkwürdig es klingt, ein Stein vom Herzen, als sich die Zellentüre hinter mir schloß und ich mit den männlichen Mitgliedern unserer Gemeinde — es waren ja zugleich alles persönliche Bekannte — zusammen war. Sie sagten, sie hätten nicht mehr gehofft, mich lebend wiederzusehen. Den Kaufmann J. hatte die SS gleich in der Wohnungstüre erschossen. Dabei war das ein Mann, der weder politisch noch sonst irgendwie hervorgetreten war und ganz besonders zurückgezogen, lebte. Wir durften Besuch empfangen und uns auch Essen schicken lassen. Ich machte davon keinen Gebrauch, da die Kost durchaus zureichend und schmackhaft war. Durch die Besuche, die die anderen erhielten, erfuhren wir, daß der christliche Friedhofswärter inzwischen ganz allein die Leichen des Kaufmanns J. und des verstorbenen Schwagers meiner Frau beerdigt hatte. Nicht ein einziges Mitglied unserer Gemeinde hätte dabei sein können.
Am nächsten Morgen ließ uns der Hauptmann herunterkommen. Er fragte mich, ob ich Schmerzen habe, irgend etwas gebrochen sei und ich zum Verbinden wolle. Ich verneinte. Ich wollte gerade vor diesen Leuten keine Wehleidigkeit zeigen. Dann erklärte er in einer ironisch polternden Redeweise: „Ihr kommt alle ins Konzertlager. Von da könnt Ihr direkt auswandern. Hierher zurück gibt es nicht mehr. Dann geht Ihr alle zum Roosevelt. Der will Euch ja alle haben. Und nun geht es erst mal an die Arbeit. Daß sich mir keiner drückt." Wir wurden in den gegenüber dem Rathaus, wo sich das Polizeigefängnis befindet, gelegenen Laden eines mitverhafteten jüdischen Kaufmanns geführt. 'Wir sollten die ganze Ware aus dem Laden in die in der ersten Etage gelegene Wohnung schaffen, anscheinend um sie vor Diebstahl zu schützen. Ein Polizeibeamter blieb zur Aufsicht anwesend. Wir bildeten auf meinen Vorschlag eine Kette vom Laden über die Treppe bis zur oberen Etage und kamen so, die Ware von Hand zu Hand reichend oder werfend, mit der Arbeit rasch vorwärts.
Gegen Mittag erschien der Polizeihauptmann mit einem SS-Mann in irgendeinem Vorgesetztenrang, näch meiner Ansicht mit demselben, der in der Nacht auf meinem Hof gewesen war. Der Hauptmann meinte, das flutscht ja ganz gut. Irgendeine Fähigkeit zu körperlicher Arbeit trauen diese Leute dem Juden absolut nicht zu und sind überrascht, wenn sie das Gegenteil bemerken. Wir empfanden, daß sich von diesem Tage an die Einstellung des Hauptmanns und auch einiger Polizisten, die im Gegensatz zu den älteren Beamten der Partei näher standen, besserte. Während der Mittagspause konnten wir — wenn auch mit geduldeter Heimlichkeit — oben in der Wohnung auf kurze Zeit unsere Frauen sprechen. In der Nacht hörten wir die Feuersirene. Ich geriet in wahnsinnige Angst, denn ich dachte, es könne sich nur um unsere Villa handeln und man würde meine Frau und meine Kinder nicht herauslassen. Aber wir hörten die Feuerwehr sehr rasch zurückkommen. Man hatte das Schaufenster von dem vorerwähnten Laden in Brand gesteckt.
Die Erwähnung des „Konzertlagers" hatten wir nur für Angstmacherei gehalten. Wiederholt äußerte der Hauptmann hinterher: „Ich kann Euch noch nicht rauslassen. Die Stadt ist noch zu unruhig." Das stimmte. Wenn wir nur vom Polizeigefängnis zur Wache geführt wurden, stand ein feindseliger Pöbel da, wie man ihn vorher gar nicht gesehen hatte. Es schien, als ob das gewohnte Bürgertum von der Straße verschwunden sei. Wie wir jetzt durch Personen, die einigen Kameraden das Essen brachten, erfuhren, war man in der Nacht vom oder zum Freitag in die Wohnung meines Vetters eingedrungen. Seine Schwiegermutter hatte sich in ihr Zimmer eingeschlossen, das man zu ihrem Glück nicht aufbekam. Im Schlafzimmer, Herrenzimmer und Eßzimmer zertrümmerte man aber Möbel und Kristalle, Porzellane etc. Die Hausangestellte wurde verprügelt. Bei einem anderen mit uns verhafteten Glaubensgenossen, einem Mann von über 60 Jahren, hatte man noch schlimmer gehaust und dabei seine Frau so zugerichtet, daß sie mit schweren Verletzungen, darunter Knochenbrüchen, ins Krankenhaus kam. Sie lag noch danieder, als wir ca. Mitte Dezember wieder aus dem KZ kamen. Dem Manne selbst sagten wir nichts davon. Er wunderte sich nur, daß er von seiner Frau nichts zu hören bekam. In seiner Wohnung wurde auch gestohlen. Allerdings soll die Polizei zum Teil den Dieben auf der Treppe wieder Sachen abgenommen haben. Die verhafteten Kaufleute mußten alle dem Hauptmann die Geschäftsbücher herausgeben. Man*'wollte die Arier feststellen, die noch bei Juden gekauft hatten. Wenn ich hinsichtlich meines Hauses fragte, wurde mir von den Beamten gesagt, bei mir sei nichts passiert. Mein Bürofräulein, die noch mit Büropost erschien, sagte, bei uns seien nur die Scheiben der oberen Etage zertrümmert.
Im Konzentrationslager Oranienburg — „Jetzt lösen wir die Judenfrage, wie wir wollen"
Am Sonntag war es nun heraus, daß wir ins Konzentrationslager kamen. Vorher notierte der Hauptmann noch, welche Schadensversicherungen jeder hatte ... Im Laufe des Sonntags kamen noch Juden aus den kleineren Orten des Kreises, die mit unserem Transport zusammen fortgebracht werden sollten. Die Polizei veranlaßte noch, daß wir trotz der Sonntagsruhe unsere Ausrüstung an Kleidung und Wäsche vervollständigen konnten, indem sie Geschäftsleute telefonisch zur Wache bestellte. Aber unser Transport ging erst am Montag ab. Im Laufe des Tages kamen immer noch mehr Juden aus der Umgebung dazu. Der Hauptmann ließ uns noch auf Lagerfähigkeit untersuchen. Ich wurde frisch verbunden. Die obere Hälfte meines Gesichts war immer noch verpflastert. Einer blieb wegen Zuckerkrankheit zurück. In den Abendstunden wurde zum Abmarsch angetreten. Die begleitenden Polizeibeamten luden in unserer Gegenwart scharf. Einer der älteren Beamten hatte Tränen in den Augen, als er sich von uns verabschiedete. Drei von uns, darunter auch ich — alle drei Frontkämpfer — fuhren auf ausdrückliche Weisung des Hauptmanns in dessen Personenwagen mit ihm zusammen, die anderen in großen Omnibussen. Als wir auf die Straße traten, um die Wagen zu besteigen, stand dort ein Menschenhaufen, der antisemitische Schimpfworte und Drohungen ausstieß — offenbar bestellte Arbeit, denn man hörte dasselbe nachher auch aus anderen Orten erzählen.
Im Wagen begann der Hauptmann, sich zu unterhalten: „Jetzt hat auch England nachgegeben (München). Jetzt lösen wir die Judenfrage, wie wir wollen. Das kommt in der ganB zen Welt. Der Codreanu kommt in Rumänien auch noch heran. Die Araber lassen sich das in Palästina auch nicht gefallen. Die Engländer werden mit ihnen nie fertig werden. Ich kenne das Land vom Kriege her." In unserer Lage konnten wir nicht gut widersprechen. „Irgendwie wird das Judenproblem gelöst werden müssen. Vielleicht ist in China noch Raum." Als wir den Osten Berlins durchfuhren, staunte er; daß man hier keine. Zeichen von Zerstörung sah. An einer Stelle hatte man wohl den Weg nach Oranienburg verfehlt. Ich mußte aussteigen, um nach den Tafeln zu sehen. Die Versuchung war groß, auf irgendeine vorbeifahrende Straßenbahn zu springen und in Berlin unterzutauchen ... Aber schon die Rücksicht auf die Kameraden verbot das. Es ging weiter... Bald sahen wir Scheinwerfer kreisen und hielten vor einem Schlagbaum. Er ging hoch. Noch ein kurzes Stück Chaussee, dann ... durch ein hohes Tor, das die Aufschrift trug „Schulungslager". Die Wagen hielten vor einem zweiten Tor. Wir stiegen aus. Unser Hauptmann hatte uns zugesagt, für uns ein gutes Wort einzulegen, da wir uns in Polizeihaft gut geführt hatten. Kaum waren wir im Begriff, das zweite-Tor zu durchschreiten, da wurden den Vordersten von SS-Leuten die Hüte heruntergeschlagen. „Werdet Ihr wohl laufen, Ihr Schweine!" Nun hieß es, mit dem Koffer in der Hand Laufschritt machen, was den Älteren nicht leichtfiel. Manche kamen auch in dem Schmutz zu Fall. Vor einer langen, noch erleuchteten Baracke, müßten wir antreten. Andere Transporte hat man 24 Stunden so stehen lassen . wobei schon einige zusammenbrachen. Offenbar war es die Fürsprache unseres Hauptmanns, daß man uns gleich abfertigte.
SS-Leute, die hier graugrüne Uniform trugen, pflanzten vor uns Tafeln auf, die gehässige Inschriften trugen. Auf einer stand ironisch: „Wir Juden sind das auserwählte Volk." Auf anderen stand, was die Juden angeblich alles verbrochen haben. Wir mußten diese Inschriften teils.'einzeln, teils im Chor vorlesen. Plötzlich fragte uns ein SS-Mann: „Wo ist denn Euer Rabbiner, das Schwein?" Zu seinem Glück war dieser schon früher nach Polen ausgewiesen worden. Neben den SS-Leuten standen noch andere Gestalten vor der Reihe, deren Bedeutung wir noch nicht kannten. Diese rieten uns, nur unsere Frontkämpferabzeichen wegzustecken. Dann ging es etappenweise in die Baracke, die Schreibstube, hinein. Die Arbeit wurde von Häftlingen erledigt. Aber SS-Leute gingen hin und her und trieben zur Eile. Wir mußten unsere Taschen vollkommen leeren, die Wertsachen wie Uhr und Füllfederhalter gesondert von den anderen Sachen abgeben, ebenso das Geld abliefern. Alles das und unsere Personalien wurden genau aufgenommen. Dann untersuchte uns ein Arzt — offenbar ein jüdischer Häftling — kurz; nach der Art seiner Untersuchung anscheinend nur auf Läuse. Sodann ging es in den Baderaum. Die Kleidung wurde abgegeben, wofür man eine Nummer erhielt. Alsdann wurde geduscht, vorher noch kahl geschoren.
Bevor man nun in einer anderen Ecke dieses großen Raumes die Häftlingskleidung empfing, mußte man an einem SS-Offizier vorbei. So etwas von einer Mephisto-Visage hatte ich in Wirklichkeit noch nicht gesehen. Er saß da in schwärzer SS-Uniform mit der Mütze auf dem Kopf, wippte mit seiner Reitgerte auf den Stiefeln. Ein bleiches, von Ausschweifungen zeugendes Gesicht, pechschwarzes Haar, ein kleines Schnurrbärtchen, hervorstehende Backenknochen, dazu ein Monokel eingeklemmt. Neben ihm stand ein anderer SS-Mann, blond und gedrungen, wie Breitensträter. Der Schwarze winkte mich heran. Ich stand stramm, so gut man das ohne jede Kleidung kann. „Wo hast Du denn das her?" Er deutete auf meine Verbände. „Ich bin hingefallen," „So, wann bist Du denn hingefallen?" „In der Nacht vom 9. zum 10. November." Er schmunzelte verständnisvoll zü seinem Kameraden. Dann fragte er weiter: „Du bist wohl die Treppe heruntergefallen." Ich bejahte. „Es ist wohl sehr dunkel gewesen." „Jawohl." „Da hast Du wohl nicht gut aufgepaßt." „Nein." „Gut." Er winkte abtreten. In einer anderen Ecke empfingen wir nun unsere Sachen, bestehend aus dünner Unterwäsche, Strümpfen, Röck und Hose. Manche erhielten gestreiftes Flanellzeug, andere, darunter auch ich, eine ehemalige feldgraue Uniform. So trüg man sie, die einst im Weltkriege ein Ehrenkleid war, jetzt als Häftlingsanzug. Von unseren warmen Sachen, die wir uns noch besorgt hatten, sahen wir nichts. Mütze und Mantel empfingen wir nicht.
Draußen wurde angetreten und zu der uns zugeteilten Baracke abmarschiert. SS war jetzt nicht mehr dabei. Die Belegschaft einer Baracke — 150 bis 300 Mann — wird Block genannt und untersteht dem Blockältesten, einem langjährigen Häftling. Ihm sind zur Unterstützung der Stubendienste ebenfalls ältere Häftlinge zugeteilt: ein Schreiber, einer für die Sauberkeit in der Baracke, einer für die Schlafgelegenheiten, einer für die Verpflegung. Etwa fünf bis sechs Blocks unterstehen einem SS-Führer, dem „Blockführer''. Bettstellen waren in unserer Baracke noch nicht vorhanden. Es wurde Stroh auf den Boden des Schlafraums ausgebreitet. Wir erhielten jeder zwei Wolldecken.
Die Zeit des Morgenappells war so gelegt, daß bei Ende des etwa halbstündigen Appells die Morgendämmerung einsetzte, da man die Arbeitskommandos nicht im Dunkeln ausrük-ken lassen konnte. Damals war etwa um 6 Uhr Morgen-Appell. In der Baracke gab es einen Waschraum mit fließendem Wasser, ferner Becken zum Füßewaschen und ein Bekken zum Geschirr spülen. Zum Morgenfrühstück gab es eine gesüßte Sagosuppe und Kaffee, am Sonntag Marmelade. Wir . .. standen ... in dem Novemberregen mit kahl geschorenem Kopf ohne Kopfbedeckung und Mantel beim Appell auf dem großen Platz, der die gesamte Belegschaft, normal 6 000 Mann, jetzt etwa das Doppelte, faßte. Es war noch dunkel. Nur die erleuchtete Uhr über dem inneren Torbau schwebte körperlos im Dunkeln. Hier kam es darauf an, militärische Haltung zu bewahren. Bogenlampen an hohen Masten verbreiteten etwas Licht. Zuweilen hoben die herumwandernden Scheinwerfer eine Gruppe heraus. SS-Leute gingen zwischen den angetretenen Blocks herum. Wenn einer auffiel, etwa indem er die Hände auf den Bauch legte oder sprach, setzte es von der SS einen Fußtritt oder Backpfeifen. Später konnte es auch passieren, daß der ganze Block bestraft wurde, indem er, wenn alles nach dem Abendappell in die Baracken abrückte, am Tor stehen mußte und dann ohne Abendessen zur Nachtruhe abrückte.
Nach dem Morgenappell rückten wir zu unserer Baracke ab. Es wurden Leute herausgesucht, die als Soldaten Vorgesetzte gewesen waren. So machten wir Juden denn Fußdienst unter jüdischem Kommando. Bei dem Herum-marschieren zwischen den Baracken traf man allerorts Bekannte und Verwandte, da man die Juden von überall zusammengeholt und nicht allzuviele ausgelassen hatte, sogar aus Sudentendeutschland waren sie dabei, trotz der Abmachungen des Münchener Vertrages. So traf ich eines Tages auch meinen Bruder. Mittags war wieder Appell, anschließend wurde in den Baracken die Mittagsmahlzeit eingenommen. Die warme Mittagskost war schmackhaft zubereitet. Von dem Fleisch sagte man, es sei Walfischfleisch. Es schmeckte jedenfalls nicht schlecht. In der ersten Zeit schafften wir unsere Portionen nicht. Nach dem Essen wieder exerzieren. Das ging bis zum Abendappell, etwa um 6 Uhr. Die Zeit wechselte mit der Tageslänge. Er begann mit eintretender Dämmerung, wenn die Arbeitskommandos zurückkamen. Beim Abendappell wurden die Namen der zur Entlassung Kommenden verlesen, das heißt, es wurde aufgerufen, wer sich am nächsten Morgen in der Schreibstufe zu melden hatte. Dann rückte alles in die Baracken ab. Zum Abendbrot gab es Kaffee und abwechselnd Margarine oder Leberwurst, Käse, zuweilen auch Hering. Die Nahrungsmittel waren von guter Beschaffenheit. Das Brot entsprach dem Kommißbrot, wie wir es vom Militär her kannten. Die Brot-rationen wurden später gekürzt, weil wir zu-viel übrigließen. Um acht Uhr wurde das Licht gelöscht. Die Blockführer kontrollierten, daß um diese Zeit alles zur Nachtruhe gegangen war.
Die Schneider wurden herausgesucht. Man war dabei, jedem seine Häftlingsnummer und den gelben Davidstern, das Abzeichen der Juden-blocks, aufzunähen. Solange die Nummern nicht aufgenäht waren, konnten wir nicht zur Arbeit außerhalb des Lagers eingeteilt werden. Es ist bemerkenswert, mit wie wenigen SS-Leuten diese große Masse von Häftlingen in Schach gehalten wird. Der große Appell-platz liegt so, daß ihn auf der einen Seite der innere Torbau abgrenzt, auf dem sich ein Maschinengewehr befindet. An der Umfassungsmauer läuft mit Starkstrom geladener Draht entlang. Davor befindet sich noch ein Rasen-streifen. Vor diesem stehen Tafeln mit einem Totenkopf. Das bedeutet: Jenseits der Grenze dieser Tafeln ist die SS berechtigt, zu schießen. An verschiedenen Punkten der Umfassungsmauer befinden sich Maschinengewehr-türme, so daß jede Lagergasse von einem Maschinengewehr beherrscht wird. Mit Ausnahme des Küchenbaues und des Torgebäudes, in dem sich die Büros des Lagerkommandanten befinden, sind alle Bauten aus Brettern hergestellt und würden gegen die Kugeln der Maschinengewehre keine Deckung bieten.
Unsere Baracke war an dem betreffenden Ende des Lagers die letzte. Wir wurden gleich am ersten Abend von unserem Blockältesten instruiert, daß wir nicht über das Barackenende hinausgehen dürften, da sonst geschossen werden könnte. Schon in den ersten Tagen kam es vor, daß jemand gegen den Draht lief, um Schluß zu machen. Unser Blockältester teilte uns das als Abschreckung vor Nachahmung mit. „Denkt an Eure Familien, die auf Euch warten. Wir sind schon fünf Jahre hier, haben auch Frau und Kinder zu Hause und halten auch die Ohren steif." Es war überhaupt erstaunlich, welche moralischen und seelischen Kräfte diese einfachen Männer aus dem Volke hatten, mit denen sie uns oft in schwachen Stunden aufzurichten verstanden, wie sie bei gleichzeitig kameradschaftlichem Verhalten die nötige Disziplin, für die sie ja der SS verantwortlich waren, aufrechtzuerhalten wußten. Auch nahmen sie sich der älteren und weniger gewandten Kameraden an, damit sie nicht vor den SS-Leuten auffielen, indem sie diese zum Stubendienst verwendeten oder mit irgendwelchen leichten Sonderarbeiten beauftragten.
Zu unserem Glück gehörte der Blockführer, dem unser Block unterstand, zu den anständigen Vorgesetzten. Er schien aus besseren Verhältnissen zu stammen. Trat er in die Baracke und wir waren beim essen, so ließ er sofort „weitermachen". Beim Exerzieren meinte er einmal: „Wenn Ihr so weiter macht, macht Ihr es bald so gut wie die beste Ehren-kompanie." Aber dieser Blockführer war offenbar eine Ausnahme. Bei jedem Appell sahen wir, wie die SS-Leute um die angetretenen Blocks herumgingen, plötzlich jemand mit dem Stiefel ins Gesäß oder in den Leib traten oder Ohrfeigen austeilten, wenn er nicht geradeaus sah oder die Hände nicht an der Hosennaht hielt. Als wir einmal mit Abladen von Proviant für die Küche beschäftigt waren, sah ich, wie ein höchstens 17jähriger SS-Mann einen Häftling derartig in den Leib trat, daß er vom Platz getragen werden mußte.
Aussagenerpressung — „Dein Jesus hilft Dir doch nicht"
Als die Häftlingsnummer und der rotgelbe Davidsstern aufgenäht waren, wurden auch wir zur Außenarbeit eingeteilt. Ich gehörte zuerst zu einer Kolonne, die an einer Stadtrandsiedlung bei Oranienburg arbeitete. Unsere Vorarbeiter waren Häftlinge. Auch Juden waren darunter. Im äußeren Umkreise stand eine Postenkette von SS-Leuten. Kam man irgendwo über diese Postenkette hinaus, so hatte der Posten das Recht, zu schießen. Die Posten achteten gleichzeitig darauf, daß genügend gearbeitet wurde. Hier wurden Ziegelsteine von einem Ende zum andern befördert, indem wir eine Kette bildeten und uns die Steine zuwarfen.. . Oder wir mußten Steine tragen. Später habe ich dort am Bau einer Straße gearbeitet, mit dem Hammer Ziegelabfälle zu Schotter zerschlagen und aus großen Steinen, die aus den Hausabbrüchen von Berlin angefahren wurden, Straßenfundament gelegt — das reinste Mosaikspiel. In der ersten Zeit wurde zum Mittagessen in das Lager marschiert. Später gab es nur eine halbe Stunde Mittagsappell. Während dieser Zeit konnte man sein mitgebrachtes Essen, meistens trockenes Brot, solange wir noch kein Geld für die Kantine hatten, verzehren; man durfte auch rauchen. Das warme Essen gab es dann abends hach dem Schlußappell. Von dieser Arbeitsstelle aus konnte man die Häuser von Oranienburg sehen. Besonders die großen Scheiben eines Cafes blinkten verlockend herüber. So nah und doch unerreichbar weit: das bürgerliche Leben und die Freiheit. Schlimm war es, wenn es regnete und wir ohne Mütze und Mantel den ganzen Tag im Freien ausharren mußten. Es war ein Segen Gottes, daß dieser Winter so milde war, sonst wären wohl noch viel mehr von uns an Krankheiten zugrunde gegangen.
Einen Sonntag kannte man im Lager nicht. Nur einmal — ich glaube, es war der Toten-sonntag — gab es keinen Dienst. Wir sollten unser Zeug in Ordnung bringen und durften nach Hause schreiben. Die alten Häftlinge sagten, ein freier Sonntag habe es in den ganzen 5 Jahren noch nicht gegeben. Der Lager-kommandant kam dann bald fort. Man sagte, weil er zu milde gewesen sei. Den Unterschied merkten wir bald. Sonntags ging die Arbeit genau so über den ganzen Tag wie in der Woche. Auch wer nicht zur Arbeit eingeteilt war und im Lager blieb, durfte während des Tages nicht die Baracke betreten und mußte während des Mittagsappells das verzehren, was er sich in die Tasche gesteckt hatte. Die Baracken, die man schon begonnen hatte zu heizen, durften nicht mehr geheizt werden. Zum Stubendienst durften nur ganz wenige Leute eingeteilt werden, so daß auch die älteren Leute mindestens am Exerzieren teilnehmen und den ganzen lag im freien bleiben mußten. Kranke durften nur in der Baracke bleiben, wenn sie krank geschrieben waren. Sonst wurden sie streng bestraft. Wer sich krank meldete, mußte vom Schluß des Frühappells, etwa halb acht Uhr, bis mittags halb zwei am Torgebäude stehen, um dann erst zum Revier geführt zu werden. Wirklich Kranke waren gar nicht imstande, so lange in dem naßkalten Wetter herumzustehen, denn das war schlimmer als exerzieren. Nur wer auf dem Platz umfiel, was jeden Tag vorkam, wurde fortgetragen. Jeden Mittag sahen wir, daß Särge herausgeschafft wurden. Die ganze persönliche Gemeinheit des neuen Lagerkommandanten bewies er eines Tages, als ihm das Exerzieren auf dem großen Platz nicht gefiel. Er verbot zu exerzieren. Wir mußten in dem naßkalten Wetter die ganzen Stunden bis zum Appell stehen. In manchen Judenblocks waren Menschen bis zu 80 Jahren, die von ihren Kameraden vom und zum Appell geführt werden mußten. Manchmal hieß es: Alle, die mehr als eine Million haben, vortreten, dann, die mehr als 500 000, mehr als 10 000 Mark haben, einmal sollten auch alle Arzte vortreten. Wir nahmen an, daß sie für den Stürmer fotografiert wurden. Jede Woche, meistens am Freitag, war nach dem Abendappell Baden. Es waren Duschbäder, die sehr angenehm waren. Auch gab es jede Woche frische Wäsche.
Ich war sehr erfreut, als eines Abends schon in der ersten Zeit auch mein Name beim Appell aufgerufen wurde. Aber als ich dann hoffnungsfreudig am nächsten Morgen vor der Schreibstube stand, gehörte ich nicht zu denen, die zur Entlassung kamen. Ich mußte mich beim Lagerkommandanten melden. Ich sollte aussagen, wo ich mich in der Nacht vom 9. November versteckt gehalten hatte. Ich sagte wahrheitsgemäß, daß ich in der Küche der Kellerwohnung gewesen sei. „Du lügst! Du warst beim Oberstleutnant und beim Hauswirt." Ich erklärte, ich könne nicht die Unwahrheit sagen. „Du lügst, der Keller ist abgesucht worden." Ich sagte, die Küchen-türe sei aber nicht geöffnet worden. „Du warst beim Oberstleutnant." Ich verneinte, da ich nichts Unwahres sagen könne. „Du willst wohl 50 auf den Arsch haben oder an den Pfahl gebunden werden!" Ich blieb dabei, daß ich nicht die Unwahrheit sagen kann. „An den Pfahl mit ihm!"
Der Lageradjutant führte mich ab. Auf dem Treppenabsatz überholte mich der Lagerkommandant und sagte: „Nicht wahr, Du warst beim Oberstleutnant." Er wollte mir anscheinend um den Preis einer falschen Aussage noch den Pfahl ersparen. Ich verneinte. Der Adjutant führt mich zu dem Eingang einer inneren Mauer, die hinter unserer Baracke entlang lief und von der ich immer gedacht hatte, das sei schon eine Außenmauer. Die Türe öffnete ein SS-Mann und verschloß sie hinter uns wieder. In dem niedrigen ebenerdigen Gebäude befanden sich die Arrestzellen. Dahinter war ein kleiner Hof. Dort standen drei Pfähle, zwei waren bereits besetzt. Das Anbinden war eine der Lagerstrafen. Ich mußte auf eine Fußbank steigen. Dann wurden meine Handgelenke über dem Kopf am Pfahl festgebunden und die Fußbank fortgezogen. Die Fußspitzen berührten noch gerade den Erdboden, aber nicht so, daß sie irgendwie das Körpergewicht tragen helfen konnten. Bald verspürte ich starke Schmerzen in den Schultergelenken. Ich betete um Kraft zum Aushalten, damit ich nicht andere durch eine falsche Aussage schädige. Darauf der SS-Mann, der dort die Aufsicht führt, in sächselndem Dialekt: „Dein Jesus hift Dir doch nicht."
Nach einiger Zeit dachte ich mir, man würde mich doch so lange hängen lassen, bis ich klein beigeben muß, und die Aussage aus dem KZ würde doch keinen großen Beweis-wert haben. Mir fiel auch ein, daß die Hausangestellten des Wirts und des Oberstleutnants ohnehin das Gegenteil der von mir verlangten falschen Aussage bekunden mußten. Ich sagte, ich würde nun alles erzählen. Man ließ mich noch ein Weilchen hängen, dann kam ein anderer SS-Mann, band mich los und legte mir von hinten einen Strick um den Hals: „Jetzt wirst Du aufgehängt." Dann nahm er den Strick wieder herunter und führte mich in das Arrestgebäude. Unterwegs sagte er: „Jetzt wirst Du erschossen. Du glaubst es wohl nicht."
Im Vernehmungszimmer saß der Lageradjutant. „Wir bekommen alles heraus. Wir haben Fälle aufgeklärt, mit denen sich die Polizei jahrelang beschäftigt hat. Daß X — er nannte den Namen des Hauswirts — tot ist, wissen Sie." Wie gewünscht, sagte ich nun, daß ich in jener Nacht bei dem Hauswirt und dem Oberstleutnant gewesen sei. „Nun aber die Einzelheiten, sagen Sie alles ganz genau." Es war ein Katz-und Mausspiel. Ich wartete auf Suggestivfragen von ihm. Er aber suchte selbst jetzt den Schein zu wahren, als ob die Angaben frei von mir kämen und vermied möglichst Suggestivfragen. Er legte Wert darauf, daß mich die Betreffenden selbst in die Wohnung aufgenommen hätten. „Und nun die Bewirtung!" Zum Schluß meinte er: „Sie hätten sich das Anbinden ersparen können. Meinen Sie, mir macht das Spaß?" Er fragte nach Familienverhältnissen. „Ihre Frau wird sicher für die Auswanderung Sorge tragen. Dann werden Sie entlassen und können mit Ihrer Familie auswandern. Ich werde Ihnen Papier geben lassen. Schreiben Sie alles genau auf. Als Anwalt wissen Sie ja, worauf es ankommt. Wenn es zu einer Verhandlung kommt, müssen Sie als Zeuge vorgeführt werden." Ich wurde einem SS-Mann übergeben. Er wies mir eine Zelle an, dann führte er mich in eine aridere, wo Tisch und Stuhl standen. Als ich nicht gleich begriff, daß ich einen Tisch und Stuhl herausnehmen sollte, erhielt ich einen Stoß ins Kreuz.
Nun saß ich mit Tisch und Stuhl, versehen mit Papier und Bleistift, eingeschlossen in Einzelhaft. Ich empfand es als Ironie, daß die Gefangenenzellen mit Zentralheizung gut geheizt waren, während wir in den Baracken frieren mußten. Warum hatte der Adjutant nicht gleich ein richtiges Protokoll von mir aufgenommen? Warum schloß man mich hier erst noch ein? Wollte man nur eine schriftliche Erklärung von mir haben, um mich dann abzutun, damit ich nicht widerrufen kann? Diese Gedanken verfolgten mich. Ich schrieb die Vorgänge der Nacht nieder mit den gewünschten Unwahrheiten, unterschrieb aber nicht. Nach einer Weile erschien nicht der Adjutant, sondern zwei jüngere SS-Offiziere. „Sind Sie fertig?" „Ja." Sie sahen sich das Schriftstück an. „Unterschreiben Sie!" „Unterschreiben möchte ich erst, wenn ich aus dem Arrest heraus bin." „Los! Los! Unterschreiben Sie, der Herr Adjutant wartet." „Ich fürchte, wenn ich erst unterschrieben habe, komme ich hier nicht mehr lebend heraus. Darum will ich erst draußen unterschreiben." Man sollte auf mich eindringen. Ich ergab mich in mein Schicksal. Ich unterschrieb.
Ich war ja doch in ihrer Hand. Sie entfernten sich mit dem Schriftstück.
Ich war wieder allein in meiner Zelle. Ich beobachtete das Guckloch in der Türe. Würde man einfach durchschießen? Daß der Adjutant nicht selbst gekommen war, um ein richtiges Protokoll aufzunehmen, schien meine Befürchtungen zu bestätigen. Schließlich öffnete sich die Zellentüre, und ich wurde weiter in das Vernehmungszimmer geführt. Darin saß der Adjutant und ein SS-Mann an der Schreibmaschine. Er hatte mein Schriftstück in der Hand und diktierte entsprechend das Protokoll, in dem er die ganzen Vorgänge auf meinem Grundstück und das Hinschleifen zur Synagoge fortließ. Vor dem Unterschreiben fragte er plötzlich, ob ich schon polizeilich vernommen sei. Er wußte also ganz genau, daß meine ersten Angaben wahr gewesen waren, nicht die jetzt protokollierten. Ich verneinte. Dann ließ er unterschreiben und gab Befehl, mich zu entlassen. Er entfernte sich.
Derselbe SS-Mann, der mir vorher den Strick um den Hals gelegt hatte, gab mir nun meine Schuhe zurück, die ich dort mit Holzpantoffeln hatte vertauschen müssen. Dann ließ er mich aus dem Arresthaus heraus, machte aber keine Miene, das Tor in der Mauer aufzuschließen. „Jetzt wirst Du doch erschossen." Ich dachte an Tosca. Bestand ein anderer Befehl? War die in meiner Gegenwart gegebene Anweisung, mich zu entlassen, nicht ernst gemeint? Ich lief zur Mauerpforte und rüttelte daran. „Herkommen!" Ich kam wieder zurück. „Stell Dich an die Mauer." Er faßte an seine Pistole. Dann öffnete er endlich die Pforte in der Mauer: „Auf Schreibstube melden, daß Sie entlassen sind." Ich atmete auf. Es war inzwischen Nachmittag geworden. Ich lief über den großen Platz zur Schreibstube, um mich zu melden. Kaum war ich drin, erhielt ich von einem SS-Mann eine Ohrfeige und war gleich wieder herausgeworfen, bevor ich überhaupt etwas sagen konnte. Ich kehrte nun in meine Baracke zurück.
Im Laufschritt durch den Sand zur Arbeitsstelle und andere Schikanen
Die Kameraden waren schon in großer Sorge gewesen, da ich seit dem frühen Morgen fort war. Daß ich verstört aussah, war zu verstehen. Ich hütete mich natürlich, irgendeine Andeutung zu machen. Denn die Folgen konnte ich mir ausmalen. Der Blockälteste war im Bilde, wahrscheinlich von der Schreibstube her. Er band mir auf die Seele, nur ja den Mund zu halten. Es war rührend, wie die alten Häftlinge in unserem Block sich jetzt um mich kümmerten. Sie sahen nur meine Handgelenke an, wo ja die Striemen noch zu sehen waren, und sagten weiter nichts. Sie wußten Bescheid. Am nächsten Tag teilten sie mich zum Stubendienst ein, damit ich nicht aus der Baracke heraus brauchte. Solche Methoden schienen also häufiger vorzukommen. Ich lebte jetzt in ständiger Sorge, ich könnte noch vor meiner Entlassung, die ja nach der Bemerkung des Adjutanten von der Auswanderung abhing, zu einer gerichtlichen Vernehmung überführt werden. Ich hätte diese Aussage doch nie beschwören können. Ich schrieb (meiner Frau), daß eine möglichst schnelle Auswanderung in meinem Falle besonders dringend sei.
Da die Entlassungen vorwärts gingen, zuweilen 150 bis 200 Mann pro Tag, mußten jetzt auch die älteren Jahrgänge zur Außenarbeit in das Industriewerk. An sich zog ich die Arbeit dem Exerzieren vor, da man wenigstens warm wurde. Angst hatte ich aber vor dem Schleppen von zentnerschweren Zementsäk-ken. Dem fühlte ich mich nicht gewachsen. Die Kameraden rieten mir, mich gleich beim Aufruf zur Kolonne Nr. soundso zu stellen, die mit Sandschippen beschäftigt war. Wir marschierten in der Morgendämmerung nach dem Appell in langer Kolonne ab, auf beiden Seiten von SS-Posten mit Gewehr begleitet. Der Marsch geht durch wunderbaren Wald. Aber hier ist kein Raum für Naturgenuß. Die Rufe der SS-Posten: „Tritt! Aufrücken! Vordermann! Richtung", brechen nicht ab. Will man nicht Ohrfeigen oder Fußtritte ernten, heißt es aufpassen. Denn marschieren könne nur die Vordersten. Wir andern müssen immer wieder Laufschritt machen, da die Kolonne sich stets auseinanderzieht. So geht es eine halbe Stunde lang, bis das Industriewerk erreicht ist. Als endlich die ganze lange Kolonne steht, werden wir abgezählt. Dann treten die verschiedenen Arbeitsgruppen an. Einige SS-Posten, besonders als wir österreichische SS da hatten, benutzen das zu Schikanen. Alsdann werden Spaten geholt und im Laufschritt durch den tiefen Sand zu den weitauseinanderliegenden Arbeitsstellen abgerückt. Ich bin bei der Gruppe, die in einer Kette schaufelt und auf diese Weise den Sand von einer Seite zür andern schafft, wo planiert wird. Einer der Vorarbeiter hat Humor genug, zu kommandieren: „Vorwärts! Vorwärts! Die märkische Erde will bewegt werden." Hier staune ich, wie viele Handarbeiter es doch unter den Juden gibt. Wenn man einen Tiefbauarbeiter neben sich hat, kann man das Tempo nicht mithalten. Wehe dem,vor dem sich gerade ein Sandhaufen türmte, 5 wenn ein SS-Mann kontrollieren kam.
Eine andere Kolonne nannte man das Karusj seil. Wir waren noch halbwegs modern, indem wir uns eines Spatens bedienten. Im Karussell zog man sich den Rock aus und ihn verkehrt wieder an, so daß hinten die obersten Knöpfe zugeknöpft werden konnten. Dann hielt man den unteren Teil wie eine Schürze, ließ sich Sand hineinschippen und marschierte im Gänsemarsch zum anderen Ende der Fläche, wo man den Sand wieder fallen ließ. Da sich alles im Kreise bewegte der Name Karussell. Kam man wieder am ersten Punkte an, erhielt man seine Schaufel Sand in den Rockschoß und das Spiel ging so weiter. War SS in der Nähe, mußte alles im Laufschritt gemacht werden. Für die Zeiteinteilung aller Kolonnen waren die großen Loren maßgebend, die von einer anderen Arbeitsgruppe auf Gleisen gezogen und geschoben wurden. Hatten sie sieben Loren heraufgezogen, so war die Zeit zum Mittagsappell da . . .
Einmal hatte ich das Pech, daß gerade noch am Nachmittag ein Kahn mit Zement ankam.
Auch unsere Gruppe wurde zum Abladen kommandiert. Unten am Kanal lag der Kahn. Von der höheren Uferböschung führten zwei Bretterstege herunter zu den beiden Auflade-stellen. Der Zement befand sich in Papiersäkken. Es kam viel darauf an, daß einem der Sack richtig aufgepackt wurde. Ich öffnete wie alle vorn die obersten Rockknöpfe. Dann war auch ich an der Reihe, mich hinzusetzen und mir meinen Zentnersack aufpacken zu lassen. Ich war schon stolz, mich ohne Hilfe damit erheben zu können. Aber zuerst war es, als ob einem das Kreuz brechen würde. Mit gutem Schwung ging es über das Laufbrett zum Ufer herauf. Jetzt mußte man durch tiefen, losen Sand. Nun ergab sich eine andere Schwierigkeit. Wenn man den Kopf tief herunternahm, da der Sack mehr auf dem Nacken ruhte, so war das Gewicht am besten ausbalanciert. Aber dann sah man nur einige Schritte vor sich den Boden und konnte den Weg nicht sehen, wo der Zement hinzubringen war. Ich richtete mich nach den Beinen meines Vordermannes. Hob man den Kopf, um selbst seinen Weg zu sehen, so kam der Sack ins rutschen. Mit den Händen konnte man diese prall gefüllten Papiersäcke nicht fassen, um sie zu halten. Zum Glück war die Abenddämmerung nahe, und wir für dieses LMal bald erlöst. Einer ist eines Tages in den [Kanal gesprungen, wurde aber wieder heraus-I geholt.
Ich hörte nun von Kameraden, daß man von I den großen Loren nie zum Zementtragen fort-
geholt wurde. Daher trat ich beim nächsten I Mal gleich bei dieser Arbeitskolonne ein, bei der ich dann bis zum Schluß blieb. ... Einmal I erschienen bei dieser Arbeit zwei SS-Offiziere, sich oben auf die Sandhaufen und i streuten uns mit den Händen Sand auf den I Kopf, was ihnen kolossalen Spaß zu bereiten I schien. War die Lore voll, dann wurde sie auf I dem Gleis, auf dem sie stand, nach dem ent-Ende des Terrains gezogen. 12 I Mann mit zwei Langtauen mit je drei Knüp--peln zogen vorn wie die Wolgaschlepper, an-! dere schoben hinten und an den Seiten. In den Kurven ging es besonders schwer. ... [Die Strecke lief am äußersten Ende des Plat! zes entlang. Sie fiel dort in einer Böschung 'zum Rande eines Kiefernwäldchens ab. An dessen Rande stand die Postenkette der SS.
Einmal sahen wir, wie die SS einen Häftling herunterrief. Dieser war dumm oder ängstlich genug, hinunterzulaufen. Die SS ließ ihn hinlegen, sich im Sande rollen etc. Unser Block-ältester hatte uns instruiert, daß wir Weisungen der Posten, unsere Arbeit zu verlassen, nicht zu befolgen brauchten und auch die Posten ihren Platz nicht verlassen dürften. Es sei vorgekommen, daß die Posten einen Häftling so lange sich im Sande rollen ließen, bis er dabei über die Postenlinie herauskam, dann habe man ihn abgeschossen. Daher hatte der Dienst bei diesem Industriewerk auch den Namen „Kommando Schießplatz". Selbst habe ich derartiges nicht erlebt.
Eines Nachmittags erschienen zwei SS-Führer in unserer Baracke. Das 'Strammstehen und Aufspringen bei dem Ruf „Achtung" war ihnen wohl nicht schnell genug gegangen. Es waren nur der Stubendienst, also ältere Leute, außer mir so um 60 Jahre alt, anwesend. Sie kommandierten: „Hinlegen! Achtung! Hinlegen! Achtung!" Dann: „Marsch in den Schlafraum!" Unser Blockältester rief uns noch zu: „Brillen weg!" Im Schlafraum lag das Stroh für die Nacht auf einem großen Haufen. Da mußten wir uns hineinwühlen. „Volle Fliegerdeckung! Tiefer! Wir wollen euch gar nicht sehen!" Sie konnten sich darüber totlachen. Das waren so ihre Vergnügungen, um sich die Langeweile zu vertreiben.
Ein anderes Mal ertönte nachts die Feuersirene. Die alten Häftlinge hatten uns gesagt, daß bei dem Brand einer Baracke niemand lebend herauskäme. Die Maschinengewehre würden auf jeden schießen, der die Baracke zu verlassen wünschte. Heller Feuerschein stand am Himmel. Zum Glück war der Brand nicht im Lager, sondern auf der anderen Seite der Chaussee in den Baracken des dort stationierten SS-Regiments.
Eines Tages war wieder mal eine Besichtigung angesagt, u. a. auch von höheren Reichswehroffizieren. Schon am Vormittag durfte kein WC mehr benutzt werden. Das Verbot, die Baracken während des Tages zu betreten, wurde besonders scharf kontrolliert. Wir marschierten, besonders Viel ältere Leute, Stunden und Stunden auf dem großen Appellplatz herum. Da zuweilen die Natur stärker ist als Angst und Wille, ließen ältere Leute einfach im marschieren oder beim „rührt Euch" ihr Wasser, wo sie sich grade befanden. Es war ein Segen, daß es regnete und der Platz ohnehin feucht war. Kein Mensch sagte etwas. Auch Disziplin hat ihre Grenzen. Bei dieser Besichtigung fuhr ein Reichswehroffizier einen Blockältesten an, warum nicht geheizt sei. Es wurde jetzt Erlaubnis gegeben, die Baracken zu heizen. Besichtigungen waren überhaupt häufig, einmal auch von Pressevertretern. Die Nähe Berlins war wohl ein Glück für uns.
Entlassung gegen Grundstücksverkauf — „Den Preis bestimmt die Regierung"
An einem anderen Tage erhielt ich und einige andere Kameraden aus meinem Heimatort den Befehl, uns nach dem Abendappell in der Schreibstube zu melden. Während unser Block zum Baden abrückte, mußten wir zu unserem Leidwesen noch Stunden und Stunden herumstehen, ohne zu wissen, was uns er-wartete. Schließlich hörten wir, der Notar sei noch nicht da. Wir waren alle Grundstücks-besitzer. Es war ziemlich kalt; vom frühen Morgen an waren wir ohne wesentliche Nahrung auf den Beinen im Freien ohne Mütze, ohne Mantel. An diesem Abend wäre ich auch bald umgekippt, zumal man stundenlang auf einem Fleck stehen mußte. Wir wurden schließlich einzeln hereingerufen. Die Polizei verlangte den Verkauf unserer Grundstücke. Ich sollte meiner Frau eine notarielle Vollmacht erteilen. Ich wollte etwas über den Kaufpreis in die Verkaufsvollmacht hinein-nehmen. Der Notar erklärte: „Ich muß es ablehnen, über den Preis irgend etwas aufzunehmen. Den Preis bestimmt die Regierung." Wir unterschrieben natürlich alle. Was hätten wir in unserer Lage tun sollen? Da der „Völkische Beobachter" und der „Angriff" in den Blocks gehalten wurde, hatten wir ja die Gesetze gelesen. Aber Gesetze gaben ja nur den Ton an. Wesentlich war, was das volle Orchester des Parteiapparates daraus machte. Und das konnten wir im KZ nicht wissen.
Ein oder zwei Tage später war einer der Kameraden, die zu meinem Tisch gehörten, schon beim Morgenappell so krank, daß er nicht mehr ohne Hilfe stehen konnte. Da ich Tisch-ältester war, beauftragte mich der Block-älteste, mich um ihn zu kümmern. Ich führte ihn zu der Kolonne der Revierkranken. Als wir hörten, daß wir uns bis halb zwei am Tor anstellen müßten, sagte ich ihm, das würden wir beide nicht aushalten, dann wollten wir uns lieber irgendeiner Arbeitskolonne anschließen. Hier ist noch ein Vorgang nachzutragen, der sich bei der oben erwähnten Besichtigung abspielte. Einer von meinen Kameraden an unserem Tisch war schwer zuckerkrank. Seitdem er in der Baracke bewußtlos geworden war, erhielt er laufend seine Insulinspritzen. Am Tage der Besichtigung war der Sanitäter (alles Häftlinge) grade beim Spritzen, da erschien der SS-Arzt und warf unseren Kameraden mit einem Fußtritt heraus, daß die Kanüle abbrach. Er hat uns das sofort erzählt.
Kehren wir zu der Schilderung vom Eingang dieses Absatzes zurück. Alle Arbeitskolonnen waren schon abgerückt, bis auf die ältesten Leute, die zum Holzplatz geführt wurden. Wir traten dort ein. Der Holzplatz lag zwischen der inneren und äußeren Mauer des Lagers. Hier wurde Reisig von einem Haufen zum anderen hin und her getragen. Mein Kamerad mußte sich häufig übergeben und ich ihm den Kopf halten. Man kümmerte sich nicht weiter um uns, da man ja sah, daß er wirklich krank war. Zum Glück kam auch noch die Sonne heraus und verbreitete etwas Wärme (Dezember). Wir kamen aber noch in eine kritische Lage, da ausgerechnet eine Alterskontrolle an diesem Tage stattfand und wir ja für dieses Kommando viel zu jung waren. Es gelang uns glücklicherweise, uns um die Kontrolle zu drücken. Mein Kamerad meinte gegen Abend zu mir: „Du bist so ein guter Mensch, ich habe so ein Gefühl, Du wirst heute entlassen." Als wir abends zum Appellplatz zurückkamen und bei unserem Block eintreten wollten, blinzelte mir unser Blockältester zu. Ich trat näher. „Wirst morgen entlassen, gratuliere." Das Gefühl des Aufatmens und der Freude beschreiben zu wollen, ist mit Worten nicht möglich. Am nächsten Morgen standen wir, etwa 200 Mann, „frisch rasiert", wie es der Befehl vorschreibt, wenn es zur Entlassung geht, vor der Schreibstube. Warten, warten. Dann werden Namen aufgerufen. Wieder warten. Jetzt werden Gruppen gebildet, offenbar entsprechend der Fassungskraft des Bade-saales. Ich gehöre zu einer der letzten Gruppen. Wir sehen, wie auf Handwagen unsere Gepäckbündel angefahren werden. Schon steht die erste Gruppe bereits in Zivil am inneren Tor. Wir stehen nun vor dem Eingang der Badebaracke. Wer eine weite Reise hatte, konnte sich melden. Der bekommt ein sauber verschnürtes Paket mit geschmierten Stullen. Wir hätten uns alle gemeldet, hätten wir geahnt, wie lange sich die Entlassung hinziehen würde. Endlich kommen wir zum Baden heran. Zum Ankleiden finden wir unsere Zivilsachen als zusammengeschnürtes Bündel vor. In diesem Zustand waren sie desinfiziert worden. Danach sahen sie auch aus. Jetzt begriffen wir, warum die Entlassenen, die wir häufig vor der Arbeitsstätte in der Siedlung beobachtet hatten, immer den Hut in der Hand trugen, Die Hüte waren sämtlich zu klein geworden. Als wir angezogen waren, hieß es, alle Taschen nach außen umstülpen. Wir wußten, daß wir keinerlei Mitteilungen, nicht einmal die empfangene Post, mitnehmen durften. Nur amtliche Schriftstücke durften wir behalten. SS-Leute kontrollierten. Dann traten wir nach Namensaufruf an einen Tisch heran, wo ein anderer SS-Mann die Brieftaschen und die Wertsachen wie Uhr, Füllhalter und dergleichen zurückgab. Manchmal machte er seine Bemerkungen, so z. B. beim Anblick des Bildes meiner Frau: „Das ist also die Sara." Bei einem war der Pelzmantel nicht zu finden gewesen. Er wurde in allen Lagerräumen herumgeführt, bis er schließlich seinen Pelz fand. Nun konnten wir diesen Raum verlassen.
Jetzt standen wir wieder da, wo wir schon am Morgen gestanden hatten, aber in unserer Zi-B vilkleidung mit warmer Unterwäsche und im i Mantel. Die Blocks waren schon zum Mittags! appell angetreten. Nach einer Weile mar schierten wir zum Torhaus hinüber und traten • auf der Innenseite an, Front zum Appellplatz.
Der Lagerkommandant erschien: „Ihr werdet entlassen, damit Ihr schnellstens aus Deutschland verschwindet. Laßt Euch hier nicht zum zweiten Mal blicken. Wenn jemand eine Beschwerde hat, dann trete er vor." Es meldete sich keiner. Nun konnten wir das innere Tor passieren. Jetzt standen wir vor den Büros angetreten, die sich innerhalb der äußeren Umfassungsmauer befinden. Es war bereits Nachmittag geworden. Die, welche eine weite Reise hatten, packten die empfangenen Stullenpakete aus. Aber sie gaben kameradschaftlich ab. Wir wurden namentlich aufgerufen, um ein Formular zu unterschreiben, daß wir r keine gesundheitlichen Schäden erlitten und keine Ansprüche gegen die Lagerverwaltung hätten. In einem anderen Büro wurde uns eine genaue Abrechnung über das abgelieferte Geld — wir hatten jede Woche 15 Mark für die Kantine bekommen — vorgelegt und der Rest ausgezahlt. Geldtelegramme, die noch eingelaufen waren, wurden noch berücksichtigt. Nun waren wir eigentlich fertig.
Aber wir standen und standen. Alle Augenblicke kamen SS-Leute vorbei, was zum Strammstehen nötigte. Einer befahl uns, kehrt zu machen, damit unser Anblick sein edles Arierauge nicht beleidige.
Es wurde dunkel. Wir standen immer noch.
Wir sollten mit unserem Transport noch einige mitnehmen, die anscheinend auf telegraphische Weisung zur Entlassung kamen. Endlich in der Abendstunde erschien ein SS-Mann im Stahlhelm. Links um! Und unsere Kolonne marschierte aus dem äußeren Tor. Er führte uns bis zu dem Schlagbaum dicht vor Oranienburg, dann gab er uns frei. Frei! Jetzt lösten wir uns in Gruppen von Freunden und Bekannten auf. Manche kauften gleich in den Läden der Stadt Kuchen oder Zigaretten. Wir hatten ja seit dem Morgen nichts zu essen gehabt. Ich eilte, um zum Bahnhof zu kommen, um möglichst schnell Berlin zu erreichen.
Endlich, um sieben Uhr, fuhr der Vorortzug ab.
Als ich im Bahnhof Friedrichstraße die Rolltreppe zum anderen Bahnsteig hochfahren wollte, flüsterte es hinter mir: „Sie kommen von Oranienburg?" Schon die Gestapo? erschrak-ich. Da sprach er schon weiter: „Vom jüdischen Hilfsverein. Brauchen Sie etwas?"
Ich dankte. Manche hätten nicht einmal das Fahrgeld zum Nach-Hause-Fahren. Ich fuhr zunächst zu meinem Bruder, der schon früher entlassen worden war. Meine Frau hatte gerade an diesem Tage Berlin verlassen. Ich meldete mich telefonisch.
Ich wollte ohnehin erst am nächsten Tage heimfahren. Meine Frau empfing mich am nächsten Vormittag am Bahnhof. Oft hatte ich im KZ nicht mehr gehofft, diesen Augenblick noch erleben zu dürfen. „Ich müßte erst mal nach Hause, den Anzug wechseln." Der, den ich anhatte, sah von der Desinfektion aus wie ein Korkenzieher. „Laß sein", begütigte meine Frau. „Ich wohne mit den Kindern bei Muttern. Ich erzähle Dir alles später. Die Hauptsache, daß Du wieder da bist." „Dann nehmen wir ein Taxi und fahren zuerst zur Polizei, wo ich mich zurückmelden muß." „Uns Juden fährt hier keine Taxe mehr", erwiderte meine Frau. Aber die Straßenbahn, die Neustadt und Altstadt verbindet, nahm uns noch mit. Wie fremd empfand ich diese Stadt, in der ich 15 Jahre als Anwalt gewirkt, meine Existenz und meine Familie begründet hatte. Mich fror, aber es war nicht von der Kälte. Die Menschen sahen mich an, als ob eine Leiche wieder begonnen hätte zuwan-deln. Unterwegs erzählte mir meine Frau, daß. sie gestern grade das Haus verkauft habe und für unsere Familie die Fahrkarten nach Shanghai zu Ende März gelöst habe. Mir war alles recht, nur nicht länger in einem Lande bleiben, in dem wir nur noch Freiwild waren für jedermann.
Ich meldete mich auf der Polizei. Wir beantragten auch gleich unsere Pässe auf Grund der Schiffsbuchung, die meine Frau bei sich hatte. Danh begaben wir uns in die Wohnung meiner Schwiegermutter. Meine Frau brachte mir allmählich bei, daß unser Haus demoliert, unsere Einrichtung zerstört und alles radikal gestohlen’sei. Ich besaß nur noch einen Sommeranzug, den meine Frau mitgenommen -hatte. Nicht einmal ein Nachthemd hatte ich mehr. Meine Schwiegermutter war froh, daß ich wieder gesund zurück war. Der armen Frau hatte das Finanzamt für Judenabgabe und Reichsfluchtsteuer alles, sogar Schmuck und Möbel radikal gepfändet. Sie könnte sich ja nicht wehren, da ihr Sohn, der alles Geschäftliche genau kannte, noch immer im. KZ saß. Ich erfuhr, daß der Hauswirt der Nachbar-villa, der nach der Behauptung des Lager-adjutanten tot sein sollte, mich anrufen wollte. Er wollte den Synagogenplatz kaufen. Ich gehörte zum Vorstand der jüdischen Gemeinde. Der Adjutant hatte also gelogen, um mir die falschen Angaben zu erleichtern. Auch der Oberstleutnant war längst auf freiem Fuß. Mir fiel eine Zentnerlast von der Seele. Ich brauchte also keine eidliche Aussage mehr zu befürchten. Die Kinder konnten ihre Freude nicht so zeigen. Die Kleine hatte sogar eine gewisse Scheu. Später sagte sie mir, weil ich solch einen kahl geschorenen Kopf hatte. Sie fragte nur immer: „Papa, wann fahren wir nach Berlin?"
Nachmittags gingen wir zu unserer Villa. Die Haustüre war mit Brettern vernagelt, die Jalousien heruntergelassen. Wir gingen durch den Kelleraufgang hinein. Die beiden Türen zu den beiden Büroräumen waren aus der Füllung gehackt. Die Regale waren umgestürzt. Bücher und Akten lagen in wirren Haufen durcheinander. Von den vier großen Büro-Schreibmaschinen waren drei zerhackt, eine gestohlen. Den Geldschrank hatte man versucht zu erbrechen, aber es nicht ganz geschafft. Ich konnte durchfassen und den Kassenbestand aus der Kassette herauslangen. So hatten wir wenigstens etwas Bargeld . . . Meine Geige war gestohlen. Vom Flügel war nur der Deckel zertrümmert. . . Teppiche und Brücken waren noch da. Im Herrenzimmer waren die Scheiben des Bücherschrankes zertrümmert. Die Bücher lagen auf dem Fußboden herum. Alle anderen Möbel waren zerschlagen . .. Wir fanden noch die abgebrochene Schippe eines großen Spatens, mit dem offenbar das Zertrümmern besorgt worden war... So lag unsere kostbare Einrichtung, von der jedes Zimmer etliche tausend Mark gekostet hatte, in Trümmern. Von Küchengerät war nichts mehr zu finden . . . Drei Tage lang hat man sogar am hellen Tag unser Haus ausgeräubert. Unser Portier erzählte, er habe bei der Polizei angerufen, sei aber noch obendrein angeschnauzt worden. In den WC-Räumen lagen zum Teil noch Steine. Meine Frau erzählte, daß achtjährige Schuljungen unter Führung von Lehrern das Haus mit Steinen und anderen Wurfgeschossen bombardiert hätten. Auf ihren Anruf sei dann doch die Polizei erschienen und mit dem Gummiknüppel eingeschritten. Schließlich habe sie der frühere langjährige Chauffeur meines Schwiergervaters mit den Kindern unter dem Schutze der Polizei durch den die Straße füllenden Pöbel aus dem Haus geholt, da keine Taxe fahren wollte. Mein Bürofräulein und unsere Hausangestellten hatten noch angefangen, vor der Plünderung einen Teil der Sachen zu retten. Aber die Polizei verbot das, da erst alles durchsucht werden müsse.
Ich räumte zunächst im Büro auf, um die Akten herauszuholen, die ich nach Berlin mitnehmen mußte, da sie noch abzuwickeln waren.
Unter den Aktenhaufen lag die Haustüre.
Das Haus, um das sich viele Interessenten rissen, mußte meine Frau an einen Kollegen verkaufen, der SA-Führer war. Wie er sagte, „sähe es auch der Polizeihauptmann gern, wenn er das Haus bekäme." Er bekam es dann, auch 9 000 Mark billiger, als die anderen boten. Angeblich hätte es sonst das Arbeitsamt für die Hälfte bekommen. Der jüdische Verkäufer hatte ja nur zu unterschreiben. Außerdem wäre ich bei einer Weigerung meiner Frau wohl nicht so leicht aus dem KZ gekommen. Ich regelte nun schnell auf dem Finanzamt die erste Rate der Judenabgabe, um den hohen Säumniszuschlag zu vermeiden. Nach drei Tagen war ich mit den Akten so weit, daß wir nach Berlin in eine jüdische Pension ziehen konnten, in der meine Frau schon vorher in der Zwischenzeit gewohnt hatte, übrigens hatte man die Villa meiner Schwiegermutter anzünden wollen, „um die Weiber aus der Judenburg auszuräuchern". Die Hitlerjugend kam auch schon mit Trommeln anmarschiert. Aber der große Hund im Garten wirkte abschreckend. Man wollte auch bei den ärmeren Juden alles zerstören. Aber da soll die Reichswehr mit Einschreiten gedroht haben, falls die Polizei nicht endlich Ordnung schaffe. Da gab es endlich nach einigen Tagen, nachdem die Aktion von Herrn Goebbels bereits offiziell abgeblasen war, auch in unserer Stadt Ruhe.
Nicht Auswanderung, sondern Austreibung — ». • • frei, aber auch frei von allem Besitz“
In Berlin bezogen wir nun mit unserem Töchterchen ein kleines Zimmer in der erwähnten Pension. Unser Junge blieb bei meiner Schwiegermutter. Nach einigen Tagen kamen auch die Kisten mit den herausgesuchten Ak-ten an. Ich mußte nun von hier aus auch noch meine Praxis abwickeln. Außerdem galt es, unsere Familie erst wieder mit Kleidung und Wäsche zu versehen. Die Devisenstelle gab die beantragte Summe alsbald frei. Aber un-B ser Vermögen bestand nur noch aus Wertpapieren, die ja seit den Novembergesetzen jüdisches Depot waren. Es mußte daher noch eine Genehmigung der Wertpapierstelle hinzukommen, damit die Bank überhaupt Wertpapiere veräußern konnte. Nach längerer Zeit bekamen wir Bescheid, daß wir vorher die Rechnungen von den Einkäufen vorlegen müßten. Auf diese Weise waren wir gezwungen, möglichst bei den großen Firmen alles auf einer Stelle zu kaufen. Dann mußten wir uns die Rechnung geben und die Ware liegen lassen, bis nach einigen Wochen die Wertpapierstelle den Verkauf von Wertpapieren in entsprechender Höhe bewilligt hatte. Dann erst konnte die Bank das Geld überweisen, und wir erhielten die Ware. Es war überhaupt sehr schwierig, sich im Winter mit der erforderlichen Sommerwäsche und Sommerkleidung für die Auswanderung einzudecken. Leinenanzüge waren nur nach vielem Herumsuchen bei den verschiedensten Firmen aufzu-treiben, und nur in schlechter Qualität.
Da ich wußte, daß mein Beruf als Rechtsanwalt, der ja von den Gesetzen des Landes abhängt, für die Auswanderung denkbar ungeeignet ist, begann ich noch in aller Eile umzuschichten. Ich lernte kunstgewerbliche Damengürtel anzufertigen und die Herstellung flüssiger Seifen mit der dazugehörigen chemischen Theorie. Außerdem wurde fleißig englischer Unterricht genommen. Ich war jetzt schon so weit, eine englische Zeitung einigermaßen fließend lesen zu können, wobei mir allerdings die Kenntnis des Lateinischen sehr zustatten kam. Meine Frau, die für unsere Kleine schon immer selbst Kleidchen gefertigt hatte, ergänzte ihre Begabung durch Unterricht.
Da die Diebstähle in unserem Hause erst nach dem offiziellen Ende der „Aktion" stattgefunden hatten und stehlen angeblich überhaupt nicht dazu gehörte, machte ich Schadensmeldung bei meiner Versicherung. Der Direktor meinte, es 'sei ja ein ganzes Warenlager. Ich erhielt zunächst den Bescheid, daß noch Verhandlungen im Wirtschaftsministerium über diese Fragen liefen. Dann lehnte die Versicherungsgesellschaft mit der Begründung ab, daß die Diebstähle mit der Aktion zusammenhingen. Inzwischen war es hohe Zeit, bei der Devisenstelle die Packerlaubnis zu erreichen. Dazu mußte ein Verzeichnis aller mitzunehmenden Sachen eingereicht werden, getrennt nach Anschaffungen vor und nach 1933. Jeder noch so geringfügige Gegenstand ... mußte genau angegeben werden. Ohne diese Packerlaubnis durfte man nicht einmal einen Koffer mitnehmen. Die Devisenstellen konnten bei • dem damaligen Auswanderungsandrang ihre Arbeit gar nicht schaffen. Um bei der zu erwartenden sogenannten Gelddiskontabgabe nicht zu schlecht abzuschneiden, wies ich den Beamten bei der Devisenstelle darauf hin, was bei uns alles zerstört und gestohlen sei. Daß die Versicherung den Ersatz der Diebstähle mit Rücksicht auf die „Aktion" abgelehnt habe, wollte er kaum glauben. Als ich ihm wunschgemäß das Schreiben vorlegte, schüttelte er nur den Kopf. Damals bekam man seine Silbersachen noch mit. Von unserem Tafelsilber war ein erheblicher Teil übriggeblieben, weil es in der Anrichte durch die oberen Fächer nach unten durchgefallen war. Wir hatten nun unsere Aufstellung genau eingereicht. Schmucksachen — viel hatten wir nicht—, zu denen auch goldene Uhren gehörten, mußten von einem amtlich zugelassenen Schätzer taxiert und eingesiegelt werden. Gerade, als wir die Taxe eingereicht hatten, die noch innerhalb der damaligen Freigrenze fiel, kamen neue Bestimmungen, wonach Juden alle Gegenstände aus Gold und Silber abzuliefern hatten. Wir hatten nun einmal Pech. Entsprechend dem Geschäftsgang gab die Devisenstelle die Sachaufstellung der Zollfahndungsstelle weiter, die durch einen Beamten die Sachen zu besichtigen und dann ihr Gutachten an die Devisenstelle zu erstatten hatte. Die Besichtigung erfolgte alsbald. Aber das Gutachten ging bei der Devisen-stelle nicht ein.
Es war schließlich kaum noch , eine Woche, die uns von der Abreise trennte. Ich lief zur Devisenstelle, ich lief zur Zollfahndungsstelle. Endlich stellte sich heraus, der Beamte bei der Zollfahndungsstelle gebe das Gutachten nicht früher heraus, bevor nicht die Silber-und Wertsachen abgeliefert seien. Meine Frau mußte dann mit ihm zur Ablieferungsstelle gehen und alles, was uns noch von einigem Wert für die Auswanderung geblieben war, für ein nach Gewicht berechnetes Schandgeld abliefern, obwohl die Fristen noch gar nicht abliefen. Telefonisch — es war vier Tage vor unserer Abreise — erfuhr ich endlich, daß wir 5 000 Mark Golddiskontabgabe zu zahlen hatten. Mit 1 000 Mark hatte ich gerechnet. Ich hatte gar keine Zeit mehr zu Reklamationen. Das also war das Entgegenkommen, das mir als Kriegsfreiwilligem und auf Grund der Zerstörungen und Diebstähle des 9. November von der Devisenstelle in Aussicht gestellt war. Wir waren ja gezwungen gewesen, unsere Familien völlig neu einzukleiden. Nun mußte ich noch rasch die 5 000 Mark aus Wertpapieren flüssig machen. Am Sonntag mußten wir Berlin verlassen, um unser Schiff in Genua zu erreichen. Am Freitag vorher erfuhr ich endlich auf der Devisen-stelle, daß der genaue Betrag 5 300 Mark sei. Schleunigst regelte ich noch die restlichen 300 Mark. Am Freitag früh holte der Spediteur unsere Sachen zur Zollabfertigung ab. Die Packerlaubnis hatte ich noch immer nicht. Der Spediteur sollte mich auf dem Packhof mit der Packerlaubnis erwarten. Erst am Nachmittag hatte ich sie endlich in Händen und brachte sie sofort hin. Die Zollbehörde machte aber schon Dienstschluß. Wenigstens konnten noch meine Sachen in den Abfertigungsraum hineingeschafft werden, so daß wir sicher waren, am Sonnabend, an dem nur vormittags Dienst war, noch abgefertigt zu werden. Sonnabendmittag waren wir dann endlich soweit, daß wir unser Gepäck auf der Bahn aufgeben konnten.
Einige Wochen vorher hatten sich noch andere Schwierigkeiten ergeben. Meine Frau hatte natürlich auf den beträchtlichen Betrag für die Schiffskarten Genua—Shanghai für vier Personen nur eine Anzahlung leisten können. Die Devisenstelle hatte sofort auf Grund der Vorlage der Schiffsrechnung die Zahlung der Summe bewilligt. Die Wertpapierstelle verlangte aber plötzlich noch vorher die Einreichung der steuerlichen Unbedenklichkeitsbescheinigung. Die für die Fahrkarten unseres Schiffes gesetzte Zahlungsfrist drohte abzulaufen, etwa 6 Wochen vor der Abfahrt. Dann hätten wir unsere Fahrkarten eingebüßt und bei der starken Belegung aller Schiffe Schwierigkeiten gehabt, vor dem Herbst neue Fahrkarten zu erhalten. Beantragt hatte ich d'ie Unbedenklichkeitsbescheinigung schon im Januar und die mir gemachten Auflagen erfüllt, vor allem die genannten vier Raten der Judenabgabe voll bezahlt. Als ich jetzt das Finanzamt meines Heimatortes telefonisch erinnerte, stellte sich heraus, daß ich noch vorher die Einkommensteuer-und Umsatzsteuer-erklärung 1938 und 1939 abgeben müsse.
Meine Kassabücher hatte ich in meinem Büro gar nicht mehr vorgefunden. Auf Anfrage bei der Polizei, erhielt ich sie von dieser geschickt, bis auf eines, das gar nicht mehr aufzufinden war. Ich stellte die Steuererklärungen fertig, fuhr noch am Abend nach meinem Heimatort, um am nächsten Morgen gleich bei Dienstbeginn sie abzugeben. Die Beamten, die mich jahrelang kannten, waren entgegenkommend genug, meine Sache in aller Geschwindigkeit zu bearbeiten. Mittags hatte ich schon die Steuerbescheide und die Unbedenklichkeitsbescheinigung in Händen, erhielt sogar mein Guthaben, das ich durch die gesetzlichen Vorauszahlungen hatte, gleich ausgezahlt. Ich erreichte noch den Mittagszug nach Berlin und eilte vom Bahnhof gleich zu meiner Bank, um ihr die Unbedenklichkeitsbescheinigung abzugeben. Die Bank mußte ja erst noch die Urkunde der Wertpapierstelle vorlegen und deren Genehmigung erhalten, bevor sie Wertpapiere veräußern und an den Lloyd Triestino zahlen konnte. Aber in letzter Minute wurde auch das noch geschafft.
Am 26. März 1939, an einem Sonntagmorgen, fuhren wir von Berlin ab. Schlafwagen durften Juden nicht mehr benutzen. So wollten wir in München übernachten. Am nächsten Tag passierten wir die Brennergrenze. Während die Auswanderer aus den Berliner Wagen zu einer gründlichen Untersuchung aussteigen mußten und meistens diesen Zug gar nicht mehr erreichten, konnten wir im Zuge bleiben und wurden gar nicht mehr kontrolliert. Trotzdem atmeten wir auf, als der Zug endlich wieder anzog und wir Gestapo, SS und das Dritte Reich endgültig hinter uns zurückließen. Wir waren frei, aber auch frei von allem Besitz. Es war keine Auswanderung, sondern eine Austreibung. So fuhren wir im Schein der Frühlingssonne die Brennerstraße herab, die wir so oft mit der Bahn oder im Auto passiert hatten, teilweise auch aus Wanderungen noch genauer kannten. Noch einmal, zum letzten Male leuchtete uns diese herrliche Landschaft in allen Farben entgegen.
Unser Ziel aber war in jeder Hinsicht das Unbekannte und das Ungewisse.