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Das Überlebensprogramm | APuZ 44/1976 | bpb.de

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APuZ 44/1976 Das Überlebensprogramm Probleme der „Vermarktung" von Wissenschaft durch Massemedien. Rechtsfindung durch Sachverständige? Zur Problematik von Gerichtsgutachten

Das Überlebensprogramm

Frederic Vester

/ 17 Minuten zu lesen

Zusammenfassung

Das explosionsartige Anwachsen der Erdbevölkerung und die damit verbundenen, immer deutlicher werdenden Begleiterscheinungen lassen die Menschheit mit ihrem technisch-wirtschaftlichen System zu dem kritischsten Glied unserer Biosphäre werden. Jede Population, die rapide zunimmt, muß sich dieser neuen Dichte anpassen; sie muß ein anderes Verhalten, eine entsprechende Organisation sowie ein adäquates Bewußtsein entwickeln, soll es nicht zu einer Katastrophe kommen. Die zukünftigen Aufgaben unserer Gesellschaft lauten daher nicht mehr wie bisher, dieses System weiter auszubauen, sondern seinen Zusammenbruch zu verhindern. Ansatzweise finden bereits angemessene Reaktionen statt, beispielsweise die Einbeziehung größerer Zeiträume in die Entscheidungen und damit ein Umschwenken von kurzsichtigem symptomatischen Denken — die Korrektur von Fehlern — auf ein längerfristiges prophylaktisches Denken: die Vermeidung von Fehlern, Vorbeugung und kluge Steuerung. Bei all diesen Überlegungen und Maßnahmen lohnt es sich, zu fragen, mit Hilfe welcher Prinzipien die Natur so rationell arbeiten kann. Einige von ihnen, so die Prinzipien der Mehrfachnutzung, des Recycling oder der Symbiose, werden beispielhaft erläutert. Voraussetzung für die Wiederentdeckung des „biologischen Grunddesigns" ist jedoch, daß bereits in der Schule das rein intellektuelle Lernen überwunden wird und man zu einem mit der Realität verbundenen Lernen hinstrebt, welches die tatsächlichen Wechselbeziehungen nicht durchschneidet, sondern in den Lernvorgang mit einbezieht.

Zuerst als Vortrag gehalten anläßlich der Verleihung der Umweltschutzmedaille 1976 am 5. Juni in Köln. Der Vortrag basiert zum Teil auf der UNESCO-Studie des Verfassers „Ballungsgebiete in der Krise".

Krisenzeichen unserer Zivilisation

Das explosionsartige Anwachsen der Erdbevölkerung und die damit verbundenen, immer deutlicher werdenden Begleiterscheinungen im System Mensch-Umwelt lassen die Menschheit mit ihrem engmaschigen technisch-wirtschaftlichen System zwar zu dem immer dominierenden Glied, aber damit auch allmählich zu dem kritischsten Glied unserer Biosphäre werden.

Immer häufiger sind es Überraschungen von unerwarteter Seite, die uns auf diesem Planeten zu schaffen machen. Plötzliche Änderungen auf einem Gebiet, in das wir bewußt gar nicht eingegriffen haben. Es sind Einwirkungen, die nicht dort zu Ende sind, wo sie zunächst hinzielen, sondern die offenbar über ein dichtes Netz von unsichtbaren Fäden auf geheimnisvolle Weise miteinander in Verbindung stehen und dabei über unerkannte Rückkoppelungen — manchmal sofort, manchmal mit zeitlicher Verzögerung — ins Gegenteil dessen umschlagen können, was beabsichtigt war.

Eine Bakterienbekämpfung mit Antibiotika in der Massentierhaltung führt zur Resistenz der Bakterien und erhöhter Anfälligkeit, ja sogar zu plötzlichem übergreifen auf den Menschen, wie bei der japanischen Ruhrepidemie 1969 oder der Typhusepidemie in Mexiko 1972, di durch kein Antibiotikum mehr zu bekämpfen war. Eine Anlockung steuerbringender Industrien in wirtschaftlich schwache Gebiete unter Außerachtlassen der Umweltbelastung führt vielfach zu unerwarteten, zum Teil nicht mehr alleine zu bewältigenden Folgelasten für die Gemeinden. So z. B. die Rückwirkungen unbekümmerter Eingriffe auf dem Wassersektor.

Der hohe Lebensstandard durch Technisierung und hohen Energieverbrauch sollte den Kampf ums Dasein erleichtern, unser Leben sorgloser und gesünder machen. Das Gegenteil geschah. Die sogenannten Annehmlichkeiten haben uns anfälliger gemacht und trotz immer aufwendigerer medizinischer Versorgung unsere ständig steigende mittlere Lebenserwartung seit 1970 wieder absinken lassen.

All dies kann man als Rückwirkungen einer verzerrten Lebensweise betrachten: Der gewaltige Energie-und Materialeinsatz führte hier statt zu leistungsstarken Menschen zu einer Spezies, die durch Krankheit und Leistungsabfall, durch um sich greifende Drogen-sucht, Alkoholismus und Kriminalität immer labiler wird und unfähiger, jene technischen Hilfsmittel sinnvoll zu gebrauchen — gefolgt von einem Rekordanstieg der Soziallasten (inklusive Altersversorgung) um jährlich rund 27 °/o, der alle anderen Kostenexplosionen überflügelt.

Wir begreifen gerade noch direkte Schädigungen, wie Gifteinleitung in Gewässer, Luftverpestung oder Ausrottung von Tierarten, aber wundern uns bereits, wenn zunächst gar nicht als nachteilig empfundene Entwicklungen wie Straßenbau, Flurbereinigung und Monokulturen natürliche Ökosysteme allmählich zerstören, und erst recht, wenn sogar außerhalb der Natur die Störung von scheinbar stabilen und einst profitablen Systemen zu deren Zusammenbruch führt, etwa wenn Ballungszentren wie New York oder Detroit plötzlich genauso wie ein umgekipptes Gewässer nur noch durch Riesenkosten mühsam am Funktionieren gehalten werden können.

Woher das kommt, wurde in den Publikationen meiner Studiengruppe bereits an Hunderten von Beispielen und Gegenbeispielen ausgeführt Deshalb hier nur ein paar erläuternde Worte zu der Frage, worin nun der entscheidende Unterschied der modernen Zivilisation im Vergleich zu früheren Zeiten besteht. Einem außerplanetarischen Beobachter würde mit Sicherheit die plötzliche Zunahme der Menschendichte auf diesem Planeten mit dem Beginn der Neuzeit, also im Laufe der letzten 300 Jahre, aufgefallen sein; vor allem aber die zunehmende Dichte der vom Menschen geschaffenen „Systeme" wie Städte, Straßen, Fabriken, Landwirtschaft, Bergbau und Verkehr. Gerade zwischen diesen künstlichen Subsystemen unserer Zivilisation, ihren Auswürfen und Auswüchsen, ist kaum noch freier Raum, der, wie früher, unsere Eingriffe in die Biosphäre ausgleichen konnte, puffern konnte. Die ehe-mals gegenüber dem Menschen unendlichen Bereiche von Luft, Wasser, Boden, Tier-und Pflanzenwelt sind zu diesem Ausgleich nicht mehr fähig. Damit ist unsere Zivilisation zu einem dichten, weltumspannenden Netz geworden. Je größer die Vernetzung, um so mehr häufen sich aber auch die Rückwirkungen und Folgen auf irgendwelche Eingriffe, ganz besonders also in den Ballungsräumen der eng besiedelten hochindustrialisierten Länder wie der Bundesrepublik. Jede Population, die rapide zunimmt, und erst recht eine solche, die, wie die Menschen, sogar nicht nur selber, sondern auch mit ihren künstlichen „Lebewesen“ wie Autos, Fabriken, Konsumgütern, Schlachthöfen, Informationsnetzen usw. plötzlich so anwächst, daß sie eine neue Dichteschwelle überschreitet, muß sich dieser neuen Dichte und der damit verbundenen Vernetzung aller Teilbereiche anpassen. Sie muß ein anderes Verhalten, eine entsprechende Organisation, ein entsprechendes Bewußtsein entwickeln — oder sie wird früher oder später in einer Katastrophe auf die frühere Dichte-stufe zurückfallen bzw. ganz ausgelöscht werden.

Die Funktion des Dichtestreß

Biologie und Verhaltensforschung zeigen uns, daß diese kritischen, einschneidenden Stufen bei allen Lebewesen, von den Bakterien bis zum Menschen, zu beobachten sind

Mit dem Fortschreiten unserer Zivilisation und ihrer Ausdehnung haben wir gleichwohl noch nicht den nötigen Übergang auf eine der eingetretenen Verdichtung adäquate Betrachtungsweise vollzogen. Unter immer stärkerer Mißachtung der organisatorischen Grundgesetze überlebensfähiger Systeme sind wir bei einer Haltung verblieben, die vielleicht bei einer früheren Dichte und entsprechend geringeren Vernetzung angemessen war und die nun glaubt, mit immer größerem Energieeinsatz und immer schnellerer Produktherstellung all der Schäden und Rückschläge einzeln Herr werden zu können, die dieses unbekümmerte Draufloswirtschaften zunächst für unseren Lebensraum — und nun auch immer mehr für uns selbst — mit sich bringt.

Welch aussichtsloses Unterfangen! Wir sind dadurch in ein immer schnelleres Aufschaukeln, in einen Teufelskreis hineingeraten, der unweigerlich zum Zusammenbruch desjenigen

Systems oder auch Teilsystems führt, in dem dies stattfindet.

Es ist in der Tat ein unvermeidbares kybernetisches Gesetz der lebenden Welt, daß Teilsysteme, die wesentliche Grundregeln verletzen, die also aus Gleichgewichten ausscheren, Symbiosen mißachten, ihren Energieverbrauch multiplizieren und damit für das Gesamtsystem Biosphäre gefährlich werden, von alleine aus dem Lebensprozeß ausscheiden. Jedes auf solche Art das Gesamtsystem störende Glied bringt sich so selbst nach einem kurzen explosionsartigen Wildwachstum — oder umgekehrt durch immer rascheres „Einfrieren" — aus dem Spiel. Die Biosphäre, diese subtilste und doch zugleich zäheste Membran, die sich um unseren Planeten spannt, hat sich damit von dem störenden Subsystem befreit und kann sich erneut stabilisieren: eines der Geheimnisse des biologischen Lebens, mit dem es die phantastische Zeit von mehreren Milliarden Jahren bis heute überdauert hat.

Die zukünftigen Aufgaben der Gesellschaft sind daher nicht mehr wie bisher, dieses System als solches weiter auszubauen, sondern ihre ganze Kreativität einzusetzen, um den Zusammenbruch des Systems und damit ihren eigenen Zusammenbruch durch intelligente Steuerung zu verhindern.

In der Tat findet auf den verschiedensten Ebenen zur Zeit ein Umbruch im Bewußtsein statt.

Es ist die Einbeziehung größerer Zeiträume und damit ein Umschwenken von kurzsichtigem symptomatischen Denken, der Korrektur von Fehlern, der Bekämpfung von Giften mit Gegengiften, auf ein prophylaktisches Denken:

der Vermeidung von Fehlern, der Wappnung gegen Mißstände und Engpässe, der Vorbeugung durch kluge Steuerung.

Dieser Umbruch ist sowohl in der Medizin zu beobachten (Früherkennung, Krebsvorsorge, Gesundheitsparks, Elternberatung, Sexualberatung, Erkennung der Streßfolgen und ihrer Vermeidung) als auch im Sozialbereich zu erkennen (Resozialisierung von Kriminellen, Reformen im Strafvollzug, Sozialkundeunterricht, undauch hier: Elternberatung, Sexualberatung, Gruppentherapie und allgemeine Aufklärung). Der Umschwung ist gar in der Wirtschaft zu spüren. Dort ist klar, daß die Unabhängigkeit von energieintensiven Verfahren größere Garantie gegen Arbeitslosigkeit gibt als die Investition in immer neue Produktionsmaschinen und Rationalisierung, aber auch Garantie für das überleben einer Firma.

Und schließlich ist dieses Umdenken im Umweltbereich festzustellen, wo bislang die technokratische Symptombehandlung vorherrschte: höhere Kamine, bessere Filter, Abgasvorschriften, mehr Klärwerke, geordnete Mülldeponien und diverse Methoden zur Müllbeseitigung, Lärmdämmplatten und Lärmschutz usw. — alles Dinge, die enorm viel kosten.

Technokratischer oder prophylaktischer Umweltschutz?

Bei einigen Leuten, vor allem kurzsichtigen Politikern, führt dies zu der Haltung, daß wir uns in der Wirtschaftskrise Umweltschutz nicht leisten könnten. In der Tat, diesen technokratischen Umweltschutz können wir uns nicht nur heute, sondern auch in Zukunft nicht leisten. Es ist auch hier ein Umschwung auf Prophylaxe mehr denn je vonnöten, der gleichzeitig aber auch einen Großteil unserer wirtschaftlichen Probleme lösen kann: energiearme und energiesparende Verfahren, arbeitsintensive Fertigungsprozesse, kleinräumige Verbund-systeme und damit verringertes Verkehrsaufkommen, Recycling von Abfällen statt kostspieliger und verseuchender Deponie oder statt einer — erneute Luftverschmutzung verursachenden — Müllverbrennung. Es ist ein Umschwenken von energieintensiven Produkten wie Aluminium, Kunstdünger usw. auf sich selbst regenerierende Naturstoffe wie Holz und Kompost vonnöten, bzw. von rohstoffverschwendenden Techniken wie dem herkömmlichen Autobau auf langlebige Güter. Nehmen wir das Auto, unsere heilige Blechkuh, bei dem pro Wagen rund 25 000 kW-Stunden Energie bereits bei Kilometerstand 0 in der Herstellung stecken, und wo mit dem nur 13°/oigen Ennergiewirkungsgrad des Verbrennungsmotors — bezogen auf die Nutzleistung sogar unter 50/0! — die unbedenklichste Verschwendung kostbarer Güter wie Erdöl und anderer mit einer gleichzeitigen Denaturierung unseres Lebensraums einhergeht.

Wie wenig wir uns gerade heute diese nicht umweltbewußte Wirtschaftsweise leisten können, zeigen einige Zahlen der mittlerweile ins Uferlose gehenden Belastungen, wie sie vor allem einer jeder Logik entbehrenden Energie-politik entsprechen und dem damit verbundenen Ausverkauf oder, wie es Herbert Gruhl in seinem großartigen Buch nennt: Die Plünderung der Ressourcen und Lebensräume unseres Planeten.

Doch auch uns selbst beginnen wir zu plündern. Aus den statistischen Jahrbüchern ist zu ersehen, daß der Anstieg der sozialen Kosten und der Altersversorgung von 38 Mrd. DM im Jahre 1960 auf 210 Mrd. DM im Jahre 1974 ein ungeheuerlicher war, der sich zudem noch beschleunigt. Dies entspricht jener anfangs erwähnten jährlichen Wachstumsrate der Gesamtsoziallasten von über 27 °/o.

Nach den Untersuchungen von Professor Stumpf von der Universität Tübingen werden die sozialen und ökologischen Folgekosten allein des Autofahrens, die durch Kraftfahrzeug-steuern nicht annähernd gedeckt sind, auf mindestens weitere 35 Mrd. DM pro Jahr geschätzt — um nur ein typisches Beispiel zu nennen. Eine globale Krise also, die sich durch die Bevölkerungsexplosion, die rapide Rohstoffverknappung und die explosionsartige Verseuchung unserer Umwelt (mit der wir jedoch in Symbiose leben) immer deutlicher abzeichnet. Wir brauchen also neue Entscheidungshilfen. Doch woher können wir sie bekommen?

Eine Firma, die seit vier Milliarden Jahren nicht Pleite gemacht hat

Das einzige System, welches bisher eine vernünftige Garantiezeit des überlebens aufzuweisen hat, ist das biologische. Diese Lebewelt existiert seit rund vier Milliarden Jahren, und es lohnt sich sicher, einiges von einer Firma zu lernen, die über eine so lange Zeit nicht Pleite gemacht hat. „So weit, so gut" wird man vielleicht sagen, doch was soll ein System aus Algen, Plankton, verletzlichen Tieren und zarten Pflänzchen unseren Wirtschaftsbossen mit ihren gigantischen Technologien schon vormachen können? Nun, diese zarten Pflänzchen machen immerhin einen Jahresumsatz von 200 Milliarden Tonnen Kohlenstoff und organischem Material, produzieren über ihre subtilen Funktionsformen allein 100 Mrd. Tonnen Sauerstoff und verarbeiten selbst an Schwer-und Leichtmetallen wie Eisen, Vanadium und Kobalt, wie Magnesium, Natrium und Kalzium Jahr für Jahr zusammengenommen viele Milliarden Tonnen, ohne ihr überleben — so wie wir — zu gefährden.

Wir haben es hier also mit einem Energie-und Stoffumsatz gewaltigen Ausmaßes zu tun, mit einem System, das jedoch mit einem traumhaften Wirkungsgrad von bis zu 98 0/0 arbeitet, das weder Energie-noch Abfallsorgen hat — ein System, das eine wahre Fundgrube an technischen Raffinessen, an energie-sparenden Tricks und eleganten Kombinationen der verschiedenartigsten Technologien darstellt. Wollte der Mensch mit seiner heutigen Technik die Funktionen dieser globalen Superfabrik voll ersetzen, so brauchte er dazu sicher ein Tausendfaches der von ihr verbrauchten Energie und maschinell wahrscheinlich mehr Platz, als auf allen Planeten unseres Sonnensystems zusammengenommen vorhanden ist. Es lohnt sich also zu fragen, mit Hilfe welcher Prinzipien die Natur so rationell arbeiten kann: wie sie ihr Fließgleichgewicht gegenüber äußeren Störungen und Schwankungen aufrechterhält, ja sogar Neuentwicklungen und Metamorphosen des Systems erlaubt? Dazu gehorcht sie einer Handvoll eigenartiger Regeln, die man — da sie zumindest auf diesem Planeten als einzige funktionieren — als die Grundgesetze überlebensfähiger Systeme bezeichnen kann. Diese Regeln wurden nunmehr unter anderem auch der UNESCO in einer Studie im Auftrag des Innenministeriums zur ökologischen Planung von Ballungsräumen unterbreitet

Acht biokybernetische Grundregeln

1. Negative Rückkoppelung.

Die Natur (oder besser: die Biosphäre) ist ein System verschachtelter , Regelkreise. Ein Regelkreis stabilisiert sich über negative Rückkoppelung. Diese Selbststeuerung in Kreis-prozessen bzw. zwischen Grenzwerten ist das wichtigste Organisationsprinzip eines Teilsystems (z. B. einer Tierpopulation), sobald dieses innerhalb des Gesamtsystems (z. B.der Biosphäre) überleben will. Jedes Teilsystem, das endgültig in eine positive Rückkoppelung umschlägt (Circulus vitiosus), wird sich entweder nach oben oder nach unten aufschaukeln, d. h. entweder explodieren oder einfrieren. In beiden Fällen vernichtet es sich selbst und scheidet damit als störendes Glied aus dem Gesamtsystem aus, welches seinerseits (wie durch viele Beispiele im Laufe der Evolution bewiesen) gerade dadurch wieder ungestört weiterleben kann. 2. Unabhängigkeit vom Wachstum.

Das Einschaukeln eines Systems in ein stabiles Gleichgewicht ist unvereinbar mit einem kontinuierlichen Wachstum dieses Systems. Deshalb finden wir in biologischen Vorgängen immer nur entweder Wachstum (instabil, temporär) oder Funktion (stabil, permanent). Wenn ein Teilsystem wie eine Gehirnzelle durchgehend differenziert ist und dem Wachstum völlig abgesprochen hat, ist es in seiner Funktion optimal. Jedes System, jedes Verfahren, jedes Produkt — sie alle sollten daraufhin geprüft werden, ob sie auch nicht primär wachstums-orientiert, sondern funktionsorientiert sind. 3. Unabhängigkeit vom Produkt.

Die funktionsgerechte Ausbildung jeder „Zelle" eines Systems bedeutet zugleich, daß auch die jeweils gebildeten Produkte, um der Dauerfunktion zu genügen, vorübergehend und damit sekundär sind. Die Mitochondrien zum Beispiel, jene winzigen Atmungspartikel in unseren Körperzellen, sind im Prinzip kleine Kraftwerke und haben die Aufgabe, das Verhältnis zwischen Stoff-und Energieumsatz zu steuern. Sie können über ein und denselben Zyklus sowohl Kohlenhydrate zu Kohlendioxid verbrennen als auch die Zelle mehr auf die Herstellung von Aminsäuren abzweigen lassen — ein Prinzip, das für die kleinsten wie für die größten biologischen Kreisprozesse typisch ist. Danach dürfte sich z. B. das Volkswagenwerk nicht als Autobauer verstehen, sondern als im Verkehrsgeschäft befindlich; Elektrizitätswerke dürften sich nicht als Stromerzeuger, sondern als Energieversorger betrachten, was auch darin bestehen kann, die Energienachfrage zu verringern oder Energieverbrauch durch Alternativen zu ersetzen. 4. Das Prinzip des Jiu-Jitsu.

Die Natur liefert uns nicht nur Grundlagen für die Organisationsstruktur der Systeme selbst, sondern auch für die energiesparendste Art, diese Systeme dauerhaft zu unterhalten. Eines der Hauptmittel dazu erinnert an das Prinzip der asiatischen Selbstverteidigungsmethode, des Jiu-Jitsu. Es ist der Einsatz bereits existierender Kräfte und Energien (des „Gegners") und deren Steuerung und Umlenkung im gewünschten Sinne. Statt dessen wenden wir doppelt unnötige Energien auf, indem wir zunächst die vorhandene Kraft des „Gegners" mit eigener Kraft bekämpfen, sie annullieren, und dann noch mal erneut eigene Kraft für das einsetzen, was wir eigentlich erreichen wollen. Mit Energiekaskaden, Energie-ketten und Energiekoppelungen erreicht die Natur durch dieses Prinzip einen unvergleichlich hohen energetischen Wirkungsgrad. 5. Das Prinzip der Mehrfachnutzung.

Uberlebensfähige Systeme bevorzugen Produkte und Vorgänge, bei denen mehrere Fliegen mit einer Klappe geschlagen werden — im Grunde eine Spielart des Jiu-Jitsu-Prinzips. Möglichst nichts, was wir schaffen oder tun, möglichst kein Produkt und kein Verfahren sollten also nur für einen Zweck einsetzbar sein. Auf eine solche Mehrfachnutzung zielen letzten Endes sämtliche Punkte dieser Checkliste hin. 6. Das Prinzip des Recycling.

Eine exemplarische Realisierung der bisherigen Regeln bietet auch das Prinzip des Recycling: das nutzbringende Wiedereingliedern von Abfallprodukten (die die Natur überhaupt nicht als solche kennt) in den lebendigen Kreislauf der beteiligten Systeme. Dazu müssen wir von dem unvernetzten eindimensionalen Denken abgehen, in dem wir erzogen wurden — ein Denken, welches ja immer nur Anfang und Ende, eindeutige Ursache und Wirkung kennt. Denn in Kreisprozessen verschwindet automatisch der Unterschied zwischen Ausgangsstoff und Abfall, ähnlich wie im kybernetischen Regelkreis Ursache und Wirkung verschmelzen. Wenn jedoch einmal ein in der Natur vorhandenes Recycling, aus welchen Gründen auch immer, vom Menschen unterbrochen worden ist, stellt es sich nicht mehr von allein ein. Dann muß der Mensch durch sinnvolle Kombinationen und durch Ankurbelung neuer Symbiosen eine Steuerfunktion übernehmen, die früher die Natur erledigt hat. 7. Das Prinzip der Symbiose.

Symbiose ist das Zusammenleben artfremder Orgänismen und Systeme zu deren gegenseitigem Nutzen (im Gegensatz zur parasitären Ausnutzung). Sie hat in der Biologie die vielfältigsten Erscheinungsformen — von Darm-bakterien, die von der Nahrung des Menschen leben und ihm dafür lebenswichtige Vitamine aufbauen, bis zur globalen „offenen" Symbiose (zwischen Tier-und Pflanzenwelt über den Kreislauf von Photosynthese und Atmung. Symbiose führt immer zu einer beträchtlichen Rohstoff-, Energie-und Transportersparnis für alle daran beteiligten Glieder und damit zu /vervielfachtem, meist kostenlosem Nutzen. Je verschiedenartiger die Glieder sind, desto mehr 'Möglichkeiten zur Symbiose gibt es. Sie wird also begünstigt durch Vielfalt auf kleinem Raum. Große, gleichförmige Bereiche: zentrale Energieversorgung, reine Schlaf-Städte, Monokulturen (auch was Industriezweige und Produktherstellung betrifft) müssen daher auf die •Vorteile symbiotischer Beziehungen, und damit auch auf deren stabilisierenden Effekt, •verzichten — Beziehungen, die an und für sich bei anderer Aufteilung vervielfacht möglich • wären. Nutzung von Symbiosen bedeutet also IKleinräumigkeit bei Neuplanungen, aber auch asinnvolle Koppelung bestehender Einrichtungen auch im industriellen Bereich. (Hierzu ein Beispiel:

Die verschiedenen Umweltprobleme einer bestimmten Region sollten weniger dadurch ge1 löst werden, daß man etwa ein zusätzliches I Klärwerk für Abwässer baut, eine Anlage zur Vernichtung der Sägemehlabfälle eines Holz-Ibetriebes, daß man die konzentrierten Abfälle /einer Nährmittelfabrik deponiert, den Sied17 lungsmüll ablagert oder verbrennt und daß man hunderttausende Tonnen scharfriechender Fäkalien aus den Massentierhaltungen in die Flüsse kippt, sondern dadurch, daß man all diese Aufgaben in einem profitablen Kombinationsprozeß vereinigt.

In diesem Fall werden völlig andere Technologien eingesetzt werden, als wenn man die Probleme einzeln angeht. So sind zum Beispiel Klärwerke einzeln betrachtet nicht daran interessiert, Algen zur Entsalzung und Dephosphatierung der Abwässer einzusetzen, da sie nicht wissen, wo sie dann mit den Algen hin-sollen. Ebenso können Massentierhaltungen ihren Mist nicht der Landwirtschaft anbieten, da er zu scharf und bakteriell verseucht ist.

Holzwerke würden ihre Abfälle niemals verkompostieren, weil Holzkompost allein für die Landwirtschaft wegen fehlender Nährstoffe uninteressant sind. Nudelfabriken würden gar nicht wissen, daß ihre nährstoffreichen Abfälle in Humus verwandelt werden können, und die Städte zögern mit einer Kompostierung ihres Mülls, weil dies zu lange dauert und die Bauern trotz Anwendung eines solchen Komposts noch düngen müßten. All dies vereint könnte jedoch schlagartig alle genannten Probleme lösen. Die Massentierhaltungen könnten wieder Stroh in ihre Ställe einführen, mit den Algen der Klärwerke ihren Mist hygienisieren und zur aeroben Verrottung bringen. Die Sägeabfälle und geeigneter Siedlungsmüll würden dazu das nötige organische Strukturmaterial und reichhaltige Mikroben zur Revitalisierung der Böden liefern und die Nudelfabriken wertvolle Humusstoffe beitragen, so daß man ein profitables, marktfähiges Endprodukt herstellen könnte, das genauso streufähig ist wie Mineraldünger, dabei jedoch Bodenstruktur und Wasserhaltung verbessert, eine langsam wirkende Düngung sichert, den Boden revitalisiert und gesündere giftfreie Pflanzen erzeugen hilft. Der gesamte circulus vitiosus, beginnend mit fünf verschiedenen Abfallproblemen und endend mit Mineralsalz und Pestizidausschwemmungen, dem Umkippen von Gewässern und mit vielen Fremdstoffen in der Pflanzen-und Tiernahrung, könnte so durch jene „Symbiosen" ohne zusätzliche Kosten ein Ende finden. 8. Biologisches Grunddesign.

Unsere abschließende Regel soll neben der organisatorischen Kybernetik noch einmal die gestaltende Bionik zum Gegenstand haben. Jedes Produkt, jede Funktion und Organisation sollte mit der Biologie des Menschen und der Natur vereinbar sein. Dies betrifft so-wohl die grundsätzliche Tendenz in Richtung auf einen biologischen Anbau, auf . sanfte'Technologien als auch unsere Ernährungsgewohnheiten und die sogenannten Erleichterungen unserer übertechnisierten Lebensweise, die nur wieder zu erhöhtem Streß führt. Das biologische Grunddesign ist also nicht nur eine ökologische, sondern immer mehr auch eine ökonomische Forderung. Die Gesundheit von Mensch und Natur ist schließlich über Sozial-kosten und Umweltbelastung eng mit der gesamten Volkswirtschaft verflochten. Der Verlust der Selbstreinigungskraft von Flüssen bedeutet ebenso schlagartig eine finanzielle Belastung wie etwa der Verlust der Immunabwehr des Menschen durch Streß, der über Krankheit und Leistungabfall zu hohen Soziallasten führt.

„Lernen mit der Umwelt" heißt „besser lernen"

Unsere Bewußtseinsbildung hierzu muß bereits in der Schule ansetzen. Wir müssen das rein intellektuelle Lernen überwinden, welches sowieso kaum funktioniert — daher die heutigen Schwierigkeiten und der zunehmende Schulstreß —, und zu einem mit der Realität verbundenen Lernen hinstreben, welches die tatsächlichen Vernetzungen und Wechselwirkungen nicht durchschneidet, sondern sie in den Lernvorgang miteinbezieht. Nur so wird das Erlernte wirkungsvoll verarbeitet: im Verbund mit Organismus und Umwelt.

Bisher gibt es leider kaum Hilfen, weder für Lehrer noch für Schüler, daß dies in sinnvoller Weise geschieht.

Das Ergebnis unseres Unterrichts ist daher vielfach noch ein zufälliges Nebeneinander . unzusammenhängender Fakten und Stoff-Fetzen. Und am nächsten Tag wird das nächste Sammelsurium hinzugestopft — und bleibt uns so fremd wie das vom Tag zuvor. Ständige Empfindung: Angst vor dem Unbekannten — Streß. Durch zunehmende Abstrahierung und Akademisierung spielt sich somit das Lernen in der letzten Zeit immer mehr ohne das so wichtige Suchen, Aufspüren, Vergleichen ab, ohne Neugierde, ohne Erkennen-Wollen und Anwenden-Wollen. Der Stoff wird zum völlig abgestorbenen toten Ballast.

Man glaubt, keine Zeit mehr für ein solches Erarbeiten zu haben, sondern höchstens noch für das Merken. Ja, das Suchen, das Über-Fehler-Finden wird bereits als Versagen eingestuft. Das Ergebnis ist interessant: Es wird nicht etwa Lernzeit eingespart. Im Gegenteil: Das Lernen geht so viel langsamer als über den nicht abstrakten, mit der Realität verflochtenen Weg. Denn die Schüler haben ja keine Möglichkeit mehr, das so Gelernte anzuwenden, auszuprobieren, sich daran zu erfreuen, Erfolgserlebnisse zu haben. Weder in ihrer Alltagsbeschäftigung, in ihrem Streben, die Welt zu verstehen, noch etwa zu Hause in der Familie. Die Umwelt wird also bereits beim Lernen aus unserem Bewußtsein ausgeschlossen. Und damit ist sie natürlich auch später, bei der Anwendung des Gelernten, in unseren Köpfen nicht präsent. Wir sehen die Dinge immer mehr isoliert — immer weniger in ihrem realen Kontext unseres Lebensraumes. Dies — und nicht etwa, um möglichst noch schneller und noch mehr Wissen in unser Gehirn zu stopfen — war auch der Anlaß, daß unsere Studiengruppe sich so intensiv in ihrer aufklärenden Öffentlichkeitsarbeit mit dem Gebiet der Lernforschung beschäftigt hat. Und vielleicht war auch dieser Hintergrund für die vielseitigen Auswirkungen ihrer Publikationen und Fernsehfilme verantwortlich

Das Problem der Isolierung eines Arbeitsgebietes vom Kontext mit der umgebenden Realität gilt nun selbst für den Naturschutz. Auch er muß von seiner konservierenden, Oasen bildenden Philosophie abrücken und sich der Umwelt öffnen. Denn jene Philosophie wird zwar in kleinen Bereichen, quasi als Alibi für die ganze Welt, für kurze Zeit funktionierende Ökosysteme erhalten, dies jedoch mit der Konsequenz, daß draußen herum alles um so ungehemmter zusammenbrechen kann und dann selbstverständlich auch irgendwann jene Oasen mit sich reißt. Eine Öffnung des Naturschutzes auf eine Integrierung mit den menschlichen Lebensräumen, die nun einmal da sind, mit unserer technischen Zivilisation und damit die Anregung zu deren Entwicklung in Richtung auf eine sanfte Technologie, wie sie uns in jedem lebenden System vorexerziert wird (unter Nutzung und nicht Zerstörung des so leistungsfähigen Naturhaushalts), ist daher das Gebot der Stunde. Die Verleihung der Umweltschutzmedaille darf als ein wesentlicher Beitrag zur Weckung des Interesses in dieser Richtung angesehen werden, nicht zuletzt zur Bewußtseinsbildung in Richtung auf ein neues prophylaktisches Denken; und ich freue mich besonders, daß dieses Jahr gerade die so dringenden Gebiete des Recycling, der Abfallverwertung und der Kompostierung, also durchaus Themen eines aktiv dynamischen und nicht lediglich konservierenden Umweltschutzes, für die Verleihung der diesjährigen Medaillen ausgewählt wurden.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Vor allem in den Büchern „Das Überlebensprogramm" (1975) und „Das Kybernetische Zeitalter" (1974), in denen auch entsprechende Alternativen entwickelt wurden.

  2. Der biologische Mechanismus und die Funktion dieser Vorgänge und Konsequenzen wurden vom Verfasser beschrieben in: Phänomen Streß, Stuttgart 1975.

  3. Herbert Gruhl, Ein Planet wird geplündert, 1976.

  4. F. Vester, Ballungsgebiete in der Krise — Urban Systems in Crisis, Stuttgart 1976.

  5. U. a. durch die dreiteilige Filmserie „Denken Lernen Vergessen“ und das weiterführende Begleitbuch unter dem gleichen Titel (Stuttgart 1975).

Weitere Inhalte

Frederic Vester, Dr. rer. nat. habil., geb. 1925 in Saarbrücken; Studium der Chemie an den Universitäten Mainz und Paris; 1958— 1966 Assistent und Lehrbeauftragter für Biochemie an der Universität des Saarlandes; 1966— 1970 als Gast mit eigener Arbeitsgruppe am Max-Planck-Institut für Eiweiß-und Lederforschung in München; während dieser Zeit Habilitation an der Universität Konstanz mit Arbeiten über krebshemmende Pflanzenproteine; Mitaufbau der radio-biochemischen Kurse und Gastdozent von 1961 bis 1971 am Kernforschungszentrum Karlsruhe; bis 1970 Hauptarbeitsgebiet Krebsforschung; 1970 Gründung der privaten und gemeinnützigen „Studiengruppe für Biologie und Umwelt GmbH“ in München; Präsident des Bayerischen Volkshochschulverbandes, Fachbeirat des Münchener Gesundheitsparks, Berater von Behörden, Ministerien und Bürgerinitiativen in Umweltfragen, Mitglied der Gruppe Ökologie, der Bio Design Group, Senior Member der American Federation for Clinical Research und anderer wissenschaftlicher Gesellschaften. Seit 1975 Mitglied des wissenschaftlichen Beirats der Bundes-forschungsanstalt für Landeskunde und Raumordnung, Buchveröffentlichungen: Bausteine der Zukunft, 1965; Das Überlebensprogramm, 1972/75; Krebs ist anders, 1973; Das kybernetische Zeitalter, 1974; Denken, Lernen, Vergessen, 1975; Phänomen Streß, 1976; Ballungsgebiete in der Krise, 1976; sowie zahlreiche Buch-beiträge.