B im Potsdamer Protokoll vom 2. August 1945 vereinbarten Truman, Stalin und Attlee nach Kapitel VI, Nordostpreußen mit Königsberg „vorbehaltlich der endgültigen Bestimmungen (der territorialen Fragen bei der Friedensregelung" der Sowjetunion zu übergeben. Der amerikanische Präsident und der britische Premier verpflichteten sich, den Konferenzvorschlag „bei der bevorstehenden Friedensregelung" zu unterstützen. Diese Klausel entwertete, da sich die westlichen Entscheidungsträger festgelegt hatten, die juristische Rückstellung des Gebietsübergangs. Folglich konnte es sich nachträglich nur noch darum handeln, den Konferenzbeschluß bei der Friedensregelung formal zu bestätigen.
I lm Kapitel IX b des Potsdamer Protokolls bekräftigen die „Großen Drei" wie in Jalta ihre Absicht, die „endgültige Festlegung der Westgrenze Polens bis zur Friedenskonferenz" zurückzustellen. Unter diesem Vorbehalt erhielt I Polen die „früher deutschen Gebiete" östlich der Oder und westlichen Neiße (außer Nord-ostpreußen gemäß Kapitel VI) sowie das Ter-Iritorium der „früheren Freien Stadt Danzig"
zur Verwaltung. Eine Verpflichtung, den Über-gang der Gebietshoheit (Souveränität) an Polen bei der Friedenskonferenz zu unterstützen, gingen die Signatare nicht ein.
Trotz dieses Rechtsvorbehalts implizierte das Potsdamer Protokoll eine De-facto-Anerkennung der Oder-Neiße-Linie als künftige Grenze. Denn die Alliierten beschlossen nach Kapi-til XIII, die deutsche Bevölkerung aus Polen, aus der Tschechoslowakei und aus Ungarn Am 6. September 1946 hielt der amerikanische Außenminister Byrnes in Stuttgart eine Grundsatzrede, die eine Revision der westlichen Besatzungspolitik andeutete. Zum ersten Male rückten die USA öffentlich von den Ide-21
I. Einleitung
zu evakuieren, und sie subsumierten darunter verbalkontraktlich auch die Oder-Neiße-Gebiete, die ausdrücklich nicht dem Kontrollrat oder der sowjetischen Besatzungsmacht unterstanden, d. h. als „früher deutsche", abgetrennte Territorien galten. Indem die westlichen Signatare die — bereits begonnenen — Massenvertreibungen, die allerdings in „ordnungsgemäßer und humaner Weise" durchgeführt werden sollten, legalisierten und die Neubesiedlung des Landes mit Polen unterstützten, schrieben sie die Oder-Neiße-Linie effektiv, wenn auch nicht juristisch fest. Obwohl sich die USA und England nach dem Wortlaut des Potsdamer Protokolls de jure nicht gebunden hatten, so war doch die Entscheidung in der Oder-Neiße-Frage ohne Zustimmung der Sowjetunion und Polens irreversibel, sofern Gewalt als Mittel der Politik ausschied.
Mit dem Zerfall der Kriegskoalition nach 1945 gerieten auch Polen und Deutschland immer mehr in den Sog des Ost-West-Konflikts. Dieser Kalte Krieg, der als Fortsetzung des Zweiten Weltkriegs mit anderen Mitteln zwischen den bisherigen Alliierten definiert werden kann, hatte sich zunächst auf den Balkan, den Fernen und Nahen Osten konzentriert, breitete sich aber im Laufe des Jahres 1946 auch auf Mittel-und Ostmitteleuropa aus. In diesem Zusammenhang stellten die Westmächte die Oder-Neiße-Linie als „Provisorium" erstmals öffentlich in Frage, obwohl sie bisher keinen Zweifel daran gelassen hatten, daß sie die zukünftige deutsch-polnische Grenze sein solle.
II. Byrnes'Stuttgarter Rede und die Oder-Neiße-Frage
en eines karthagischen („Morgenthau" -) Friedens ab, indem sie den demokratischen, föderativen und wirtschaftlichen Wiederaufbau Deutschlands forderten und ankündigten. Das deutsche Volk sollte selbst für sein politiB sches Geschick verantwortlich sein können. Sie wollten ihm sogar helfen, wieder einen „ehrenvollen Platz" (honorable place) unter den Nationen einzunehmen.
Im Laufe seiner politischen Werberede kam Byrnes auch auf Territorialfragen zu sprechen. Er lehnte eine Abtrennung des Ruhrgebiets und des Rheinlands ab, anerkannte jedoch die französischen Ansprüche auf die Saar. Die Oder-Neiße-Linie qualifizierte er unter Berufung auf Potsdam als Übergangslösung zu Verwaltungszwecken. Die endgültige Gebietszuweisung Nordostpreußens an die Sowjetunion würden die USA wie vereinbart befürworten, dagegen verpflichte sie das Potsdamer Protokoll nicht dazu, die Zession Schlesiens und anderer ostdeutscher Territorien an Polen zu unterstützen. Der Umfang des abzutretenden Gebiets „must be determined when the final Settlement is agreed upon"
Byrnes’ Stuttgarter Ausführungen erregten weltweites Aufsehen, und zwar am meisten jene über die Oder-Neiße-Linie, obwohl er nichts zu sagen schien, was dem Potsdamer Abkommen widersprach. Aber abgesehen davon, daß die USA erstmals öffentlich die Separation des Rheinlands und des Ruhrgebiets verwarfen, unterschied sich die akzentuierte Haltung, die Byrnes zur Oder-Neiße-Frage einnahm, doch in drei Punkten wesentlich von der bisher amtlichen amerikanischen:
a) Byrnes legte das Potsdamer Abkommen formaljuristisch einseitig aus: Als ob die Oder-Neiße-Linie trotz der vollendeten Tatsachen, die mit westlicher Duldung oder gar Hilfe (zum Beispiel Vertreibung, Neubesiedlung) geschaffen worden waren, aufgrund der Vorbehaltsklauseln jederzeit wieder rückgängig gemacht werden könnte. Anders ausgedrückt: Die mit dem Vollzug der Kapitel VI, IX b und XIII zusammenhängenden rechtlichen Ponderabilien blieben ausgeklammert.
b) Byrnes hob die Kompensationsthese hervor und die davon abhängige „Revision" der polnischen Nord-und Westgrenze. Die Oder-Neiße-Gebiete erschienen so lediglich als Entschädigungsobjekt für die Abtretung „Ostpolens" an die Sowjetunion, nachdem — „we were told" — die Deutschen in großer Zahl geflüchtet seien. Indem Byrnes das sowjetisch-polnische Interesse an der Genesis der Oder-Neiße-Linie überbetonte, versuchte er indirekt zugleich vorsichtig, die Westmächte von ihrer eigenen Verantwortung für die Potsdamer Beschlüsse zu entlasten oder von ihr abzulenken.
c) Byrnes hielt die Entscheidung über die polnische Westgrenze für offen, obwohl die USA bisher keinen Zweifel daran gelassen hatten, daß die Entscheidung für die Oder-Neiße-Linie bereits gefallen sei und sie auf der Friedenskonferenz bestätigt werde. Er stellte erstmals amtlich eine Revision der Oder-Neiße-Linie in Aussicht und damit des territorialen Status quo zugunsten Deutschlands.
Dieser amerikanische Meinungsumschwung löste den Oder-Neiße-Konflikt öffentlich aus. Welche Faktoren waren für seine Genesis konstitutiv gewesen?
III. Das französische Junktim zwischen der deutschen Westund Ostgrenze
Frankreich vermochte, da ihm die Alliierten ein Mitspracherecht eingeräumt hatten, die Bildung der in Potsdam beschlossenen gesamtdeutschen Staatssekretariate für Finan-zen, Transport, Verkehr, Außenhandel und Industrie zu blockieren. Alle Versuche, es um-zustimmen, scheiterten. Ein Grund unter anderen für diese Obstruktionspolitik war die Sorge Frankreichs, seine Pläne, das Rheinland, die Saar und das Ruhrgebiet von Deutschland zu separieren, seien nur noch schwer zu verwirklichen, sobald deutsche Zentralverwaltungen bestünden. Erst eine territoriale Amputation im Westen schuf nach französischer Ansicht ein adäquates Gegengewicht zu jener im Osten entlang der Oder-Neiße-Linie; andernfalls werde sich das deutsche Gravitationszentrum nach dem Westen verlagern und die Sicherheit Frankreichs gefährden
Der Versuch, ein Junktim zwischen der deutschen Ost-und Westgrenze zu konstruieren, komplizierte die alliierte Besatzungspolitik außergewöhnlich. Frankreich betrachtete die Oder-Neiße-Linie als Präjudiz für eigene Territorialwünsche und wollte sein Placet selbst zu wirtschaftlichen Zugeständnissen davon abhängig machen, daß es die Saar erhalte Noch auf der 2. Pariser Außenministerkonferenz betonte Außenminister Bidault am 10. Juli 1946, daß die französische Regierung die prinzipiell zwar provisorischen, tatsächlich jedoch grundlegenden Potsdamer Beschlüsse über die Oder-Neiße-Gebiete billige und erneut vorschlage, das Rheinland, die Saar und das Ruhrgebiet von Deutschland abzutrennen. Solange seine Grenzen nicht auch im Westen geklärt seien, könne nichts „Ernstliches“ geschehen und keine Besatzungspoli-• tik auf lange Sicht getrieben werden Frankreichs Territorialpläne waren zu dieser Zeit bereits gescheitert; denn nicht nur die USA und mit ihrer Rückendeckung England, sondern auch die Sowjetunion wollten das Ruhrgebiet bei Deutschland als wirtschaftlicher Einheit lassen. Da Frankreich jedoch trotzdem seine ehrgeizigen Ziele weiterverfolgte, standen die USA und England vor der Frage, wie sie die französische Regierung zu einem Verzicht auf ihre Territorialpläne bewegen könnten, zumal die kommunistische Propaganda sie bereits ausnutzte.
IV. Angloamerikanische Interpretationen der Oder-Neiße-Linie aus weltpolitischer Perspektive
1. Der „Eiserne Vorhang" in der Konzeption Churchills Im Frühjahr 1946 weitete sich der Kalte Krieg auf den Nahen Osten aus, und Anfang März wurde die Sowjetunion gezwungen, ihre Truppen aus dem Iran zurückzuziehen. In den Tagen der Räumung, am März 1946, hielt Churchill seine vielbeachtete Rede in Fulton/Missouri. In Anwesenheit Trumans warnte er die Völker vor den Gefahren des Kriegs und der Tyrannei, die der sowjetisch-kommunistische Expansionsdrang heraufbeschwöre. Churchill berief sich auf „Tatsachen": daß den europäischen Kontinent ein „Eiserner
Vorhang" (iron curtain) teile, der von Stettin bis Triest reiche und Moskaus Herrschaftsbereich abschirme. „The Russian-dominated Polish Government has been encouraged to make enormous and wrongful inroads upon Germany, and mass expulsions of Millions of Germans on a scale grievous and undreamedof are now taking place." 5) In ihrer Besatzungszone versuche die Sowjetunion ein pro-kommunistisches Regime zu etablieren und ermögliche dadurch den geschlagenen Deutschen, Differenzen zwischen den Siegermächten auszunutzen. Churchill war davon überzeugt, daß die Gefahren der sowjetischen Expansion und Doktrin nicht durch eine Appeasementpolitik, sondern nur durch Stärke und Entschlossenheit zu bannen seien. An die Stelle der Kooperation mit der Sowjetunion sollte eine Blockbildung gegen sie auf der Basis einer engen anglo-amerikanischen Allianz treten. 'Churchills Konzeption ging davon aus, daß die Sowjetunion aggressiv sei und die „westlichen Demokratien" bedrohe. Er berief sich, um diese Prämisse zu erhärten, auf „Fakten", hatte sie aber als ehemaliger Premier mitzuverantworten. Denn die Voraussetzungen für den „Eisernen Vorhang", ein Begriff, der von Goebbels stammte, hatte er selbst schaffen helfen: Er gehörte zu den geistigen Vätern der Massenvertreibungen, die er nun beklagte, und in Jalta und auch noch in Potsdam trat er für eine Westverschiebung Polens bis Stettin, an die Oder und die östliche Neiße ein. Deshalb konnte Churchill die Potsdamer Konferenz nur insoweit berechtigt kritisieren, als sie darüber hinausgehend die westliche Neiße akzeptiert hatte.
Doch bedauerte Churchill das Potsdamer Abkommen in Wirklichkeit aus einem ganz anderen Motiv. In einer Unterhausrede vom 5. Juni 1946, in der er seine Thesen wiederholte, billigte Churchill zu, daß Polen für den Verlust seiner Ostgebiete jenseits der Cur-zonlinie bis zur Oder und östlichen Neiße hätte entschädigt werden sollen — allerdings als „freies“, das heißt westliches Polen Mit anderen Worten: Da die Erwartungen trogen, verurteilte Churchill die Massenvertreibungen und stellte die Oder-Neiße-Linie als sowjetisch-polnisches Komplott dar. Seine „kognitive Dissonanz" ließ ihn die Zeit der Kooperation mit der Sowjetunion in neuem Licht erscheinen: in den Denkkategorien des Kalten Krieges. Wenn Churchill als britischer Oppositionsführer auch ausdrücklich betonte, daß er nicht in amtlichem Auftrag, sondern nur für sich selbst spreche, so war seine Rede in Fulton doch symptomatisch für den Trend, die Entscheidungen der Kriegskonferenzen ex post umzudeuten und sich von ihnen zu distanzieren. Diese Tendenz unterstrich auch eine Erklärung, die Bevin als außenpolitischer Entscheidungsträger am 25. Juli 1946 im Unterhaus abgab Er beklagte, daß er der Oder-Neiße-Linie habe in Potsdam zustimmen müssen, obwohl sie der Atlantik-Charta (1941) widerspräche; doch hätten ihm die „Umstände" keine andere Wahl gelassen. Die . Oder-
Neiße-Linie erschien so als notwendiges Übel, das der Krieg erzwungen hatte.
2. Die Weststaatidee im Rahmen der Containment-Theorie
Der amerikanische Geschäftsträger in Moskau, George F. Kennan, gehörte nicht nur zu den am besten informierten, sondern auch zu den scharfsinnigsten Analytikern der sowjetischen Diplomatie. Sie orientierte sich seiner Ansicht nach an der alten marxistischen, immer noch gültigen Maxime, daß mit den „imperialistischen" westlichen Staaten nur vorübergehend ein modus vivendi möglich sei. Dieser „neurotische" Standpunkt zwinge die USA dazu, umzudenken und Gefahren einzudämmen, die von der sowjetischen Militärmacht und Doktrin drohten
In Auseinandersetzung mit Befürchtungen, die unter anderem der U. S. Political Adviser for Germany, Murphy, hegte, Frankreichs „Obstruktion" werde der Sowjetunion erleichtern, die deutsche Öffentlichkeit zu umwerben und den Anwalt der deutschen Einheit zu spielen entwarf Kennan ein neues Konzept amerikanischer Deutschlandpolitik. Die sowjetische beruhte seines Erachtens auf einem langfristigen Dreistuienprogramm: Das erste, bereits realisierte Ziel sei die militär-strategisch günstige Oder-Neiße-Linie gewesen, die zwischen dem polnischen und deutschen Volk Todfeindschaft säe, Polen von der Sowjetunion militärisch völlig abhängig mache und Deutschlands selbständige nationale Existenz politisch wie wirtschaftlich in Frage stelle. Die zweite Etappe sei ein „antifaschistisches" Deutschland als Übergang, die dritte seine Bolschewisierung.
Die letztliche Entscheidung Moskaus über die deutsche Ost-und Westgrenze hing nach Kennan vom Erfolg des französischen bzw.deutschen Kommunismus und von westlichen Stellungnahmen ab. Sicher sei, daß die Oder-Neiße-Linie ein Rumpfdeutschland impliziere, das schon aus ernährungspolitischen Gründen Anschluß an eine große, lebensmittelproduzierende Landmacht werde suchen müssen. Die USA stünden, da sie der Oder-Neiße-Linie zugestimmt hätten, deshalb vor zwei Alterna-tiven: „(1) to leave remainder of Germany no-minally United but extensively vulnerable to Soviet political penetration and influence or (2) to carry to its logical conclusion the pro-cess of partition which was begun in the east and to endeavor to rescue western zones of Germany by walling them off against eastern penetration and integrating them into international pattem of Western Europe rather than into a United Germany."
Unter diesem Blickwinkel schien ein westdeutscher, amerikanisch penetrierter Separatstaat nicht nur eine logische Konsequenz der Oder-Neiße-Linie zu sein, sondern auch ein geeignetes Mittel zur Eindämmung des Kommunismus. Anders ausgedrückt: Ein geteiltes Deutschland konnte als Stützpunkt des Westens dienen und als „Prellbock" (buffer) gegen den „Totalitarismus", ein geeintes dagegen eine Beute oder ein Experimentierfeld der Sowjetunion werden. Diese könnte sogar, so befürchtete Kennan, die Oder-Neiße-Linie revidieren und Polen erneut teilen, um eine Trumpfkarte auszuspielen und Deutschland zu bolschewisieren.
Da Kennan die Oder-Neiße-Linie für einen „gravierenden Fehler" (grievous mistake) hielt, schlug er sogar vor, die USA sollten sich vom Potsdamer Abkommen lossagen. Als Vorwand empfahl er, Deutschland als wirtschaftliche Einheit nicht nur innerhalb der Oder-Neiße-Linie zu proklamieren, sondern auch innerhalb der alten Reichsgrenzen, Ostpreußen " ausgenommen. Dieser taktische Schachzug werde Frankreich künftig hindern, seine Territorialpläne im Westen unter Berufung auf die Oder-Neiße-Linie zu forcieren, die Sowjetunion aber zwingen, Farbe zu bekennen. Stimme sie zu, gebe sie die polnischen Kommunisten preis, lehne sie ab, verspiele sie die Chance, als Protektor eines geeinten Deutschlands zu posieren. „And we would then be free to proceed tp the Organization of western Germany, independently of the Russians, without being piloried as the opponents of a united Germany." 3. Potsdam — Leitbild der US-Deutschlandpolitik oder Schandakt?
Die revolutionären Thesen Kennans entsprangen dem Geiste machtpolitischen Den-kens und des Kalten Krieges. Sie waren Bestandteil der Containmenttheorie, aber noch keineswegs Leitbild der US-Außenpolitik. Im State Department lösten Kennans Analysen zwar Aufsehen und erregte Diskussionen aus, doch identifizierte sich mit seinen deutschlandpolitischen Vorschlägen zunächst nur der amerikanische Botschafter in Moskau, General Smith Truman distanzierte sich öffentlich von Churchills Fulton-Rede, und die Militärregierung in der amerikanischen Besatzungszone trat für die Oder-Neiße-Linie als Ostgrenze Deutschlands noch im Spätsommer 1946 ein Richtlinie für die US-Deutschlandpolitik war und blieb im großen und gan-zen bis Herbst 1946, teilweise sogar bis Mitte/Ende 1947, das Potsdamer Abkommen. Es bedurfte erst mehrerer „Tests", bis die Ideen Kennans — erprobt und erhärtet — sich durchzusetzen vermochten.
Diese Feststellung widerspricht, so scheint es, einem geheimen Schreiben Trumans an Byrnes vom 5. Januar 1946. Darin heißt es nach einer kritischen Bestandsaufnahme: „In Potsdam we were faced with an accomplished fact and were by circumstances almost forced to agree to Russian occupation of Eastern Poland and the occupation of that part of Germany east of the Oder River by Poland. It was a high-handed outrage." Byrnes beteuerte, diesen „angeblichen Brief", nachdem er im Frühjahr 1952 veröffentlicht worden war, überhaupt nicht zu kennen, und beschuldigte Truman, Dichtung an die Stelle der historischen Wahrheit zu setzen Ob dieser ominöse Brief am 5. Januar 1946 zwar geschrieben, aber nicht abgeschickt, oder gar, wie Byrnes mutmaßte, nachträglich fabriziert worden ist: es hält den geschichtlichen Tatsachen weder 1945 noch 1946 stand, spiegelt aber den
Geist wider, in dem Truman seine Entscheidungen in Potsdam retrospektiv sah oder zu sehen wünschte. Er hatte damit unter dem Einfluß des Kalten Krieges dieselbe Kehrtwendung vollzogen wie öffentlich bereits Churchill,
V. Polen und Deutschland im Spannungsfeld zwischen Ost und West
1. Interdependenzen zwischen polnischer Innen- und angloamerikanischer Pressionspolitik In Polen konzentrierte sich das Hauptinteresse der Alliierten nach Potsdam auf die innenpolitisch-verfassungsrechtlichen Grundsatzentscheidungen. Die Westmächte und Miko-lajczyk, ihr Verbündeter in der Regierung, drängten auf die Abhaltung „freier" Wahlen; die Sowjetunion und die sozialistisch-kommunistische Regierungsmehrheit in Warschau waren dagegen bestrebt, sie hinauszuzögern und Präjudizien zu schaffen, die Polen bereits darauf festlegten, den Weg einer „Volksdemokratie" zu gehen. Die beiden miteinander verfeindeten Lager innerhalb der Provisorischen Regierung der Nationalen Einheit erinnerten an die polnischen Konföderationen des bis 18. Jahrhunderts; ihnen entsprachen als ausländische Interventionsmächte die Sowjetunion und die USA/England. Im bevorstehenden Streit um Polen waren die Westmächte im Nachteil, denn es lag im Einflußbereich der Sowjetunion, und die von ihr völlig abhängige Regierungsmehrheit beherrschte den Staatsapparat bereits uneingeschränkt. Sie baute ihn forciert aus und bediente sich insbesondere der Zensur, der Polizei und des Geheimdienstes, um die innenpolitische antikommunistische Opposition mundtot zu machen oder gar auszumerzen 16).
Mikolajczyks „Bauernpartei" (Polskie Stron-
nistwo Ludowe) sollte in einer Einheitsliste nach dem Blockwahlsystem majorisiert und so als gefährlichster Rivale im Kampf um die Macht im Staae ausgeschaltet werden; da Mikolajczyk es jedoch, von seinem Sieg bei „freien" Wahlen überzeugt, ablehnte, sich am Wahlblock zu beteiligen, verschärften sich die Übergriffe auf seine Partei und ihr Organ „Gazeta Ludowa“
Die Westmächte kritisierten diese Vorgänge und die beginnende Sozialisierung öffentlich und unmittelbar in Warschau 18), während sie den Ereignissen in den Oder-Neiße-Gebieten freien Lauf ließen. Da die polnische Regierung den Termin für die Wahlen, die sie so bald wie möglich abhalten wollte, immer noch nicht festgelegt hatte, schlug die von Mikolajczyk alarmierte englische Regierung der amerikanischen am 12. /16. April 1946 eine „drastic action" vor, damit Polen die Beschlüsse von Jalta und Potsdam erfülle und nicht von Tag zu Tag mehr dem Kommunismus anheimfalle Als „Druckmittel" (sanctions) oder „Hebel" (levers) sollten allgemeine oder besondere „Drohungen" (threats) dienen: Appelle an die Weltöffentlichkeit, eine generell unfreundliche Haltung gegenüber der polnischen Regierung, die Weigerung, Wirtschaftshilfe zu gewähren, Finanzverträge zu ratifizieren u, a. Von den Botschaftern Lane und Cavendish-Bentinck, die beide eine „harte Politik" befürworteten, unter Druck gesetzt, erklärte die polnische Regierung schließlich öffentlich ihre Absicht, im Herbst 1946 Wahlen in Einklang mit den Beschlüssen voh Jalta und Potsdam durchzuführen und als ersten Schritt dazu am 30. Juni 1946 eine Volksabstimmung
Dieses Referendum, das die Westmächte als Vorwand betrachteten, die Wahlen zu verschleppen oder ursprünglich gar zu hintertreiben, sollte die innenpolitische Opposition testen und ihre Kräfte messen. 13 160 451 Wahlberechtigte wurden dazu aufgerufen, drei Fragen mit „ja" oder „nein" zu beantworten: 1. ob der Senat (Oberhaus) abzuschaffen sei, 2. ob das durch Bodenreform und industrielle Nationalisierung konstituierte Wirtschaftssystem in der Verfassung verankert werden sol-le, ohne das Recht auf Privatunternehmen anzutasten, und 3. ob die polnische Grenze an Ostsee, Oder und Neiße zu bejahen sei. Nach dem amtlichen, allerdings sehr umstrittenen Wahlergebnis entfielen von 11 530 551 gültigen Stimmen auf die erste Frage 7 844 522, auf die zweite 8 896 105 und auf die dritte 10 534 697 Ja-Antworten Mikolajczyk, der das Wahlergebnis für gefälscht hielt, und Popiel, der; Führer der oppositionellen, wenig später aufgelösten „Partei der Arbeit" (Stronnictwo Pracy), hatten empfohlen, bei der ersten Frage mit „nein", ansonsten aber mit „ja" zu stimmen. Alle politischen Gruppen waren sich darin einig gewesen, daß die Oder-Neiße-Linie Polens Westgrenze sein sol-le, und in dieser Hinsicht spiegelte das Wahlergebnis die opinio communis der polnischen Nation zweifellos unverfälscht wider. Wegen der verstärkten Bemühungen der Regierungsmehrheit, nach dem Referendum die innenpolitische Opposition zu eliminieren, insbesondere Mikolajczyks Partei zu spalten, zu unterdrücken oder in einen Wahlblock hineinzuzwängen, intervenierten die Westmächte erneut. In der Wirtschaftshilfe und in Finanzfragen sahen sie nun weitere Möglichkeiten, Druck auszuüben: Die USA suspendierten zeitweise die mit politischen Auflagen gekoppelten Millionen-Dollar-Kredite, England dagegen machte die Rückkehr der polnischen Exilarmee und die Rückgabe der polnischen Auslandsguthaben (insbesondere Gold) von verbindlichen Zusagen abhängig, daß freie Wahlen stattfänden Nachdem die Sowjetregierung, die als Drahtzieherin des polnischen „puppet government" (Lane) galt, informiert worden war, übergaben Lane und Cavendish-Bentinck am 19. August 1946 in Warschau identische Noten, in denen die Notwendigkeit baldiger freier, unverfälschter Wahlen unterstrichen und vor weiteren Repressalien gegen die Bauernpartei gewarnt wurde. Die polnische Regierung nannte diese „Intervention" in die inneren Angelegenheiten eines souveränen Staates einen Vorgang, der in der internationalen Diplomatie einmalig sei, versicherte aber erneut, sie werde die Wahlen im Sinne der Beschlüsse von Jalta und Potsdam baldmöglichst durchführen
Alles in allem war die angloamerikanische Pressionspolitik eine Funktion der innenpolitischen Entwicklung Polens, das heißt eine von ihr abhängige Variable. Je mehr die Sowjetisierung voranschritt, um so stärker bedienten sich die Westmächte diplomatischer und wirtschaftspolitischer Druckmittel, um die gefährdeten „freien" Wahlen zu erzwingen. Auf einen Konfrontationskurs drängte zunächst England, doch übernahmen ab etwa Mitte 1946 die USA die Initiative. In der Regel löste die Kommunikation mit Mikolajczyk den angloamerikanischen Interventionsmechanismus aus. Er richtete sich zwar gegen die sozialistisch-kommunistische Regierungsmehrheit Polens, zugleich aber doch auch ge-gen die Sowjetregierung, die als ihr Helfershelfer galt. Die „levers" und „sanctions", insbesondere die wirtschaftspolitischen, ließen sich als „threats" auf der untersten Eskalationsschwelle einstufen. Erst mit der Verschärfung des Kalten Krieges und der damit zu-sammenhängenden innenund außenpolitischen Rückkopplungsprozesse spielten die Westmächte ihre Trumpfkarte aus: Sie stellten erstmals öffentlich die Oder-Neiße-Linie in Frage und eskalierten damit die Konfliktbeziehungen mit Polen.
2. Anfänge des deutschen Revisionismus Der Terminus Revisionismus dient als Sammelbegriff für alle politischen Intentionen, den territorialen Status quo, den der Zweite Weltkrieg geschaffen hatte, zu ändern („revidieren"). Im deutschen Volk herrschte nach der totalen Niederlage ein latenter Revisionismus; denn trotz der wohl größten Katastrophe in seiner Geschichte hoffte es insgeheim, die „Ostgebiete" oder den größten Teil von ihnen doch wieder zurückzuerhalten. Diesen Glauben bestärkten Gerüchte und Spekulationen, aber auch ausländische Stimmen, die an der Vertreibung und polnischen Administration jenseits Oder und Neiße Kritik übten. Da Deutsche noch nicht wagen durften, die Oder-Neiße-Linie öffentlich zu bekämpfen, agitierten sie gegen sie verbal oder in vertraulichen „Kettenbriefen“. Man verbreitete — vornehmlich von Flüchtlingen/Vertrie-benen verfaßt und weitergegeben — Informationen und Gerüchte über die „Heimat" oder aufsehenerregende ausländische Berichte über sie
Solange die Siegermächte an der Oder-Neiße-Linie als künftiger polnischer Westgrenze festhielten, war der deutsche Revisionismus in der öifentlichkeit zum Schweigen verurteilt, wollte er nicht riskieren, verboten, verfolgt oder bestraft zu werden. Er hatte folglich erst eine Chance, sich zur Geltung zu bringen, wenn die Alliierten sich in der Grenzfrage zerstritten. Er konnte dann die Ost-West-Spannungen ausnutzen, aber auch von einer der beiden Weltmächte gegen die andere ausgespielt werden.
Das Signal, deutsche Revisionsforderungen erstmals öffentlich zu vertreten, gab anscheinend Churchills Fulton-Rede. Auch die zensierten Massenmedien verlockten dazu: Sie zitierten zunehmend die ausländische Kritik an der Oder-Neiße-Linie und streuten Gerüchte (namentlich nach englischen und schweizerischen Quellen) aus, wonach die Sowjetunion eine Grenzrevision zugunsten Deutschlands erwäge. Die von der amerikanischen Militärregierung herausgegebene „Neue Zeitung", die solche Meldungen ebenfalls verbreitete, nannte die „Ausweisungen aus dem polnisch besetzten Gebiet" eine „Tragödie"; die „Schicksalsfrage für Millionen" sei noch nicht endgültig entschieden und schließe einen „Kompromiß" nicht aus Die seit März 1946 öffentlich geäußerten Revisionsforderungen wurden, soweit zu ermitteln, zunächst nur sporadisch und sehr vorsichtig betrieben. Süddeutsche Rundfunksender (zum Beispiel Radio Stuttgart) verlangten die Rückgabe schlesischer Städte (Breslau, Oppeln und andere) und lösten dadurch die erste polnische Demarche in Washington we-gen deutscher Agitation gegen das Potsdamer Abkommen aus Maschinenschriftliche und hektografierte Aufrufe, Eingaben, Denkschriften oder Rundschreiben forderten „Lebensraum" für Deutschland und beriefen sich auf die „Menschenrechte", das „Recht auf die Heimat", die Ernährungsschwierigkeiten, die Übervölkerung und ähnliche Gründe Anders argumentierten kommunistische und linke sozialdemokratische Parteiführer. Grotewohl zum Beispiel motivierte die Notwendigkeit freundlicher Beziehungen zur Sowjetunion unter anderem damit, daß sie geneigt sein könne, die Oder-Neiße-Linie zu berichtigen, und daß ihr Wort bei der endgültigen Entscheidung über die deutsche Ostgrenze mehr zählen werde als das der Westmächte. Er plädierte unter anderem auch deshalb — wie einige Sozialdemokraten — für eine Verschmelzung mit der KPD 3. Die Sowjetunion — Protektor des deutschen Linksrevisionismus?
Die Gerüchte über sowjetische Revisionspläne und eine bevorstehende Rückkehr in die . Heimat" häuften sich ab Mitte 1946 und verunsicherten vor allem Flüchtlinge und Ver-triebene. Es sprachen aber auch handfeste Indizien dafür, daß Stalin Grenzveränderungen zugunsten Deutschlands nicht grundsätzlich ablehne, und zwar aus zwei Hauptgründen:
1. Der stellvertretende amerikanische Militärgouverneur Clay verfügte am 3. Mai 1946 einen Demontagestopp und ließ zugleich die eben erst angelaufenen Reparationslieferungen an die Sowjetunion einstellen. Seiner Ansicht nach verstieß diese gegen das Potsdamer Abkommen, indem sie Deutschlands wirtschaftliche Einheit mißachtete Da sie zum Beispiel die in Potsdam als Gegenleistung vereinbarten Lebensmittel aus ihrer besser versorgten Zone nicht liefere, müßten die amerikanischen Steuerzahler die hungernden Westdeutschen großenteils ernähren und da-mit indirekt die Reparationen aus der US-Zone an die Sowjetunion mitfinanzieren.
Der Demontagestopp entsprang dem wohlbegründeten Eigeninteresse der USA, schädigte aber die Sowjetunion materiell empfindlich. Die Westmächte hatten in Potsdam ihre Zustimmung zur Oder-Neiße-Linie davon abhängig gemacht, daß die Sowjetunion den amerikanischen Reparationsplan billige; bisher hat-te von dieser Konjunktion nur Warschau profitiert, Moskau aber schien nun leer auszugehen. Da die Sowjetregierung nach wie vor möglichst hohe Reparationen aus den Westzonen (Ruhrgebiet) wünschte, lag ein neues Kompensationsgeschäft nach Potsdamer Vorbild nahe, allerdings mit umgekehrten Vorzeichen: Wenn die Deutschen zu ihren Gunsten und zu Lasten der Polen über deren Köpfe hinweg landwirtschaftliche Teile der Oder-Neiße-Gebiete wieder zurückerhielten, so sparten die USA künftig Millionenbeträge für Lebensmittellieferungen, die Sowjetunion aber hätte Reparationen einhandeln können, die ihr bisher verweigert worden waren. Inwieweit sich ein solches Tauschgeschäft realisieren ließ, hing letzten Endes von den USA ab, nicht von Polen.
2. Die Gründung der SED am 21. /22. April 1946 belastete die Beziehungen zur SPD auf das äußerste, denn ihre Mehrheit in der Sowjetzone wurde gegen ihren Willen mit der KPD vereinigt. Der Zwang, den die Sowjetische Militäradministration beim Zusammenschluß ausgeübt hatte, hing zum Teil mit dem weltpolitischen Druck der USA gegen die Sowjetunion im Nahen Osten zusammen (Iran).
Die SED konnte die deutschen Massen nur erobern, wenn sie deren Interessen und Forderungen verfocht. Die Sowjetunion wäre zweifellos bereit gewesen, die Oder-Neiße-Linie zu revidieren, wenn sie damit der neuen kommunistischen Partei in Deutschland zu einem Wahlsieg hätte verhelfen können. Solange eine Entscheidung weder über das Schicksal Polens noch Deutschlands gefallen war, mußte Moskau daran gelegen sein, die Grenzfrage offenzuhalten, um sie im geeigneten Moment als Trumpfkarte ausspielen zu können. Immerhin erlaubte die Sowjetische Militäradministration der SED zumindest stillschweigend bereits, in ihren Versammlungen zu verbreiten, daß eine mögliche Revision der Oder-Neiße-Linie nicht zuletzt vom Erfolg der „Demokratie", des „Antifaschismus" und des „Sozialismus" in Deutschland abhänge
Zu einem Objekt parteipolitischer Leidenschaften wurde die Grenzfrage erstmals im Juli/August 1946. Während einer Agitationsreise in der britischen Zone hatte der SED-Vorsitzende Pieck nach Zeitungsnachrichten geäußert, „das deutsche Volk müsse sich mit dem Verlust eines großen Teiles deutschen Gebietes im Osten abfinden" Der SPD-Vorsitzende Schumacher, auf einen Konfrontationskurs eingeschworen, beschuldigte daraufhin die SED „leichtfertiger Verzichtspolitik"; er versicherte unter Beifallsstürmen in Massenversammlungen, die SPD als Sachwalterin deutscher Interessen werde „um jeden Quadratmeter Boden im Osten" kämpfen. Auf dem 1. Interzonentreffen der SPD unter dem Vorsitz Schumachers am 21. /22. August 1946 in Frankfurt a. M. wurde die SED in einer Resolution bezichtigt, die Interessen der gesamten deutschen Nation in der „Ostfrage" zu verletzen Pieck verwahrte sich gegen diese Angriffe, da auch die SED die Oder-Neiße-Linie als provisorisch betrachte und bei der endgültigen Grenzregelung Rücksichtnahme „auf die Notwendigkeiten unseres Volkes" erhoffe Der Streit zwischen der SED und SPD sowie Schumachers erfolgreiche, leidenschaftliche Agitation, daß die Oder-Neiße-Grenze „national und ernährungspolitisch gesehen unmöglich" sei, trugen die Auseinandersetzungen in immer breitere Volksteile hinein. Als erster bürgerlicher Parteivorsitzender pflichtete Kaiser (CDU-Ost) im wesentlichen Schumacher bei So hatte sich der Revisionismus bereits öffentlich formiert, als Byrnes seine Rede in Stuttgart hielt und damit die Sowjetunion als bisher vermeintlichen Protektor deutscher Revisionsforderungen mit einem Schlag entthronte.
4. Die Pariser Außenministerkonferenz als Terminal alliierter Deutschlandpolitik Die Außenministerkonferenzen in London (11. September’bis 2. Oktober 1945) und in Moskau (16. bis 26. Dezember 1945) hatten die weltpolitischen Interessengegensätze zwischen Ost und West reflektiert, allerdings waren diese in der Deutschlandfrage noch nicht aufgebrochen. Bereits auf der nächsten Konferenz in Paris, die vom 25. April bis 16. Mai und vom 15. Juni bis 12. Juli 1946 tagte, traten jedoch Konflikte auch in dieser Hinsicht offen zutage. Sie blockierten fortan jede gemeinsame Deutschlandpolitik der Siegermächte. Byrnes schlug in Paris seinen bereits in London und Moskau vorgetragenen Plan erneut vor, Deutschland 25 Jahre lang gemeinsam zu besetzen, zu entwaffnen, zu kontrollieren und niederzuhalten, damit es nie wieder den Frieden gefährde. Einen solchen Vier-Mächte-Vertrag, noch ganz dem Geiste der Anti-Hitler-Koalition verpflichtet, hatten in den Grundzügen bereits Truman, die Senatoren Connally und Vandenberg, ferner Bevin, Bi
dault und — laut Byrnes — auch Stalin gebilligt, also die wichtigsten Entscheidungsträger Byrnes war daher bestürzt und verwirrt zugleich, als der sowjetische Außenminister Molotow den Vertragsentwurf in Paris zunächst kritisierte und schließlich verwarf.
Neben einer 40jährigen Besetzung Deutschlands, der Byrnes sofort zustimmte, schlug Molotow einen „demokratischen" zentralistischen deutschen Einheitsstaat vor; er verwarf eine Abtrennung des Ruhrgebiets, das unter Viermächtekontrolle kommen sollte, spielte auf den Morgenthauplan an und wandte sich dagegen, Rache am deutschen Volk zu nehmen, es mit dem NS-Regime zu identifizieren oder sein Wirtschaftspotential zu zerstören, forderte allerdings erneut zehn Milliarden Dollar Reparationen u. a.
Molotows Rede vom 10. Juli 1946, deren Text an die Presseagenturen ging, bevor sie gehalten wurde, schockierte Byrnes; denn sie dünkte ihm „a battle for the minds of the German people" zu sein Wollte Moskau die Deutschen gewinnen und gegen die Westmächte ausspielen? Und bestätigte Molotow in Paris nicht die Befürchtungen, die Fachleute wie Kennan, Murphy, Smith, Churchill u. a. längst hegten: daß die Sowjetunion aggressiv sei und ein kommunistisches Deutschland plane? Nach in-und ausländischer, insbesondere französischer Ansicht posierte die Sowjetunion „as the Champion of German rehabilitation and nationalism in hope of discrediting the policy of the other three powers and facilita-ting Communist penetration into the other three zones with the view eventually to esta-blishing a Soviet dominated Germany" Auch die geschlagenen Deutschen selbst konnten sich des Eindrucks nicht erwehren, daß die Sowjetunion ihre Partei ergriffen habe, während die Westmächte noch vom Rachegeist Morgenthaus durchdrungen zu sein schienen. Der frühere Oberpräsident von Breslau, Lüdemann (SPD), sprach sich z. B. an-erkennend über Molotows Pariser Stellungnahme aus und hoffte, ihr werde auch eine alliierte Ablehnung des „lebensbedrohenden Verlustes von deutschem Agrarland im Osten" folgen
Byrnes beunruhigte ständig die Frage, ob die sowjetische Politik „on a desire for security or expansion“ basiere Da das Scheitern des Vier-Mächte-Deutschlandvertrags als Indikator für aggressive Zielsetzungen Moskaus galt, beschlossen die höchsten außenpolitischen Entscheidungsträger Truman, Byrnes, Connally und Vandenberg nach eingehenden Konsultationen, die sowjetische „Offensive" durch gezielte Gegenmaßnahmen abzufangen und die Situation durch weitere „Tests" eindeutig zu klären. Im August und Anfang September 1946 vereinbarten britische und amerikanische Besatzungsbehörden auf Byrnes’ Vorschlag, die Bizone zu schaffen, die am 1. Januar 1947 wirksam wurde, und am 6. September hielt er seine auch von Truman und Clay gebilligte Stuttgarter Rede. Sie war zugleich Antwort auf die Ausführungen Molotows in Paris.
VI Der Oder-Neiße-Konflikt — „a function of change“
1. „Reopening of the Frontier Question“ Die amerikanischen diplomatischen Akten der ersten Nachkriegsjahre sind veröffentlicht, nicht aber die sowjetischen (sie werden auch in absehbarer Zeit nicht vorliegen); daher kann sich die Analyse der außenpolitischen Entscheidungsprozesse Washingtons auf Url stützen, während jene Moskaus vielfach auf Indizien und Konjekturen angewiesen bleibt. Dieser Nachteil wiegt jedoch im Falle des Oder-Neiße-Konflikts nicht schwer; denn bestimmend für ihn waren die USA. Sie vermochten der UdSSR die Initiative, die sie in der Deutschlandfrage ergriffen hatte, nach Byrnes'Rede immer mehr zu entreißen. So in die Defensive gedrängt, wurde die sowjetische Europapolitik nur noch ein Reflex der amerikanischen. Der Oder-Neiße-Konflikt ist das Ergebnis politischer Nachkriegsveränderungen und Gegensätze, die die USA bewogen haben, sich nachträglich von den Entscheidungen in Potsdam zu distanzieren und sie schließlich anzufechten. Byrnes" Stuttgarter Äußerungen über die Oder-Neiße-Linie spiegelten noch keinen definitiven Meinungsumschwung Washing
tons wider. Sie dienten hauptsächlich dem Zweck, die Grenzfrage neu aufzurollen und die Reaktion folgender Mächte zu testen und zu klären:
1. Ein Adressat der Rede Byrnes" war Frankreich. Indem die USA, wie z. B. auch der amerikanische Bankier Warburg empfohlen hatte, die Oder-Neiße-Linie als bloßes Provisorium darstellten, wollten sie die vordergründige Argumentation Frankreichs unterlaufen, daß Deutschland im Osten amputiert worden sei und deshalb auch im Westen Gebiete als Kompensation abtreten müsse Ein Junktim zwischen der deutschen Ost-und Westgrenze ließ sich dann nicht mehr konstruieren.
Nach Molotow hatte nunmehr auch Byrnes die französischen Territorialpläne (insbesondere hinsichtlich des Ruhrgebiets) öffentlich abgelehnt; sie entpuppten sich daher endgültig als Fehlspekulation. Nach einer vorübergehenden Verstimmung nutzte Frankreich aber die Chance, den in Stuttgart anerkannten Anspruch auf die Saar zu präjudizieren: Es stellte dieses Gebiet unter Sonderverwaltung und trennte es durch Zollschranken vom übrigen Deutschland Die USA und Eng-land nahmen dieses Vorgehen hin, da Frankreich nach dieser „Kompensation" seine Territorialpläne hinsichtlich Ruhrgebiet und Rheinland, ohne sie allerdings definitiv aufzugeben nicht mehr unter Berufung auf die Oder-Neiße-Linie forcierte. Byrnes'Rede hatte insofern den gewünschten Effekt: Sie ermöglichte Frankreich, auf eine Rückzugslinie auszuweichen, verhinderte aber alle weitergehenden Gebietsforderungen.
2. Zweiter Adressat der Byrnes-Rede war die Sowjetunion. Da sie einerseits auffallend jede amtliche Stellungnahme zur Oder-Neiße-Linie vermieden hatte (wie z. B. Molotow in Paris), andererseits aber offenkundig mit dem Gedanken einer Grenzrevision spielte, sollte sie nunmehr gezwungen werden, eindeutig Farbe zu bekennen
Byrnes'Rede brachte die Sowjetregierung in Verlegenheit, mußte ihr doch daran gelegen sein, alles zu vermeiden, was einer Option zwischen Deutschland oder Polen gleichkam. Erst nachdem die ersten Gemeindewahlen in der Sowjetzone vorüber waren (1. bis 15. September 1946), in denen die SED mit einer möglichen Grenzrevision geworben, aber trotz beträchtlicher Stimmengewinne enttäuschend abgeschnitten hatte, legte sich Moskau auf die Oder-Neiße-Grenze fest; denn es konnte die immer dringlicheren Hilferufe der polnischen Kommunisten nicht mehr länger ignorieren. Wie Ulbricht als intimer Kenner rückblickend urteilte, hätte zuvor das deutsche Volk das Ausmaß des Gebietsverlustes im Osten „durch eine schnelle und entschlossene demokratische Entwicklung" noch zu seinen Gunsten beeinflussen können
In der Tat ließ Molotow in einem Interview, das er am 17. September 1946 als Antwort auf Byrnes'Rede der polnischen Presseagentur gewährte, erstmals keinen Zweifel mehr daran, daß die Sowjetregierung die Oder-Neiße-Linie als permanent betrachte. Molotow berief sich hauptsächlich auf die Potsdamer Beschlüsse. Ihre Realisierung hätte irreversible
Tatsachen geschaffen, insbesondere Millioner Menschen nicht nur zeitweilig, sondern für immer geographisch weiträumig umverteilt;
daher könne es sich nur noch darum handeln, die bereits festgelegte Oder-Neiße-Linie aul der Friedenskonferenz zu besiegeln Auch Stalin beantwortete wenig später die ihm vom Präsidenten der United Press, Baillie, gestellte Frage, ob Polens Westgrenze definitiv sei, vorbehaltlos mit „ja"
Die Sowjetregierung entschied sich offen-
sichtlich aus folgenden Hauptgründen für die Oder-Neiße-Linie und gegen ihre Revision:
a) Eine revisionistische Position hätte bedeutet, die polnischen Kommunisten preiszugeben, sie hätte aber noch lange keinen Wahlsieg der SED und KPD verbürgt, zumal vorauszusehen war, daß die bürgerlichen Parteien in Deutschland von Byrnes'Rede profitieren würden.
b) Die für SED und KPD enttäuschenden Wahlergebnisse ließen es geraten erscheinen, die bereits etablierte sozialistisch-kommunistische Regierungsmehrheit in Polen zu stützen, statt risikoreiche Experimente im besetzten Deutschland zu wagen.
c) Byrnes'Rede schuf günstige Voraussetzungen für ein polnisch-sowjetisches „Bündnis" gegen den angloamerikanischen und deutschen „Imperialismus". Deutschenfurcht und Deutschenhaß konnten dann antikommunistische Ressentiments und prowestliche Sympathien im polnischen Volk neutralisieren helfen. d) Angesichts des weltpolitischen Konfrontationskurses der USA ging es primär darum, den sowjetischen geographischen Einflußbereich, zu dem Polen bereits gehörte, abzuschirmen und die Oder-Neiße-Grenze als militärstrategisch kürzeste Linie zu sichern.
e) Falls sich die politische Konstellation grundlegend änderte, etwa nach einem Sturz der sozialistisch-kommunistischen Regierungsmehrheit Polens, konnte die Sowjetunion immer noch zugunsten Deutschlands optieren, zumal die Westmächte dann einen Kurswechsel in der Grenzfrage vollziehen würden. 3. Dritter Adressat der Byrnes-Rede war Po-len. Mit dieser Rede sollte im Rahmen der angloamerikanischen Pressionspolitik verstärkter Druck auf die Warschauer Regierungsmehrheit ausgeübt werden, freie Wahlen abzuhalten. Diese waren nach offizieller englischer Stellungnahme — die Byrnes'Interpretation billigte, aber Molotows ablehnte — bereits in Potsdam die conditio sine qua non der Oder-Neiße-Linie gewesen. Bevin sah keinen Grund, dieser Linie endgültig zuzustimmen, solange Polen nicht seine Verpflichtungen voll eingelöst und bewiesen habe, daß es imstande sei, seine Verwaltungsgebiete zu bevölkern und wirtschaftlich adäquat zu nut-zen
Die Byrnes-Rede schockierte Polen: Sie wurde nicht nur als politischer Kurswechsel empfunden, sondern vielfach auch als Bedrohung — als Parteinahme der Angloamerikaner für den „Todfeind", die geschlagenen Deutschen. Die nationale, häufig nationalistische Erregung, die Molotows Votum nur vorübergehend beschwichtigte, entlud sich in spontanen, teilweise aber auch gelenkten Manifestationen gegen die „deutsche Gefahr" und die „internationale Reaktion". Als Folgen resultierten aus diesen Konflikten hauptsächlich
a) Die Grenzfrage stand fortan im Brennpunkt der polnischen Außen-und Innenpolitik, schien doch die territoriale Integrität und Sicherheit des Staates erneut bedroht zu sein, und zwar nicht mehr allein von den Deutschen, die ohnehin a priori als eingeschworene „Feinde" galten, sondern jetzt auch von den westlichen Großmächten, den bisherigen „Verbündeten" und „Freunden". Polen hielt seitdem das kollektive Sicherheitssystem der UNO, von dem es erwartet hatte, es werde die Unantastbarkeit seiner Grenzen verbürgen für entwertet und machte die Anerkennung der Oder-Neiße-Grenze zur conditio sine qua non seiner Bündnispolitik.
b) Die Westmächte begannen im polnischen Volk Sympathien einzubüßen, da sie als Protektoren der verhaßten Deutschen erschienen, während die Sowjetunion offensichtlich als „ehrlicher" Freund Polens auftrat. Die Gefahr eines deutschen Revanchismus beschwor besonders die sozialistisch-kommunistische Re-. gierungsmehrheit mit dem Ziel, England und die USA in der Öffentlichkeit zu diskreditieren, die von ihr ungern gesehene Bindung an Moskau aber zu rechtfertigen und zu forcieren. Außenpolitisch diente so Byrnes’ Rede — wie zuvor versuchsweise bereits jene Churchills in Fulton — als Beweismittel Warschaus, daß die „polnische Staatsräson" (Gomulka) die Freundschaft und das Bündnis mit der Sowjetunion geradezu gebieterisch erfordere. Vielfach wurde sie auch als Schutzmacht des Slawentums gefeiert.
c) Innenpolitisch wirkte sich Byrnes'Rede nachteilig für die antikommunistische Opposition, vorteilhaft dagegen für die Regierungsmehrheit aus. Diese prangerte in den gelenkten Massenmedien namentlich Mikolaj-czyk und seine Parteifunktionäre als „Agenten" der Angloamerikaner an, die deutsche Interessen verträten, polnische dagegen preisgegeben hätten Obwohl Mikolajczyk einen prononciert nationalen Kurs steuerte und öffentlich gegen Byrnes'Rede protestiert hat-te, wurde seine Partei bezichtigt, nur mit Worten, nicht aber mit Taten für die Existenz, die Unabhängigkeit und die Grenzen Polens einzutreten und eine nationale Einheitsfront ohne „faschistische Verräter und Agenten" (Gomulka) zu vereiteln. Zwar gelang es der Regierungsmehrheit noch nicht, die westlichen Großmächte als äußeren, die Opposition dagegen als inneren „Feind" Polens abzustempeln, doch stellten sich zahllose überzeugte Antikommunisten bereits besorgt die Frage, ob aus Gründen der nationalen Sicherheit und Selbsterhaltung nichts anderes wer-de übrig bleiben, als die Abhängigkeit von der Sowjetunion in Kauf zu nehmen.
d) Das Potsdamer Abkommen rückte immer stärker als Beweisurkunde in den Mittelpunkt der polnischen Argumentation, daß die Oder-Neiße-Grenze unantastbar und endgültig sei. Das Abkommen habe sie nicht nur völkerrechtlich verbindlich festgelegt, sondern trage auch die Unterschriften der westlichen Großmächte, die nun in Frage stellen wollten, was sie selber mitgeschaffen hätten. Der provisorische Charakter dieser Vereinbarungen wurde bestritten und als bloße Formalität gedeutet. Hilfsweise sollten historische, militärische, wirtschaftliche und demographische Argumente das Recht auf die Oder-Neiße-Territorien unterstreichen. Auch besiedelte die Warschauer Regierung diese Gebiete verstärkt, da ihrer Ansicht nach jeder dort lebende Pole die „wiedergewonnenen Gebiete" verbürge und sichere.
e) Der innerpolnische Revisionismus, der Grenzverbesserungen westlich der Oder-Neiße-Linie vor allem im Herbst 1945 erstrebt hatte, verstummte für immer. Nach der Byrnes-Rede ging es nun darum, den gefährdeten territorialen Besitzstand zu wahren und das Potsdamer Abkommen aufzuwerten. Jeder Versuch, es weiterhin zugunsten Polens zu revidieren, hätte zugleich der These widersprochen, daß seine territorialen Bestimmungen unabänderlich und unanfechtbar seien. Von Ausnahmen abgesehen (z. B. General Anders), identifizierten sich die Repräsentanten der Exilpolen aus nationalen Beweggründen zunehmend mit der Oder-Neiße-Grenze, sahen jetzt aber auch verbesserte Chancen, „Ostpolen" jenseits der Curzonlinie mit angloamerikanischer Hilfe wieder zurückzugewinnen Ernüchternd dagegen wirkte Byrnes'Rede auf den tschechoslowakischen Revisionismus. Er hatte nun nicht nur mit polnischem, sondern auch mit angloamerikanischem Widerstand zu rechnen.
f) Der Nationalrat (das vorläufige Parlament)
verabschiedete am 22. September 1946 ein Wahlgesetz und legte die lange hinausgezö-gelten Parlamentswahlen auf den 19. Januar 1947 fest. Damit hatte die angloamerikanische Pressionspolitik offenbar Erfolg gezeigt, allerdings zu einem Preis, der in keiner adäquaten Korrelation zu ihm stand. Da beide Seiten einen Bruch vermeiden wollten, kam es zu einer Entkrampfung der Konfliktbeziehungen.
Polen hätte sonst die dringend benötigte Wirtschaftshilfe der USA verloren, ihre Sympathien verspielt und wäre außenpolitisch isoliert auf Gedeih und Verderb der Sowjetunion ausgeliefert worden Den westlichen Großmächten dagegen mußte nun daran liegen, alles zu tun, was den Wahlsieg Mikolajczyks förderte und ein bürgerlich-demokratisches Polen schuf, für das sie im Zweiten Weltkrieg gekämpft hatten.
4. Vierter und letzter Adressat der Byrnes-Rede, an den sie sich unmittelbar wandte, waren die Deutschen. Sie diente als Waffe im „Struggle for Germany" (Alsop) im allgemeinen und als Waffe gegen den „Communist ap-
pell" (Clay) im besonderen Als Trumpfkarte wurde in diesem Zusammenhang erstmals die Oder-Neiße-Frage ausgespielt. Diese Interdependenzen bedürfen im folgenden einer besonderen Analyse.
2. „Joining the Struggle for Germany" Byrnes’ Rede hatte in Deutschland „an electrifying effect" (Curry) wie in Polen — allerdings mit umgekehrtem Vorzeichen. Als Hauptergebnisse verdienen hervorgehoben zu werden:
a) Die geschlagenen Deutschen hörten auf, ein bloßes Objekt der Siegermächte zu sein. Von ihnen aufgrund des wachsenden Ost-West-Konfiikts umworben, konnten sie nunmehr erstmals eigene Interessen mit ins Spiel bringen. Die von der Sowjetunion eingeleitete „Deutschland-Offensive" zwang die USA, ihre ursprünglich rein destruktive Okkupationspolitik zu überdenken. Wenn auch formell die deutschfeindliche Direktive JCS 1067 noch bis 15. Juli 1947 in Kraft blieb, so öffnete Byrnes'Rede doch das Tor für eine , konstruktive" Besatzungspolitik, die Voraussetzung dafür war, das Gros der Deutschen zu gewinnen Byrnes erscheint insofern ex post als geistiger Vater der späteren „Magnet-Theorie", d. h.der Idee, den westlich penetrierten „Kern" Deutschlands so attraktiv auszugestalten, daß der sowjetische Teil seiner Anziehungskraft erliegen müsse.
b) Die USA wurden fortan Protektor und Nutznießer des deutschen Revisionismus, die UdSSR dagegen schien sein Opponent zu sein. „Molotow gegen Revision der Oder-Neiße-Grenze“ und „Moskau demaskiert sich" — so lautete der Tenor der Presse-schlagzeilen in den Westzonen. Außenpolilisch gesehen begünstigten die inkompatiblen Zielvorstellungen der beiden Weltmächte in der Grenzfrage die Neigung der Deutschen, sich an die USA anzulehnen oder sich gar einseitig an sie zu binden. Byrnes’ Rede hatte die „Herzen der Deutschen" so erwärmt, daß sie heute noch im Selbstverständnis der Bundesrepublik eine „geschichtliche Wende" (Scheel) symbolisiert
Die Hoffnungen auf eine Grenzrevision, die Byrnes'Rede weckte, hatten Stellungnahmen einflußreicher angloamerikanischer Persönlichkeiten bereits präjudiziert. Der Bankier Warburg, im Kriege stellvertretender Leiter der Ausländsabteilung des amerikanischen Informationsministeriums, befürwortete aus vornehmlich ernährungspolitischen Gründen, alle Oder-Neiße-Gebiete außer Ostpreußen und Oberschlesien an Deutschland wieder zurückzugeben; Lord Beveridge trat für eine Revision der Potsdamer Beschlüsse ein, die der Atlantik-Charta widersprächen; der Londoner Verleger Victor Gollancz beklagte den Verfall moralischer Werte bei den Siegermächten („We annexed, we expelled, we stole") und der Chicagoer Historiker Rothfels (vordem Königsberg) warnte vor den Folgen der Mas-
senaustreibungen und eines „Hitlerite Peace" In der Emigration, die nach 1945 neben dem inneren Widerstand das einzige moralische Alibi Deutschlands war, setzte sich vor allem Friedrich Stampfer (SPD) in seiner New Yorker „Neuen Volkszeitung" für eine Revision der Oder-Neiße-Linie ein.
c) Erst jetzt konnten sich die revisionistischen Forderungen innenpolitisch öffentlich entfalten. Ihre Wortführerin blieb zwar die SPD unter dem in Kulm/Westpreußen geborenen Schumacher, dem Schlesier Löbe (ehemals Reichstagspräsident) und dem Berliner Vorsitzenden Neumann; doch machten ihnen diesen Rang unter dem Einfluß der „richtunggebenden" Byrnes-Rede immer mehr bürgerlich-konservative Politiker streitig: Von der CSU ihr Vorsitzender Josef Müller („OchsenSepp") und der neue bayerische Ministerpräsident Ehard, der die These vertrat, daß Polen nur „Treuhänder" der Oder-Neiße-Gebiete sei (Mandatstheorie); von der CDU der Vorsitzende in der britischen Zone, Adenauer, und der schleswig-holsteinische Oberpräsident Stelt-zer. Unmittelbar vor seiner Absetzung als Kölner Oberbürgermeister durch die britische Besatzungsmacht hatte Adenauer noch befürchtet-, der „von Rußland besetzte Teil sei für eine nicht zu schätzende Zeit für Deutschland verloren"; unter dem Bann der ermunternden Byrnes-Rede schöpfte er jedoch Zuversicht und versprach den Vertriebenen in einem weitverbreiteten Neujahrsaufruf bereits, „daß kein christlich-demokratischer Politiker einen Friedensvertrag unterschreiben wird, in dem die Oder-Neiße-Linie anerkannt wird und der sie damit endgültig ihrer Hei-mat beraubt" Die FDP schloß sich dieser Erklärung an, eine solche Position sei für eine deutsche Partei wohl selbstverständlich. Damit hatten sich alle bürgerlichen Parteien in der Bizone auf den Revisionismus festgelegt. d) Obwohl von der Sowjetregierung in der Grenzfrage regelrecht desavouiert, blieben SED und KPD nach wie vor bei ihrer Meinung, daß die Oder-Neiße-Linie provisorisch sei und die deutsche Ostgrenze erst noch auf der Friedenskonferenz festgelegt werden müsse. „Unsere Auffassung bleibt die gleiche", erklärte Grotewohl. „Zwar liegt die Entscheidung über diese Frage nicht bei uns, aber unser Standpunkt muß von deutschen Interessen bestimmt sein. Russische Außenpolitik macht Molotow;" Eine Erklärung des Parteivor-stands der SED vom 19. September 1946 bekräftigte im großen ganzen diesen Tenor, warnte aber zugleich davor, die Grenzfrage „zur Entfachung einer neuen nationalistischchauvinistischen Hetze auszunützen"
Diese eindeutigen Stellungnahmen, denen sich die KPD in den Westzonen anschloß
widerlegten zunächst viele Thesen, wonach die SED eine Moskau hörige „Satellitenpartei" sei. Aber dennoch wurde der Sache des Kommunismus in Deutschland — wie von den USA erstrebt — ein nicht wieder gutzumachender Schaden zugefügt; denn das letztlich ausschlaggebende, vielfach „tragisch" genannte „Nein“ Stalins und Molotows zu einer Grenzrevision ließ sich nicht aus der Welt schaffen und zwang die SED später dazu, umzuschwenken. Mit den Gemeindewahlen verglichen, büßte die SED bei den Kreis-und Landtagswahlen am 20. Oktober 1946 bereits Stimmen ein, vor allem in Berlin, Brandenburg und Mecklenburg
e) Da alle Parteien von links bis rechts die Oder-Neiße-Linie als Grenze ablehnten, wurde der Revisionismus zur „nationalen Frage"
(Lemmer). Diese Einheitsfront barg, wie die Lehren von Weimar bewiesen, die Gefahr in sich, daß ein neuer Nationalismus oder gar Chauvinismus entstand, der den demokratischen Wiederaufbau Deutschlands gefährdete. Konnte der Revisionismus nicht parteipolitisch mißbraucht werden oder unkontrollierbare Reaktionen auslösen? Verlockte er doch dazu, die Territorialforderungen immer höher zu schrauben, um so die Konkurrenten im Kampf um die Gunst der deutschen Wähler zu schlagen. Und weckte er nicht, wie die unmittelbaren Reaktionen bewiesen, unerfüllbare Hoffnungen auf eine Rückkehr in die „Heimat" und radikalisierte so die Flüchtlinge und Vertriebenen? Wenn der Revisionismus wie in der Weimarer Republik die politischen Leidenschaften und Emotionen er-neut aufputschte: mußten dann nicht die radikalen Demagogen wieder über die gemäßigten Politiker triumphieren? Nach Schumacher wollte die SPD „mit den friedlichen Mitteln der Politik um jeden Quadratmeter" östlich der Oder-Neiße-Linie kämpfen, doch hielt er die Reichsgrenzen von 1937 durch das „Hitlersche Abenteuer" für verspielt Kaiser (CDU-Ost) befürwortete, „daß die Polen selbstverständlich für die Ost-gebiete, die sie an Rußland abgegeben haben, mit deutschen Ostgebieten entschädigt werden", allerdings keineswegs bis an die Oder-Neiße-Linie Neben diesen Revisionisten aber gab es nicht nur solche, die bereits eine Totalrestitution der Reichsgrenzen von 1937 erstrebten, sondern vereinzelt sogar öffentliche Stimmen, die Posen forderten und an die „Schwarze Reichswehr" als Möglichkeit erinnerten, „das Problem im Osten mit Gewalt zu lösen"
f) Der Revisionismus mußte sich — wie in der Weimarer Zeit — a limine gegen Polen richten. Für Polen war bereits jede Forderung nach einer Revision der Oder-Neiße-Linie ein Zeichen des Neonazismus, des Militarismus, des Revanchismus und des „Drangs nach dem Osten". Selbstverständlich mußten unter einem solchen verengten Blickwinkel auch die deutschen Kommunisten als notorische Feinde Polens erscheinen Nach den millionenfachen NS-Verbrechen und den tödlichen Erfahrungen in der Okkupationszeit verkörperte „der Deutsche" in der polnischen Mentalität den permanenten Bedrohungszustand der Nation schlechthin.
Andererseits herrschten im deutschen Volk nicht erst seit Hitler, sondern bereits seit dem Kaiserreich (teilweise schon früher) Vorstellungsklischees über Polen. Nach der Byrnes-Rede wurden sie, durch Flucht und Vertreibung vielfach noch verschärft, wieder virulent. Nach einem vertraulichen Bericht verursachte der „polnische Mensch" in Schlesien „für westeuropäische Lebensart untragbare Zustände"
VII. Ausblick
Byrnes'Stuttgarter Rede diente primär als Test, d. h. sie sollte unter den veränderten Umständen der Nachkriegsphase die Positionen klären, mit denen die amerikanische Politik in Mitteleuropa zu rechnen hatte. Dieses Experiment und die von ihm effektiv ausgelösten Rückkopplungsprozesse konstituierten zwar den Oder-Neiße-Konflikt, bedeuteten aber noch keinen definitiven amerikanischen Kurswechsel in der Deutschland-oder Grenzfrage. Eine Wende vollzogen die USA und England erst, nachdem Polen und Südosteuropa, von Griechenland und der Türkei abgesehen, unbezweifelbar kommunistisch geworden waren. Diesen Kurswechsel signalisierte die Moskauer Außenministerkonferenz vom 10. März bis 24. April 1947. Auf ihr forderte der neue US-Außenminister Marshall die Rückgabe von Teilen der Oder-Neiße-Gebiete, da Polen in ihnen nur Verwaltungs-(Besitz-), aber keine Hoheitsrechte ausübe. Der interalliierte Grenzkonflikt wurde mit dem Kalten Krieg synchronisiert, d. h. an die verschärften Ost-West-Spannungen angepaßt, oder anders ausgedrückt: aus der Konflikttaktik Byrnes'war die Konfliktstrategie Marshalls geworden. Während in der Bizone die Militärregierungen die Propaganda gegen die Oder-Neiße-Linie duldeten und unterstützten (Revisionismus), schaltete die SED die „öffentliche Meinung" in der Sowjetzone nach und nach im Sinne der sowjetisch-polnischen Politik gleich (Antirevisionismus). Der Grenzkonflikt erleichterte den Westmächten, ihre Besatzungszonen politisch, ideologisch und ökonomisch zu penetrieren, und der Sowjetunion, Polen an sich zu binden.
Aufgrund dieser internationalen und innenpolitischen Vorentscheidungen lehnte die Bundesrepublik Deutschland nach 1949 die O Neiße-Linie in jeder Hinsicht ab, die DDR gegen erkannte sie als deutsch-polni: „Friedensund Freundschaftsgrenze" im (litzer Abkommen (1950) an. Der Konflikt 1 zentrierte sich seitdem auf die beiden d sehen Staaten und Polen, d. h. die USA die UdSSR ließen sie die nationalen Gr Streitigkeiten unter sich austragen. Auf w licher Seite spielte im neuen Konfliktdre Bonn—Ost-Berlin—Warschau die Bundesre blik Deutschland die entscheidende Rolle, östlicher Seite die Volksrepublik Polen, in den Jahren 1970— 1972 wurde der O Neiße-Konflikt im Sinne des territorialen tus quo durch die von der sozialliberalen gierung Brandt/Scheel abgeschlossenen nach leidenschaftlichen innenpolitischen A einandersetzungen ratifizierten Ostvertr reguliert.