Anatomische Anmerkung zum 40. Jahrestag der „Achsen" -Allianz
Noch bevor Hitler sein rassisch begründetes Lebensraum-„Programm" in das Entweder-Oder von Weltmacht und Untergang stellte, wurde von ihm 1920 die Rolle Italiens in Deutschlands Zukunft festgelegt Strategische Erwägungen empfahlen den Mittelmeer-Staat als natürlichen Bundesgenossen. Großmacht-Vorstellungen Roms zielten nicht ins osteuropäische Kraftfeld der Reichspolitik. Für sie ließ sich vielmehr Italien gegen die westlichen Gegner deutschen Wiederaufstiegs als Störpotenz und südlicher Flankendruck einsetzen. Somit verblieb Italien gewissermaßen in der traditionellen Perspektive des Dreibundes — und wohl auch in der Bismarckschen Auffassung von der Gültigkeit einer solchen Allianz auf Abruf, d. h. solange sie taktische Vorteile brachte. Denn strategische Grundkonstante der Außenpolitik Hitlers war ein Bündnis mit Großbritannien. Ihm wies der künftige Führer Deutschlands die Herrschaft über die Ozeane, dem Reich die über Europa und Italien die über das Mittelmeerbecken zu. Wo aber sollten Raum und klare Grenzen sein für eine konkurrierende englisch-italienische Doppelherrschaft? Laut Mussolini bedeutete das Mittelmeer für seine Nation das Leben und für England lediglich eine Straße, die London jedoch als Schlagader des Empires reklamierte. Hitlers Verdrängung dieses Dauerkonflikts aus dem außenpolitischen Kalkül läßt vermuten, daß er Italien als Großmacht zweiter Hand gängeln zu können glaubte.
In der Erwartung besonderer Aufwertung der NSDAP machte Hitler bis zum Machtantritt 1933 dem längst arrivierten Duce eifrig den Hof. Trotz der gönnerhaft unverbindlichen Reaktion des Duce und trotz des Widerstandes der deutschen Rechten, die ihre Gefühle gegen Italien, den „Verräter" von 1915, über tak-tische Notwendigkeiten stellten, blieb Hitler contre coeur fest. Seine außenpolitische Räson hielt stand, selbst als nach der Röhm-Affäre und der Ermordung des österreichischen Bundeskanzlers Dollfuß die Berliner Regierung von Rom mit Drohungen, Hohn und Spott eingedeckt wurde.
Eine Verfeindung mit seinem zeitweiligen Vorbild Mussolini hätte Hitler jedoch außenpolitisch noch weiter isoliert und die Prinzipien autoritärer Staatsführung entwertet. Aus deutschem Eigennutz mußte folglich jede Schwächung des faschistischen Italien zugunsten der westlichen Demokratien vermieden werden. Entsprechend war Hitler während des italienisch-abessinischen Krieges 1935/36 darauf aus, diese Ablenkung des Weltinteresses von Deutschland nach Ostafrika möglichst auszunutzen, aber auf jeden Fall einen Zusammenbruch des faschistischen Systems in Italien zu verhindern. Während mit heimlichen kleinen Waffengeschenken der Widerstandswille Haile Selassies gestärkt wurde, ermunterte Hitler gleichzeitig den Duce mit Bekundungen wohlwollender Neutralität zu seinem afrikanischen Abenteuer.
Wie geschickt Hitler diese Strategie brutaler Freundschaft beherrschte, zeigte sich in der Abschirmung des Bruches des Locarno-Vertrages am 7. März 1936, als deutsche Truppen die entmilitarisierte Zone am Rhein besetzten. Nicht nur ließ Hitler den römischen Diktator über den Termin der Aktion im Ungewissen, sondern setzte mit dem Angebot der deutschen Rückkehr in den Völkerbund den Duce unversehens matt. Mussolini war es bis dahin gelungen, den Widerstand des Westens gegen Italiens Eroberungskrieg in Abessinien zu lähmen, indem er für den Fall von scharfen Sanktionen mit Italiens Austritt aus dem Völkerbund und der Hinwendung zu Hitler drohte. Nun bot Hitler selbst Deutschlands Rückkehr nach Genf an und machte Mussolinis Waffe der Austrittsdrohung stumpf!
Hitlers sofortige Beschwichtigungen und Beteuerungen aufrichtiger Freundschaft für den Duce wurden in Rom um so lieber vernommen, als der inzwischen aufgebrochene Mittelmeer-konflikt zwischen England/Frankreich und Italien die Rückversicherung Roms in Berlin nahelegte und dieser Kooperationsgedanke durch das Interesse beider Diktatoren an einem Sieg Francos im Spanischen Bürgerkrieg noch verstärkt wurde. Denn ein Sieg der „Roten" und ihre Favorisierung durch die Pariser Volksfront-Regierung konnte den Aktionsraum des faschistischen Italien nur gefährlich verengen. Während Mussolini Franco rasch als Triumphator und Italien für seine Hilfe reich belohnt sehen wollte, war Hitler an einer möglichst langen Dauer der Spanien-Krise gelegen. Die in ihrem Schatten betriebene deutsche Aufrüstung und Regime-Festigung blieben so dem Argwohn des Auslands weniger ausgesetzt. Zudem ließ sich hinter diesem Schirm Österreich politisch sturmreif machen und die Tschechoslowakei schärfer ins Visier nehmen.
Auch berechtigte der Druck auf Gibraltar zur Hoffnung auf mehr britische Bereitschaft zur Verständigung mit Berlin.
In diese Zielkoordinaten wurde Italien geschickt eingepaßt. Der Staatsbesuch des Mussolini-Schwiegersohns und damals noch deutschfreundlichen Außenministers Graf Ciano im Oktober 1936 bei Hitler signalisierte der Welt erstmals die Ideologisierung der Außenpolitik zur Blockpolitik — und damit die Möglichkeit des Endes einer über Jahrhunderte geund erprobten Gleichgewichtspolitik in Europa. Aber nur die Möglichkeit! Denn bei genauer Betrachtung des bald schon als Geburtsakt der „Achse" gefeierten vertraulichen deutsch-italienischen Geheimprotokolls vom 22. Oktober 1936 wird Hitlers versteckter Bereitschaftsmangel deutlich, schon zu diesem Zeitpunkt ein wirkliches Bündnis mit Italien zu schließen. Für die deutsche Anerkennung der italienischen Herrschaft über Abessinien mußte sich Mussolini Konzessionen für die deutsche Wirtschaft und deren künftige Erweiterung abringen lassen; ebenso das Versprechen, in Zukunft nachdrücklicher Deutschlands Forderungen nach Herausgabe der einstigen Kolonien zu unterstützen. Es scheint nicht abwegig, daß der Empfang Cianos beim Führer am 25. Oktober 1936 ein Drohelement darstellte, das Deutschlands Werben um England flankieren sollte. Denn tags darauf nahm von Ribbentrop seine Tätigkeit als neuer deutscher Botschafter in London auf! Als darum fünf Tage später der Duce in Mailand vor gewaltiger Kulisse die „Achse" konstituierte, zeigte man in Berlin, besonders in der Presse spürbar, eine eher verlegene Genugtuung. Jedenfalls ging Hitler nicht an die Angel des Duce.
Die hektische Reisediplomatie des Folgejahres diente zwar der Festigung des deutsch-italienischen Einvernehmens, doch sollte der propagandistische Aktivismus London eher verunsichern statt brüskieren. Mochte auch der spektakulär aufgezogene Deutschland-Besuch des Duce im September 1937 den Höhepunkt der „Achsen" -Politik darstellen, für Hitler blieb als Partner Großbritannien absolut vorrangig, wie die Akten des Auswärtigen Amtes beweisen.
Je mehr sich indessen Englands Widerstand gegen Hitlers Offerten verstärkte, desto größeren Reiz mußte die „kleine Lösung" mit Italien für Hitler gewinnen, der sich zunehmend dem aus dem Glauben an seinen frühen Tod entstandenen Termindruck unterwarf. Doch die Hinwendung zu Italien gewann nie den Charakter der Endgültigkeit. Sie blieb reversibel für den Moment englischen Einlenkens. Auch war Hitler nie bereit, für ein Zusammengehen mit Rom den Anschluß Österreichs zu verpfänden, was Mussolini am stärksten wünschte. In dieser Frage unterlief Hitler alle Versuche Roms, die vertikale Achse mit Berlin um eine horizontale mit Wien und Budapest zu erweitern und Italiens Einfluß im Donauraum zu sichern. Hitlers Ausweichen ließ nach einjährigem Bestehen der „Achse" Ciano gegenüber dem deutschen Botschafter in Rom, U. von Hassell, resümieren, daß die bisher erzielten Ergebnisse der Verbindung doch recht mager seien.
Trotz allen publizistischen Eifers blieb das Vertrauen zwischen Rom und Berlin gering. So unterrichtete Hitler den Duce vom deutschen Einmarsch nach Österreich erst am 12. März, also als die Aktion bereits angelaufen war. „Was sollen wir denn tun?", vertraute Ciano seinem Tagebuch als Grund dafür an, daß sein Regierungschef gute Miene zum Täuschungsmanöver Hitlers machte. Auch das tschechoslowakische Problem löste Hitler nach dem Münchener Zwischenspiel ebenso ohne Konsultation Italiens wie er den Pakt mit Stalin schloß oder Norwegen angriff. Als der Duce diese Eigenmächtigkeiten nachahmte, verlor er vollends seinen Entscheidungsspielraum. Die nachträgliche deutsche Rationalisierung der chaotischen Kriegsführung der Italiener auf dem Balkan und in Nordafrika ließ bald Mussolinis Herrschaftsbereich zum deutschen Kriegsschauplatz werden. Die Hitler seinem südlichen Bundesgenossen von Anfang an unterstellte Gängelbarkeit fand ihre Bestätigung. Dies jedoch nur im prinzipiellen Sinn! Das Verhalten der Italiener während des Krieges zwang Hitler, diesem Bundesgenossen auch dann noch beizustehen, als er durch das Aufreißen der Balkan-und Afrikafront mit seinem riesigen Unterstützungsbedarf die deutsche Ostfront vielleicht entscheidend schwächte. Hitlers Rettung seines rassisch begründeten Stufenprogramms zur Weltherrschaft war in keiner Phase von persönlicher Hochachtung vor Mussolini oder von Elementen ideologischer Parallelen zwischen Nazismus und Faschismus im Kern beeinflußbar. „Achse" und „Stahlpakt" blieben Kulissenzauber für eine von Hitler eingeleitete, wechselseitige deutsch-italienische Uberrumpelungspolitik. Man mißbrauchte einander zur Sicherung des jeweils eigenen Vorteils. Zum Gesandten Hewel äußerte Hitler, daß man nach der Niederrin-gung Rußlands auch auf Italien keine Rücksicht mehr zu nehmen brauche. Damit bestätigte Hitler auch gegenüber dem ideologischen „Bruder-Regime" die in den frühen Kampf-schriften fixierte Parole, daß Bündnisse nur zum Zweck eines guten Geschäfts abgeschlossen würden. Solch rücksichtslose Pax-Germanica-Politik für Europa zog den Duce in eine Abhängigkeit, die er natürlich nicht wollte.
Mussolinis Großmacht-Streben
Italiens Außenpolitik wies Bestimmungselemente auf, die auch deutscherseits nach dem Ersten Weltkrieg vorhanden waren: Wirtschaftskrise, Ohnmacht friedlicher Revisionspolitik, tiefe Gräben zwischen Verfassungsverheißung und sozialer Wirklichkeit. Wenngleich sich nicht in die Manie monokausaler Schuld-begründung wie Hitler verlierend, so spekulierte Mussolini dennoch auch erfolgreich auf die Bereitschaft der Massen, zugunsten von Ordnung und Steigerung des Lebensstandards auf Machtkontrolle zu verzichten. Der spätere Duce des Faschismus konnte ohne politisches Programm an die Macht gelangen, weil die Wirklichkeit seine Aufgabe diktierte: Schaffung des „sozialen Friedens", Minderung des Auswanderungsdrucks, Hebung des durch den Kriegsausgang lädierten Nationalstolzes, Förderung von Autarkie-Maßnahmen, um weniger als bisher rohstoff-und devisenpolitisch dem Ausland überantwortet zu sein. Eine Steigerung des allgemeinen Selbstwertgefühls erstrebte Mussolini durch eine Art „Verpreu-
ßung" der Nation. Außenpolitisch sah er sich als Erben des schon vor 1914 vertretenen Imperialismus und des Anspruchs auf reale Füllung der formalen Stellung Italiens als Großmacht Europas — eine Kluft, die vor allem durch die Erinnerung an die katastrophale Niederlage wachgehalten wurde, die Italien 1896 bei Adua hinnehmen mußte und zum Abbruch des ersten Versuchs der Eroberung Abessiniens zwang.
Der angestrebte Neuaufstieg unter Mussolini verlangte langfristig die Festigung der inne-ren Verhältnisse, eine Militarisierung des zivilen Geistes sowie eine feste Position der Faschisten gegen dem zur Obstruktion neigenden, zumeist anglophilen Adel. So diente trotz zunehmender kolonialpolitischer Aktivität geraume Zeit die Formel vom „römischen Imperialismus" eher als innenpolitischer Stabilisator denn als Sturmsymbol für eine junge leistungssüchtige Nation.
Seine Expansionsziele wußte der Duce zunächst gegenüber den saturierten Westmächten geschickt zu verharmlosen. Wenngleich er die Ideale der Französischen Revolution verhöhnte und die westlichen Demokratien ablehnte, so war sein außenpolitisches Augenmaß gut genug, Paris und London als entscheidende Faktoren des italienischen Aufstiegs anzuerkennen. Während die Planungen für die Eroberung Abessiniens — dreieinhalb Mal größer als Italien — seit 1927/28 anliefen, bestimmten kluges Taktieren und kaufmännische Vorteilsuche Italiens Verhältnis zu den europäischen Führungsmächten. Die ständige innenpolitische Steigerung des imperialen Erwartungsdrucks wurde gekoppelt mit einer geschickten Schaukelpolitik und dem eilfertigen Anbieten guter Dienste Roms in den Hauptstädten des Kontinents gegen besseres Verständnis für Italiens koloniale Ambitionen als Flonorar.
Dies macht plausibel, warum in der Weimarer Zeit der Duce jede öffentliche Unterstützung der deutschen Rechten so lange vermied, wie das Reich keine Gegenwerte anzubieten hatte und prodeutsche Sympathie-Bekundung Lon-clon und Paris verstimmen mußte. In der Abrüstungs-, Reparationsund Rüstungsfrage wiegelte der Duce Berlin häufig zu entschiedenem Vorgehen auf, ohne dann aber bei den Konferenzen den deutschen Standpunkt wirksam zu unterstützen. Das Buhlen Hitlers um Mussolinis Gunst wiederum pendelte dieser durch bejahendes Versagen aus, bis das Reich als italienisches Drohelement gegen den Westen verwendbar wurde. Mussolinis Doppelstrategie schien aufzugehen: Einerseits verstärkte Hitler nach der Machtergreifung seine Bemühungen um Italien, andererseits vermochte der Duce zunächst in den Römischen Protokollen vom 17. März 1934 (Zusammenarbeit Wien—Rom—Budapest) eine Sperrzone gegen Berlin hin zu errichten. Danach nutzte er geschickt unter Betonung der gemeinsamen Latinität das französische antideutsche Solidarisierungsbedürfnis und erhielt von Paris als Preis „freie Hand" für seinen Afrika-Krieg. Auch Mussolinis eifrige Parteinahme gegen Deutschland in der Stresa-Front bei der Verurteilung des deutschen Vertragsbruchs vom 16. März 1935 (Wehrhoheit) schien die europäische Absicherung italienischer Afrika-Politik zu gewährleisten.
Der unerwartete, wenngleich letztlich konfuse Widerstand Englands und des Völkerbundes gegen die Unterwerfung der Abessinier ließ den Duce getreu seiner Zünglein-an-der-Waa-ge-Politik zum Druckausgleich nach Berlin wechseln. Am 6. Januar 1936 signalisierte er Hitler, daß Österreich künftig ein Satellit des Reiches werden könnte.
Obgleich diese verheißungsvolle Perspektive nach Verbesserung der italienischen Lage auf dem afrikanischen Kriegsschauplatz von Rom wieder kräftig vernebelt wurde, besserten sich die deutsch-italienischen Beziehungen merklich. Zwar hatte Hitler ihn bei der Außerkraftsetzung des Locarno-Vertrags am 7. März 1936 ausgepokert, doch konnte sich der Duce seine Arroganz vom Vorjahr gegenüber Hitler nicht mehr leisten, da nach der Einverleibung Abessiniens das Mittelmeer ins Zentrum eines ita-lienisch-englisch/französischen Dauerkonflikts geriet. Entsprechend war Hitler bald wegen Österreich den Italienern ebenso unheimlich wie andererseits als Trumpf italienischer Westpolitik willkommen. Antideutsche Eindämmungspolitik im Donauraum, Aufhetzung Hitlers gegen Frankreich, Hintertreibung deutsch-englischer Verständigung, Sicherung Deutschlands als italienisches Versorgungs-und Rückzugsareal im Ernstfall — all dies ohne jegliche Erlaubnis zur deutschen Einflußnahme auf den italienischen Entscheidungsspielraum beherrschte gleichzeitig den Zielhorizont italienischer Außenpolitik.
Mussolinis Strategie-Zerfall
Trotz der ideologischen Bejahung der „Achse" versuchte sich der Duce zugleich von ihr machtpolitisch abzusetzen. Der Beitritt Italiens zum Antikominternpakt war für Mussolinis Haltung ebenso bezeichnend wie das Ausschlagen eines deutschen Bündnisangebots im Mai 1938, kurz nach dem Osterabkommen Italiens mit England. Darin hatte London endlich Abessinien als italienischen Besitz anerkannt und Roms paritätische Herrschaftsansprüche im Mittelmeer akzeptiert. Dieser Vertrag als verbesserte Neuauflage des Gentlemen’s Agreement vom Januar 1937 sollte laut Ciano eine neue Epoche italienischer Außenpolitik einleiten und Italien für den an Hitler mit dem Anschluß Österreichs verlorengegangenen Bewegungsspielraum entschädigen. Diese Neuformierung konnte großer Popularität gewiß sein, da eine enge Anlehnung an NS-Deutschland im Denken der meisten Italiener keine Wurzeln schlagen konnte. Wie aus den amtlichen Akten ersichtlich, war die „Achse" eine Konstruktion, deren Abstützung auf rhetorische Verstrebungen und Propaganda keine Tragfähigkeit im Krisenfall erwarten ließ. Geradezu grotesk wirkten Mussolinis Bemühungen, alles zu tun, um den Spott der französischen Presse über die Festigkeit der „Achse" zu unterbinden. Obgleich nie seiner Autorität sicher, vermochte der Duce lange mit gebotener Nüchternheit gegenüber den geostrategischen, rohstoff-und wehrpolitischen Möglichkeiten seines eigenen Landes erfolgreich auf die nationalen Egoismen Englands, Frankreichs und Deutschlands zu spekulieren. Doch dann trat Mussolinis Politik in eine Entscheidungsphase, die vom Versuch einer Synthese zwischen Schaukelpolitik und der zunehmenden Überzeugung von der Unausweichlichkeit des großen Krieges beherrscht wurde, ohne freilich den Zerfall des Kalküls durch entschiedenen faschistischen Dogmatismus des Alles oder Nichts zu ersetzen. Warum verließ der Duce im Dezember 1937 den Völkerbund, ohne diesen Schritt auch nur annähernd in einer Weise zu vermarkten, wie es während des Abessinienkrieges so meisterhaft gelungen war? War es wirklich nur die Rache eines Sanguinikers für Englands und Frankreichs allzu langen Widerstand gegen die Anerkennung des italienischen Königs als Kaiser von Abessinien? Warum inszenierte der Duce Mitte 1938 eine Rassismus-Kampagne, die ihm innenpolitische Gegner, Kritik der Kirche, Prestigeverlust im Ausland einbrachte, deren halbherzige Praktizierung aber den NS-Antisemitismus fast verriet?
Die forcierte Unbekümmertheit gegen die Proteste des Westens lassen schließen, daß der Duce für längere Frist keine Alternative gegen ein Zusammengehen mit Hitler mehr sah. Doch selbst nach Abschluß des Stahlpaktes ist Mussolinis Ausschau nach anderen Wegen zu belegen. Offensichtlich versuchte sich der Duce mit aller Macht gegen die Reduktion seiner vielsprossigen Außenpolitik zu einer Entweder-Oder-Entscheidung zwischen Nord und West zu stemmen, über den Kriegseintritt hinaus blieb das Grundmuster versuchter Pendel-strategie erkennbar: Prinzipielle Defensiveinstellung, nur mit Offensivelementen in den kolonialen Grenzgebieten und auf dem Balkan sowie zur See. Pomphaft gefeierte Beute-schläge statt eines Konzepts!
Hätte die trostlose Rüstungsvorbereitung zu Wasser, in der Luft und bei der Artillerie den Duce nicht zum neutralistischen Opportunismus flüchten lassen müssen?
Die Antwort läßt sich an den Chancen dreier „Alternativen" überprüfen:
1. Ein Zusammengehen mit den Westmächten hätte die Bejahung der deutschen Niederlage bedeutet und damit für Italien die Neuauflage von 1919/20, d. h. die Auslieferung des italienischen Großmachtanspruchs an den guten Willen Englands und Frankreichs, gar möglicherweise Rußlands. Doch hatten London und Paris schon einmal Rom um die Beute deutscher Kolonien betrogen, mit deren Zusprechung man 1915 Italien in den Krieg gegen Deutschland gelockt hatte.
4 2. Eine Neutralität, wie sie dann Franco oder Salazar betrieben, wäre zumindest Verrat am Geist der „Achse" gewesen, hätte Hitlers strategische Position im Osten begünstigt und im Falle seines Sieges Italiens Unabhängigkeit zur Disposition gestellt. Im Fall einer deutschen Niederlage hätte Italien seine Neutralität zumindest mit der moralischen Schwächung des Faschismus und der Zurückstutzung seiner Mittelmeer-Position bezahlen müssen, was den Magnetkern des Mussolinischen Herrschaftssystems zersprengt hätte.
3. Mit Hitler zu gehen, bot zumindest mittelfristig, d. h. zu Lebzeiten der „befreundeten" Diktatoren die größte Chance zur Beeinflussung Hitlers im Hinblick auf die Sicherung des italienischen Aktionsraums. Durch möglichen Flächen-und Ressourcengewinn ließ sich zudem für den Eventualfall einer Konfrontation mit Deutschland diese für Berlin nicht ganz risikolos gestalten. Jedenfalls wäre Deutschland und nicht Italien zum Verräter der „Achse" geworden, was für Mussolini persönlich von außerordentlicher, ja entscheidungsbildender psychischer Bedeutung war. Daß der Duce letztlich weder an einem totalen Sieg Hitlers oder der Alliierten interessiert war und sein durfte, zeigt die Art, in der er Hitler die Kontributionen italienischer Politik aufzwang: durch hemmungsloses Absaugen deutscher Materialreserven und frühzeitige italienische Truppen-Kapitulationen ersparte Mussolini seinem Land einen höheren Blutzoll und ein bis zur politischen Spaltung des Staates führendes nationales Zerwürfnis.
Vermutlich hatte Mussolini auf diese Entwicklung keine bewußte Einflußnahme, doch die kurze Betrachtung der drei Alternativen hat hoffentlich die immer wieder kolportierte Mär widerlegt, der Duce hätte sein Leben als Emeritus für Staatswissenschaften ähnlich wie Schuschnigg oder Brüning beenden können, wäre er nicht in den Krieg getreten und hätte er ihn nicht nach seiner Befreiung vom Gran Sasso fortgesetzt. Einen solchen Lebensabend hätte Mussolinis faschistisches Credo nicht zugelassen: Danach starb man in Stiefeln, nicht in Pantoffeln.
Diese Sentenz erlaubt den Übergang zu dem notwendigen Versuch, personale Entscheidungselemente des Duce für eine Vervollständigung der italienischen außenpolitischen Reaktionsbasis zu ermitteln: Mussolini brauchte Beifall, um von der Richtigkeit seiner Pläne überzeugt zu sein. Nervös auf kleinste Mißachtungen seiner Herrscher-Aura reagierend, vor seinen Parteifreunden und ausländischen Staatsmännern gockelhaft posierend, unterlag er selber viel zu sehr dem politischen Ambiente seiner Landsleute, als daß sonst seine Wutausbrüche über ihre soldatischen Tugend-mängel, über die Fruchtlosigkeit von Demon19 strationen preußischen Schneids und deutschen Ordnungssinns verstehbar wären. Der völlige Souveränitätsmangel gegenüber Spötteleien der Hofkreise machte ihn haßerfüllt und hilflos zugleich. Alle Drohungen gegen die Kamarilla blieben jedoch zumeist ohne praktische Konsequenz.
Panische Furcht bestimmte den Duce vor Zweifeln an seiner politischen potenza, an der Beherrschung von Verkehrsformen traditioneller Herrschaftsrepräsentation. Cäsarische Attitüden gegenüber der Welt, Schützengraben-Kameraderie gegenüber dem zugleich verwünschten Hitler, die Angst, entlarvt zu werden als derselbe, der 1915 die Zerstörung Deutschlands gefordert hatte, kennzeichnen das Syndrom eines diffusen Sehnens nach Ausweglosigkeit, um diese zugleich trotzig zu bekennen. Wie Cianos Tagebücher aufzeigen, wurde vom Duce der europäische Krieg zum Schicksal dämonisiert, ohne indes dauerhafte Klarheit über Ziele, Mittel und Termine zu gewinnen. Vielmehr wurden gegen die Vergänglichkeit des schäumenden Aktionismus der Kampfjahre vom Duce und seinen Parteigängern Berserker-Charme und Teufelskerl-Attitüden in die Entscheidungsfindung eingelassen. Gegen die aus der politischen Wirklichkeit aufsteigenden Gefahren maskierte man sich mit abenteuergieriger Männlichkeit, um dahinter das Wissen um die zunehmende Entfremdung zwischen Duce und Nation zu verbannen. Praxis als Prämisse, ziel-und direktionslose Entschiedenheit als faschistisches Urprinzip ließen den Duce seine Strategie kaltschnäuziger Vorteilssuche letztlich nicht durchstehen. Die ihm von Hitler zumindest indirekt zugewiesene Position und das geringe Machtpotential seines eigenen Landes trieben den Duce in die Ablehnung der eigenen Geschichtlichkeit und in die tiefe Furcht, vor der verhaßten Monarchie das Scheitern der faschistischen Revolution eingestehen zu müssen. War Mord an der eigenen Schöpfung faschistische Konsequenz der von Mussolini geführten Klage, keinen würdigen Erben für seine Revolution zu haben?
Wie die nationale Formel vom Römischen Imperialismus aufzeigt, stellte Mussolini sein Land unter den normativen Primat der Außenpolitik/Außenwirtschaftspolitik. Die Gloriole des Impero Romano und die damit mögliche Versöhnung der Nation mit dem Ausgang des Ersten Weltkrieges trieben zur politischen Erfolgssuche in Afrika, Albanien und im Donau-raum. Dieser normative Primat wurde unter der Herausforderung des Hitler-Aufstiegs in einen kausalen verwandelt der die Existenz der faschistischen Herrschaftsverfassung retten sollte, und so wiederum die Außenpolitik unter das Gesetz der Innenpolitik stellte. Die somit immer stärkere Vermischung von Zielen und Mitteln geriet zur Zirkelstruktur der Selbstvernichtung. Das letzte Mal vor seiner Verhaftung traf der Duce Hitler am 19. Juli 1943 in Treviso und mußte sich einen langen Vortrag über Krieg-führung und Kampfmoral anhören. Feldmarschall von Richthofen notierte dazu: „Außer dem Duce versteht keiner ein Wort. Ambrosio (ital. Generalstabschef) stellte hinterher grinsend fest , es wäre kein „Colloquio" gewesen, sondern ein „Disloquio".
Disloquio war das Wesensmerkmal der „Achse": eine konzertierte Anarchie. Stets gingen Italien und Deutschland im Zeichen des Bündnisses gemeinsam getrennte Wege. Was die Diktatoren allein verband, war ihr Ringen um eine Synthese aus Interesse und Passion, aus Kalkül und Dogma. Den Widerspruch zwischen realitätsfeindlichem Machtwillen und dem aus seinen Zielen offenbarten eigenem Unvermögen versuchten Hitler und Mussolini letztlich durch die Totalitarisierung des Konfliktes selbst vergeblich zu überwinden.